Al Capone Classic 4 – Kriminalroman - Al Cann - E-Book

Al Capone Classic 4 – Kriminalroman E-Book

Al Cann

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Beschreibung

FBI-Agent Eliot Ness, der große Gegenspieler von Al Capone Aufregende Action-Krimis aus Chicago um Bandenkriege und Frauenmörder, erzählt von einem Schriftsteller, der sich wie kein anderer in der großen, alten Gangster-Metropole auskennt: Al Cann weiß alles über den unbestechlichen FBI-Agenten Eliot Ness und den berüchtigtsten aller Gangster, den Italo-Amerikaner Al Capone, der nicht nur Chicago, sondern das ganze Land in Atem hielt. Die beiden großen Gegenspieler Eliot Ness und Alfonso Capone haben wirklich gelebt! Authentische Kriminalfälle halten unsere Leser in Atem, fesselnd, fast magisch beschrieben, daß es unter die Haut geht. Diese Krimiserie wird alle Krimifans begeistern und nachhaltig binden. Den fintenreichen und spannungsgeladenen Romanen mit wahrem Hintergrund kann niemand widerstehen. Das Duell zwischen Eliot Ness und Al Capone schreitet unaufhaltsam seinem Höhepunkt entgegen... Mit müden Pedalstößen brachte James Rattler sein altes Fahrrad die ansteigende stille Vorstadtstraße hinauf. Er ahnte gar nicht, daß sich noch in dieser gleichen Minute sein öde dahindämmerndes Leben schlagartig ändern sollte. Fahlgelb spannte sich der Himmel über Milwaukee. Die große Stadt am Michigan-See hatte hier draußen im Südwesten nicht ihre beste Seite. Eine schmutzige Arbeitersiedlung reihte sich an das Gelände einer großen Fabrik, und die Springtime Street, durch die der finster dreinblickende Mann gerade mit seinem Fahrrad schlingerte, hatte mit dem Frühling, der ihr ja den Namen gegeben hatte, so wenig zu tun wie Rattlers Gesicht mit dem Begriff Lebensfreude. Es war wirklich ein erbärmliches Leben, das der sechsunddreißigjährige Gelegenheitsarbeiter führte. Damals, als er aus der Schule kam, hatte er Busfahrer werden wollen, seine Liebe zum Whisky hatte ihn vor diesem Ziel scheitern lassen. Da war er gleich auf den abgelaufenen »Weg zum Millionär« gekommen, hatte sich als Tellerwäscher, Balljunge, Liftboy und Faßschlepper versucht und war schließlich zu alt für all diese Boy-Berufe geworden. Noch einmal hatte seine Mutter versucht, ihn zu einem geregelten Job zu bringen, indem sie ihn bei der Transportagentur unterbrachte, bei der sie selbst als Reinmachefrau nach Feierabend arbeitete. Aber James hatte das unruhige Blut des Vaters in den Adern – wie er glaubte, sein Versagen immer wieder entschuldigen zu müssen; dabei war sein Vater, der als Handlungsreisender in Stoffen arbeitete, bis zu seinem frühen Tod ein rechtschaffener und fleißiger Mann gewesen, der seine siebenköpfige Familie immerhin ernährt hatte. James Rattler hielt seine eigene Familie nur kümmerlich am Leben, und das war ein Unterschied. Daß ein Versager wie dieser Mann das Recht für sich in Anspruch nahm, eine Familie zu gründen und noch dazu vier Kinder in die Welt zu setzen, war ungeheuerlich. Die Gelegenheitsarbeiten, denen der lustlose Mann nachging, hinderten die fünf Rattlers daheim in der Dachgeschoßwohnung lediglich am Verhungern. Da James nur wenig verdiente und ein Selbstmordversuch seiner jungen Frau ihn deprimiert hatte, lieferte er sein weniges Geld nun größtenteils daheim ab. Für den Whisky blieb dann nicht mehr viel – und das war es, was ihm das Leben so sauer machte. Für Abenteuer war er zu alt geworden, und er hätte es als Abenteurer angesehen, den Versuch zu machen, sein Geschick zu wenden, um mehr Geld zu verdienen. Was er wohl gesagt hätte, wenn er gewußt hätte, daß sich noch in dieser Minute sein Leben vollkommen ändern würde? Und was er wohl getan hätte, wenn er gewußt hätte, wie es sich ändern sollte. Heute, an dem Tag, an dem es geschah, hätte er bei der Yorkshire-Werft vier Stunden mit Stapelarbeiten verbringen sollen.

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Seitenzahl: 155

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Al Capone Classic – 4 –

Der perfekte Plan

Al Cann

Mit müden Pedalstößen brachte James Rattler sein altes Fahrrad die ansteigende stille Vorstadtstraße hinauf. Er ahnte gar nicht, daß sich noch in dieser gleichen Minute sein öde dahindämmerndes Leben schlagartig ändern sollte.

Fahlgelb spannte sich der Himmel über Milwaukee. Die große Stadt am Michigan-See hatte hier draußen im Südwesten nicht ihre beste Seite. Eine schmutzige Arbeitersiedlung reihte sich an das Gelände einer großen Fabrik, und die Springtime Street, durch die der finster dreinblickende Mann gerade mit seinem Fahrrad schlingerte, hatte mit dem Frühling, der ihr ja den Namen gegeben hatte, so wenig zu tun wie Rattlers Gesicht mit dem Begriff Lebensfreude. Es war wirklich ein erbärmliches Leben, das der sechsunddreißigjährige Gelegenheitsarbeiter führte. Damals, als er aus der Schule kam, hatte er Busfahrer werden wollen, seine Liebe zum Whisky hatte ihn vor diesem Ziel scheitern lassen. Da war er gleich auf den abgelaufenen »Weg zum Millionär« gekommen, hatte sich als Tellerwäscher, Balljunge, Liftboy und Faßschlepper versucht und war schließlich zu alt für all diese Boy-Berufe geworden. Noch einmal hatte seine Mutter versucht, ihn zu einem geregelten Job zu bringen, indem sie ihn bei der Transportagentur unterbrachte, bei der sie selbst als Reinmachefrau nach Feierabend arbeitete. Aber James hatte das unruhige Blut des Vaters in den Adern – wie er glaubte, sein Versagen immer wieder entschuldigen zu müssen; dabei war sein Vater, der als Handlungsreisender in Stoffen arbeitete, bis zu seinem frühen Tod ein rechtschaffener und fleißiger Mann gewesen, der seine siebenköpfige Familie immerhin ernährt hatte. James Rattler hielt seine eigene Familie nur kümmerlich am Leben, und das war ein Unterschied. Daß ein Versager wie dieser Mann das Recht für sich in Anspruch nahm, eine Familie zu gründen und noch dazu vier Kinder in die Welt zu setzen, war ungeheuerlich. Die Gelegenheitsarbeiten, denen der lustlose Mann nachging, hinderten die fünf Rattlers daheim in der Dachgeschoßwohnung lediglich am Verhungern. Da James nur wenig verdiente und ein Selbstmordversuch seiner jungen Frau ihn deprimiert hatte, lieferte er sein weniges Geld nun größtenteils daheim ab. Für den Whisky blieb dann nicht mehr viel – und das war es, was ihm das Leben so sauer machte. Für Abenteuer war er zu alt geworden, und er hätte es als Abenteurer angesehen, den Versuch zu machen, sein Geschick zu wenden, um mehr Geld zu verdienen. Was er wohl gesagt hätte, wenn er gewußt hätte, daß sich noch in dieser Minute sein Leben vollkommen ändern würde? Und was er wohl getan hätte, wenn er gewußt hätte, wie es sich ändern sollte.

Heute, an dem Tag, an dem es geschah, hätte er bei der Yorkshire-Werft vier Stunden mit Stapelarbeiten verbringen sollen. Plötzlich, als er unter den anderen auf das große Tor der Werft zuradelte, hatte ihn das Elend mit Macht gepackt. Er warf noch einen letzten Blick auf die grauen, fensterlosen Mauern und die riesigen Kräne und wandte sich dann ab.

Wie rätselhaft war doch das Schicksal, daß es den Mann ausgerechnet an diesem Tag und ausgerechnet in dieser Stunde auf diesen Weg schickte.

Unschlüssig schob er sein Fahrrad die Straße entlang, blieb vor einem Kiosk stehen und las die Schlagzeilen. Wie so viele primitive Menschen befaßte er sich geradezu leidenschaftlich mit Politik. Er verstand gar nichts davon, kroch wilden Arbeiterparolen nach, stritt sich mit anderen ständig heftig herum und fand in »seiner« Politik so etwas wie einen Ausgleich für sein verfahrenes Leben.

Bei der presbyterianischen Kirche stieg er wieder aufs Rad. Er würde in Botkins Bar schauen, nur ein Drink konnte seine Laune aufbessern. Und was schadete es schon, ob er die Paar Bucks, die er da bei den Stapelarbeiten zusammengekratzt hätte, in der Tasche hatte oder nicht.

Langsam und in leichten Schleifen fuhr er die ansteigende Straße hinauf. Die Häuser auf der linken Straßenseite wurden allmählich besser und hatten kleine, gepflegte Vorgärten. Eine junge Frau kam aus einer Haustür. Sie war blond und hübsch und ging mit federndem Schritt die Straße hinunter. Rattler sah ihr nach und spitzte die Lippen. Aber der Pfiff blieb aus, mit müdem Gesicht wandte er sich ab. Auch das war für ihn vorbei. Er war früher ein armer Schürzenjäger gewesen, lange Zeit hatte er geglaubt, er müßte bei einer reichen, schönen Frau sein Glück machen können. Er war sogar fest davon überzeugt gewesen. Aber dann war er bei Jenny hängengeblieben. Sie war brünett, hatte damals, vor sieben, acht Jahren gut ausgesehen und – nun ja, schließlich waren dann die Zwillinge gekommen und anschließend die anderen Kinder.

Die rechte Straßenseite grenzte jetzt an die hohe graue Mauer einer Nagelfabrik. Rattler kannte sie, er hatte ein paarmal da gearbeitet und sich dann mit einem der Vorarbeiter gestritten, es war wieder einmal um die leidige Politik gegangen, in der er sich doch so gut auszukennen glaubte.

Nur noch Sekunden trennten den Mann von dem Ereignis, das alles für ihn ändern sollte.

Drüben aus einem der Häuser kam ein Mann. Er war alt, schütteres graues Haar umgab seinen knochigen Schädel. Eine gespenstische Blässe lag auf seinem eingefallenen Gesicht. Helle, farblose Augen standen tief in dunklen, umschatteten Höhlen. Er trug einen grauen Anzug und war in Hausschuhen. Mit zittrigen Bewegungen kam er durch den kleinen Vorgarten und hob plötzlich mit einer matten Geste die rechte Hand, in der ein Brief lag.

Rattler sah richtig: der Mann winkte ihm.

Wie aufs Stichwort hatte das Schicksal ihn, ausgerechnet ihn, in dieser Minute, ja, in dieser Sekunde, hier vor das Haus des achtundsiebzigjährigen Harold Tissot geführt.

Rattler hatte wenig Lust, den Briefträger für den Alten abzugeben. Sollte der doch sehen, wie er seine Post zum Kasten bekam. Aber als er den Alten »Hallo, junger Mann!« rufen hörte, hielt er doch an. Er hatte es zwar nur mit krächzender Stimme rufen können, der Alte, aber es war das Adjektiv »jung«, das Rattler dann doch bewegte, über die Straße zu fahren und anzuhalten.

»Bitte, würden Sie mir einen Gefallen tun und diesen Brief zur Polizei bringen? Ich habe hier kein Telefon im Haus – und es ist eine wichtige Sache. Thanks, junger Mann, thanks.«

Rattler hielt den Brief in seinen Händen und sah dem Mann nach, wie er mit leicht schwankenden Schritten zum Haus zurückging. Wie mit letzter Kraft nahm er die beiden Stufen, schob die Haustür mit der Rechten auf und brach dann plötzlich in die Knie.

Rattler sah deutlich, wie er sich an der Flurwand zu halten versuchte, dann aber nach vorn stürzte und regungslos liegenblieb.

Der Mann auf der Straße hatte die Szene gebannt beobachtet. Sekundenlang verharrte er unschlüssig an der Bordsteinschwelle.

Mußte er dem Mann nicht helfen? Nicht wenigstens nach ihm sehen? Schon wollte er weiter, als er sich doch anders besann. Er ließ das Rad fallen und ging mit raschen Schritten durch den kleinen Vorgarten auf das Haus zu.

Vor der Tür ragten ihm die durchgetretenen Hausschuhe des Gestürzten entgegen. Rattler schob sich an dem Körper des Mannes vorbei und sah auf ihn nieder.

Er bückte sich und wälzte ihn auf den Rücken. Erschrocken fuhr er zurück. Er starrte in ein geisterbleiches, völlig erschlafftes Gesicht, das plötzlich gar keine Falten mehr zu haben schien.

War es noch das gleiche Gesicht, in das er noch vor Sekunden gesehen hatte?

Rattler verstand nicht viel von den Grenzbereichen des Lebens, dennoch aber begriff er jetzt ganz klar, daß der Mann da vor ihm an der Erde tot war.

Er wußte nicht, wie lange er neben ihm gestanden hatte, als er sich plötzlich umwandte und hinaushastete. Er nahm sein Fahrrad auf und fuhr rasch davon.

Er wohnte in einer der zahllosen Mietskasernen unten in Cudahy, oben im elften Geschoß, direkt unterm Dach. Als er die Tür aufschloß, stand hinten im schmalen Korridor die dunkle Gestalt einer Frau.

»Du?« kam es vorwurfsvoll von ihren Lippen. »Weshalb kommst du denn schon?«

Er warf seine Kappe auf den Garderobenhaken und ging wortlos an ihr vorbei in sein Zimmer. Die Tür schloß er hinter sich ab.

Kopfschüttelnd stand die Frau da, wischte sich dann die Hände an der Schürze ab und ging zurück in die Küche, um ihrer Arbeit weiter nachzugehen.

Minutenlang stand Rattler in der Mitte seines schmalen, schrägwandigen Schlafzimmers und starrte auf die gegenüberliegende Häuserwand. Eine Frau war damit beschäftigt, ein Fenster zu putzen. In geradezu halsbrecherischer Manier kam sie dieser Beschäftigung auf der Simskante nach. Rattler hatte kein Auge dafür. Er lauschte in sich hinein – und zurück in den Flur. Als ihm die Geräusche aus der Küche verrieten, daß seine Frau wieder bei der Arbeit war, nestelte er mit der Linken den Brief aus der Jackentasche. Er trug die zittrige, nach rechts abfallende Handschrift eines Greises und war an das Polizeirevier XIV adressiert. Einen Absender trug er nicht.

Was mochte der Alte der Polizei mitzuteilen haben?

Rattler spürte instinktiv, daß er hier nicht irgendeine unwichtige Botschaft in Händen hielt. So primitiv er auch sonst war, für dergleichen Dinge hatte er einen Riecher. Er wog den Brief in der Hand und kam schließlich zu dem Entschluß, ihn zu öffnen. Das ging natürlich nicht so ohne weiteres, denn so etwas mußte fachmännisch vorgenommen werden. Wie aber konnte er das tun, wenn seine Frau im Haus war? Er ging zur Tür, schloß sie auf und rief in seinem übellaunigen, bellenden Ton:

»Jenny! Hol mir ein paar Zigaretten.«

»Du mußt doch noch welche haben«, kam die Antwort aus der Küche. »Du hast doch gestern abend erst zwei Päckchen geholt.«

»Ich hab’ aber keine mehr. Los, geh runter und hol’ mir welche.«

»Ja, ist gut.«

Gleich darauf hörte er die Haustür schlagen. Er trat in den Flur und erschrak, als er sah, daß Jenny nicht gegangen war, sondern vorn an der Haustür stand und ihn aus großen fragenden Augen anblickte.

»Was ist denn mit dir los?« blaffte er sie wütend an.

Da wandte sie sich um und ging. Erst als er ihre Schritte im Treppenhaus hörte, ging er zur Haustür, schob die Kette vor und eilte in die Küche.

Auf dem Ofen stand wie meist ein dampfender Wasserkessel. Rasch hielt er den Brief über den Wasserdampf und hatte gar keine Mühe, die schlechte Gummierung des Umschlages öffnete sich fast wie von selbst. Als er mit der Rechten nach dem zusammengefalteten Blatt greifen wollte, hielt er inne. Nein, so durfte man da nicht vorgehen. Schließlich war das Schreiben an die Polizei gerichtet. Unklar geisterte der Gedanke an Fingerabdrücke durch seinen Kopf. Er lief hinaus, zog die Kette wieder an der Wohnungstür zurück und ging in sein Zimmer, um hinter sich abzuschließen. Dann legte er den Brief auf den Tisch, ging an den Kleiderschrank und nahm seine Handschuhe heraus. Vorsichtig wischte er den Umschlag ab und zog dann den Brief heraus.

Mit der gleichen krakeligen, nach rechts fallenden Greisenschrift, mit der auch der Umschlag geschrieben war, stand da folgendes zu lesen:

Testament

Hiermit erkläre ich, Harold Tissot, achtundsiebzig Jahre alt, daß ich angesichts meines Todes, aber im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, mein gesamtes Vermögen sowie mein Haus meiner Nichte Mary Tissot, wohnhaft in Chicago, Blue Island Street 76c vermache. Als Testamentszeugen habe ich den Arzt Dr. Gary Cormwell benannt.

Ich möchte, daß meine Nichte dem Überbringer des Testaments 1000 Dollar gibt.

Dr. Gary Cromwell

Harry S. Tissot

Ein Testament. Nichts weiter.

Und dennoch! Rattler hielt das Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger seiner behandschuhten Linken und las die Zeilen ein zweites Mal.

Hier hatte ein Mann sein Testament aufgezeichnet. Eine alltägliche Sache. Ein Testament, das einer Frau ein Erbe zuschrieb. Weshalb hatte der Alte den Arzt nicht gebeten, das Testament aufzubewahren? Dafür gab es jedoch eine einleuchtende Erklärung: er hatte vielleicht gehofft, daß der Tod nicht so nahe bei seinem Haus wartete.

Rattler spürte, daß ihn eine große Unruhe erfaßte. Was er da in Händen hielt, war nicht bloß ein Stück Papier, das einem Mädchen ein Erbe vermachte, sondern es war für ihn selbst, für den am Leben Gescheiterten ein bares Stück Geld.

Tausend Dollar! Ein kleines Vermögen für einen Mann wie James Rattler.

Als er jetzt draußen seine Frau im Korridor hörte, wollte er hinauslaufen, um ihr zuzurufen: Jenny wir haben tausend Dollar.

Aber er besann sich und schob den Brief in die Tasche zurück.

»Hier sind deine Zigaretten. Ich lege sie an die Garderobe!«

»Ja, schon gut.«

Er setzte sich in den alten, abgeschabten Plüschsessel und streckte die Beine weit von sich.

Nachdenken, James! Nur nachdenken!

Tausend Dollar waren zweifellos ein schönes Stück Geld. Aber steckte da nicht vielleicht noch mehr drin? Sollte es nicht möglich sein, noch etwas von dem Erbe, das der Alte dieser Frau drüben in Chicago hinterließ, abzuzweigen? Aber wie sollte das möglich sein?

Irgendwie mußte es da einen Weg geben.

Plötzlich stand er auf, ging hinaus, nahm seine Mütze und wollte zur Tür.

»Gehst du wieder weg?«

»Ja, ich habe – ich muß fort. Nach Chicago.«

»Aha.« Jenny Rattler hatte nicht den Mut, ihren Mann zu fragen, weshalb er so plötzlich nach Chicago mußte. Die beiden noch verhältnismäßig jungen Menschen hatten sich schon seit langem auseinandergelebt. Jenny interessierte sich nicht mehr für die Wege ihres Mannes. Sie war zufrieden, wenn er das Geld für das Essen und die Miete nach Hause brachte, damit die Kinder und sie nicht zu hungern brauchten. Es kam oft genug vor, daß sie mit ihm wegen des Geldes streiten mußte, immer wieder versuchte er, einen größeren Teil als sonst für seinen Alkoholkonsum einzubehalten.

Aber nach Chicago! Wie kam er denn darauf? Vielleicht suchte er dort irgendeinen Job?

Da fiel die Tür hinter dem Mann bereits ins Schloß.

So wollte er nach Chicago fahren? So wie er da war? In der grauen Arbeitsjacke und der alten Hose?

Kopfschüttelnd ging Jenny Rattler in die Küche zurück und machte sich wieder an die Arbeit.

*

Die einundneunzig Meilen, die Milwaukee vor dem Stadtgiganten Chicago trennten, wurden von der Schnellbahn in rasendem Tempo zurückgelegt. Es war noch weit vor Mittag, als James Rattler ankam und die kleine Straße am McNally Park aufsuchte, die sein Ziel war.

Es war ein graues Haus im Stil der gewaltigen Betonklötze der zwanziger Jahre, unpersönlich und verwohnt. In der fünften Etage war neben den anderen Namensschildern eine Visitenkarte angeheftet, auf der der Name Terence Chester stand.

Rattler läutete.

Es dauerte nicht lange, und eine ältliche, verhärmt aussehende Frau öffnete.

»Kann ich Mr. Chester sprechen?«

»Ich glaube, er ist noch gar nicht da. Die Schule ist doch vor zwölf Uhr nicht aus.«

»Ach ja, danke. Dann komme ich später wieder.«

Er verließ das Haus und stand unten auf der Straße. Wieder befiel ihn die Unschlüssigkeit, die ein Hauptmerkmal seines Charakters war. Wie war er überhaupt auf den verrückten Gedanken gekommen, hierher zu fahren? Was wollte er von Terry?

Damned, wenn er doch wenigstens die Frau gefragt hätte, in welcher Schule er unterrichtete.

Chester war Lehrer an einer Volksschule. Es hatte eine Zeit gegeben, da konnte James Rattler von sich behaupten, mit Terence Chester befreundet zu sein. Doch, diese Zeit hatte es tatsächlich gegeben. Aber sie lag viele Jahre zurück. Chester stammte wie er aus Milwaukee und hatte mit ihm zusammen die Grundschule besucht. Sie hatten zusammen Ausflüge in die Umgebung von Milwaukee gemacht, weite Touren mit den Fahrrädern, waren in den Ferien zusammen nach Westen hinüber getrampt und hatten mancherlei Spaß miteinander erlebt. Sicher hätte die Freundschaft noch länger gehalten, wenn nicht eines Tages die schwarzhaarige Suzan dazwischengekommen wäre, sie hatte die beiden auseinandergebracht. Innerlich hatte das Mädchen sich bereits für den wacheren Terry entschieden, als James sie dem Freund plötzlich ausspannte. Der Trick, mit dem er das schaffte, war nicht sehr sauber: er legte Suzan gefälschte Beweise vor, wonach Terry ein Kind mit einem anderen Mädchen hatte. Das war ausschlaggebend für Suzan gewesen. Rattler hatte es dann aber nicht verstanden, sie längere Zeit zu halten. Chester seinerseits hatte ihm übelgenommen, daß Suzan sich ihm, James, zugewandt hatte. Er hatte zwar niemals erfahren, was Suzan dazu bewogen hatte, den Freund ihm vorzuziehen, doch sie waren auseinandergekommen. Well, sie hatten sich dann nach einer Reihe von Jahren in Milwaukee auf der Beerdigung eines Verwandten von Chester wiedergetroffen und mit einem Handschlag alles vergessen machen wollen – so wie es sich für zwei erwachsene Männer gehörte. Aber die alte Freundschaft lebte doch nicht wieder auf.

Merkwürdig, daß er sich ausgerechnet heute an Terry erinnerte. Rattler hatte die sonderbare Feststellung machen müssen, daß er nicht einen einzigen wirklichen Freund besaß. Sicher, er kannte ein paar Leute, mit denen man sich hin und wieder traf, man pokerte miteinander, ging auch mal mit den Millers, den Brightons oder den Pawlins ins Kino, fand sich zu Silvester oder anderen Feiertagen bei diesem oder jenem ein – aber ein richtiger Freund war nicht unter all diesen Menschen. Was ein Wunder auch, wer wollte schon ernsthaft mit einem Mann wie dem Versager James Rattler befreundet sein?

Da stand er jetzt hier in der McNally Street und blickte an der Fassade des grauen Hauses hinauf.

Wie war das, ein Lehrer würde doch kaum allzuweit von seiner Schule entfernt wohnen. Vielleicht war es das einfachste, wenn man sich nach der nächsten Schule erkundigte.

Ein Mann, der damit beschäftigt war, geräuschvoll einen Stapel von Milchkästen vor seinem Geschäft aufeinanderzusetzen, erklärte ihm, daß die Skokie-Schule gleich in der nächsten Straße läge.

Rattler machte sich auf den Weg. Als er das Schulhaus erreicht hatte, fragte er einen Jungen nach dem Lehrer Chester.

»Oh, Terry?« meinte der etwa zehnjährige Boy, »natürlich haben wir den. Er ist ziemlich gut im Korbball, aber schlecht im Baseball.«

»Und wann ist die Schule aus?«

»In einer Dreiviertelstunde. Ich warte hier auf meine Schwester, blödsinnige Idee von meiner Mutter, daß ich sie immer abholen muß. Sie ist schließlich schon neun und kann auf sich selber aufpassen.«

Ungeduldig wartete Rattler auf das Ende der Schule. Als er den schrillen Ton der Klingel hörte, zuckte er zusammen. Kinder stürmten sofort aus dem großen Tor, als hätten sie dahinter gestanden und nur auf das Klingelzeichen gewartet.

Der Strom der Schüler wurde immer dünner. Dann kamen die ersten Lehrer heraus. Zwei Männer, die beide sehr viel älter waren als Chester, dann eine junge Frau, dann noch zwei Männer. Schließlich kam Terry.

Rattler erkannte ihn sofort, obgleich er ihn ein paar Jahre nicht gesehen hatte. Er war mittelgroß, hatte eine etwas zur Fülle neigende Figur und dunkle Augen. Sein Gesicht war blaß und das braune Haar schon stark gelichtet. Er trug ein blaues Jackett und eine graue Hose. Er machte kein allzu fröhliches Gesicht, als er zwischen den Jungen, die in Gruppen auf dem Hof herumstanden und sich miteinander unterhielten, dem Tor zuschritt.

Rattler hatte auf einmal das Gefühl, daß es absolut falsch gewesen war, hierher zu fahren. Was wollte er ihm denn sagen?

Da blieb Terence Chester plötzlich stehen. Er hatte den Mann draußen auf dem Gehsteig über den Zaun hinweg erkannt.