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Tollpatschig erkundet der kleine Welpe seine Umwelt, jeder wird freudig mit Luftsprüngen begrüßt, die kleinen Zähnchen verheddern sich im Hosenbein. Was für ein süßer kleiner Kerl! Sechs Monate später: Knurrend, mit gesträubtem Fell, hängt er in der Leine, die Nachbarn wechseln die Straßenseite, Begegnungen mit anderen Hunden sind nicht mehr möglich. Das ist kein Einzelfall – viele Hundehalter stehen plötzlich isoliert und ausgegrenzt mit ihrem Hund da. Hier ist Einfühlungsvermögen und professioneller Rat wichtig, wie ihn Hundeprofi Martin Rütter in seinem neuen Buch gibt. Hundehalter erfahren, wie Aggression entsteht, wie man sie steuern kann und wann Hilfe von außen unbedingt notwendig ist.
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Seitenzahl: 176
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Vorspann
„Aggression ist ein Teil der Kommunikation eines jeden Hundes, aber auch eines jeden Menschen.“
Martin Rütter
Das Thema Aggression ist in unserer Gesellschaft sehr negativ besetzt. Was wir alle aber immer wieder vergessen: Aggression ist ein Teil der Kommunikation von jedem Tier, aber auch von jedem Menschen. Sie ist biologisch notwendig und ein ganz normales Verhalten. Die Ursachen von gesteigerter Aggression sind meistens Unsicherheit, Angst, Stress oder Frustration, die aufgrund von ungeklärten Verhältnissen und/oder situationsbedingter Überforderung entstehen.
Wir bei D.O.G.S. erfahren täglich, dass Menschen mit einem Hund, der sein Aggressionspotential auslebt, von der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Leider müssen wir auch immer wieder feststellen, dass es nicht nur Aggressionen von Hund zu Mensch gibt, sondern auch von Mensch zu Hund. Diese können dazu führen, dass sich der Hund Menschen gegenüber unsicher, ängstlich, panisch oder auch aggressiv verhält.
Mit Hilfe der Theorien über Aggressionsverhalten und der Kommunikation von Hunden, versucht D.O.G.S. Ursachen zu erkennen, diese an den Menschen weiterzugeben und Trainingsformen individuell abzustimmen.
Unsere Arbeit besteht darin, zwischen Mensch und Hund und zwischen Hund und Mensch zu vermitteln. Unser Ziel ist es, den Menschen zu erklären, warum ihr Hund dieses Verhalten zeigt und wie sie damit umgehen können bzw. wie sie es formen und trainieren und somit kontrollieren können.
Ein Verständnis des Hundes ist wichtig, damit der Mensch lernt, dass aggressives Verhalten in jedem von uns vorhanden ist.
Ihr Martin Rütter
Aggression – Definition und Ausprägung
Das Wort Aggression wird meist willkürlich benutzt, entweder für „wütend sein“ oder für den „gegen jemanden gerichteten“ Unmut in Worten und Stimmlagen. Jemand wird als aggressiv bezeichnet, der z. B. zur Frustrationsaggression neigt, Dinge beschädigt, Türen zuschlägt oder seinen Frust am Sozialpartner oder an seinen Freunden auslässt. Aggression kann aber auch versteckt auftauchen, z. B. in der Stimme, wenn ein bestimmter Unterton benutzt wird, um sein Gegenüber zu provozieren.
Wir alle nutzen die verschiedenen Formen von aggressivem Verhalten im Alltag, die dazu dienen, Ressourcen oder Privilegien zu verteidigen, wie z. B. das Vordrängeln beim Einsteigen in einen Zug oder an der Kinokasse, oder auch den Wettstreit um Nahrungsressourcen am Buffet, wenn man z. B. einem anderen Menschen das größte oder letzte Stück Fleisch vor der Nase wegschnappt.
Aggressionsverhalten unterscheidet sich in erster Linie aufgrund der Motivation des Aggressors. Auch wenn die Ausprägung des Verhaltens durchaus gleich ist, kann die Motivation für das Verhalten sowohl beim Menschen als auch beim Hund aus sämtlichen Lebensbereichen kommen. Beispiele aus dem menschlichen Aggressionsrepertoire:
Territorial motivierte Aggression: Ein Fremder parkt auf einem Privatparkplatz. Der Eigentümer ruft sofort die Polizei und sorgt somit dafür, dass auch dieser Teil seines „Reviers“ wieder für ihn alleine zur Verfügung steht.
Aggression aufgrund von Ressourcen und Privilegien: z. B. Konflikte um den Platz (als Erster an der Reihe beim Winterschlussverkauf). Ressourcenmotivierte Aggression ist auch sehr häufig die Basis von Kriegen (z. B. Irak-Krieg: Öl-Ressourcen).
Sozial motivierte Formen von Aggression füllen die Yellowpress, gruppenmotivierte Formen von aggressivem Verhalten wie Mobbing oder die Ausgrenzung Andersartiger gehören in der Öffentlichkeit zum Alltag.
Man könnte die Liste ins Unendliche verlängern, denn Aggressionsverhalten zieht sich durch fast alle Funktionskreise, die unser Leben bestimmen. Wichtig ist: „Aggressionsverhalten kann in vielen Funktionskreisen als Mittel zum Zweck gezeigt werden, stellt aber selbst keinen eigenen Funktionskreis dar.“ (Schöning, 2008)
Unter Funktionskreisen versteht man „Aktivitäten und Funktionen, die der Erfüllung von Grundbedürfnissen, wie beispielsweise Brutpflege oder Nahrungserwerb, dienen.“ (Weidt, 1996)
Aggression ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens, z. T. sichert aggressives Verhalten sogar das Überleben, z. B. wenn man sich gegenüber einem Angreifer verteidigen oder aber überlebenswichtige Ressourcen gegenüber Konkurrenten sichern muss. Aggressionsverhalten dient jedoch immer einem bestimmten Zweck innerhalb eines Verhaltenskomplexes und stellt somit ein vollkommen natürliches Verhalten dar. Erst wenn Aggression zum Selbstzweck wird, nimmt sie Formen an, die unter natürlichen Lebensbedingungen nicht vorkommen würden. Zeigt ein Hund also aggressives Verhalten, um z. B. seinen Futternapf, sein Revier oder seinen Sexualpartner zu verteidigen, kann das für die Menschen, die mit diesem Hund zusammenleben, zwar sehr belastend sein und sollte auch durch gezieltes Training abgestellt werden, aber man kann keinesfalls wie von vielen Hundehaltern und -trainern oft formuliert, automatisch von einem gestörten Verhalten sprechen.
Aggression gehört zum normalen Verhaltensrepertoire der Hunde. Der Mensch muss Sorge dafür tragen, dass es für die Umwelt nicht belastend oder gefährlich wird.
Es gibt verschiedene Definitionen von Aggression und deren Ursachen:
„Aggression verschafft eine Position der Dominanz und damit einen Freiraum zum Handeln. Der Sieger in einer Auseinandersetzung fördert so seine Eignung auf Kosten des Besiegten. Danach kann man Aggression auch als Konkurrenzverhalten um Fitness begrenzende Ressourcen definieren. (…) Alle Verhaltensweisen, durch die eine solche Dominanzbeziehung erreicht wird, können als aggressiv bezeichnet werden, auch wenn keinerlei physische Beschädigung erfolgt. Der Begriff ist damit funktionell bestimmt, ohne allerdings zu implizieren, dass es sich bei allen Tierarten und bei allen beobachteten Formen der Aggression stets um eine homologe Äußerung handelt.“ (Eibl-Eibesfeldt, 1999)
Beispiel: Der nicht kastrierte erwachsene Rüde steht imponierend einem Konkurrenten gegenüber. Er fixiert diesen, um seine Vorrechtsposition zu verdeutlichen und den Konkurrenten zu vertreiben.
„Aggressionsverhalten dient der Schaffung oder Aufrechterhaltung von räumlichen und/oder zeitlichen Distanzierungen und dazu, die eigenen Interessen im Konflikt um Ressourcen obsiegen zu lassen.“ (Schöning, 2008)
Beispiel: Der Hund steht vor seinem vollen Fressnapf in der Küche und hält die Hundehalter durch Knurren auf Distanz.
„Aggressiv in diesem Sinne ist jedes Verhalten, das geeignet und darauf ausgerichtet ist, die Fitness eines Konkurrenten zu mindern, indem ihm ein Fitness begrenzendes Gut weggenommen oder vorenthalten wird, das dadurch der Steigerung der Fitness des Aggressors zugute kommt.“ (Eibl-Eibesfeldt, 1999)
Beispiel: Ein Rüde nimmt dem im gleichen Haushalt lebenden Rüden einen Knochen weg, indem er fixierend auf ihn zugeht und knurrt.
Aggressionen dienen unter anderem dazu, eine räumliche Distanz zum Gegner zu schaffen und sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen. Werden die biologischen Grundbedürfnisse wie z. B. Futter, Wasser, Schlaf, Gesundheit, Sozialkontakt und Fortpflanzung nicht befriedigt, kann sich ein fehlgeleitetes Aggressionsverhalten entwickeln. Dieses kann gegen sich selbst oder durch Frustration gegen ein anderes Objekt oder Lebewesen gerichtet sein. Für jedes Lebewesen ist die Erhaltung und auch die Steigerung der biologischen Grundbedürfnisse ein Lebensprinzip. Das Erreichen dieser Ziele wird in intra- und interspezifische Aggression unterteilt. Intraspezifische Aggression bedeutet gegen Artgenossen gerichtete und interspezifische Aggression gegen Nicht-Artgenossen gerichtete Aggression.
Dieser Hund zeigt territoriale Aggression und verbellt den Eindringling.
Erhalt / Erweiterung des Territoriums
Soziale Rudelrangordnung (Bildung exklusiver Verbände wird gefördert, über Rivalenkämpfe werden die Gewinner für die Fortpflanzung herausgefiltert, Verteidigung einer internen Bindung gegenüber Konkurrenz, Erziehung von Jungtieren)
Fortpflanzung / Erhalt der eigenen Gene
Erziehung von Jungtieren
Nahrungserwerb
Selbstverteidigung / Schadensvermeidung
Frustabbau
Erhalt / Erweiterung des Territoriums
Nahrungserwerb
Selbstverteidigung / Schadensvermeidung
Frustabbau
Er zeigt deutlich, dass er bereit ist, sein Grundstück zu verteidigen.
Die Wichtigkeit einer Ressource, diese zu erlangen oder zu behalten, muss im Gegenzug zu den Chancen abgewogen werden, diese zu verlieren bzw. nicht zu erhalten. Es wird eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt. Das bedeutet, dass der Aggressor die Risiken des Angriffs abwägen muss, ob er also das Risiko einer evtl. Verletzung gegenüber den Chancen und der Wichtigkeit dieser Ressource eingehen will.
Die Bedeutung einer Ressource wird dabei stets individuell bewertet. So kann es sein, dass es um eine objektiv betrachtete Ressource von geringem Wert wie z. B. einen Ball eine ernsthafte Auseinandersetzung gibt, der daneben stehende Futternapf jedoch keines Blickes gewürdigt wird.
In der Gen- und Verhaltensforschung gibt es immer wieder Untersuchungen an verschiedenen Säugetieren, die eine Klärung über angeborene und erlernte Verhaltensentwicklung bringen sollen. Es lässt sich feststellen, dass es keine völlig angeborenen Merkmale gibt, die Reaktionsnorm aber vererbt wird. Beim Hund kann sich ein Verhalten auch über interaktive Lernprozesse wie Beobachtungslernen und Gewohnheit entwickeln.
Beispiel: Die Mutter eines Wurfes Welpen ist eine unsichere und auf Menschen schlecht geprägte bzw. schlecht sozialisierte Hündin. In der Zeit zwischen der 4. und 8. Lebenswoche kommen nun Interessenten für die Welpen zu Besuch. Die Hündin schießt schon beim Ertönen der Klingel bellend zur Haustür. Die Besucher werden die ganze Zeit misstrauisch beobachtet und bei jeder schnelleren Bewegung erfolgt eine Scheinattacke durch die Hündin. Die Welpen erleben nun in dieser wichtigen prägenden Zeit das Verhalten der Hündin gegenüber fremden Menschen. Sie erlernen damit das Verhalten der Mutterhündin durch Beobachten sowie Gewohnheit. Inwieweit eine generelle Unsicherheit und dadurch entstehende Aggression bereits durch die Gene der Mutter bei den Welpen veranlagt ist, kann aufgrund der Beeinflussung durch das Zusammenleben mit der Mutter nicht mehr eindeutig abgegrenzt werden.
Amos (rechts) zeigt imponierendes Verhalten. Mit hoch erhobener Rute und nach vorne gerichteten Ohren geht er im Imponiergalopp um Gaia herum. Diese läuft beschwichtigend, mit angelegten Ohren, einen Bogen.
Kommunikation hat immer etwas mit einem Absender und einem Adressaten zu tun. Je nachdem, wie souverän oder unsicher der Absender oder Adressat ist bzw. sich verhält, kann schon das Imponieren oder Erscheinen in einem bestimmten Terrain zu aggressiven Auseinandersetzungen führen. Beides kann als eine Provokation aufgefasst werden, muss aber nicht.
Das Imponierverhalten gehört zu den agonistischen Verhaltensweisen. Diese zeigt ein Lebewesen immer nur dann, wenn ein Artgenosse bzw. Sozialpartner das eigene Verhalten stört. Imponierverhalten kann somit als Vorstufe des aggressiven Verhaltens angesehen werden. Auch wenn Imponieren keine direkte Drohung ist, bedeutet es eine Provokation.
Info
Definition Imponieren
„Eindruck machen; Imponiergehabe ist ein Ausdruck zur Demonstration von hohem sozialen Status und Territorialanspruch.“ (Feddersen-Petersen, 2004)
Ohren nach vorne gerichtet
Kopfhaut angespannt
Pupillen normal bis klein
Lefzen gespannt
Maulspalte kurz
Markieren mit zum Adressaten gerichteten oder ungerichteten Blick
Scharren zur Untermalung (mit den Hinterbeinen oder mit allen vier Beinen im Wechsel)
Gerichtetes Scharren
Demonstratives Schnuppern
Steifbeiniges Gehen (Gelenke sind durchgedrückt)
Imponiertrab, Imponiergalopp
Gerader Rücken
Steifbeinig umeinander herumgehen, T-Stellung (der Imponierende formt den Balken)
Rute wird nach oben getragen, leicht wedelnd, teilweise gerichtetes Wedeln
Hals steif nach oben
Kopf waagerecht
Ohren mehr oder weniger nach vorne gerichtet
Schnauzenkontrolle oder Analkontrolle
Ansatz von Kopfauflegen
Imponierverhalten tritt in übersteigerter Form zur Selbstdarstellung bei einem hohen sozialen Status und zur Demonstration eines momentanen Territoriums auf. Es kann auch sexuell motiviert sein, dieses Verhalten findet bei Haushunden unabhängig von der Jahreszeit statt. Dies liegt darin begründet, dass Hündinnen – im Gegensatz zum Wolf – mehrmals im Jahr läufig werden. Die Regel ist eine zweimalige Läufigkeit im Jahr, je nach Hund und Rasse kann es aber auch bis zu drei- oder viermal im Jahr zu einer Läufigkeit kommen. Zudem besteht keine Beschränkung auf eine bestimmte Jahreszeit wie es beim Wolf der Fall ist. Hündinnen können zu jedem Zeitpunkt im Jahr läufig werden. Daher gibt es keine Beschränkung des Imponierverhaltens aufgrund sexueller Motivation, wozu neben dem Vertreiben von Konkurrenten auch die Sicherung eines Territoriums sowie das Erstreiten von Ressourcen für das Überleben des Nachwuchses gehört. Wenn also aus der Sicht eines sexuell stark motivierten Haushund-Rüden, ständig potenzielle Sexualpartnerinnen „greifbar“ sind, warum nicht dann auch das ganze Jahr durchgängig sexuell imponieren?
Das Markierverhalten tritt in Anwesenheit von anderen Hunden oder dort, wo grundsätzlich viele Hunde verkehren, sehr häufig auf – sprich: überall da, wo es Urin- oder Kotmarkierungen und läufige Hündinnen gibt. Es kann auch im Beisein des Menschen häufiger auftreten, als wenn der Hund alleine ist. In diesem Fall kann das Imponierverhalten durchaus auch an den Hundehalter gerichtet sein. Für unsere Hunde existieren zwar äußere Territorien (Aktionsraum), diese können aber kaum erfolgreich verteidigt werden. Keiner kann den markierten Besitzanspruch beachten, denn Hunde können nur begrenzt entscheiden, wie der gemeinsame Spaziergang mit dem Menschen aussieht. Eine geruchliche und optische Überreizung findet statt, die für viele Hunde auch zu Stress führen kann. Die Geste des Markierverhaltens, ohne dass der Hund auch nur den kleinsten Tropfen Urin absetzt, ist ebenfalls ein Ausdruck der Reizüberflutung auf unseren Spazierwegen. Aus meiner Sicht sollte ein solches Verhalten unter keinen Umständen vom Menschen gemaßregelt werden. Ich sehe hier die Menschen in der Pflicht, ihren Hund geistig anders und vor allem intensiver zu beschäftigen, so dass dieser aus der Spirale von Stress wieder herauskommen kann.
Amos markiert mit erhobenem Hinterbein an einen Baum. Sein Blick ist fixierend in Richtung eines Konkurrenten gerichtet.
Trainingsplan
Verhalten auf dem Spaziergang
Die erste Lerneinheit, die vom Welpen gefordert wird, ist meist die Stubenreinheit. Unsere Hunde leben in der Regel zusammen mit dem Menschen im Haus, sie haben nur selten ständig freien Zugang zu einem Außengelände, auf dem sie sich lösen können. Daher ist es für ein entspanntes Zusammenleben von Mensch und Hund wichtig, dass ein Hund lernt, seine Blase zu kontrollieren und nur dann zu urinieren bzw. zu koten, wenn sein Mensch ihm dazu die Möglichkeit gibt. Häufig sieht ein Spaziergang allerdings dann wie im folgenden Beispiel aus:
Kaum haben Frau Singer und Felix die Eingangstür des heimatlichen Grundstückes verlassen, hebt der Rüde am Tor das Bein. „Na sicher, er muss ja auch dringend, war er doch die letzten vier Stunden nicht draußen!“ denkt sich Frau Singer. Dann geht es weiter. Bis zum Park, in dem der Hund frei laufen darf, sind es noch einige Hundert Meter. Frau Singer setzt den Spaziergang fort, jedoch kommt sie nicht weit. Nach etwa 50 m schnuppert Felix interessiert am Zaun der Nachbarn, deren Hündin heute nicht im Garten ist. Auch hier hebt er noch einmal das Bein. Und so setzt sich der Weg fort. Für die kurze Strecke brauchen Frau Singer und Felix 10 Minuten, da er immer wieder ausgiebig schnüffeln und das Bein heben will. Frau Singer bleibt dabei immer stehen und wartet, bis Felix fertig ist. Schließlich muss er ja anscheinend wirklich! Dass Felix bei den letzten Stellen kaum noch Urin absondert, fällt ihr nicht auf.
Für Felix steht das „sich Lösen“ kaum im Vordergrund. Er zeigt vielmehr ausgeprägtes Markierverhalten, er uriniert über Markierungen anderer Rüden, um seinen Anspruch auf das Territorium zu verdeutlichen oder auch über die Lösestellen von Hündinnen, um Anspruch auf die Hündin zu erheben. Da sich Frau Singer die ganze Zeit anpasst und stehen bleibt, wenn ihr Rüde schnüffeln oder urinieren will, akzeptiert sie damit indirekt die von Felix gestellten Ansprüche. Das Markieren ist somit nicht nur an Artgenossen gerichtet, sondern auch an Frau Singer.
Nach dem Markieren wird imponierend mit erhobener Rute gescharrt.
Natürlich muss ein Hund die Möglichkeit bekommen, sich nach einem längeren Aufenthalt in der Wohnung zu lösen. Hier bietet es sich z. B. an, einen Löseplatz im Garten einzurichten. Dieser sollte sich an einer strategisch unwichtigen Stelle befinden, also nicht direkt im Eingangsbereich oder an der Grenze zu einem Weg. Hat man keine Möglichkeit eines solchen Löseplatzes, sollte man eine ähnlich unstrategische Stelle in unmittelbarer Nähe der Wohnung finden. Der Hund sollte auf keinen Fall die Möglichkeit bekommen, den Eingangsbereich zu markieren. Besonders bei territorial veranlagten Hunden würde damit der scheinbare Besitzanspruch des Hundes hervorgehoben werden und territorial motivierte Aggressionsprobleme wie z. B. das Verbellen von Menschen und Hunden, die am Grundstück entlanggehen, erhöhen. Ein Hund kann also durchaus noch einige Meter laufen, bevor er sich lösen darf. Hat er sich gelöst, setzt der Mensch den Spaziergang weiter fort, ohne besondere Rücksicht auf den Hund zu nehmen. Der Mensch als agierender Part bestimmt nun die Strecke und die Geschwindigkeit, er bleibt nicht andauernd stehen, um auf seinen Hund zu warten. Auch ein unkastrierter Rüde kann lernen, seine Blase zu Beginn des Spaziergangs komplett zu entleeren. Möchte der Hund weitere Stellen markieren, kann man dies vermeiden, indem man um bekannte Markierstellen einen Bogen läuft und dem Hund so die Möglichkeit des Markierens nimmt, oder aber einfach in unvermindertem Tempo weiterläuft.
Im Park angekommen, darf Felix frei laufen. Sofort schnüffelt er sämtliche für ihn interessante Stellen ab, markiert und scharrt danach mit allen vier Pfoten. Frau Singer beachtet er dabei kaum noch. Als diese ihn rufen will, reagiert der Rüde nicht. Er schnüffelt noch ausgiebig zu Ende und erst nach mehrmaligem Rufen dreht er sich gelassen um und schlendert langsam in Richtung Mensch. Felix geht im Freilauf seinem Bedürfnis nach, wichtige Stellen zu kontrollieren und zu markieren. Sein Mensch spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Rufe ignoriert Felix zunächst einmal bewusst. Er beendet seine begonnene Handlung und entscheidet somit selbst, ob und wann er zu seinem Menschen kommt. Das Signal führt er zudem bewusst langsam aus, damit zeigt er deutlich, dass die Ausführung für ihn keine große Rolle spielt.
Sich frei zu bewegen ist ein wichtiges Bedürfnis für einen Hund, das ihm so weit es möglich ist, auch erfüllt werden sollte. Daher darf ein Hund im Freilauf natürlich auch markieren. Ein souveräner Hund ignoriert das Markieren eines anderen Hundes. Und genauso sollte sich auch der Mensch verhalten. Der Spaziergang wird einfach weiter fortgesetzt, ohne dass man seinem Hund dabei Beachtung schenkt. Jedoch sollte ein Freilauf immer wieder einmal mit begrenzten Zeiträumen abwechseln. Dies kann ein zeitweises Laufen an der Leine oder aber auch ein Training wie z. B. eine Suche nach einem versteckten Gegenstand sein. In dieser Zeit muss sich der Hund am Menschen orientieren. Bei der Durchführung von Beschäftigungsformen, die für den jeweiligen Hund spannend sind, lernt der Vierbeiner, dass es sich lohnt, immer auf seinen Menschen zu achten. Ein Hund, der seinen Menschen zunächst noch ignoriert und sich nicht an ihm orientiert, sollte an der Schleppleine geführt werden. So kann er sich nicht entziehen und ein Signal wie z. B. das Herankommen kann über positive Verstärkung, wie z. B. der Gabe eines besonderen Leckerchens oder dem Start eines tollen Spiels, trainiert werden.
Amos geht begeistert auf das Spiel mit Nicole ein. In diesem Moment interessiert ihn seine Umgebung nicht.
Frau Singer und Felix sind nun bereits einige Zeit unterwegs, als ihnen ein freilaufender Hund entgegenkommt. Der dazugehörige Mensch befindet sich einige Meter dahinter.
Felix versucht durch sein Imponierverhalten, den entgegenkommenden Hund zu beeindrucken. Hierzu macht er sich groß, geht steif auf allen vier Beinen. Er nimmt den eventuellen Konkurrenten genau ins Visier und verdeutlicht ihm, dass eine Annäherung nicht erwünscht ist. Als sich der Hund trotzdem immer weiter nähert, startet Felix eine Scheinattacke, er läuft in schnellem Tempo auf den anderen Hund zu. Da dieser nicht abdreht und wegläuft, verfällt Felix kurz vor ihm in den Imponiergalopp. Dieser endet mit einem deutlichen Aufstampfen. Da der andere Hund auch hiervon völlig unbeeindruckt ist, wird Felix körperlich und rempelt den Hund an. Diese Aktion ruft beim anderen Hund ebenfalls eine körperliche Reaktion hervor. Die Rempelei geht in ein „Rennspiel“ über, bei dem jeder den anderen übertrumpfen möchte. Wie schön die beiden doch miteinander spielen!“ denkt Frau Singer in dieser Situation. Doch auch wenn das Rennspiel von den beiden Hunden genutzt wird, eine ernsthafte körperliche Reaktion zu vermeiden, hat es im eigentlichen Sinn nichts mit Spiel zu tun. Vielmehr ist es ein Abchecken der Kräfte und Stärken des Gegners.
Amos kommt frontal im Imponiertrab mit erhobenem Kopf, nach vorne gerichteten Ohren und fixierendem Blick über den Nasenrücken auf Quintin zu. Der Golden Rüde senkt beschwichtigend den Blick.
Amos versucht durch Schupsen, Aufreiten und Klammern die Bewegung von Quintin einzuschränken.
Bei der Begegnung mit anderen Hunden sollte ein stark imponierendes Verhalten vermieden werden. Den entgegenkommenden Hund fixieren, auf ihn zustürmen und ihn dann anrempeln, dies sind Verhaltensweisen, die als Provokation aufgefasst werden können und somit ein aggressives Verhalten zur Folge haben können. Sehr schnell wird aus einer solchen Scheinattacke Ernst. Daher sollten Hunde beim Spaziergang generell nicht aus weiter Entfernung Kontakt miteinander aufnehmen. Die zwangsweise dadurch entstehende Dynamik führt fast immer zu einem Erstkontakt, der für beide Hunde Stress bedeutet.