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Das Barockzeitaler wird gemeinhin der Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts zugewiesen. Peter Hersche, ausgewiesener Kenner dieser Zeit, stellt in seinem neuen Buch über den ländlichen Katholizismus die These vor, dass die religiösen Mentalitäten und Verhaltensweisen im ländlichen Raum bis weit ins 20.
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Seitenzahl: 636
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Vorwort
Einleitung: Quellen und Methode, räumliche und zeitliche Eingrenzung
1 Allgemeine Strukturelemente in Appenzell und Obwalden
1.1 Geografische Situation
1.2 Siedlung, Bevölkerung, Verkehr
1.3 Wirtschaft
1.4 Politik
1.5 Soziale Schichtung
1.6 Kirchliche Organisation und schulische Verhältnisse
1.7 Allgemeine Bemerkungen zu den übrigen miteinbezogenen Gebieten
Anmerkungen
2 Sozialstruktur und Arbeitsorganisation der landwirtschaftlichen Bevölkerung
2.1 Zur Typologie der voralpinen Landwirtschaft
2.2 Die Familie als Grundlage des landwirtschaftlichen Betriebs
2.3 Soziale Verhältnisse und Ungleichheit innerhalb der Bauernschaft
2.4 Soziale Beziehungen, Konkurrenz und Solidarität
2.5 Die Einteilung des bäuerlichen Arbeitstages
2.6 Saisonalität, Arbeitsspitzen und -flauten
2.7 Nebenerwerb der Männer und Heimarbeit der Frauen
Anmerkungen
3 Traditionelle bäuerliche Mentalität und Vorboten des Wandels
3.1 Hochwertung des Bauernstands und Ablehnung des Industrialismus
3.2 Arbeitsethik zwischen Freiheit und sozialer Kontrolle
3.3 Vom ästhetischen zum Renditedenken
3.4 Zeitbewusstsein und Zeitdisziplin
3.5 Das Verhältnis zum Geld und zum Risiko
3.6 Die Vehikel der Modernisierung: Landwirtschaftliche Schulen und Maschinen
Anmerkungen
4 Repräsentantin der Religion: Die Geistlichkeit
4.1 Herkunft, rechtliche Stellung und sozialer Status des Klerus
4.2 Die Begegnung von Geistlichen und Volk
4.3 Kritik und Konflikte
4.4 Das demokratische Staatskirchentum und die Problemfälle im Klerus
4.5 Das geistliche Hilfspersonal: Pfarrhaushälterin und Mesner
4.6 Der Beitrag der Orden
4.7 Die spezielle Seelsorge der Kapuziner und die «Kapuzinermittel»
Anmerkungen
5 Individuelle Religiosität
5.1 Die täglichen Gebete und religiösen Handlungen
5.2 Frömmigkeit unterwegs
5.3 Zeichen und Namen
5.4 Die Wallfahrt: Motive, Ziele und Ausführende
5.5 Die Durchführung der Wallfahrt
5.6 Geschlechterspezifische Unterschiede der Frömmigkeit
5.7 Die andere Seite: Aberglaube und Magie
Anmerkungen
6 Soziale Religiosität
6.1 Die Organisationen: Von den Bruderschaften zu den Vereinen
6.2 Prozessionen
6.3 Andachten
6.4 Der gemeinsame Rosenkranz
6.5 Heiligenverehrung und Bauernheilige
6.6 Religiöse Handlungen rund um die bäuerliche Tätigkeit
6.7 Die Kirche und die weltlichen Feste
Anmerkungen
7 Der Sonntag
7.1 Die Gottesdienste: Angebot und Nachfrage
7.2 Innere Teilnahme und unandächtiges Verhalten
7.3 Nach der Messe
7.4 Das Problem der Christenlehre
7.5 Sonntagsheiligung und Sonntagsarbeit
7.6 Der profane Sonntag
Anmerkungen
8 Sakralprunk und -verschwendung
8.1 Sakrallandschaft und Kirchenausstattung
8.2 Die Wertung des künstlerischen und liturgischen Sakralprunks
8.3 Die kirchlichen Feste und ihre Feiern
8.4 Die Gestaltung der Übergangsriten und die Bedeutung der Tracht
8.5 Der Totenkult
8.6 Der Ablass
8.7 Die Seelenmessen
Anmerkungen
9 Die Moral: Theorie und Praxis
9.1 Alltägliche und besondere Gelegenheiten zur Vermittlung der Morallehre
9.2 Die Rolle der Schule und der Lehrer
9.3 Die Praxis der Beichte
9.4 Widerständigkeit und Verletzung der Normen
9.5 Das Tanzen als Beispiel der Normendevianz
9.6 Tabuisiert und dennoch diskutiert: Die Sexualität
Anmerkungen
10 Schluss
10.1 Katholiken und Protestanten: Gemeinsamkeiten und Differenzen
10.2 Gleich und verschieden: Appenzell und Obwalden
10.3 Klerikale Zumutungen und laikaler Eigenwille
10.4 Barocke Ströme unter dem Schutt des 19. Jahrhunderts
10.5 Anpassung und Widerstand: Elemente des konziliaren Wandels
10.6 Zwei traditionale Welten im Untergang
Anmerkungen
Anhang
Verzeichnis der Archive und der handschriftlichen Quellen
Gedruckte Quellen und Literatur
Verzeichnis der Abkürzungen
In meinem Buch «Musse und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter» (Herder, Freiburg 2006) habe ich, entgegen den gängigen Modernisierungstheorien, versucht, eine dem frühneuzeitlichen Katholizismus eigene und andersgeartete Mentalität («Positive Rückständigkeit») herauszuarbeiten, welche diese Gesellschaft bis in die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts entscheidend prägte und in einem diametralen Gegensatz zur «Protestantischen Ethik» (Max Weber) stand. Trotz der fundamentalen Kritik der Aufklärung daran und den in mehreren Staaten versuchten Massnahmen, auch den Katholiken auf allen Ebenen zu einem «modernen» Menschen umzuschaffen, lebten diese Einstellungen gleichwohl in etwas veränderter Form im 19. Jahrhundert wieder auf und hielten sich trotz allen gegenteiligen Bestrebungen, etwa durch den Liberalismus, in grossen Teilen bis zur erneuten umfassenden Modernisierungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg, beziehungsweise kirchlicherseits bis zum Zweiten Vatikanum – jenseits bloss politischer Ereignisse ist die Zeit zwischen etwa 1955 und 1960 deshalb eine Epochenschwelle.
Im vorliegenden Werk versuche ich, im Sinn einer derzeit gerade noch möglichen Spurensicherung, in einem beschränkten räumlichen Rahmen und mit der Methode der «oral history», die letzten Reste dieser nun fast vollumfänglich verschwundenen Einstellungen und ihre Auswirkungen im Alltagsleben ausfindig und dingfest zu machen. Der auch im 20. Jahrhundert erhebliche Mangel an schriftlichen Quellen zu diesen Fragen lässt es als dringend erscheinen, diese «spätestbarocke» Mentalität zu dokumentieren, bevor ihre letzten Träger verschwunden sind: Meine Interviewpartner und -partnerinnen waren Personen, welche die unmittelbare Nachkriegszeit als junge Erwachsene noch bewusst miterlebt haben, heute aber in einem Alter von über 75 Jahren stehen (mehrere sind inzwischen verstorben). Es ging also um eine Bestandesaufnahme in letzter Stunde, denn in ein bis höchstens zwei Jahrzehnten wird diese «world we have lost» (Peter Laslett) nicht mehr oder nur noch fragmentarisch zu rekonstruieren sein. Schon jetzt stiess ich bei einigen Fragen auf Erinnerungslücken.
Bei der Arbeit an dem eingangs erwähnten Buch beschäftigten mich mehrere mentalitätsgeschichtliche Fragen, die sich aufgrund der problematischen Quellenlage nicht mit Sicherheit beantworten liessen. Es waren jedoch Sachverhalte, bei denen man eine gewisse Kontinuität bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein erwarten konnte. Deswegen habe ich schon dort gelegentlich volkskundliche Studien zum 20. Jahrhundert benutzt, als Anregung, auf mögliche Kontinuitäten zu achten, sowie neue Fragen an die Quellen zu stellen und sie im Lichte späterer Entwicklungen stimmiger zu interpretieren. In der vorliegenden Untersuchung richtete ich an meine Interviewpartner neben eher allgemeinen auch bestimmte gezielte Fragen. Damit wollte ich versuchen, Lücken in den schriftlichen Quellen aus dem Barockzeitalter zu schliessen und unter Beachtung späterer Veränderungen einige hypothetische Aussagen des obengenannten Werks zu überprüfen, zu präzisieren, wenn nötig zu korrigieren oder auch fallen zu lassen. Gleichzeitig wollte ich damit die dort nur grob skizzierte These vom (endgültigen) «Untergang des Barock» nach 1945 etwas ausführlicher begründen.
Neben diesen konkreten Anliegen leitete mich eine dritte allgemeinwissenschaftliche Zielsetzung. Gegenüber einer immer noch stark auf Dogmen, Institutionen, Parteien, Personen und das Verhältnis zum Staat bezogenen Kirchengeschichte möchte ich einer mehr die sozialen, ökonomischen und kulturellen Folgeerscheinungen der Religiosität, in diesem Falle einer bestimmten Konfession, betonenden Geschichte, unter Berücksichtigung anderer und neuer methodischer Ansätze, das Wort reden. Ich gehe damit einig mit meinem Freiburger Kollegen Urs Altermatt. In seinem grundlegenden Werk «Katholizismus und Moderne» hat er neben entsprechenden theoretischen Ausführungen bereits Mitte der 1980er-Jahre auch einige Bereiche des katholischen Alltags mit «oral history» und schriftlichen Quellen untersucht (S. 261ff.), diesen Ansatz dann aber sowohl selber wie in den Arbeiten seiner zahlreichen Schüler leider nicht mehr systematisch weiterverfolgt, und er ist auch sonst ohne Nachfolge geblieben.
War somit, von der erwähnten Ausnahme abgesehen, das Interesse der Historiker an diesen Phänomenen gleich null, so hat besonders das Fach Volkskunde dem auf diesem Feld arbeitenden Wissenschaftler nicht Weniges zu bieten und war methodisches Vorbild. Prinzipiell geht es im vorliegenden Projekt allerdings nicht um eine traditionelle Darstellung der sogenannten Volksfrömmigkeit vor den radikalen Veränderungen im Umfeld des Zweiten Vatikanums. Dieses Forschungsgebiet ist für die Schweiz bereits recht gut dokumentiert, namentlich durch die Arbeiten von Walter Heim. Jedoch war und bleibt es mein Wunsch, dem seinerzeit gepflegten, heute aber zur Unbedeutsamkeit herabgesunkenen Fach der «Religiösen Volkskunde» unter veränderten Bedingungen vielleicht eine wissenschaftliche Zukunft zu bahnen. Französische Historiker, besonders solche aus dem Umkreis der sogenannten Ecole des Annales, haben den Untergang der traditionellen Landwirtschaft und der traditionellen Religiosität als die beiden grössten Verlusterfahrungen des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Diesem Urteil kann man wohl für ganz Europa beipflichten. Dass zwischen beidem ein Zusammenhang bestehen könnte, wurde allerdings in der Geschichtswissenschaft wenig beachtet. An die Forschungen zur religiösen Volkskunde anzuknüpfen und davon ausgehend neue Wege der Analyse dieser spezifisch agrarischen Religiosität zu beschreiten, war ein weiteres Motiv dieses Buchs.
Der schon vor dem Konzil sich abzeichnende tiefgreifende Wandel der katholischen Religiosität ist nicht Thema dieses Buchs (auch meine Interviewpartner habe ich, wenn sie unbeabsichtigt darauf zu sprechen kamen, obschon ungern, wieder zur Ordnung rufen müssen). Dennoch stellt er zweifellos ein Forschungsdesiderat ersten Ranges dar, das ebenfalls in Angriff genommen werden müsste, nachdem auch die geistlichen und weltlichen Protagonisten des Konzils im Greisenalter stehen oder bereits verstorben sind. Dass die Frage nach der barock-katholischen Mentalität alles andere als veraltet ist, habe ich in meinem Buch «Gelassenheit und Lebensfreude. Was wir vom Barock lernen können» (Herder, Freiburg 2011) zu zeigen versucht. Auch die vorliegende Untersuchung kann daran anknüpfen – noch leben unter uns Personen, welche eine ganz andere Lebenseinstellung als die heute vorherrschende haben. Um der Gefahr zu entgehen, bloss luftige Thesen in den Raum zu stellen, scheint es mir wichtig, dies zu dokumentieren. Die Resultate dieser Studie können vielleicht dazu beitragen, den um 1950 in der Schweiz und etwas phasenverschoben in ganz Europa einsetzenden gewaltigen Umbruch in allen Lebensbereichen unter veränderten Aspekten zu beleuchten und so besser zu verstehen.
Im Gegensatz zu meinen erwähnten anderen Werken sind diesmal, besonders bedingt durch die gewählte Methode, viele Verdankungen anzubringen. Wie noch im Einzelnen auszuführen sein wird, konzentriert sich die Untersuchung auf die beiden Kantone Appenzell Innerrhoden (unter Ausschluss der Exklave Oberegg) und Obwalden (mit Engelberg). In ersterem, meiner Heimat, hätte ich wohl mit von altersher bestehenden Beziehungsnetzen passende Interviewpartner finden können, allerdings gleichwohl mit einigem Zeitaufwand. Deswegen war es eine grosse Hilfe, dass mir Frau Franziska Raschle eine Liste mit regelmässigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dem von ihr initiierten und geleiteten «Erzählcafé» zur Verfügung stellte. Bei Kaffee und Kuchen tauschen hier die Senioren regelmässig zu einem vorgegebenen Thema ihre Erinnerungen aus. Es handelt sich bei ihnen infolgedessen allesamt um an der Vergangenheit interessierte Menschen, was sich auf meine Recherchen sehr positiv auswirkte: Fast alle waren zu einem Interview bereit. Ein stets aufmerksamer und interessierter wissenschaftlicher Gesprächspartner und Helfer in Vielem war der Volkskundler Roland Inauen, Konservator am Museum Appenzell. Ausserdem halfen mir Achilles Weishaupt, Josef Inauen und Johann Manser mit ihrem grossen lokalen Wissen bei einigen Spezialfragen. Pfarrer Stephan Guggenbühl öffnete mir das Pfarrarchiv und unterhielt sich mit mir über das Thema der Stiftmessen. In der Landesbibliothek konnte ich stets auf die Hilfe von Doris Überschlag zählen, im Landesarchiv auf diejenige von Stephan Heuscher. Innerrhoden kann nicht vollständig ohne die Folie der anderen Konfession im benachbarten protestantischen Ausserrhoden betrachtet werden; dazu verdanke ich Hans Hürlemann, Urnäsch, und Albert Tanner, Bern, sachkundige Auskünfte.
Die Forschungen in Obwalden wären nicht möglich gewesen ohne die tatkräftige Unterstützung von a. Pfarrer Karl Imfeld, Kerns, einem der letzten profilierten Vertreter der religiösen Volkskunde in der Schweiz. Selber forschend tätig und unermüdlich publizierend, stellte er mir sein umfassendes Wissen zu seiner Heimat vorbehaltlos zur Verfügung. Vor allem aber konnte er mir eine grössere Anzahl Personen nennen, die zu einem Interview bereit waren. Die Nennung seines Namens öffnete dann dem Fremden alle Türen. Staatsarchivar Angelo Garovi half mir mit «Literaturgeschenken» und weiteren Hinweisen. Informationen zu einigen landwirtschaftlichen Fragen verdanke ich Petra Omlin und Paul Küchler. In Engelberg, jenem einstigen, jetzt zu Obwalden gehörigen geistlichen Kleinstaat, öffnete mir mein ehemaliger Berner Kollege, Stiftsarchivar Rolf De Kegel, die Pforten. Stiftspfarrer Bernhard Mathis OSB stellte mir daraufhin eine Liste mit möglichen Interviewpartnern zusammen, die sich ebenfalls ausgezeichnet bewährte. Rolf De Kegel und Katharina Odermatt verdanke ich einige zusätzliche Informationen.
Am Rande habe ich noch, um etwas Kontrastfarbe ins Bild zu bringen, auch die protestantische ländliche Religiosität am Beispiel von Bern, insbesondere des Oberlandes, etwas genauer betrachtet; ein systematischer Vergleich der protestantischen mit der katholischen Mentalität musste allerdings unterbleiben. Einblicke in diese mir etwas fremde Welt erhielt ich durch die Pfarrer Simon Kuert, Langenthal, und Ernst von Känel, Spiez.
Wie jeder Kenner weiss, spielen die Kapuziner in der ländlichen katholischen Religiosität eine grosse Rolle. Ich hatte das Glück, noch einige ältere Patres interviewen zu können. Die Namen sollen aber hier aus Vorsichtsgründen nicht erwähnt werden, da es in den Gesprächen auch um die etwas umstrittenen «Kapuzinermittel» zur Heilung von kranken Menschen und besonders um krankes Vieh ging.
Abschliessend sei noch den Leitern der besuchten Archive Dank abgestattet: Stefan Kemmer vom Bistumsarchiv St. Gallen, Albert Fischer von demjenigen in Chur und Christian Schweizer vom Provinzarchiv der Schweizer Kapuziner in Luzern.
Bei der Beschaffung des Bildmaterials waren mir Roland Inauen, Appenzell, und Klara Spichtig, Sarnen, eine grosse Hilfe.
Allen Mitarbeitern des Verlags hier + jetzt danke ich für die stets angenehme und reibungslose Zusammenarbeit bei der Publikation.
Den grössten Dank schulde ich allerdings allen meinen hier anonym bleibenden Interviewpartnern und -partnerinnen. Nach Jahren blossen Bücherstudiums waren die Besuche auf den Bauernhöfen und den übrigen Alterssitzen nicht nur wissenschaftlich ergiebig, sondern auch menschlich eine angenehme Abwechslung. Überall wurde ich wohlwollend empfangen, und die Gespräche verliefen in freundschaftlicher Atmosphäre, ohne den heute allgegenwärtigen Zeitdruck.
Ursellen, Frühjahr 2013
Peter Hersche
Wie bereits erwähnt, beruht die Untersuchung zunächst auf Interviews, die ich zum grössten Teil in den Jahren 2006 und 2007 gehalten habe. Die Gespräche fanden fast alle in den Wohnungen der Interviewpartner statt und dauerten in der Regel etwa zwei Stunden. Sie wurden auf MD (Mikrodisc) aufgezeichnet. In beiden Regionen, Appenzell und Obwalden, waren es jeweils rund 20 Interviews. In Appenzell kamen einige eher zufällig sich ergebende kurze Gespräche mit Bekannten hinzu, die nicht auf Tonträger aufgezeichnet wurden und bei denen ich bloss im Verlauf oder nachträglich einige stenografische Notizen machte. Die genannte Zahl ist nicht sehr gross, doch ergaben sich nach etwa 12–15 Befragungen immer häufiger Wiederholungen von bereits Gesagtem, und es war ein Sättigungspunkt erreicht, der ohne grosse Bedenken eine Beendigung der Interviewtätigkeit in der betreffenden Region erlaubte. Andererseits ist das Verfahren der «oral history» natürlich immer offen. Etwas frustrierend, aber wohl unvermeidlich ist nämlich der Sachverhalt, dass nach einem Dutzend oder mehr Gesprächen ein Befragter eine interessante Feststellung zu einem Gegenstand machen kann, an den man selber zunächst nicht gedacht und den man deshalb auch nicht in den Fragenkatalog aufgenommen hat. Man hätte also nochmals von vorne anfangen können und die früheren Interviewpartner nochmals aufsuchen müssen. In diesen Fällen habe ich höchstens die im Vorwort erwähnten Kontaktleute nochmals befragt.
Fast alle Befragten waren zum Zeitpunkt der Interviews über 75 Jahre alt. Ich habe auf eine ausgeglichene Geschlechterverteilung geachtet, die Männer überwiegen jedoch leicht. Die allermeisten Interviewpartner waren Bauern oder wenigstens dem bäuerlichen Milieu noch verbunden, nicht wenige habe ich auf ihren Höfen aufgesucht. Dies war Absicht, denn mich interessierten ja besonders die engen Zusammenhänge der Religiosität mit der bäuerlichen Arbeit. Die dörflichen Eliten habe ich prinzipiell nicht berücksichtigt, auch Handwerker kommen nur am Rande vor. An Mesner und Polizisten habe ich mich mit spezifischeren Fragen gewandt. Erstere können etwas aussagen über allerlei konkrete kirchliche Probleme, Letztere etwas zur Frage der Normdurchsetzung in einer Gesellschaft. Angefragt habe ich zunächst stets nur Einzelpersonen. Wenn dann aber in einigen Fällen im Verlauf des Gesprächs der Ehepartner hinzutrat und sich schliesslich auch daran beteiligte, habe ich auch ihn oder sie ins Gespräch miteinbezogen. Zwar komplizierte dies die Interviewsituation ein wenig, doch konnte ich gelegentlich aus dem Paarverhalten auch einige interessante zusätzliche Schlüsse ziehen. Anders als bei ähnlich gelagerten früheren Untersuchungen aus dem Appenzellischen1 habe ich meinen Interviewpartnern Anonymität zugesichert. Wichtige Aussagen von ihnen und die eher seltenen wörtlichen, meist ins Schriftdeutsche übertragenen Zitate im Text sind daher bloss mit Kantonskürzel (AI, OW) und den Initialen der Interviewten nachgewiesen. Ausnahmsweise, bei besonders heiklen Fragen oder wenn man aus dem Kontext auf den Urheber schliessen könnte, habe ich sie auch ganz weggelassen.
Bei meiner wissenschaftlichen Tätigkeit war es mir stets wichtig, gegenüber den von der Historiografie immer bevorzugten Eliten die Perspektive «von unten», vom «gewöhnlichen Volk» aus, miteinzubeziehen, ja, dieses im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit sogar eher in den Vordergrund zu rücken.2 Dennoch wollte ich bei der vorliegenden Untersuchung unbedingt auch die Sicht «von oben» einbringen, also die Meinung der die Normen festlegenden, verkündenden und im Rahmen des Möglichen auch durchsetzenden Instanzen kennenlernen. Konkret waren dies bei der gewählten Fragestellung in allererster Linie die Geistlichen, die geweihten und beamteten Diener der Religion. Deren Stellung im Volk war ein wichtiger Fragepunkt. Dieses Vorhaben auszuführen, war jedoch nicht ganz leicht – zwar fand ich in Obwaldner Altersheimen und -siedlungen drei ehemalige Pfarrer, welche den von mir ins Auge gefassten Zeitraum wenigstens als junge Kapläne noch miterlebt hatten und mir dazu Rede und Antwort standen. In Appenzell aber war kein einziger der damals wirkenden Geistlichen mehr am Leben, beziehungsweise noch für ein Interview ansprechbar. Ich konnte immerhin drei ältere aus Appenzell gebürtige, aber später auswärts wirkende Priester interviewen. Diese Gespräche waren insgesamt durchaus lebendig, für meine ganz spezifischen Fragen allerdings eher wenig ergiebig. Zwar waren alle Befragten mit der Heimat noch irgendwie verbunden, doch wurden die Erinnerungen an die traditionelle Religiosität in der Zeit nach dem Krieg von den späteren Erfahrungen auswärts (teils in städtischer Umgebung) weitgehend überlagert, sodass Laien nicht selten zu bestimmten Problemkomplexen besser informiert waren. Hinzu kommt natürlich, dass genau diese Priestergeneration den Auftrag hatte, die Reformen des Zweiten Vatikanums in ihrem Wirkungskreis durchzusetzen. Diese wohl nicht immer einfache und leichte Arbeit «im Weinberg des Herrn» hat vielleicht Erinnerungen an die «Zeit davor» verblassen und verdunkeln lassen, zumal, wenn diese Priester, wie der das Konzil einberufende Papst Johannes XXIII., der Auffassung waren, so wie bisher könne es mit der katholischen Kirche nicht weitergehen, ein «aggiornamento» sei überfällig.3 Dann ist Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Ablehnung gegenüber der traditionellen Religiosität verständlich und vielleicht auch verzeihlich. Nur ein historisches Interesse vermag dann diesen Graben noch zu überspringen. Ein Problem ist ferner, dass Geistliche vermutlich von ihrer Ausbildung und Stellung her etwas dazu neigen, in erster Linie auf kirchliche Normen zu rekurrieren und über davon abweichende Praxen zu schweigen, nicht nur aus einer gewissen Scheu bei bestimmten Fragen (Sexualität!), sondern auch, weil man sie sonst beschuldigen könnte, zu wenig eifrige Hirten ihrer Herde gewesen zu sein. An und für sich wären Priester natürlich die besten Quellen, um die für den Historiker hochbrisante Frage der Diskrepanz von moralischen Normen und der Praxis zu prüfen: nämlich durch die in unserem Zeitraum noch üblichen und einzig statthaften Einzelbeichten, die damals noch ziemlich regelmässig abgelegt wurden. Ich könnte in einer anonymisierten und vorwiegend quantitativen Auswertung dieser Bekenntnisse keine Verletzung des Beichtgeheimnisses sehen, da dieses ja einzig dem Schutz der Person dient. Aber die angefragten bischöflichen Ordinariate sehen das anders (obschon es erstaunlicherweise offenbar keine definitive römische Regelung dieser Frage gibt), und so blieb mir dieser Erkenntnisweg versperrt. Hier läge, allerdings nur noch für kurze Zeit, ein Quellenschatz vergraben, über den wir heute, da die Einzelbeichte zur Ausnahme geworden ist, in Zukunft nicht mehr verfügen werden.4
Die mündlichen Quellen wurden mittels themen-, beziehungsweise problemzentrierten semi-strukturierten Interviews erschlossen.5 Für mein Forschungsvorhaben wählte ich also eine eher «weiche» Methode und errichtete nicht ein starres Theoriegerüst als Grundlage für einen detaillierten Fragebogen, den ich dann Punkt für Punkt abhakte, um die Resultate womöglich quantitativ auszuwerten. Stattdessen begnügte ich mich mit einem Leitfaden, bestehend aus etwa 20 offenen Fragenkomplexen, die ich einigermassen der Reihe nach, im Einzelnen aber flexibel (bisweilen auch in einer anderen Reihenfolge) durchging. Erwies sich eine Fragestellung als unergiebig, so schritt ich gleich zur nächsten; intensives «Nachbohren» erwies sich, wie ich bald erkannte, als sinnlos. Die im konkreten Gespräch gesetzten Schwerpunkte und die Spannbreite der Aussagen waren also sehr verschieden und hingen stark von der befragten Person ab. Nach den ersten paar Interviews habe ich den Leitfaden leicht modifiziert. Gleich zu Beginn machte ich die Geprächspartner darauf aufmerksam, dass es mir nicht in erster Linie um persönliche Erfahrungen ginge, sondern um allgemeine Feststellungen: Nicht was das Individuum, sondern was «man» dachte, sagte und machte, wollte ich wissen. Am Schluss meiner Arbeit sollten ja einigermassen generalisierbare Feststellungen und zwar zu von mir gesetzten Problemkreisen stehen. Rein narrative Interviews hätten mir für mein Projekt wenig gebracht; wenn das Gespräch in diese Richtung abzugleiten drohte, erlaubte ich mir, den Redefluss zu unterbrechen. Dies geschah auch, wenn die Interviewpartner, sicher ohne Absicht, mehrfach die gesetzte chronologische Grenze überschritten. Brachten die Sprecher ein Thema aufs Tapet, das ich interessant fand, wiewohl es nicht in meinem Leitfaden figurierte, so liess ich sie zunächst einmal reden, um dann bei passender Gelegenheit wieder zu meinen Vorgaben zurückzukehren. Dasselbe machte ich bei Themenkomplexen, die mich zwar interessiert hätten, die ich aber den älteren Leuten nicht direkt zumuten wollte, also insbesondere Probleme der Sexualität oder, in der damaligen kirchlichen Umschreibung, die Vorschriften des sechsten Gebots. Mit dem gewählten Verfahren vermied ich die meisten der mit narrativen Interviews verbundenen Schwierigkeiten, vor allem den in der Forschung wohlbekannten Sachverhalt, dass Erinnerungen immer konstruiert sind und die Vergangenheit stets eine subjektiv interpretierte ist. Die Festlegung auf bestimmte Fragenkomplexe lässt dazu weniger Raum. In der Auswertung der Interviews kamen auch wieder «weiche» quantitative Elemente zum Zug: Eine Feststellung, welche die allermeisten Befragten spontan machen, zeichnet die Realität wohl ziemlich genau nach. Davon abweichende und widersprüchliche Aussagen müssen soweit wie möglich geklärt werden und in der Darstellung aufscheinen und diskutiert werden. Ort, Zeit und Umstände der Interviews hielt ich schriftlich in einem Begleitprotokoll fest. Fast immer fielen einige Themenkomplexe des Leitfadens aus Zeitgründen unter den Tisch: Nach zwei Stunden Reden zeigten sich sowohl bei den Befragten wie bei mir selber manchmal leichte Ermüdungserscheinungen. Ein zweites Interview schien mir gleichwohl nicht notwendig. In ganz wenigen Fällen habe ich bei bestimmten Fragen später nochmals Kontakt aufgenommen. Eine Anzahl offener Fragen konnte ich am Schluss in Gesprächen mit Roland Inauen und Karl Imfeld klären. Eine Transkription der Interviews habe ich nicht vorgenommen, diese wäre zu aufwendig gewesen und hätte auch zu viel «Abfall» (ich verwende diesen Begriff zwar ungern, aber bezogen auf meine ziemlich spezifische Fragestellung ist er doch nicht ganz unangemessen) mit sich gebracht. Die Aussagen wurden in relativ traditioneller Manier auf Karteikarten thematisch verzettelt, allerdings mit einem ziemlich feinen Raster von etwa 135 einzelnen Punkten. Dieses strukturiert auch den inhaltlichen Aufbau der Arbeit.
Schriftliche Quellen habe ich nur ergänzend benutzt. In erster Linie waren dies einige gedruckte autobiografische Berichte und Erinnerungen, sowie zumeist auf Interviews beruhende entsprechende Darstellungen von Dritten.6 Hinzu kamen periodische offizielle und quasi-offizielle Publikationsorgane.7 Unter den archivalischen Quellen waren die Pfarrberichte aus dem Dekanat Appenzell besonders wichtig, denn sie verringerten die erwähnte Lücke bei den geistlichen Interviewpartnern. Diese schriftlichen Berichte über den Stand der Pfarreien waren gemäss den Synodalstatuten von 1932 alle vier Jahre von sämtlichen Ortsgeistlichen aufgrund eines vorgegebenen Schemas von 36 Punkten abzufassen und dem bischöflichen Ordinariat einzusenden.8 Sie umfassten jeweils etwa 5–10 Seiten und dienten als Grundlage der eigentlichen kanonischen Visitation, die aber nicht vom Bischof selber, sondern von einem seiner Beamten vorgenommen wurde (Generalvikar, Offizial, Seminarregens usw.).9 Im Gespräch mit den Ortsgeistlichen ging es dann eigentlich nur noch um einige offene Fragen der bereits eingesandten Berichte. Darüber wurde ein Visitationsprotokoll erstellt, wobei der Visitator auch andere ihm zugekommene Informationen verwertete. In Obwalden wurde die Visitation noch nach dem klassischen tridentinischen Muster, zusammen mit der Firmung, vom Bischof selbst durchgeführt. Hier habe ich ein Protokoll und dazugehörige Akten aus dem Jahre 1956 benutzen können. Die Quellen aus dem Provinzarchiv der Kapuziner dienten vor allem der Klärung spezifischer mit dem Orden zusammenhängender Fragestellungen (Beichten, Segnungen, Volksmission usw.).
Eine auch zu einigen meiner Fragestellungen aufschlussreiche, in der Forschung bisher allerdings kaum benutzte Quelle sind die Antworten auf die von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 1931 gestellten 1585 Fragen zu allen wichtigen Bereichen der Volkskultur, die gesamtschweizerisch erhoben werden sollten, die sogenannte Enquete I.10 Die Antworten sind für Appenzell in einer Kopie mit ergänzenden Anmerkungen und Quellenhinweisen des redigierenden Verfassers Albert Koller erhalten. Sie betreffen zwar einen etwas früheren Zeitraum als den von mir gewählten. Gleichwohl half dieses Material, einige Fragen befriedigender zu klären und die Kontinuität rückwärts zu verlängern.
Literaturhinweise habe ich sparsam angebracht, sie beschränken sich zumeist auf spezielle Werke zum Untersuchungsraum. Die bis etwa 2004 erschienene, eher allgemeine Literatur zu vielen hier behandelten Themen wird ausführlich in den kommentierten Bibliografien meiner früheren Untersuchung «Musse und Verschwendung» erwähnt. Deshalb sind nur noch nach diesem Zeitpunkt erschienene wichtige Werke aufgeführt.
Der geografische Raum der Untersuchung wurde bereits mehrmals kurz umschrieben. Leitende Überlegung bei der Wahl der beiden Regionen Appenzell Innerrhoden und Obwalden war neben den praktischen Erwägungen zunächst die, dass in der Schweiz die Moderne in allen ihren Ausprägungen das Voralpengebiet (neben Teilen der Alpen) zweifellos am spätesten erreichte, dass dort politische, wirtschaftliche und kulturell-religiöse Traditionen noch am ehesten bewahrt blieben und die Resistenz gegenüber neuen Entwicklungen am ausgeprägtesten war. Der Entscheid für Appenzell war, wie bereits erwähnt, persönlich begründet; sachlich kam hinzu, dass – wie bereits die Reiseschriftsteller des 18. Jahrhunderts erkannten11 – hier geradezu das Muster einer konfessionell bestimmten verschiedenartigen Entwicklung in Wirtschaft und Kultur vorlag, eine Fragestellung, die mich schon länger interessierte.12 Deswegen habe ich hie und da einen Seitenblick auch auf Ausserrhoden geworfen.13 Dass daneben die Innerschweiz zu berücksichtigen war, schien mir selbstverständlich. Der Entscheid für Obwalden hat drei Gründe. Aus jeweils verschiedenen Ursachen gab es in den anderen Innerschweizer Kantonen zum Teil schon früh gewisse dynamische «fortschrittliche» Elemente (in Uri etwa die Gotthardbahn,14 in anderen die Nähe zum Grossraum Zürich), Obwalden erschien mir demgegenüber eher als ein in sich ruhender Pol. Entscheidend war allerdings, dass ich mich hier, wie bereits erwähnt, auf kundige Vertrauensleute stützen konnte.15 Schliesslich lag mir aber dieser Kanton auch persönlich nicht ganz fern, konnte ich doch in meiner Kindheit zweimal im Bruderklausendorf Flüeli-Ranft Ferien verbringen. Wenn im Text die Ausführungen zu Innerrhoden vergleichsweise etwas mehr Platz einnehmen, so liegt das nicht in erster Linie an der Herkunft des Autors, sondern einerseits an der besseren schriftlichen Quellenlage, andererseits daran, dass Obwalden durch die profunden Werke von Karl Imfeld für verschiedene Fragestellungen bereits gut erschlossen ist.
Die Absicht, auch das katholische Schweizer Mittelland zu berücksichtigen, gab ich bald auf. Nicht nur die politische (katholischer Liberalismus), sondern auch die wirtschaftliche Situation (vorwiegend Ackerbau, neben der ausgedehnten Industrie) war ganz anders als in den Voralpen, der Druck zur Modernisierung stärker und die mächtigen protestantischen Städte näher gelegen. Auch war es schwierig, Vermittler zu möglichen Interviewpartnern zu finden. Ergänzend habe ich jedoch anhand der reichhaltigen Materialsammlungen von Josef Zihlmann das luzernische Hinterland, geografisch zwischen dem Mittelland und den Voralpen liegend, mitberücksichtigt.16 Das Alpengebiet könnte man bei oberflächlicher Betrachtung zwar als ausgesprochenes Refugium der Tradition sehen. Das ist es sicherlich auch auf einigen Gebieten, aber gleichzeitig ist es durch Passverkehr und Tourismus äusseren Einflüssen stärker ausgesetzt als das mehr im Windschatten des Verkehrs liegende Voralpengebiet.17 Das schweizerische Alpengebiet ist etwa zur Hälfte protestantisch und fällt damit zu einem grossen Teil zum vorneherein aus. In Graubünden sind nur wenige Talschaften katholisch.18 Als grösstes zusammenhängendes katholisches Gebiet zeichnet sich das Wallis aus. Es ist eine Lieblingslandschaft der Volkskundler, und das Lötschental etwa geniesst eine gewisse Berühmtheit als Forschungsfeld für traditionelle Kulturen. Gerade auch deswegen habe ich das Wallis als mögliches Untersuchungsgebiet weggelassen, allerdings die verhältnismässig reiche volkskundlich-historische Literatur, soweit sie etwas zu meinen Fragestellungen beitragen konnte, berücksichtigt.19 Im Übrigen sei daran erinnert, dass gerade im Oberwallis der Passverkehr (Grimsel, Simplon, Gries) eine grosse Rolle spielt und schon früh auch eine spezifisch auf die Elektrizität aus Wasserkraft basierende Industrie entstand (Lonza, Aluminiumwerke Chippis). Die Landwirtschaft hat ebenfalls einen ganz anderen Charakter als am Nordabhang der Alpen. Schliesslich kommt man im Wallis auch an die Sprachgrenze, die eine direkte Vergleichbarkeit weiter reduziert. Dies war übrigens der Hauptgrund, den ganz klar dem italienischen (genauer lombardischen) Kulturkreis zugehörigen Tessin wegzulassen. Der am Rande erfolgte Einbezug des protestantischen Berner Oberlandes hat mehr persönliche als sachliche Gründe. Es diente mir, wie Ausserrhoden, als Folie, um zusätzlich einen Blick von «auswärts» zu bekommen.20
Der zeitliche Rahmen der Untersuchung ergab sich eigentlich von selbst. Das Problem war eher, die Interviewpartner darauf festzulegen und ausserdem da und dort eine offensichtlich falsche Chronologie zu korrigieren. Etwas ungenaue Datierungen blieben fast unvermeidlich, wie man auch aus eigener Erfahrung weiss. Das Jahr 1945 als Ausgangspunkt zu nehmen war selbstverständlich, weil der vorangehende Zweite Weltkrieg auch für die Schweiz eine Ausnahmesituation darstellte, die mich bei meinem Interesse für den «gewöhnlichen» Alltag nur gestört hätte. Auch war so die Gefahr gebannt, dass die älteren Männer ihnen liebgewordene Erinnerungen aus ihrem Aktivdienst auftischten. Nur ganz selten liess ich zeitlich vorangehende Entwicklungen, welche langzeitige Folgen hatten, in die Gespräche miteinfliessen. Den Zeitraum von 1955–1960 als Schlusspunkt zu wählen, fiel ebenfalls leicht. Nicht nur meine eigenen Erinnerungen (Jahrgang 1941), deren erste noch in die Kriegszeit hineinreichen, lassen mir die Dekade nach dem Waffenstillstand als eine verhältnismässig ruhige Zeit erscheinen, in der man zunächst noch mit den Folgen der vorangegangenen Auseinandersetzung fertig werden musste, ohne an viel Neues zu denken, das Leben somit ohne grössere Veränderungen wie bis anhin weiterging. Dieselbe Schlussfolgerung kann man chronikalischen Darstellungen, wie sie es für beide Untersuchungsgebiete gibt, entnehmen.21 Erst seit der Mitte der 1950er- Jahre zeigen sich dann die typischen Erscheinungen der Moderne gehäufter auch in den bis dahin relativ zurückgebliebenen Voralpenkantonen. Hier habe ich selber noch lebhafte Erinnerungen etwa an den ersten Einsatz eines Baggers für Aushubarbeiten (bezeichnenderweise für eine Fabrik), an die ersten Waschmaschinen (Marke Hoover) vor einem Elektroladen, an neue Produkte der aufkommenden Lebensmittelindustrie, an den zunehmenden Autoverkehr mit allen seinen Folgen, schliesslich an die ersten, in zwei Wirtshäusern als Sensation und Publikumsmagnet aufgestellten Fernsehgeräte. Speziell für die Religiosität bedeuten der Beginn des Pontifikats von Johannes XXIII. (1958) und das bald von ihm einberufene Zweite Vatikanische Konzil einen Einschnitt, auch wenn sich die Folgen erst in den 1960er-Jahren massiv bemerkbar machten. Allerdings gab es, wenn man genauer hinschaut, bereits zur Zeit Pius XII. unterschwellig einige kirchliche Neuerungen.22 Diese vorläufigen Feststellungen zum zeitlichen Rahmen werden im Folgenden noch an einigen Beispielen zu präzisieren sein.
Anmerkungen
1 Z. B. Fuchs; Vogler.
2 Dies ist die spezifisch volkskundliche Perspektive. Für meine Fragestellung sei in dieser Hinsicht exemplarisch auf das Werk von Hartinger verwiesen, das die Verschränkung von Religion und Brauch thematisiert.
3 Zu diesem Problem noch Bärsch; Forstner.
4 Teilweise sind die entsprechenden Erfahrungen der Geistlichen wohl in ihre Predigten, Schriften und Rechenschaftsberichte eingeflossen.
5 Zur Theorie und Methode der qualitativen Sozialforschung und der «oral history»: Forstner (für Geistliche); Girtler, Methoden; Göttsch; Lamnek; traverse; Vorländer; Wierling.
6 Für Appenzell: Bräuninger; Dörig; Inauen R., Charesalb; Lüthold; Neff A.; Weigum; Wyss, Potztusig; Zilligen. Für Obwalden nur Furrer und Ming H.; allerdings basieren die Werke von Imfeld auch auf einem reichen persönlichen Erinnerungsschatz. Für andere Gebiete (in Auswahl): Britsch (Wallis); Galli (Tessin); Jaggi (Berner Oberland); Witzig (Deutschfreiburg, Wallis, Tessin).
7 Appenzeller Volksfreund (zugleich amtliches Publikationsorgan). Systematisch durchgesehen wurden die beiden Eckjahrgänge 1946 und 1960. Die pfarrlichen Ankündigungen umfassen für das erste Jahr nur das Dorf Appenzell und Haslen, sowie teilweise Gonten. Die übrigen Pfarreien informierten damals noch durch Anschlag oder mündliche Mitteilung. Die Obwaldner Presse wurde ausgiebig von Imfeld benutzt, sodass ich hier auf weitere Recherchen verzichten konnte. Die in Frage kommenden diözesanen Amtsblätter sind: Diözesanblatt für das Bistum St. Gallen; Folia officiosa ab ordinariatu episcopali diocesis curiensis edita.
8 Vgl. Diözesanblatt 2. Folge, 151–153 (7. 4. 1941), dort auch die Liste der Fragepunkte. Ferner Bischof, 123.
9 In den appenzellischen Landpfarreien war dies häufig ein Einheimischer, nämlich Dr. Edmund Locher, bis 1943 Pfarrer in Appenzell, dann Domkustos und Professor in St. Gallen. Vgl. zur Person Stark, 113f.; IGfr 30 (1986/87), 177.
10 Die Frageliste publiziert in: SAVk 31 (1931) 101–142. Vgl. dazu auch Inauen R., Hitz, 48. Der Rücklauf der Fragebogen war offenbar enttäuschend gering und generell blieb wenig davon erhalten (so fehlt etwa OW). Zur Erarbeitung des Grundlagenmaterials für den in Aussicht genommenen Atlas der schweizerischen Volkskunde wurde deshalb ein stark reduzierter zweiter Fragebogen (Enquete II) erstellt. Einschränkend ist zu bemerken, dass der Fragenkatalog selbstverständlich die damaligen Forschungsinteressen der Volkskunde widerspiegelt und damit der christlichen Religiosität wenig Platz einräumt. Die spezifisch «Religiöse Volkskunde» steckte damals noch in ihren Anfängen.
11 Vgl. etwa Ebel; Deutsch (Zinzendorf); Hartmann.
12 Hersche, bes. 446ff., 474ff., 722f., 893f.
13 Allg. zu Ausserrhoden Schläpfer, für die Gemeinde Urnäsch Hürlemann.
14 Vgl. für das «traditionelle» Uri aber noch das 1946 erschienene Werk von L. von Matt.
15 Eine Hilfe war auch das von Imfeld verfasste Mundartwörterbuch. Für Appenzell gibt es das entsprechende Werk von Joe Manser. Dialektbegriffe habe ich in diesem Buch jedoch nur ausnahmsweise verwendet, nämlich dort, wo sie besonders aussagekräftig oder kaum mit einem einzigen anderen Wort übersetzbar waren.
16 Vgl. die in der Bibliografie aufgeführten Werke. Für das Entlebuch bietet das Werk von Kaufmann über die Mischehen auch viele allgemeine Informationen zu dieser Landschaft.
17 Dazu grundlegend Mathieu.
18 Vgl. etwa Schmid zum Lugnez. Naheliegend wäre es (gerade von Graubünden und dem am Ostrand der Schweiz gelegenen Untersuchungsgebiet Appenzell aus) einen Blick über die Grenze, ins Vorarlberg und Tirol, zu werfen. Das musste hier unterbleiben, abgesehen von der summarischen Benutzung eines «Klassikers», an dem niemand vorbeikommt, der sich mit den hier behandelten Fragestellungen abgibt: Das dreibändige «Bergbauernbuch» von H. Wopfner zum Tirol. Ergänzend zu dieser Region noch Hubatschek; Jäger. Vergleichend kann ferner die einzige grössere Untersuchung aus Deutschland zur Lebenswelt ländlicher Katholiken um 1950 herangezogen werden, nämlich diejenige von Fellner zu Bayern. Vgl. darin besonders die Abschnitte zu Ebersberg, 101ff., und Berchtesgaden, 176ff. Ebersberg ist von der Zahl der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung mit AI und OW vergleichbar, ebenso Berchtesgaden, wo allerdings der Tourismus eine ganz grosse Rolle spielt. Der Autor konstatiert einleitend zu recht ein enormes Forschungsdefizit zum gewählten Thema. Ein nahe der Schweiz gelegenes Gebiet (Oberschwaben) behandelt Kuhn.
19 Antonietti; Antonietti/Kalbermatten; Bellwald; Bellwald/Guzzi; Imhasly; Kuonen; Niederer; Pfaffen; Siegen Joh.; Siegen Jos.
20 Zum schweizerischen und bernischen Protestantismus allg. Guggisberg; Vischer; Weiss. Der «Atlas der schweizerischen Volkskunde» (ASV) behandelt die hier im Vordergrund stehenden, mit der Konfession zusammenhängenden Probleme eher am Rande. Auch das von P. Hugger hg. dreibändige «Handbuch der schweizerischen Volkskultur», gewissermassen das Nachfolgewerk der Synthese von Weiss, gibt zwar insgesamt einen umfassenden Überblick zum Thema, ist aber stärker gegenwartsbezogen und widmet der religiösen Kultur bloss verhältnismässig wenig Platz (explizit nur in den beiden Beiträgen von Heim, 1487–1500, und Campiche, 1443–1470). Eine nützliche neuere Datensammlung zum Vergleich katholischer und protestantischer Mentalität, aber auch zu anderen hier behandelten Fragekreisen, ist hingegen der von B. Fritzsche hg. «Historische Strukturatlas der Schweiz».
21 Für AI Steuble (die in der folgenden Darstellung gegebenen Daten sind in der Regel hier entnommen); für OW gibt Dillier nach Themenkreisen geordnet viele chronikalische Hinweise. Vgl. im Übrigen 10.5 und 10.6.
22 Zu diesen Entwicklungen und der schweizerischen Kirchengeschichte im 20. Jahrhundert vgl. in erster Linie die im Literaturverzeichnis angeführten Arbeiten vom Altermatt. Ferner Conzemius; Vischer.
Grundsätzlich sind die naturräumlichen, wirtschaftlichen, politischen und anderen Rahmenbedingungen beider Untersuchungsgebiete einander weitgehend ähnlich, bloss im Detail zeigen sich einige Unterschiede.1 Geografisch sind sie beide im schweizerischen Voralpengebiet gelegen, im Übergang vom hügeligen zum eigentlichen Berggebiet. Das wirkt sich besonders in Appenzell, an der Nordabdachung der Alpen gelegen, in häufigen Niederschlägen aus, wohingegen das fast rundum von Gebirgen umgebene Obwalden trockener ist. Das Appenzellerland liegt etwas erhöht südlich des Bodensees, am Fuss des Alpsteins, einer weit nach Norden vorgeschobenen Gruppe des Alpengebirges. Es ist rundum vom Kanton St. Gallen umgeben und von einem einzigen grösseren Fluss, der Sitter, durchflossen. Obwalden ist als einer der drei Urkantone Teil der Zentralschweiz. Es hat Anteil am Vierwaldstättersee, in den die Sarner Aa mündet, die das auf rund 435 bis 470 Meter über Meer gelegene Haupttal mit dem gleichnamigen See und dem Hauptort Sarnen durchfliesst. Wesentlich höher gelegen sind nur die Gemeinde Lungern sowie das abgeschiedene, seitlich gelegene Melchtal. Noch höher, auf rund 1000 Meter über Meer liegt die Exklave Engelberg. Dieser ehemalige Klosterstaat gehört geografisch eigentlich zu Nidwalden,2 schloss sich aber nach dem Ende der weltlichen Herrschaft der Äbte 1815 aus politischen Gründen Obwalden an. Appenzell Innerrhoden ist durchschnittlich höher gelegen, von 740 Meter über Meer an aufwärts. Eine Ausnahme bildet einzig der «Äussere Landesteil», die Exklave Oberegg, der im Ausserrhoder Vorderland gelegene, katholisch gebliebene Teil des alten ungeteilten Landes. Dieser ist stärker nach St. Gallen und dem Rheintal hin orientiert und auch wirtschaftlich etwas anders strukturiert; er wird daher in dieser Untersuchung im Allgemeinen nicht berücksichtigt. Der Hauptort Appenzell liegt auf 785 Meter über Meer, die kleinen übrigen Ortschaften meist auf etwa 900 Meter über Meer.
Nur die beiden traditionellerweise «Flecken»3 genannten Hauptorte Sarnen und Appenzell weisen eine einigermassen entwickelte Infrastruktur mit vielen Läden und Handwerkern auf und erfüllen in beiden Kantonen die zentralörtlichen Funktionen. Im Umland, in Appenzell noch stärker als in Obwalden und geradezu exemplarisch, herrscht bäuerliche Streusiedlung mit arrondiertem Landbesitz («Heimat») vor.4 In beiden Kantonen wurden die Höfe im geschlossenen Erbrecht an einen Sohn weitergegeben.5 In Appenzell bilden Wohnund Ökonomiegebäude eine Einheit (Kreuzfirstbau). In Obwalden sind sie, mit im Einzelnen deutlich anderer Bauweise, getrennt. Während beide Hauptorte eine minimale Grösse von einigen tausend Einwohnern haben, sind die übrigen paar Dörfer in Obwalden kleiner, weisen dennoch alle wichtigen Geschäfte auf (Läden, Handwerker, sogar mehrfach). Die Appenzeller Ortschaften ausserhalb des Hauptorts hingegen würde man besser Weiler nennen: Sie bestanden noch um 1960, bis der Bauboom auch dort einsetzte, nur aus Kirche, Pfarrhaus, Schule, eventuell einer Post, einer oder zwei Wirtschaften, sowie einer Bäckerei und allenfalls einem Gemischtwarenladen. Die Bevölkerung Obwaldens betrug 1950 22 125, diejenige Innerrhodens (ohne Oberegg) 11 230 Einwohner. Diese Zahlenverhältnisse gelten mit geringen Schwankungen auch für die Jahrzehnte unmittelbar vorund nachher. Auswanderung fand immer statt, denn in beiden Kantonen existierten in unserem Untersuchungszeitraum bei beschränkten Ressourcen noch sehr kinderreiche Familien.6 Einwanderer aus anderen Kantonen gab es vor 1960 verhältnismässig wenige, am ehesten bei ganz spezialisierten Berufen ohne lokale Tradition. Die Anbindung an den Verkehr war sowohl in Obwalden wie in Innerrhoden relativ schlecht, was sich unter anderem darin zeigt, dass sie nur mit Schmalspurbahnen erschlossen wurden, wobei allerdings der Brünigbahn in Obwalden überregionale Bedeutung zukam. Der Strassenverkehr war nach dem Krieg noch ziemlich unbedeutend, und bei den Einheimischen konnten sich damals nur die dörfliche Oberschicht oder bestimmte darauf angewiesene Berufstätige ein Auto leisten.7 Allerdings reisten die Touristen vermehrt damit an, was die beiden Kantone veranlasste, in den späten 1950er–Jahren eine vorher nicht existierende Verkehrspolizei ins Leben zu rufen.8 Gleichzeitig wurden umfangreiche Strassenausbauprogramme (Asphaltierungen, Verbreiterungen usw.) in Angriff genommen und wenig später wurde auch begonnen, die landwirtschaftlichen Siedlungen mit Flurstrassen für den motorisierten Verkehr zu erschliessen.
Die naturräumlichen Gegebenheiten bestimmten massgeblich die wirtschaftliche Tätigkeit, insbesondere im ersten Sektor, der zwischen 1945 und 1955 noch eindeutig dominierte.9 In Innerrhoden waren gemäss der Volkszählung von 1950 noch 51 Prozent der männlichen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig,10 in Obwalden waren es 42 Prozent,11 also mehr als das Doppelte, beziehungsweise Dreifache des gesamtschweizerischen Durchschnitts.12 Diese Zahlen sind jedoch aus methodischen Gründen als blosse Richtwerte zu betrachten.13 Für den Getreidebau sind beide Gegenden nicht geeignet, nur in Obwalden gab es in der Ebene der Sarner Aa ein wenig Ackerbau. Auf staatlichen Befehl wurde zwar beiderorts im Rahmen des «Plans Wahlen» in der Notzeit des Zweiten Weltkriegs auf mehreren hundert Hektaren Getreidebau betrieben, aber gleich danach wieder aufgegeben. Einzig der im Krieg ebenfalls forcierte Anbau von Kartoffeln wurde vor allem in Obwalden für den Eigenbedarf noch eine Zeit lang weiter gepflegt. Grasbau und Milchwirtschaft herrschen bis heute vor und bilden neben der Kälbermast und der Aufzucht von Jungvieh das Haupteinkommen der Bauern in beiden Gegenden. Die Alpwirtschaft war beiderorts eine notwendige und wichtige, mit Liebe besorgte Ergänzung der Talbetriebe. Die Milch wurde zum kleineren Teil als Konsummilch weiterverkauft, vor allem aber wurden Käse und Butter daraus hergestellt. Das zweitwichtigste Nutztier, welches fast alle Bauern hielten, war das Schwein. Demgegenüber war die früher wichtige Ziegenhaltung schon damals stark zurückgegangen und reduzierte sich weiterhin. Auch die Schafhaltung war in unseren zwei Untersuchungsgebieten nie stark verbreitet. Pferde wurden beidenorts in der bäuerlichen Wirtschaft kaum eingesetzt, allenfalls dienten Kühe als Zugtiere. Hühner hingegen gehörten fast überall zu einem Hof. In Obwalden spielte in der Sarner Ebene der vor allem im Zusammenhang mit der früheren Umstellung auf die Graswirtschaft entstandene Feldobstbau noch eine grosse Rolle. «Wie ein Wald» sollen damals die Obstbäume gestanden haben.14 Die Ernte war nicht so sehr Tafelobst für den Markt, sondern wurde selber frisch verzehrt oder eingekellert, ausserdem zu einem grossen Teil zu Most verarbeitet, gedörrt, zu Birnenhonig eingekocht und die Abfälle schliesslich zu Schnaps veredelt. Ferner gehörte in Obwalden, ausgenommen in den höheren Lagen, ein Gemüsegarten fast obligatorisch zu einem Bauernhof und spielte wie das Obst eine grosse Rolle für die Selbstversorgung. Auch hier hatte der Zweite Weltkrieg impulsgebend gewirkt; auch Nichtbauern pflanzten damals Gemüse, um den mageren Speisezettel zu bereichern. In Appenzell hingegen gab es, abgesehen von dem tief gelegenen Gebiet um Haslen und vereinzelten sonstigen Apfelbäumen, keinen Obstbau, obschon er von Behörden und bäuerlichen Organisationen immer wieder propagiert wurde. Auch grössere Gemüsegärten fand man dort nach den Nöten der Kriegsjahre kaum mehr.15 Die Appenzeller bezogen Obst, Gemüse und Kartoffeln schon immer vorzugsweise aus dem St. Galler Rheintal;16 deren Konsum beschränkte sich bei den Bauernfamilien aber ohnehin auf ein Minimum. In Obwalden ging der Obstbau in den 1960er-Jahren massiv zurück. Gründe dafür waren die Mechanisierung (Mähmaschinen), der Arbeitskräftemangel, die Verwertungsprobleme und schliesslich die staatlich geförderten Rodungsaktionen.
Auf den zweiten Sektor wird später im Zusammenhang mit der Arbeitsethik und dem Nebenerwerb vor allem der Frauen noch einzugehen sein.17 Hier sei vorerst erwähnt, dass er, verglichen mit der übrigen Schweiz, in unseren beiden Untersuchungsgebieten eine geringe Rolle spielte. Selbstverständlich war das für den Bedarf der Bauern und der übrigen Bevölkerung notwendige Handwerk vorhanden, es konzentrierte sich aber vor allem in Appenzell auf den Hauptort. Insgesamt waren in der Nachkriegszeit die beiden Kantone vielmehr noch Musterbeispiele von weitgehend agrarisch strukturierten Regionen, besonders Innerrhoden. In Obwalden gab es immerhin schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einige bedeutendere Betriebe des metallund holzverarbeitenden Gewerbes (Parkettfabriken und Möbelschreinereien), dazu eine grosse Hutfabrik, die zusammen einige hundert Arbeiter und Arbeiterinnen (die Heimarbeit nicht mitgerechnet) beschäftigten. Ab 1957 kam noch die Kunststoffindustrie dazu, schon durch die von ihr hergestellten Produkte ein Symbol des Umbruchs. Bereits 1952 wollte ausserdem die Regierung Obwaldens den nichtlandwirtschaftlichen Sektor durch einen besonderen Delegierten für Wirtschaftsförderung stärker entwickeln. In Appenzell wurde 1955 eine entsprechende Kommission ins Leben gerufen. Dort gab es bis dahin nur einige wenige kleine Textilverarbeitungsbetriebe, vor allem zur Herstellung von Taschentüchern, die Männer und Frauen beschäftigten. Die Heimarbeit der Handstickerei, die zwar schon in der Zwischenkriegszeit stark zurückgegangen war, dominierte vorderhand noch. Ferner existierte im Dorf Appenzell ein stark bäuerlich inspiriertes Kunsthandwerk (Weissküferei, Haarflechterei, Drechslerei, Bauernmalerei, Herstellung von Antikmöbeln und Schellenriemen).18
Im Dienstleistungssektor spielte der Tourismus in beiden Regionen schon länger eine gewisse Rolle. Dies obschon er von der herrschenden bäuerlichen Schicht nicht immer gern gesehen wurde, etwa wenn Touristen gedankenlos durch hohes Gras wanderten oder ihre Hunde frei laufen liessen.19 Auch die Geistlichkeit äusserte vielfach Vorbehalte, weil sie in der lockeren Kleidung der Fremden und ihren Wünschen nach Schwimmbädern und Tanzunterhaltungen ernste Gefahren für die Sittlichkeit sahen.20 Die Obwaldner Franz Josef Bucher und sein Schwager Josef Durrer waren industrielle Unternehmer, Bahnbauer, Hoteliers und Tourismuspioniere, wie sie sonst nur in den Städten und bei den Protestanten auftraten. Doch handelte es sich bei ihnen um Ausnahmeerscheinungen, wenn auch der Obwaldner im Allgemeinen immer als etwas regsamer als der benachbarte Nidwaldner geschildert wurde. Regsam war indes auch der Appenzeller, aber er betätigte sich doch in einem viel engeren Kreis, etwa durch den Verkauf von Stickerei in den berühmten Badeorten des In- und Auslandes. In Obwalden gab es in den höher gelegenen Ortschaften einige alte Kur- und Erholungshäuser. Erwähnt werden muss hier auch der religiöse Tourismus, der nach der Heiligsprechung von Bruder Klaus (1947) mit seiner Geburtsstätte und seiner Klause in Flüeli- Ranft und seinem Grab in Sachseln grössere Ausmasse annahm. Am wichtigsten war aber doch Engelberg, wo schon 1883 ein Kur- und Verkehrsverein gegründet wurde, und nach dem Bahnbau von 1898 das Dorf bereits um die Jahrhundertwende ein beliebter und mondäner Kurort und insbesondere einer der frühesten Plätze des sich danach stark entwickelnden Wintersports war.21 Diese massive Veränderung stand in einem gewissen Gegensatz zur Tradition des Klosterstaats und führte auch zu Konflikten, insbesondere weil die Touristen den strengen kirchlichen Moralvorstellungen nicht entsprachen. Andererseits profitierte das immer noch einflussreiche Kloster materiell vom Tourismus.22 In Appenzell hingegen waren die früher beliebten Molkenkuren schon vor dem Ende des 19. Jahrhunderts aus der Mode gekommen. Dasselbe Schicksal ereilte etwas später einige kleinere Bäder (Weissbad, Gontenbad, Jakobsbad). Nach 1945 herrschte vor allem Tagestourismus vor, war die Bergwelt des Alpsteins doch von den grösseren städtischen Siedlungen der Ostschweiz bis zum Bodensee aus relativ rasch erreichbar. Der im Laufe der 1950er-Jahre beginnende Bau von touristischen Infrastrukturanlagen (Skilift Sollegg, Ebenalpbahn, Campingplätze, Ferienhaussiedlungen usw.) markierte einen deutlichen Umbruch.
Die übrigen Dienstleistungsberufe fielen in beiden Kantonen zahlenmässig kaum ins Gewicht: Akademiker, Lehrer, Beamte, kaufmännische Angestellte, Post- und Bahnpersonal und so weiter beschränkten sich auf das notwendige Minimum. Die Lehrerschaft bestand zu einem grossen Teil aus geistlichen Personen beiderlei Geschlechter, worauf noch zurückzukommen sein wird.23 Besonders in Innerrhoden wurde ausserdem der Beamtenapparat der Verwaltung noch ausgesprochen schmal gehalten.24
Damit sind die politischen Verhältnisse angesprochen, wobei der geschichtliche Hintergrund bis zum 20. Jahrhundert hier weitgehend vernachlässigt werden muss.25 Dass es sich bei beiden Untersuchungsgebieten rechtlich um Halbkantone handelt, ist zufällig und hat für das Folgende kaum Bedeutung. Unterwalden war schon im Mittelalter in Ob- und Nidwalden getrennt, wobei wichtig ist, dass diese Teilung hinsichtlich der Ämterbesetzung und der Finanzen effektiv eine Drittelung war, indem dem volkreicheren Obwalden zwei Drittel zukamen. Das heisst es trug zu den Staatsausgaben doppelt so viel bei, partizipierte aber auch entsprechend an den Erträgen. Diese waren früher hoch, weil sie vor allem aus den Gemeinen Herrschaften der Alten Eidgenossenschaft kamen, in die die Obwaldner doppelt so viele Landvögte wie die Nidwaldner bestellen konnten. In Appenzell ging die Teilung auf die konfessionellen Kämpfe zurück. 1597 einigten sich die Konfliktparteien auf eine friedliche Lösung: Die im Kern des Landes vorherrschenden Katholiken bildeten zusammen mit der Exklave Oberegg den Halbkanton Innerrhoden, der grössere, protestantische Teil im Westen, Norden und Nordosten nannte sich fortan Ausserrhoden. Wie wir noch sehen werden, hatte dies auch auf dem nichtreligiösen Feld einschneidende Folgen, insbesondere die, dass sich Ausserrhoden schon früh industrialisierte, während Innerrhoden fast rein agrarisch blieb.26 Auf der politischen Ebene änderte sich aber wenig. Appenzell und Obwalden waren nach dem Zweiten Weltkrieg noch sogenannte Landsgemeindekantone. Das bedeutete, dass die höchste Gewalt im Staat bei der jeweils im Frühjahr im Freien stattfindenden altertümlichen Versammlung der stimmfähigen Männer lag. Dort wurden mit offenem Handmehr die Behörden gewählt und über Sachfragen, ebenso wie über die Aufnahme ins Landrecht (Einbürgerungen) entschieden. Die laufenden und weniger wichtigen Geschäfte wurden im nur verhältnismässig selten zusammentretenden Grossen Rat, dem Parlament, debattiert und, soweit sie nicht in die Kompetenz der Landsgemeinde fielen, dort entschieden. Die Regierungen waren reine Vollzugsorgane.
Obwalden war allerdings verfassungsrechtlich etwas «moderner», auch verliefen hier die politischen Kämpfe lebhafter als in Appenzell. Die Landsgemeinde hatte schon seit 1922 nur noch eingeschränkte Kompetenzen, insbesondere bei Gesetzesvorlagen nur noch beratende Funktion, die Abstimmung erfolgte geheim an der Urne. Immer wieder wurde die Abschaffung der Landsgemeinde vorgeschlagen, sie erfolgte dann endgültig 1998. Eine vorerst 1947 noch gescheiterte Totalrevision der Verfassung kam 1968 zustande; sie zeigte das Bemühen, mit der allgemeinen politischen Entwicklung Schritt zu halten. Neben der in allen mehrheitlich katholischen Kantonen führenden konservativen Partei gab es in Obwalden auch eine oppositionelle liberale, die Partei der «Fortschrittler», die im Schnitt immer etwa ein Viertel der Sitze im Grossen Rat innehatte und auch über ein eigenes Presseorgan verfügte.27 Die Gemeindeautonomie war sehr ausgeprägt. Viele wichtige, andernorts meist dem Staat und der Einwohnergemeinde übertragene Aufgaben wurden indes von den Bürgergemeinden28 und verschiedenen Korporationen übernommen. Diese waren ähnlich demokratisch strukturiert wie der Kanton und die Einwohnergemeinden und auf vielen Gebieten tätig, umso mehr als sie – anders als die Einwohnergemeinden – meist auch finanziell gut situiert waren. Mehr als nur ein geografischer Sonderfall war die Gemeinde Engelberg in Obwalden. Zwar war die weltliche Macht des als geistliche Institution weiter bestehenden Benediktinerstifts schon lange dahin, aber auf anderen Gebieten bestimmte das Kloster die Geschicke der Talschaft nach wie vor stark mit. So etwa in wirtschaftlicher Hinsicht durch den enormen, ihm verbliebenen Grundbesitz, der zum grössten Teil verpachtet wurde, ebenso wie die vielen zum Kloster gehörigen Wälder und die Alprechte, von denen es ebenfalls die weitaus grösste Besitzerin war. Das Stift hatte auch eine lokale Bank initiiert (der Schalter war zuerst im Kloster selbst) und betrieb zuerst ein eigenes Elektrizitätswerk. Es übte nach wie vor die Pfarrrechte aus und stellte die einzige höhere Bildungsanstalt im Ort. Eine gewisse Untertanenmentalität hielt sich infolgedessen bis in die Nachkriegszeit; für ältere Leute war der Abt auch damals noch der «Gnädige Herr».29
Innerrhoden hingegen wies verfassungsrechtlich in der Nachkriegszeit zum Teil noch im Mittelalter verwurzelte archaische Züge auf. Die immer noch geltende, sehr kurz gehaltene Verfassung von 1872 hatte nur die allernotwendigsten Anpassungen ans Bundesrecht vollzogen. Die Existenz und die Stellung der Landsgemeinde als souveräne «höchste Gewalt» war zu keiner Zeit bestritten (während sie in Ausserrhoden schliesslich 1997 abgeschafft wurde). Eine europaweit beachtete Diskussion gab es bloss mit der Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Die Innerrhoder lehnten es mehrmals ab, bis das Schweizer Bundesgericht 1990 die zwangsweise Einführung befahl. In der Folge gab es für die nun an der Landsgemeinde zugelassenen Frauen papierene Stimmrechtsausweise. Vorher war für die Männer der einzige Ausweis der Teilnahmeberechtigung das «Seitengewehr» gewesen: der umgehängte Degen, Säbel oder das Bajonett als Zeichen des volljährigen wehrfähigen Bürgers. Bemerkenswert war ferner, dass Montesquieu damals Innerrhoden noch nicht erreicht hatte: Die Gewaltenteilung existierte nur hinsichtlich der Justiz, war aber sonst unvollständig, weil die Regierung mit vollem Stimmrecht auch im gesetzgebenden Grossen Rat sass. Dieser bestand im Übrigen nicht wie überall sonst aus gewählten Einzelpersonen, sondern aus der Gesamtheit der Räte der unteren Verwaltungseinheiten, der Bezirke als Nachfolger der alten Rhoden. Diese wurden allerdings ganz demokratisch an den Bezirksgemeinden, den kleineren Schwestern der Landsgemeinde, bestimmt. Der Landammann präsidierte sowohl die Landsgemeinde, wie den Grossen Rat und die Regierung, hatte also beinahe die Machtfülle eines früheren absoluten Fürsten. Allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass ihn die Landsgemeinde jederzeit absetzen konnte, was auch gelegentlich vorkam. Die neunköpfige Regierung wurde nebenamtlich geführt, ihre offizielle Bezeichnung als «Standeskommission» zeigt schon ihren geringen Stellenwert an. Die Mitglieder selber trugen allerdings noch die schönen altertümlichen Titel: Der Leiter des Polizeidepartements war der «Landesfähnrich», derjenige des Fürsorgedepartements hiess noch lange nach dem hier betrachteten Zeitraum «Armleutsäckelmeister». Wegen der kleinen Beamtenschaft waren die Staatsausgaben und entsprechend auch die Steuern gering. Neue staatliche Aufgaben kamen meist von «Bern», vom Bund, und wurden nicht immer wohlwollend aufgenommen.30 Einige unvermeidliche Anpassungen an die Moderne wurden mit Teilrevisionen der Verfassung vorgenommen. Gemeinden gab es dem Wortsinn nach keine.31 Das «Innere Land» fasste sich als Einheit auf; die staatliche Struktur war infolgedessen etwas zentralistischer als in Obwalden.32 Hingegen wurden auch in Appenzell wie in Obwalden einige Staatsaufgaben von Korporationen übernommen. Die wichtigste war die «Feuerschau» des Hauptortes, die alle möglichen Aufgaben der modernen Versorgung übernahm und immer noch ausführt.33 Auch in Appenzell hatte es neben den führenden Konservativen einmal eine aktive liberale Partei mit einer eigenen Zeitung gegeben. Doch befand sie sich schon in der Zwischenkriegszeit im Krebsgang und stellte 1946 ihr Wirken ganz ein.34 Wichtiger waren die Berufsgruppen, zuvorderst die Bauern. Zu meiner Jugendzeit hiess es jedenfalls, dass gegen diese an der Landsgemeinde kein neues Gesetz durchzubringen sei.
Soziale Ungleichheit war und ist in der Schweiz weniger als in anderen Ländern ausgeprägt und in den hier betrachteten beiden Kantonen im Schnitt wohl noch etwas weniger. Abgesehen davon, dass es immer irgendwie in Armut geratene Leute gab und diese zu einer Zeit, in der der Sozialstaat noch wenig ausgebaut war, häufiger als heute vorkamen, betonten alle Interviewpartner die grundsätzliche Gleichheit. Eine schmale Oberschicht von einigen Prozent der Bevölkerung existierte sicherlich in den Hauptorten: Regierende, Akademiker, Lehrer, einige Geschäftsleute und bessere Handwerker, sowie reich gewordene Rentiers. Darunter aber lebte eine breite Mittelschicht, und insbesondere unter den Bauern waren, wie noch zu zeigen sein wird,35 die Unterschiede nicht sehr ausgeprägt, wurden jedenfalls nicht ausgesprochen als solche empfunden.36 In Appenzell war das soziale Schichtenmodell ganz einfach: Es gab die «Hofer», die Mehrheit der Bewohner des Hauptortes, die breite Masse der Bauern auf dem Lande und schliesslich am unteren Ende der Leiter die «Rietler»,37 die ärmeren Leute, die konzentriert am Rande des Dorfes, südlich der Bahnlinie, in kleinen Häuschen lebten, die sie auf dem eher schattig gelegenen Land einer schon im 15. Jahrhundert errichteten sozialen Stiftung erbaut hatten. In Sarnen und in den übrigen Dörfern Obwaldens waren, neben den immer noch zahlreichen Bauern, das kleinbürgerliche Element und die Arbeiterschaft etwas stärker vertreten. Umgekehrt war dort die Oberschicht der politisch seit Jahrhunderten führenden alten Geschlechter wohl noch etwas abgehobener als in Appenzell, obschon es auch hier etwa ein halbes Dutzend Familien gab, die häufiger als andere in der Regierung sassen.38 Die genannten alten, in der Politik gut vertretenen Obwaldner, aber auch sonstige angesehene bürgerliche und bäuerliche Familien verfügten nämlich bis in die 1960er-Jahre auch in den Kirchen über reservierte Sitzplätze («Chremmli») oder als Amtsinhaber über besondere Ratsherrenstühle.39 Sie wurden als Landammänner oder Gemeindepräsidenten an hohen Festtagen von Weibeln zum Kirchgang abgeholt und durften sich in Sarnen in hervorgehobenen Grablegen nahe der Kirche ihrer letzten Ruhe erfreuen. In Obwalden konnte sich eben im Laufe von Jahrhunderten eine Schicht herausbilden, die als Landvögte der Gemeinen Herrschaften und als Soldunternehmer einigen Reichtum ansammelte, zu Hause die politischen Ämter monopolisierte, sich repräsentative Wohnsitze erbaute und von ihren Renten lebte, ganz analog zu den städtischen Patriziern der eidgenössischen Stände. Die Appenzeller Oberschicht musste diese Möglichkeiten zur Distinktion weitgehend entbehren, die Innerrhoder waren insgesamt immer ärmer, weil ihnen die finanziellen Ressourcen ungleich den übrigen Alten Eidgenossen weitgehend verschlossen waren.40 Auch der Solddienst im Ausland war hier viel weniger verbreitet.
In beiden Kantonen waren 1950 noch 96 Prozent der Bevölkerung katholisch. Mit der noch kleinen reformierten Minderheit, die in den Hauptorten jeweils eine eigene Kirche besass, lebte man indessen im Allgemeinen friedlich zusammen.41 Obwalden gehörte zum Bistum Chur, Appenzell Innerrhoden zu St. Gallen.42 Beide waren allerdings aufgrund historischer Verwicklungen im 19. Jahrhundert formell nicht ihrer Diözese angeschlossen, sondern nur indirekt oder provisorisch unterstellt, ein Status, von dem vor allem die Appenzeller finanziell profitierten.43 Obwalden zählte 1946 insgesamt 13 Pfarreien, beziehungsweise Kuratien.44 In den 1950er-Jahren kamen Wilen zu Sarnen, Kleinteil zu Giswil, sodass noch 11 übrig blieben. In Engelberg stellte das Kloster auch den Pfarrer. Innerrhoden zählte (mit Oberegg) sechs Pfarreien und zwei Kuratien. Die beiden Kantone bildeten je ein Dekanat, demjenigen in Appenzell waren auch die im 19. Jahrhundert neu entstandenen katholischen Pfarreien in Ausserrhoden angeschlossen. Dekane waren meistens die Pfarrer der Hauptorte, die auch sonst eine besonders angesehene Stellung genossen. In beiden Kantonen herrschte ein stark historisch bestimmtes und bei Gelegenheit auch sehr direkt ausgeübtes Staatskirchentum.45 Pfarrwahlen durch die Kirchgemeinden oder die politischen Behörden waren eine Selbstverständlichkeit. In Obwalden waren die Kirch- und die politische Gemeinde identisch. An einigen primär religiösen Feierlichkeiten nahmen die Regierungen offiziell teil (in Appenzell in Amtstracht, ein schwarzer Mantel mit Umschlag).46 Umgekehrt ging der Landsgemeinde in Appenzell ein spezieller Gottesdienst mit Ehrenpredigt voraus;47 in Sarnen wurde anschliessend an die Landsgemeinde eine Vesper abgehalten. Neben den Behörden marschierte dort auch die Geistlichkeit im Landsgemeindezug mit, sass oben auf der Tribüne und nahm am Landsgemeindeessen teil. In Innerrhoden amtierten die Landammänner auch als Klostervögte der Frauenkonvente.48 Der Staat übte dort auch die Oberaufsicht über sämtliche Kapellen aus, obschon sich diese fast ausschliesslich im Besitze von Privaten oder Korporationen befanden. Das Ineinander von Kirche und Staat zeigte sich in der Appenzeller Pfarrkirche sinnfällig: An der Chorwand waren die in den Befreiungskriegen eroberten Fahnen dargestellt (früher hingen dort noch die Originale), und bei feierlichen Gottesdiensten wurden die grossen von den Rhoden gestifteten Kerzen am Eingang zum Chor entzündet.49 Gegenüber den Bischöfen zeigte man sich äusserlich zwar devot, vertrat aber bei Streitigkeiten vielfach dezidiert den eigenen Standpunkt. Bei der Durchsetzung der moralischen Normen der Kirche wirkte die Staatsgewalt mit, wenn sie auch den Interessen der Regierenden entsprachen. Umgekehrt wurden einige kirchliche Verfügungen, besonders solche reformerischer Natur, von den Repräsentanten des Staats nicht immer mit dem erwarteten Eifer unterstützt, sondern nur eingeschränkt umgesetzt, ja bisweilen ignoriert. Die alten Gewohnheiten, auf die sich Regierungen und gewöhnliches Kirchenvolk beriefen, blieben noch lange bestimmend. In Obwalden waren auf der Ebene der Gemeinden noch nach 1945 das staatliche und kirchliche Rechnungswesen vielfach miteinander verquickt; die Kirchgemeinden waren dort ja die Vorläufer der späteren politischen Gemeinden gewesen. Die Kirche war in beiden Kantonen finanziell gut ausgestattet, insbesondere durch die reichlich fliessenden Stiftmessengelder, das heisst die Summen, die für die sehr verbreiteten Seelenmessen einbezahlt wurden. In Appenzell sprach man in pekuniären Angelegenheiten der Pfarrkirche gerne nur vom «reichen Moritz».50
An Klöstern gab es in Obwalden das alte Benediktinerstift Engelberg mit einer Stiftsschule; auch die staatliche Mittelschule in Sarnen wurde bis 1984 von Benediktinern des ehemaligen Klosters Muri-Gries geleitet.51 Dort bestand auch, ebenso wie in Appenzell, ein Kapuzinerkloster. Letzteres führte hier die einzige höhere Bildungsanstalt, eine Real- und Mittelschule mit Internat. Hinsichtlich der Bildungsausgaben standen beide Kantone im gesamtschweizerischen Vergleich in den untersten Rängen.52 In Obwalden gab es ein altes Frauenkloster in Sarnen, eines in Melchtal, mit einem angeschlossenen Töchterinstitut, sowie eine moderne Gründung von Dominikanerinnen (Bethanien in St. Niklausen).53 Innerrhoden zählte insgesamt sogar vier Frauenklöster, wobei allerdings zwei (Wonnenstein und Grimmenstein) als Exklaven in Ausserrhoden lagen. Die Primarschule war staatlich organisiert, doch wirkte die Kirche, wie noch zu zeigen sein wird, auf verschiedenen Ebenen sehr bestimmend auch auf das niedere Bildungswesen ein.54
Zu den übrigen, in der Einleitung aufgeführten, aber nur am Rande einbezogenen Gebieten können und sollen hier nur die wichtigsten strukturellen Elemente genannt werden. Auf die abgesehen vom Konfessionellen weitgehende Ähnlichkeit von Ausser- und Innerrhoden in dieser Hinsicht wurde bereits hingewiesen. Dies gilt besonders für das vom Bauerntum und seiner Folklore geprägte Ausserrhoder Hinterland, während die übrigen Teile stärker industriell ausgerichtet sind.55 Das von Zihlmann beschriebene Luzerner Hinterland und das Entlebuch ähneln geografisch und wirtschaftlich ebenfalls weitgehend Appenzell und Obwalden.56 Dasselbe gilt für das Berner Oberland, wobei hier noch ausgedehnte Alpen hinzukommen, reicht doch das Gebiet bis zur Viertausendergrenze. Im Gegensatz zu fast allen übrigen hier betrachteten Gegenden spielte dort aber auch der Tourismus eine gewaltige und wirtschaftlich wichtige Rolle und dies schon seit langem – das Berner Oberland war neben Chamonix die am frühesten, nämlich schon im späten 18. Jahrhundert von Fremden aufgesuchte Region des Alpenraums. Der Freiburger Sensebezirk betreibt Gras- mit etwas Ackerbau.57 Hingegen unterscheiden sich die inner- beziehungsweise südalpinen Regionen (Wallis, Graubünden, Tessin) nicht nur naturräumlich, sondern auch wirtschaftlich ziemlich stark vom nördlichen Voralpengebiet. In diesen verhältnismässig trockenen und daher zum Teil (besonders im Wallis) einer künstlichen Bewässerung bedürftigen Tälern wurde neben der Viehhaltung, bei der neben dem Rindvieh auch Ziegen und Schafe eine grössere Rolle spielten, in der Nachkriegszeit noch ziemlich viel Ackerbau betrieben, vor allem Roggen und Kartoffeln für den Eigenbedarf.58 Im Wallis kam ausserdem der Weinbau in der Rhoneebene hinzu, wo auch viele Bergdörfer Reben besassen. Es herrschte eine ausgesprochene Stufenlandwirtschaft mit bis zu vier Stafeln vor. Diese bäuerlichen Wirtschaften waren fast autark, auch weil dieses Gebiet in der Regel verkehrsmässig noch schlechter als das Voralpengebiet erschlossen war, im Extremfall nur durch Saumtiere erreichbar.59 Das bäuerliche Element dominierte, noch stärker als in Innerrhoden oder Obwalden, auch in den Dörfern.60 Der zweite Sektor existierte dort nur marginal; im Wallis allerdings arbeiteten in einigen nahegelegenen Orten nicht wenige Männer als Pendler in den grossen elektrochemischen und metallurgischen Betrieben in der Talebene.61 Sie überliessen dann die bäuerliche Arbeit weitgehend ihren Frauen. Die Besitzungen im alpinen Raum waren infolge der dort üblichen Realteilung fast immer extrem parzelliert, zwanzig Parzellen pro Betrieb waren keine Ausnahme. Die Bevölkerung war jedoch wie in den anderen hier untersuchten Regionen ziemlich homogen, abgesehen von städtischen Siedlungen wie Leuk, wo die Standesunterschiede ähnlich wie in Appenzell oder Sarnen speziell im kirchlichen Bereich deutlich zu Tage traten.62 Der Tourismus spielte in der Regel erst ab den 1960er-Jahren eine spürbare Rolle.63 Die dauerhafte Auswanderung war stärker ausgeprägt als in den Gebieten der Nordalpen. Politisch waren in allen diesen Regionen ebenfalls die demokratischen und korporativen Elemente, in Graubünden und im Wallis auch die Gemeindeautonomie, stark entwickelt. Allerdings war die ganze Politik mehr als in den Landsgemeindekantonen der Reglementierung durch die Kantonsregierungen ausgesetzt. Parteipolitisch war wie in den anderen katholischen Stammlanden die Katholisch-Konservative Partei führend, auch wenn in den meisten Gebieten noch andere, von jener meist erbittert bekämpfte liberale Gruppierungen existierten.