ADHS bei Klein- und Vorschulkindern - Hannes Brandau - E-Book

ADHS bei Klein- und Vorschulkindern E-Book

Hannes Brandau

0,0
25,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hyperaktive Klein- und Vorschulkinder sind eine besondere Herausforderung: Welche Förderung brauchen diese Kinder? Wie können Eltern kompetent beraten werden? Dieses Buch informiert über Symptome, Ursachen und Erklärungsansätze bei ADHS, der "Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung". Aus aktuellen Forschungsergebnissen werden praktische Hilfen für Prävention und frühe Förderung abgeleitet. Das Buch enthält viele praxisorientierte Tipps für therapeutische Interventionen, Spielangebote in der Gruppe und für die Elternberatung. Mit zahlreichen Fallbeispielen und witzigen Cartoons.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 279

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär – Band 9

Hannes Brandau · Manfred PretisWolfgang Kaschnitz

ADHSbei Klein- und Vorschulkindern

Mit 18 Abbildungen und 13 Tabellen

5., aktualisierte Auflage

Ernst Reinhardt Verlag München

Dr. phil. Hannes Brandau, Univ.-Doz. habil. und Hochschulprofessor für Psycho-logie emeritus. 30 Jahre klinischer Psychologe, Psychotherapeut und Heilpädagoge an der Psychosomatik der Uni-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Graz

Dr. phil. Manfred Pretis, Klinischer Psychologe, Integrationspädagoge, Professor für Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg (MSH)

Dr. med. Wolfgang Kaschnitz, Kinderarzt, Kinder- und Jugendpsychiater, Leiter der Ambulanz für lebhafte und hyperaktive Kinder an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Graz

Hinweis

Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

  ISBN: 978-3-497-03188-7 (Print)

  ISBN: 978-3-497-61728-9 (PDF-E-Book)

  ISBN: 978-3-497-61729-6 (EPUB)

  ISSN: 0940-8967

5., aktualisierte Auflage

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schrift-liche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elek-tronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i. S. v. § 44 b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von ©istock.com/RichVintage. Agenturfoto. Mit Model gestellt.

Cartoons im Innenteil: Martin Gollowitsch, Graz

Satz: Rist Satz & Druck GmbH, 85304 Ilmmünster

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de  Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort

1Was ist ADHS?

1.1Definition und Konzepte der Diagnose

1.2Implikationen des DSM-V für das Kleinkind- und Vorschulalter

1.3Implikationen des ICD-11

2Ursachen und Einflussfaktoren

2.1Genetische Ursachen

2.2Prä- und perinatale Einflüsse

2.3Schadstoffe und Nahrungsmittelallergien

2.4Neuroanatomische Ursachen

2.5Neurochemische Ursachen

2.6Psychosoziale Einflüsse

3Erklärungskonzepte

3.1Die Stoffwechselstörungshypothese

3.2Die Aktivierungshypothese

3.3Die Filtersystemhypothese

3.4Defizit der Hemmungsregulation

3.5Die evolutionstheoretischen Hypothesen: Mammutjäger am Joystick oder evolutionäres Entwicklungsdefizit?

3.5.1„Verzögertes Reagieren“ als Evolutionsschritt

3.5.2Steinzeitjäger und Bauern

3.5.3ADHS, eine Anpassungsstörung?

3.5.4Nomadenmänner, Reiz- und Risikosucher – oder der problematische Übergang zum „Homo sedens“

3.6ADHS und der unterdrückte Spieltrieb des Kindes

3.7Systemisch-biopsychosoziales Modell von ADHS

4Möglichkeiten und Probleme der Früherkennung von ADHS

4.1Was erhärtet den frühen Verdacht von ADHS?

4.2Wie entwickeln sich Aufmerksamkeit und selbstregulative Fähigkeiten?

4.2.1Die Aufmerksamkeitsentwicklung aus entwicklungspsychologischer Sicht

4.2.2Entwicklung der Selbstkontrolle und Exekutivfunktionen

Erste Exekutivfunktion: nonverbales Arbeitsgedächtnis

Zweite Exekutivfunktion: verbales Arbeitsgedächtnis

Dritte Exekutivfunktion: Regulation von Gefühlen

Vierte Exekutivfunktion: gedanklich den „roten Faden“ behalten

4.3Verlauf und Prognose von ADHS

5ADHS und mögliche zusätzliche Begleiterscheinungen

5.1Probleme in der sozialen Interaktion

5.2Oppositionelles Trotzverhalten

5.3Unfälle und Risikobereitschaft

5.4Positive Begleiterscheinungen: die Kompetenzbereiche der Kinder mit ADHS

6Prinzipien einer systemisch-lebensweltorientierten Förderung von Klein- und Vorschulkindern mit ADHS

6.1Prävention

6.2ADHS aus der Lebenswelt des Kindes wahrnehmen

6.3Alltagsnähe und konkrete Hilfen zur Teilhabe

6.4Partnerschaftliche Kooperation mit den Eltern

6.5Soziale Integration

6.6Autonomie und „Eigensinn“

6.7Empowerment

6.8Netzwerkarbeit und Regionalisierung

6.9Beachtung von sozialräumlichen Angeboten und des Lebensraums der Medienwelt

6.10Förderung nach einem ganzheitlich-interdisziplinären Konzept

7Frühe Förderung von Kindern mit ADHS

7.1Übersicht

7.2Interventionsstrategien für hyperaktive Kleinkinder im Einzelnen

7.2.1Interaktionstherapeutische Ansätze

7.2.2Spieltherapeutische Interventionen

7.2.3Elternberatung am Beispiel lösungsorientierten Coachings

7.2.4Systemische Interventionen

7.2.5Gruppenorientierte Interventionen zur sozialen Inklusion

7.2.6Bewegungstherapeutische und motopädagogische Maßnahmen

7.2.7Medikamentöse Therapie

7.2.8Alternative Behandlungskonzepte

7.3Studien zur Wirksamkeit verschiedener therapeutischer Interventionen

8Verhaltensmanagement bei Kleinkindern mit ADHS zwischen 3 und 6 Jahren

8.1Die Stärken des Kindes hervorheben

8.2Kurz – klar – kongruent

8.3Bei Aktivitäten „Kürze mit Würze“ statt „lange Weile“

8.4Struktur am Beginn, in der Mitte und am Schluss

8.5Gelegenheit zum eigenständigen Spiel geben

8.6Jedes Ding an seinem Platz

8.7„Vor-Sicht“ – Unfallgefahren möglichst ausschalten!

8.8Durch liebevolle Konsequenz die Fähigkeit zur Selbstkontrolle fördern

8.9Spielangebote für Kinder von 3 bis 6 Jahren (in Auswahl)

8.9.1Spielangebote zur Verbesserung der Selbstkontrolle

8.9.2Spielangebote zur Verbesserung der Aufmerksamkeitssteuerung

8.9.3Spiele zum Einhalten von Regeln

8.9.4Spiele zur Verbesserung der Konfliktfähigkeit

9Klinische Differentialdiagnostik als Voraussetzung eines ganzheitlichen Behandlungskonzepts

10Multiperspektivisch-sozialpädagogischer Ansatz und Implikationen für transdisziplinäre Teamarbeit

10.1Prinzipien eines multiperspektivischen Vorgehens

10.2Beispiel einer Erziehungssituation

10.3Miteinander geht es einfach besser

10.3.1 Reflexion mittels gegenseitiger kollegialer Intervision

10.3.2 Fallsupervision: ein System zur Wiedergewinnung von Ressourcen aus verschiedenen Blickwinkeln

Literatur

Sachregister

Vorwort

Die häufigste Verhaltensstörung im Kindesalter, das negativ klingende Wortungetüm Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätsstörung – oder kurz„ADHS“ – kann Eltern und PädagogInnen bereits im Kleinkindalter vor erhebliche Schwierigkeiten stellen und führt im Kindergartenalter häufig zu Problemen bei der sozialen Integration. Kaum ein anderes Verhaltensphänomen unserer Kinder erregt so heftige Glaubenskriege und auch Auseinandersetzungen, nicht nur in den Medien, sondern auch zwischen Fachleuten der Wissenschaft.

Ist ADHS – wie oft behauptet – nicht nur eine Modediagnose? Die dramatisch steigenden Zahlen von Verschreibungen entsprechender Medikamente führen zu ernster öffentlicher Besorgnis. Während die einen von vorschneller Krankschreibung und skandalöser medikamentöser Ruhigstellung lebhafter Kinder reden, hinter der auch die ökonomischen Interessen der Pharmaindustrie stecken, betonen andere, dass dieser Anstieg im internationalen Trend liege und sich die Pharmakotherapie evidenzbasiert als wirksamste Hilfe zur Behandlung von ADHS erwiesen habe.

So meinte der deutsche Sachverständigenrat zur Entwicklung des Gesundheitswesens schon am 4. 8. 2009: „Es ist angesichts des starken Anstiegs der medikamentösen Verordnungen darauf hinzuweisen, dass die in den ärztlichen deutschen Leitlinien von 2009 gebotene multimodale ganzheitliche Behandlung von ADHS vorsieht, Medikamente wie Ritalin erst dann zu verordnen, wenn sich andere therapeutische Maßnahmen als nicht ausreichend erwiesen haben.“

Während einige ADHS überhaupt nur als Erfindung und Folge unserer gesellschaftlichen Entwicklungen, mangelnder Zeit für Beziehung und Erziehung und des ungezügelten Medienkonsums (Reizüberflutung) annehmen, betonen die anderen, dass trotz Fehlen eines objektiven Tests mittels Biomarker kein Zweifel an der Zuverlässigkeit der sicheren Diagnose bestehe, sofern sich die Diagnosen an wissenschaftlich basierten Leitlinien und Erkenntnissen orientieren. Sie argumentieren, dass die Symptomatik von ADHS schließlich seit dem Zappelphilipp (1844) bekannt ist und jahrzehntelang empirisch in abertausenden Studien intensiv erforscht wurde. Dass es keine stringente Theorie aller ursächlichen, beschleunigenden und auslösenden Faktoren zu ADHS gibt, ändert demnach nichts an der Existenz der „Störung“ und am dringenden Behandlungsbedarf für die Betroffenen.

Dieses Buch soll bei all den bestehenden Unsicherheiten und Widersprüchen zwischen fundierter Kritik und Mythen Antworten geben, wie man konstruktiv und auch kreativ mit dem Phänomen ADHS im Vorschul- und Kindergartenalter umgehen kann. Dabei werden die wesentlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Ergebnisse möglichst anschaulich präsentiert und mit praktischen Anregungen in der Förderarbeit vernetzt. Die Diskussionsfragen am Ende der Kapitel sollen zur kritischen Reflexion und Vertiefung „verführen“ und die markanten Cartoons sollen den Humor hinter den Problemen kreativ verdichtet zum Vorschein bringen.

ADHS wird generell als neurobiologische Störung betrachtet. In diesem Buch wird sie systemisch als biopsychosoziales Interaktionsphänomen aufgefasst, das gerade im hoch sensiblen Bereich junger Kinder besondere Differenziertheit der Diagnose, höchste Achtsamkeit und Sorgfalt in der Behandlung voraussetzt. Deshalb gehen wir, bedingt durch langjährige klinische Erfahrung, multiperspektivisch von einem klinisch-sozialpädagogischen und systemischen Ansatz aus. Im Mittelpunkt steht dabei eine ganzheitlich ressourcenorientierte Förderung der Kinder mit dem Ziel der optimalen Teilhabe in der Familie, der Gruppe der Gleichaltrigen und der Gesellschaft.

Glaubt man den wissenschaftlichen Fakten, so ist ADHS weder eine Modediagnose noch eine „Erfindung“ der Pharmaindustrie. Das wäre eine Ausblendung des oft heftigen Leids der Kinder und ihrer Familien. In nationalen und internationalen Leitlinien (z. B. Zentrales ADHS-Netz 2012) bemühen sich Teams von Fachleuten, mit möglichst klaren Kriterien festzulegen, wie ADHS auf der Basis eines jeweils aktuellen „State of the Art“ sinnvoll zu diagnostizieren und, je nach individueller Konstellation, differenziert zu behandeln ist. Denn die Folgen einer Nichtbehandlung sind zumeist weitaus gravierender als mögliche Probleme einer Behandlung.

Abschließend wollen wir zu den immer wieder auftauchenden ADHS-Mythen im Sinne des bekannten Spruches „Meine Meinung steht fest! Bitte verwirren Sie mich nicht durch Tatsachen“ mit diesem Buch einen kleinen Beitrag zu einer Versachlichung der Diskussion leisten.

In der nun vorliegenden 5. Auflage werden auch die Implikationen des ICD-11 für unser Thema und einige neue Forschungsergebnisse vorgestellt.

Wir danken Martin Gollowitsch für die Erstellung der humorvollen „hyperaktiven“ Cartoons!

Graz, im August 2022

1Was ist ADHS?

1.1Definition und Konzepte der Diagnose

„Ob der Philipp heute still

Doch der Philipp hörte nicht,

wohl bei Tische sitzen will?“

was zu ihm der Vater spricht.

Also sprach in ernstem Ton

Er gaukelt und schaukelt,

der Papa zu seinem Sohn,

er trappelt und zappelt

und die Mutter blickte stumm

auf dem Stuhle hin und her.

auf dem ganzen Tisch herum.

„Philipp, das mißfällt mir sehr!“

(aus dem „Struwwelpeter“, Hoffmann 1845)

Am Anfang einige bislang kaum gestellte Fragen zu diesem berühmten Textausschnitt:

■Warum blickt die Mutter auf den ganzen Tisch?

■Wie kommt es, dass Philipp nicht hört, was der Vater spricht?

■Was würden Sie anstelle des Vaters und der Mutter tun?

■Ist diese Szene auch heutzutage vorstellbar?

■Wäre das Verhalten von Philipp auch während der Völkerwanderung oder in der Urzeit ein Problem gewesen?

Waren Sie als Kind ein „Zappelphilipp?“* Testen Sie sich selbst mit dem am häufigsten verwendeten Testinstrument, dem Conners-Fragebogen (1969), der in Tabelle 1 aufgeführt ist.

Wer kennt ihn nicht, den berühmten Zappelphilipp, ständig in Bewegung, ungeduldig und unaufmerksam? Viele Etiketten wurden ihm schon umgehängt, die derzeit gängigen sind „ADHS“ und „hyperkinetische Störungen“. ADHS, Abkürzung für das Wortungetüm „Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom“, bezeichnet ein klinisches Bild, welches vor allem durch erheblich beeinträchtigte Verhaltensweisen in der

■ Aufmerksamkeit

■ Impulsivität

■ motorischen Aktivität

*   Anmerkung: Leider gibt es noch keine politisch-korrekte weibliche Form für dieses Phänomen, da es in weit größerem Verhältnis Buben betrifft.

Tabelle 1: Conners-Fragebogen (Conners Parent Teacher Rating Scale – CPTRS)

Durch Summierung der Symptomschweregrade kann ein Gesamttestwert gewonnen werden. Bei einem Gesamtwert von über 14 Punkten lag bei Ihnen als Kind – so, wie Sie es jetzt als Erwachsener einschätzen – wahrscheinlich hyperaktives Verhalten vor. Vielleicht wurde es von niemandem bemerkt oder als Problem wahrgenommen.

auffallen und die in einem für den Entwicklungsstand des Kindes abnormen Ausmaß situationsübergreifend auftreten. ADHS kann Kinder von den ersten Lebensmonaten bis ins Erwachsenenalter in vielen Lebensbereichen beeinträchtigen. Da das Verhalten von Kleinkindern viel variabler ist als bei älteren Kindern, erscheint es besonders schwierig, die Diagnose bei Kindern unter vier oder fünf Jahren zu stellen. Weiterhin sind Symptome der Unaufmerksamkeit bei Kleinkindern schwer zu diagnostizieren, da diese kaum gefordert sind, ihre Aufmerksamkeit für längere Zeit auf eine Aufgabe zu fokussieren (American Psychiatric Association 1994, 119).

Trotz der oben erläuterten Einschränkungen versucht das DSM-IV, ein Klassifikationssystem psychiatrischer Störungen, klar definierte diagnostische Merkmale zur Feststellung von psychischen Störungen, im Speziellen von ADHS, zu beschreiben (American Psychiatric Association 1994, 122f).

Zur Vertiefung: diagnostische Kriterien des DSM-IV für ADHS

A. Entweder Punkt 1) oder Punkt 2) muss zutreffen:

(1) Sechs (oder mehr) der folgenden Symptome von Unaufmerksamkeit müssen während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden gewesen sein.

Unaufmerksamkeit:

•  beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten,

•  hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten,

•  scheint oft nicht zuzuhören, wenn andere ihn / sie ansprechen,

•  führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Spiele, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund oppositionellen Verhaltens oder von Verständnisschwierigkeiten),

•  hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren,

•  vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben),

•  verliert häufig Gegenstände, die er/sie für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (z. B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug),

•  lässt sich öfter durch äußere Reize leicht ablenken,

•  ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich.

(2) Sechs (oder mehr) der folgenden Symptome von Hyperaktivität und Impulsivität müssen während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden gewesen sein.

Hyperaktivität

•  zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum,

•  steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird, häufig auf,

•  läuft häufig umher oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben),

•  hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen,

•  ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals, als wäre er/sie „getrieben“,

•  redet häufig übermäßig viel.

Impulsivität

•  platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist,

•  kann nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist, unterbricht und stört andere häufig (platzt z. B. in Gespräche oder Spiele anderer hinein).

Einige Symptome der Hyperaktivität-Impulsivität oder Unaufmerksamkeit, die Beeinträchtigungen verursachen, treten bereits vor dem Alter von sieben Jahren auf. Die Beeinträchtigungen durch diese Symptome zeigen sich in zwei oder mehreren Bereichen (z. B. in der Schule bzw. am Arbeitsplatz und zu Hause).

Anmerkung: Das DSM bezieht sich vor allem auf Schulkinder und lässt jüngere Kinder außer Acht.

Die Symptomatik ist nicht eine vorübergehende Reaktion auf verschiedene Stressoren, sondern besteht fortwährend und situationsübergreifend. Das erscheint wichtig, da vorübergehende Unruhe (im Zusammenhang mit psychosozialen Stressoren, z.B. Scheidung der Eltern, Übersiedelung oder Geburt eines kleinen Geschwisters) keineswegs „Hyperaktivität“ darstellen, sondern im schlimmsten Fall Anpassungsprobleme sind.

Warum ist dies wichtig? ADHS kann nur dann von Seiten professioneller Helfer zielgerichtet „behandelt“ werden, wenn die Diagnose als solche auch abgesichert ist. In zwei Drittel der Verdachtsdiagnosen handelt es sich jedoch nicht um ADHS, sondern um vorübergehende Anpassungsprobleme, persönliche Verhaltensmuster in speziellen Umgebungen (z.B. immer wenn die Großmutter anwesend ist) oder einfach das Temperament des Kindes.

Die diagnostischen Kriterien werden immer wieder dem neuen Stand der Forschung angepasst und verändert. Es gab für ADHS im Laufe dieses Jahrhunderts schon viele Bezeichnungen, die zum Teil in der Diskussion der Begriffe angeführt werden. So wird im zweiten großen internationalen Klassifikationssystem der „World Health Organisation“, dem ICD-10, die Bezeichnung „Hyperkinetische Störungen“ für dasselbe Störungsbild gewählt. Der Hyperaktivität und Impulsivität werden jedoch in beiden Manualen unterschiedliche Bedeutung zugemessen. Hyperkinetische Störungen im ICD-10 (WHO 1992, 276f) werden folgendermaßen definiert:

»Die Kardinalsymptome sind beeinträchtigte Aufmerksamkeit und Überaktivität. Die beeinträchtigte Aufmerksamkeit zeigt sich darin, dass Aufgaben vorzeitig abgebrochen und Tätigkeiten nicht beendet werden. Die Kinder wechseln häufig von einer Aktivität zur anderen, wobei sie anscheinend das Interesse an einer Aufgabe verlieren, wie sie zu einer anderen hingelenkt werden. (...) Diese Aspekte mangelnder Aufmerksamkeit und Ausdauer sollten nur dann diagnostiziert werden, wenn sie im Verhältnis zum Alter und Intelligenzniveau des Kindes sehr stark ausgeprägt sind. Überaktivität bedeutet exzessive Ruhelosigkeit, besonders in Situationen, die relative Ruhe verlangen. Situationsabhängig kann sie sich im Herumlaufen oder Herumspringen äußern,im Aufstehen, wenn dazu aufgefordert wurde, sitzen zu bleiben, in ausgeprägter Redseligkeit und Lärmen; oder im Wackeln und Zappeln bei Ruhe. Beurteilungsmaßstab sollte sein, dass die Aktivitäten im Verhältnis zu dem, was in der gleichen Situation von gleichaltrigen Kindern mit gleicher Intelligenz zu erwarten wäre, extrem ausgeprägt ist. Dieses Verhaltensmerkmal zeigt sich am deutlichsten in strukturierten und organisierten Situationen, die ein hohes Maß an eigener Verhaltenskontrolle fordern.

Die folgenden Begleitsymptome sind für die Diagnose nicht notwendig, stützen sie jedoch: Distanzlosigkeit in sozialen Beziehungen, Unbekümmertheit in gefährlichen Situationen und impulsive Missachtung sozialer Regeln (...).

Die charakteristischen Verhaltensprobleme sollen früh (vor dem sechsten Lebensjahr) begonnen haben und von längerer Dauer sein. Wegen der breiten Variation der Norm ist Hyperaktivität vor dem Schulalter schwierig zu erkennen. Bei Vorschulkindern soll nur ein extremes Maß zu dieser Diagnose führen.«

Zur Vertiefung: Subtypen

Das DSM-IV weist Hyperaktivität-Impulsivität als unabhängiges Hauptmerkmal aus, während im ICD-10 die Aktivitätsstörung als unabdingbar gilt. Deshalb kann ein stark aufmerksamkeitsbeeinträchtigtes Kind, das nicht gleichzeitig hyperaktiv ist, nach dem ICD-10-System nicht diagnostiziert werden. Im DSM-IV können jedoch drei unterschiedliche Subtypen unterschieden werden: ein dominant aufmerksamkeitsschwacher Typ, ein dominant hyperaktiv-impulsiver Typ und der Mischtypus mit klinisch bedeutsamen Defiziten in Aufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität.

Hinsichtlich der Klassifikation von Subtypen konnte international noch keine Einigkeit gefunden werden, was auch mit unterschiedlichen theoretischen Vorstellungen zwischen den Forschern in USA und Europa zusammenhängt.

Die fünfjährige Anna vergisst ständig ihre Sachen und lässt im Kindergarten Handschuhe, Hauben und ihre Kindergartentasche liegen. Die KindergartenpädagogInnen beschreiben sie manchmal als abwesend, weil sie erst nach zwei- bis dreimaliger Aufforderung zu reagieren scheint. Absencen wurden medizinischerseits durch eine Untersuchung ausgeschlossen, andererseits lässt sie sich oft durch kleine Geräusche, die vom Fenster hereinkommen, sofort ablenken. Anna kann dem unaufmerksamen Typus zugerechnet werden, der bei Mädchen relativ häufiger auftritt (Biederman et al. 2002).

Der dreijährige Marc kann keine Minute still sitzen, klettert auf das Sofa, um zum Telefon zu kommen, beschäftigt sich dann einige Momente mit Bausteinen, die er kurzfristig in Richtung FrühförderIn wirft, und beginnt gleich darauf mit einem neuen Spiel. Marc kann mit hoher Wahrscheinlichkeit dem vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typus zugeordnet werden.

Obwohl nach gegenwärtigem Forschungsstand ADHS am ehesten als eine neurobiologisch und stark genetisch bedingte Störung angenommen wird, gibt es bis heute keine eindeutigen biologischen oder psychologischen Kriterien und Ursachen zur Diagnose der Störung. Manche Forscher behaupten (Lüpke 2004, Yelich / Salamone 1994), ADHS wäre als „Krankheitsbild“ ein Konstrukt, wobei sie die beeinträchtigenden Verhaltensschwierigkeiten der Kinder in ihrer Auswirkung auf die sozialen Umwelten durchaus ernst nehmen.

Abbildung 1: Konstruktebene – Verhaltensebene

ADHS ist ein nicht beobachtbarer theoretischer Begriff, der durch das Auftreten bestimmter entwicklungsabweichender Verhaltensweisen definiert wird. Jedes Kind mit Verdacht auf ADHS ist dennoch einmalig und einzigartig.

Die PädagogInnen im Frühbereich befinden sich jedoch in einem scheinbar unauflösbaren Dilemma: Sie erleben Kinder in ihrem Bewegungsdrang, ihrer Schwierigkeit, zu warten, Handlungsbögen abzuschließen oder kurz ruhig zu sitzen. Gleichzeitig sind die gängigen Diagnoseschemata für den Altersbereich der Vorschulkinder und Kleinkinder kaum anwendbar:

1) Viele „Symptome“ sind in diesem Altersbereich noch völlig normal und als lebendig, temperamentvoll und aktiv anzusehen.

2) Etliche Verhaltensweisen beziehen sich ausdrücklich auf das Schulalter (z.B. „macht in der Schule oder bei anderen Aktivitäten Schlampigkeitsfehler“).

Wenn Eltern über „schwieriges“ Verhalten ihrer Kleinkinder berichten, ist es schwer, zu entscheiden, ob sie gerade in einer schwierigen Entwicklungs- oder Übergangsphase sind, oder ob diese Verhaltensweisen bedeutsame Anzeichen von ADHS sind. Epidemiologische Studien berichten, dass 10% und mehr der Eltern ihre Kinder im Vorschulalter als überaktiv und unruhig, unaufmerksam, mit niedriger Frustrationstoleranz und schwierig zu erziehen einschätzen (Thompson et al. 1996).

Da man jedoch laut repräsentativen internationalen Studien mit einer Auftretensrate von 3 bis 5% aller Kinder rechnet, scheinen die Angaben der Eltern für die entwicklungspsychologische „Normalität“ der genannten Charakteristika zu sprechen. Die Beschäftigung mit ADHS hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass jegliche Ablenkbarkeit, Unruhe oder Frustrationsintoleranz sofort mit Hyperaktivität in Zusammenhang gebracht wurde. Das Etikett Hyperaktivität wird bisweilen verwendet als:

■Entschuldigung für wenig angepasstes Verhalten mit der versteckten Botschaft: „Nehmen Sie als PädagogIn Rücksicht!“

■Erklärung, dass das Kind nicht gern feinmotorische Aktivitäten durchführt, mit der versteckten Botschaft an Betreuerinnen: „So tu doch etwas!“

■Anklage für den „fehlenden“ Vater, mit einem versteckten Vorwurf an alle „abwesenden“ Väter, sich mehr um ihre Kinder zu kümmern u.v.m.

Vorsicht vor zu schneller Etikettierung ist geboten. Andererseits kann wiederum der Fehler passieren, entnervte und von ihren vergeblichen Erziehungsbemühungen verzweifelte Eltern mit dem Hinweis zu trösten, dass sich „das alles schon auswachsen“ werde, wenn das Kind eben „reifer“ werde – eine Aussage, die man häufig von Hausärzten hört. Die Studien von Campbell und Ewing (1990, Cambpell 1997) zeigen, dass ca. 50% der Vorschulkinder, die als problematisch eingestuft wurden, im Alter von sechs Jahren keine klinisch bedeutsamen Symptome mehr hatten. Für diese 50% wäre eine Diagnose mit ihren teils weit reichenden Folgen falsch gewesen: Es ist z.B. in Österreich die vermehrte Tendenz zu beobachten, für Kinder mit ADHS den Status „von Behinderung bedroht“ auszusprechen, was zwar die Aufnahme in Förderprogramme (Frühförderung, Unterstützung im Kindergarten...) ermöglicht, gleichzeitig aber auch eine große Gefahr der Stigmatisierung in sich birgt. Die Hälfte der als „problematisch“ eingeschätzten Kinder zeigte jedoch Symptome von Unaufmerksamkeit, erhöhter Ablenkbarkeit, Impulsivität und Hyperaktivität.

Das diagnostische Dilemma liegt in der Unterscheidung von Kindern, die als extreme Gruppe eine heftige Entwicklung im Normalbereich zeigen, von solchen, die Signale der Früherkennung von ADHS zu erkennen geben.

Gibt es trotz der wissenschaftlichen Diskussionen Hoffnung auf Klarheit? Um diese Unterscheidung besser treffen zu können, werden wir typische Verhaltenscharakteristika zur Früherkennung anführen und einen strukturierten Leitfaden für ein diagnostisches Elterngespräch anbieten, in dem auch auf die Rolle der genetischen Temperamentsfaktoren, vorgeburtlicher, geburtlicher und nachgeburtlicher Faktoren eingegangen wird, wobei erst eine ärztliche Diagnose diesbezüglich und letztendlich Klarheit schaffen kann. Dennoch können KindergärtnerInnen und FrühförderInnen aus ihrem engen Kontakt zu Eltern und Kind differenziertere Beobachtungsmöglichkeiten haben und wertvolle Hilfe bei der Vermittlung zur Klinik leisten.

Eine weitere Schwierigkeit der Diagnose von ADHS besteht darin, dass diese Störung mit vielen anderen Begleitstörungen verbunden ist: Aggressivität, motorische Schwierigkeiten, mangelnde soziale Fähigkeiten, exzessive Neugier und Risikobereitschaft, Lern- und Gedächtnisprobleme. Weiterhin gibt es etliche andere Störungen, die ebenfalls impulsives und unaufmerksames Verhalten als Begleitsymptome haben, und auch etliche Krankheiten, die vorher ausgeschlossen werden müssen, um die Diagnose ADHS mit einiger Sicherheit stellen zu können. Diese sind in Tabelle 2 aufgeführt:

Die einzelnen Sypmtome von ADHS können in über 30 anderen Störungsbildern auftreten.

Eine sichere Diagnose von ADHS oder einer hyperkinetischen Störung kann nur von einem ärztlichen Fachexperten aufgrund einer eingehenden Anamnese und neurologischen Untersuchung gestellt werden.

Es wäre jedoch ein verkürzter Blickwinkel, würden wir nur auf die Schwierigkeiten und Defizite dieser Kinder fokussieren. Viele berühmte Menschen hatten Züge und Charakteristika, die heute unter diese Diagnose fallen würden (siehe 5.4). Gemeinsame Merkmale aller sind:

■ständiges Suchen nach neuen Möglichkeiten

■hohe Kreativität

■Sichhinwegsetzen über Regeln der Normalität

■sehr gute und schnelle Auffassung von ganzheitlichen Gestalten

Weiterhin zeigen hochbegabte Kinder häufig einzelne Merkmale, die auch hyperaktive Kinder aufweisen, z.B. herausfordernde Verhaltensweisen oder „störendes“ Verhalten in Gruppensituationen. Entscheidend ist jedoch die Ursachenzuschreibung als „überbegabtes Kind“, „schlimmes Kind“, „falsch erzogenes Kind“, „behindertes Kind“ oder „krankes Kind“.

Tabelle 2: Andere mögliche Ursachen für hyperaktive Symptomatik

Gerade in Bezug auf ADHS und dessen Zusammenhänge mit anderen Störungen herrscht eine große Begriffsverwirrung vor, die häufig – im Zusammenhang mit vorschnellen diagnostischen Schlüssen – dazu führt, dass „Kraut und Rüben“ vermischt werden und Interventionen möglicherweise nicht wirksam sind, weil eigentlich unklar bleibt, was behandelt werden soll. Es gibt (leider) bislang keine Wundertherapie, die alle in weiterer Folge aufgezählten Störungen behandeln kann. Das Versprechen von solchen Fachleuten, all jene Störungen mit einer therapeutischen Intervention behandeln zu wollen, ist in höchstem Maße zu misstrauen.

ADHD: Attention Deficit Hyperactivity Disorder (englische Bezeichnung für ADHS).

ADHS: Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom. Ein Syndrom bezeichnet hier einen Zusammenhang von verschiedenen Symptomen (Ablenkbarkeit, Unruhe, Reizbarkeit), die statistisch überzufällig häufig gemeinsam auftreten.

Dyskalkulie: isolierte Rechenstörung, siehe Teilleistungsstörungen.

HKS: Hyperkinetische Störung / Hyperkinetisches Syndrom: deutsche Bezeichnung, die die motorische Unruhe als Kardinalsymptom hervorhebt.

Legasthenie: veralteter Begriff für die „isolierte Lese-Rechtschreib-Schwäche“. Legasthenie und ADHS werden häufig in einen diagnostischen „Korb“ geworfen, wobei diese beiden Diagnosen deutlich unterschieden werden müssen. Unter einer isolierten Lese-Rechtschreib-Schwäche wird die gänzlich auf die Lese- und Rechtschreib-Leistung eines Schulkindes fokussierte Beeinträchtigung bei sonst altersentsprechender Entwicklung verstanden. Zwar können Kinder mit ADHS Lese-Rechtschreib-Probleme haben und umgekehrt, die Legasthenie ist jedoch kein Kernsymptom von ADHS.

MCD: Minimale Cerebrale Dysfunktion (auch minimales neurologisches Design): Medizinisch zu diagnostizierende Störung, die mit minimalen neurologischen Zeichen (z.B. körperliche Ungeschicklichkeit, ausgeprägte assoziierte Bewegungen, veränderte Ausdrucksformen der Bewegung) einhergeht. Über das Vorhandensein einer MCD als eigene Störung herrschen in der Medizin Diskussionen (Millner 1998). Reduzierte Aufmerksamkeit oder motorische Unruhe können Begleitsymptome sein.

POS: Psychoorganisches Syndrom. Begriff geprägt von Ruf-Bächtinger (1995), wobei Kinder mit POS auch Symptome der motorischen Unruhe und Aufmerksamkeitsreduktion zeigen können, der Begriff POS jedoch generell als weiter gefasst angesehen werden darf (d.h. auch Symptome der „Legasthenie“ u.a. einschließt).

Teilleistungsstörungen: Begriff, der vor allem in der Schulpädagogik verwendet wird, wenn eine spezifische (Schul)Leistung – im Vergleich zu sonst altersgemäßer Entwicklung – eklatant vom sonstigen Leistungsniveau abweicht (vergleichbar mit der isolierten Lese-Rechtschreib-Störung oder der isolierten Rechenstörung).

Wahrnehmungsstörung: Aufbauend auf Ayres (1973) und Affolter (1987) beschreiben Wahrnehmungsstörungen Schwierigkeiten bei der Integration von Reizen zu einem sinnvollen Ganzen für das Kind.

Zappelphillip: landläufige Bezeichnung für motorisch unruhige Kinder, aufbauend auf dem „Struwwelpeter“ (Hoffmann 1845).

Kinder mit ADHS haben oft viele Fähigkeiten und Talente. Eine Diagnose der Schwierigkeiten und Defizite sollte nicht den Blick auf diese Ressourcen verstellen. Lieber die Stärken nutzen, als nur an den Schwä-chen arbeiten! Häufig lassen die Probleme der ADHS-Symptomatik diese Stärken der Kinder nicht zur Geltung kommen.

Wie sehr ADHS eine krankhafte Störung oder eine andere Art, die Welt wahrzunehmen und zu verarbeiten, oder ein extremes Temperament darstellt, hängt stark vom subjektiv empfundenen Leid des Betroffenen und dem sozialen Umfeld ab. Erst der Umstand einer Beeinträchtigung rechtfertigt die Diagnose auch nach dem DSM-V. Die Vielfalt der theoretischen Erklärungsversuche und die Komplexität der Ursachen können zu folgender stark von systemischen Perspektiven beeinflussten vorläufigen pragmatischen Definition führen (vgl. Brandau / Kaschnitz 2008):

Der als ADHS bezeichnete Verhaltenskomplex ist eine biopsychosoziale Auffälligkeit in Interaktion mit sozialen Systemen, die Fähigkeiten der Selbststeuerung, Geduld und Ausdauer erwarten.

ADHS wird als nach außen gerichtetes Verhalten interpretiert und neigt naturgemäß viel eher zur Auffälligkeit als z.B. sozial-unsicheres Verhalten oder Ängstlichkeit. Auf ADHS reagieren Helfer schneller, weil ihre pädagogischen Kompetenzen fortwährend herausgefordert werden.

ADHS umfasst alle drei Systemebenen (Körper, Erleben und Kontakt), sodass Interventionen auf allen drei Ebenen möglich und bisweilen auch sinnvoll sind. Kinder mit ADHS reagieren sehr sensibel auf Interaktion: Im Face-to-Face-Einzelkontakt sind die Kinder meist völlig unauffällig, solange ihnen Struktur, Grenzen und Aufmerksamkeit geschenkt werden. Im Mittelpunkt der Störung stehen mangelnde Selbststeuerung, Geduld und Ausdauer, wobei immer zu berücksichtigen ist, wie viel unsere westliche Kultur von Kleinkindern (ab frühester Kindheit) erwartet.

Erwarten heißt „ein Bild haben vom Kind“ und seinem Funktionieren in einer immer komplexer werdenden Umgebung. Es hat – um einen Vorwurf vieler Großmütter zu entkräften – früher wahrscheinlich genauso viele Kinder mit ADHS gegeben. Geändert haben sich jedoch in hohem Maße die Erwartungen an die Kinder. Erwartet wird Selbststeuerung, Geduld und Ausdauer; vorgelebt von Seiten der Erwachsenen werden:

a) fremdgesteuerte Zeitstrukturen (vor allem vom Arbeitsalltag geprägt)

b) immer kürzere Zeitzyklen der Informationsverarbeitung

c) geringe Planbarkeit bzw. Vorhersehbarkeit von Veränderungen

Im Überblick über die wichtigsten theoretischen Perspektiven zum Verständnis von ADHS werden wir diesen biopsychosozialen Definitionsversuch begründen und darauf Handlungsvorschläge für Fachkräfte im Früherziehungsbereich geben. Wir sehen jedenfalls ADHS nicht nur defizitorientiert und einzig im „Kopf des Kindes“ verankert, sondern ganzheitlich als Reaktionsmuster in sozialer Interaktion, als Versuch einer Anpassung auf die Anforderung eines immer kleiner werdenden ökologischen und entwicklungsgemäßen „Spielraums“ unserer Kinder in der zivilisierten (?) Leistungsgesellschaft.

Fragen zum Verhaltensmanagement der Fachkräfte

1) Verfüge ich als Fachkraft über genügend Information über

a) die zeitliche Stabilität der Symptomatik. (Gibt es Zeiten, in denen die beobachtete Symptomatik nicht oder abgeschwächt auftritt?)

b) die situative Stabilität (Gibt es Zeiten, in denen die beobachtete Symptomatik nicht oder abgeschwächt auftritt?)

2) Erlebe und reagiere nur ich als Fachkraft auf die „Abnormität“ des Verhaltens, hängt dies möglicherweise mit meinen Wahrnehmungsstrukturen zusammen, oder werden die Symptome „intersubjektiv nachvollziehbar“ erlebt?

3) In welchen Situationen reagiere ich persönlich mit Mustern einer

– Aufmerksamkeitsstörung im Sinne hoher Ablenkbarkeit,

– Impulskontrollbeeinträchtigung im Sinne überschießender negativer emotionaler Reaktionen,

– motorischen Unruhe.

4) Wie leicht gelingt es mir als Fachkraft, positive Eigenschaften bei Kindern mit ADHS wahrzunehmen und diese zu verbalisieren?

Wären die früher einmal bewunderten Helden, Pipi Langstrumpf, Hucklebarry Finn und Pumuckl, als Kinder mit ADHS von Ihnen diagnostiziert worden? Welchem Typus würden sie entsprechen?

1.2Implikationen des DSM-V für das Kleinkind- und Vorschulalter

1 Als grundlegende Neuerung im DSM-V (APA 2013) gegenüber dem DSM-IV (APA 1994) wurden dimensionale Diagnosekriterien eingeführt. Der bislang dominierende kategoriale Ansatz („entweder hat das Kind ADHS oder nicht“) geht davon aus, dass sich psychische Störungen wie ADHS als Krankheitsentitäten klar erfassen lassen, was in der Praxis jedoch immer wieder scheitert. Im DSM-V können nun Zwischenstufen und drei Schweregrade von ADHS unterschieden werden. Die geringe und mittlere Ausprägung wäre zumeist im DSM-IV gar nicht diagnostiziert worden. Damit wird die Grenze zwischen „gesund“ und „krank“ relativiert, realistischer oder – kritisch ausgedrückt – verschwommener. Die Praxis und zukünftige epidemiologische Daten werden zeigen, ob die Medikationsraten durch diese Differenzierung der Diagnose abnehmen oder zunehmen, weil immer mehr Kinder mit einem Krankheitslabel stigmatisiert werden. Ebenso werden die Grenzen zwischen den bisherigen drei Subtypen eher als Erscheinungsformen konzipiert, denn als klar abgrenzbare, stabile Typen. Auch eine komorbide Diagnose mit Störungen aus dem im DSM-V veränderten Autismusspektrum ist nun problemlos möglich (Aspergerdiagnose fällt weg).

2 Es werden dieselben 18 typischen Symptome wie im DSM-IV in zwei Symptomdomänen, nämlich Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität /Impulsivität verwendet und mindestens 6 von 9 Symptomen in mindestens einer Domäne ist für eine Diagnose nötig. Die Symptome wurden jedoch im DSM-V spezifischer auf Verhaltensweisen von Jugendlichen und Erwachsenen, also die gesamte Lebensspanne, ausgeweitet, da im DSM-IV die Symptome noch spezifischer für das Kindesalter formuliert wurden. Deshalb erübrigt sich hier für die Gruppe der Klein- und Vorschulkinder eine Beschreibung der Symptome nach dem DSM-V.

3 War im DSM-IV ein Auftreten der Symptomatik vor dem 7. Lebensjahr unabdingbar für eine Diagnose, so wurde dieses Kriterium im DSM-V auf 12 Jahre hinaufgesetzt. Diese Symptome sollen zumindest in zwei unterschiedlichen Kontexten auftreten. Damit soll eine Diagnose nicht durch mangelnde Beobachtung und Erinnerung der Eltern gefährdet werden.

4 Das DSM-IV verlangte für eine Diagnose von ADHS eine klinisch signifikante und schwerwiegende Beeinträchtigung des sozialen Lebens und der kognitiven Entwicklung des Kindes. Dies wurde dahingehend verändert, dass nun schon eine klare Evidenz reicht, dass die Symptome von ADHS mit diesen Bereichen „interferieren“ oder deren Qualität herabsetzen. Das ist eine folgenschwere Änderung gegenüber dem DSM-IV. Ist es also in Zukunft möglich, einem Kind in der Schule zur Verbesserung seiner Leistungen für ein „sehr gut“ im Rechnen ADHS zu attestieren? Wird damit die immer schon problematische Schleuse zum Leistungsdoping geöffnet? Das DSM-V gibt dazu keine klaren Einschränkungen!

5 Die im DSM-V konzipierte „affektive Dysregulation“, die DMDD („dysruptive mood dysregulation disorder“) zeichnet sich durch Stimmungslabilität, Neigung zu Wutanfällen sowie verbale und körperliche Aggressivität aus. Die heftigen wiederkehrenden Temperamentsausbrüche, die in der Woche mindestens drei Mal und ein Jahr lang auftreten müssen, sind dadurch charakterisiert, dass sie in keinem Verhältnis zu der auslösenden Situation stehen. Es darf im Unterschied zur bipolaren Störung keine manischen Phasen geben. Es bleibt zu hoffen, dass Kinder mit der Neigung zu Wutausbrüchen, die bekanntlich in dieser Altersstufe auffallen, nicht einer vorschnellen und fachlich unhaltbaren Pathologisierung unterworfen werden.

Allen Frances, einer der Mitentwickler des DSM-IV, kritisiert am DSM-V die mangelnde empirische Absicherung der neuen Kategorie und bezeichnet DMDD als fehlerhafte Kategorisierung mit der Gefahr einer inflationären Verwendung (Frances 2013). Die Komorbidität der affektiven Dysregulation mit ADHS verwundert nicht. Es bleibt abzuwarten, ob DMDD in die nächste Version des ICD aufgenommen wird, da das DSM ja immer auch maßgebend für die Kategorien im ICD war. Treffend meinen Grimmer et al. (2010, 199): „Allerdings bedarf die Hochrisikogruppe mit einem Mischbild aus ADHS und begleitender affektiver Dysregulation stärkerer Beachtung, insbesondere bei der Entwicklung psycho- und pharmakotherapeutischer Ansätze. Diese Kinder und ihre Familien sollten langfristig aufmerksam begleitet werden.“

1.3Implikationen des ICD-11

Das ICD-11 gilt offiziell ab 1. 1. 2022. Der tatsächliche Einzug in den klinischen Alltag wird noch eine Übergangszeit beanspruchen (Jakob 2018). Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) stellte Februar 2022 auf der Homepage eine deutsche Erstentwurfsfassung des ICD-11 digital zur Verfügung. In Englisch ist das Manual digital unter „ICD-11 Homepage“ zugänglich.

Sowohl Döpfner und Banaschewski (2022) als auch Popow (2020) geben eine kurze Übersicht über die Änderungen im ICD-11, die folgend beschrieben werden:

Die neue Klassifikation der „Hyperkinetischen Störung und Aufmerksamkeitsdefizit“ im ICD-11 folgt der bislang bewährten Differenzierung des DSM-V, also ADHS mit überwiegend unaufmerksamem Erscheinungsbild, mit vorwiegend hyperaktiv-impulsivem Erscheinungsbild und mit gemischtem Erscheinungsbild. Die im ICD-10 übliche Kombinationsdiagnose der „Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens“ wird zuguns-ten der Möglichkeit von getrennten Mehrfachdiagnosen aufgegeben. Somit übernimmt der ICD-11 auch die Bezeichnung der Aufmerksamkeits- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und verleiht damit der Unaufmerksamkeit als wesentlichem Aspekt der Störung ihre zentrale Bedeutung neben der Impulsivität und Hyperaktivität. Störungen des Sozialverhaltens werden gesondert und zusätzlich diagnostiziert, wobei die leichtere in Form als oppositionelle Störung und die schwerere als dissoziale Verhaltensstörung kodiert werden. Der mögliche Beginn der Symptomatik wird auch im Vergleich zum DSM-V (vor 12 Jahren) mit „early to mid-childhood“ zwar eher vage angegeben, aber auch ein späterer Beginn wird nicht definitiv ausgeschlossen.

ADHS wird auch ähnlich wie im DSM-V in die Gruppe der „neurode-velopmental disorders“ zugeordnet und misst somit der neuronalen Reifung eine entscheidende Rolle zu.

Die Symptomkriterien der ICD-11 sind vergleichbar mit denen vom ICD-10, aber etwas offener formuliert als die DSM-V-Kriterien. So ist im Vergleich zum ICD-10 auch nicht mehr eine Mindestzahl von Verhaltenskriterien für eine „sichere“ Diagnose erforderlich (z. B. drei von vier bei Hyperaktivität). Alle weiteren Kriterien wie Symptomdauer von mindes-tens 6 Monaten, Beeinträchtigung durch die Symptome in mindestens zwei unterschiedlichen Lebensbereichen, und das in einem Ausmaß, welches deutlich außerhalb der entsprechenden Altersnorm liegt und eine altersgerechte Entwicklung gefährdet, stimmen mit der älteren Version überein. Bei Kindern haben sich die Indikatoren im Vergleich zum DSM-IV kaum verändert. Bezüglich der beschriebenen Verhaltensweisen im Cluster Aufmerksamkeit ist es bemerkenswert, dass präziser als bislang die Schwierigkeit genannt wird, Aufgaben zu bewältigen, die wenig stimulierend, inte-ressant und belohnend sind. Damit wird den Forschungsergebnissen ausgehend von Wender (1971)