Al Capone Classic 1 – Kriminalroman - Al Cann - E-Book

Al Capone Classic 1 – Kriminalroman E-Book

Al Cann

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Beschreibung

FBI-Agent Eliot Ness, der große Gegenspieler von Al Capone Aufregende Action-Krimis aus Chicago um Bandenkriege und Frauenmörder, erzählt von einem Schriftsteller, der sich wie kein anderer in der großen, alten Gangster-Metropole auskennt: Al Cann weiß alles über den unbestechlichen FBI-Agenten Eliot Ness und den berüchtigtsten aller Gangster, den Italo-Amerikaner Al Capone, der nicht nur Chicago, sondern das ganze Land in Atem hielt. Die beiden großen Gegenspieler Eliot Ness und Alfonso Capone haben wirklich gelebt! Authentische Kriminalfälle halten unsere Leser in Atem, fesselnd, fast magisch beschrieben, daß es unter die Haut geht. Diese Krimiserie wird alle Krimifans begeistern und nachhaltig binden. Den fintenreichen und spannungsgeladenen Romanen mit wahrem Hintergrund kann niemand widerstehen. Das Duell zwischen Eliot Ness und Al Capone schreitet unaufhaltsam seinem Höhepunkt entgegen... Schwere Nebelschwaden lasteten über den dunklen Straßen Chicagos. Die Luft roch nach Schwefel und Kohlenruß. Alle Geräusche schienen gedämpft zu sein und wie von weit herzukommen. Von der St. Patrick-Church schlug die achte Abendstunde. Es sollte die letzte Stunde des Ireen Moreland sein. Mit raschen Schritten hatte die dunkelhaarige junge Frau das Chekman-House in der 77th Street verlassen und ging an der Southshore Highschool vorbei der Stony Island Avenue entgegen. Hier war der Nebel schwächer, aber schon an der nächsten Straßenecke wälzte sich ihr wieder eine graue Wand entgegen, die die ganze Straße erfaßte. Die Frau blieb unwillkürlich stehen und mußte plötzlich gegen ein dumpfes Gefühl der Angst ankämpfen. Dabei waren die Straßen um diese Stunde nicht etwa schon leer. Im Gegenteil, trotz des scheußlichen Nebels kämpften sich eine Unzahl von Fahrzeugen durch die breite Avenue, und auch aus den Seitenstraßen quollen die Autos nur so heraus. Aber der Nebel verschluckte sie alle, und die Menschen, die vor einem auftauchten, erschienen wie Schemen und verschwanden ebenso körperlos wieder. Scheußlich, dieser Chicagoer Nebel, ging es durch den Kopf der Frau. Wie lange schon hatte sie versuchen wollen, die Stadt zu verlassen. Sie haßte diese schweren erstickenden Nebel im November, die Nässe und die Düsternis. Eine sonnenlose Stadt! Seit Rodger sie damals verlassen hatte, um sich eine andere Freundin zu nehmen, schien ihr die Stadt selbst in ihrem kurzen Sommer unfreundlich und abstoßend. Rodger! Er war der einzige Mann gewesen, der das Leben der Ireen Moreland in Unruhe versetzt hatte. Aber es war eine Unruhe, die die dunkelhaarige Ireen gern weiter ertragen hätte – viele Jahre noch, bis ans Ende ihres Lebens.

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Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Al Capone Classic – 1 –

Der Nebelmörder

Al Cann

Schwere Nebelschwaden lasteten über den dunklen Straßen Chicagos. Die Luft roch nach Schwefel und Kohlenruß. Alle Geräusche schienen gedämpft zu sein und wie von weit herzukommen.

Von der St. Patrick-Church schlug die achte Abendstunde.

Es sollte die letzte Stunde des Ireen Moreland sein. Mit raschen Schritten hatte die dunkelhaarige junge Frau das Chekman-House in der 77th Street verlassen und ging an der Southshore Highschool vorbei der Stony Island Avenue entgegen. Hier war der Nebel schwächer, aber schon an der nächsten Straßenecke wälzte sich ihr wieder eine graue Wand entgegen, die die ganze Straße erfaßte.

Die Frau blieb unwillkürlich stehen und mußte plötzlich gegen ein dumpfes Gefühl der Angst ankämpfen. Dabei waren die Straßen um diese Stunde nicht etwa schon leer. Im Gegenteil, trotz des scheußlichen Nebels kämpften sich eine Unzahl von Fahrzeugen durch die breite Avenue, und auch aus den Seitenstraßen quollen die Autos nur so heraus.

Aber der Nebel verschluckte sie alle, und die Menschen, die vor einem auftauchten, erschienen wie Schemen und verschwanden ebenso körperlos wieder.

Scheußlich, dieser Chicagoer Nebel, ging es durch den Kopf der Frau. Wie lange schon hatte sie versuchen wollen, die Stadt zu verlassen. Sie haßte diese schweren erstickenden Nebel im November, die Nässe und die Düsternis. Eine sonnenlose Stadt!

Seit Rodger sie damals verlassen hatte, um sich eine andere Freundin zu nehmen, schien ihr die Stadt selbst in ihrem kurzen Sommer unfreundlich und abstoßend.

Rodger! Er war der einzige Mann gewesen, der das Leben der Ireen Moreland in Unruhe versetzt hatte. Aber es war eine Unruhe, die die dunkelhaarige Ireen gern weiter ertragen hätte – viele Jahre noch, bis ans Ende ihres Lebens. Die damals schon Dreiundzwanzigjährige hatte geglaubt, das große Glück ihres Lebens mit ihm gefunden zu haben. Doch dann war er nach fast fünf Jahren gegangen – und hatte eine Neunzehnjährige genommen. Eine Welt war für Ireen zusammengebrochen.

Zu allem Unglück erhielt sie kurz danach aus New York die Nachricht, daß ihre Mutter gestorben war und der alte Vater ins Krankenhaus gekommen sei.

Mit raschen Schritten zwängte Ireen sich jetzt durch die Menschen, die an einer Bushaltestelle standen. Einen Augenblick verhielt sie den Schritt und schloß die Augen. Eingekeilt in eine Menschenmauer stand sie da und lauschte auf den Verkehr, der in weiter Ferne vorüberzubranden schien, auf die Stimmen der Menschen, die sie doch nicht sah.

Wie einsam man mitten in einer Weltstadt und in einem Knäuel von Menschen sein konnte.

Sie hatte eigentlich zu dem Bus gehen wollen, der in der Dorchester Avenue abfuhr und sie rascher nach Hause gebracht hätte. Aber der scheußliche Nebel veranlaßte sie schließlich, hier bei den Menschen an der Haltestelle zu warten.

Da tauchte der Bus urplötzlich aus dem Lärm und dem grauweißen Nebel auf, riesengroß, mit Lichtern, die von Kränzen umgeben zu sein schienen. Mit einem leisen, wippenden Federn hielt er an, und mit einem Knacken wurden die Türen geöffnet. Menschen stiegen aus, und die ersten drängten wieder hinein.

Ireen war bei den letzten, die noch Einlaß fanden. Die Tür klappte wieder zu. Das Mädchen zahlte, schob sich in den Mittelgang und bekam einen der pendelnden Hartgummigriffe zu fassen, so daß sie nicht von jeder Schlingerbewegung des Busses hin und her geworfen wurde.

Da sah sie über die breite, runde Schulter eines grauhaarigen Mannes, der einen impertinenten Geruch von Alkohol um sich verbreitete, das Gesicht eines jungen Menschen. Es war schmal und bleich und wurde von großen dunklen Augen beherrscht, die durch eine schwarzgeränderte Brille zu ihr hinüberblickten. Ein alltägliches Gesicht – und doch schien es Ireen, als ob etwas Besonderes in diesen Augen wäre. Groß und ernst hafteten sie auf ihr, wichen auch jetzt nicht, als sie hineinblickte, zur Seite. Der Mann trug einen einfachen Hut mit schmalem Rand, einen graubraunen Trenchcoat, ein blaues Hemd und eine rotweiß gestreifte Krawatte. Seine Hand, die ebenfalls einen der Haltegriffe umspannt hielt, war feingliedrig und schlank.

Elf Minuten waren bereits von der letzten Lebensstunde der unglücklichen Frau verstrichen. – Mit einem sanften Surren fuhr der schwere Bus durch die große Straße nordwärts in das Herz der Weltstadt hinein.

Ireen hatte den Blick abgewandt und spürte doch, daß der Mann sie unentwegt ansah. Heiß strömte es ihr plötzlich zum Herzen. Ein Mann sieht dich an! Und du wähnst dich allein in dieser Stadt. Er aber hat Interesse an dir. Vielleicht ist er verheiratet?

Sie wandte den Kopf und schickte einen verstohlenen Blick auf seine Hand. Daran war kein Ring zu sehen. Aber er konnte an der Linken einen Verlobungsring haben oder den Ehering in der Westentasche verbergen. Das wäre ja nichts Neues gewesen.

Dann war ihre Station da. Sie stieg aus, zwängte sich wieder durch einen Wall von Menschen und lief die breite Straße Midway Playsance nach Westen entlang, an dem gewaltigen Komplex der Universität vorbei, dem Washingtonpark entgegen.

Am Ende der Midway Playsance stand unter einem großen Kastanienbaum ein Losverkäufer. Ein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht, breitem Schlapphut und einem alten unmodernen Mantel. Er hatte den Kragen hochgestellt und die Spitzen seiner Wollhandschuhe abgeschnitten, um so die Lose besser fassen zu können. Nur ein paar Neugierige und vielleicht auch ein paar Unschlüssige hatten sich an seinem Stand eingefunden. Meistens waren es sicher Leute, die mit einem der Busse weiterfahren wollten, die drüben hielten.

Dreiundzwanzig Minuten von der letzten Stunde der jungen Frau waren bereits verronnen, als sie sich plötzlich, einem Impuls folgend, entschloß, einen Vierteldollar zu riskieren. Sie trat an den Stand und schob das Geld über den gelbroten Plastikstreifen, der eine Art Brücke zu dem Händler bildete.

Mit einer raschen Bewegung nahm der Mann das Geld, blickte dann auf und ließ seine Augen einen Moment auf dem Gesicht der Ireen Moreland haften.

Er sah ein bläßliches schlankes Gesicht, in dem ein graublaues Augenpaar stand – Augen, die etwas Verträumtes hatten – und einen Mund, der blaß und schmal wirkte. Das Haar war kurz gehalten und umrandete den oberen Teil des Gesichtsovals. Eine weiße Bluse blickte unter dem dunklen Mantel hervor – eine Bluse, auf der in nicht ganz siebenunddreißig Minuten Blutflecken wachsen würden…

Ireen griff nach dem Los, das der Mann ihr hinhielt, und trat zwei Schritte damit zurück.

Ehe sie es öffnete, blickte sie noch einmal zu dem Losverkäufer hinüber. Der hatte den Kopf wieder gesenkt, sah auf das Geld in der kleinen Schachtel unter der Glasplatte und hob dann den Kopf, um Ausschau nach neuen Kunden zu halten.

In dem Moment, in dem Ireen den Kopf senken wollte, um sich das Los näher anzusehen, blickte sie noch einmal auf. Drüben, hinter einem älteren Ehepaar, das neugierig die kleine Plastiktrommel auf dem Tisch des Losverkäufers musterte, stand der junge Mann mit dem blassen Gesicht und der dunklen Brille. Unverwandt haftete sein Blick auf ihr.

Das Mädchen schob sich mit einer verlegenen Geste eine Haarsträhne aus der Stirn und blickte dann wieder auf das Los, entschloß sich aber doch, weiterzugehen. Unter der nächsten Laterne blieb Ireen stehen und zog das Los auf. Welch sinnloser Kauf, dachte sie, als ob ich Geld zuviel hätte; wo ich doch jeden Dollar dem Vater schicken muß, dessen Genesung nur sehr zögernde Fortschritte macht. Wer hatte je in ihrer Familie etwas mit einem Los gewonnen? Doch, vor Jahren hatte Mutter einmal bei einer Tombola eine Puppe gewonnen; noch heute hatte Ireen sie in ihrem möblierten Zimmer auf der Fensterbank sitzen. Eine kleine Puppe mit strohblondem Haar, aufgeplusterten Backen und runden Kinderaugen.

Mit der Rechten hatte sie das Los aufgezogen, drehte es jetzt um – und starrte mit geweiteten Augen auf das, was da zu lesen war:

Sie haben bei der großen Lotterie der Stadt Chicago die Summe von 25.000 Dollar gewonnen!

Ganz groß und deutlich stand die Zahl da. Sie schien dem Mädchen vor den Augen verschwimmen zu wollen. Die Buchstaben begannen zu tanzen, und es sah so aus, als wollten sie über den Rand des kleinen Papierstücks auf den feuchtschimmernden Asphalt der Straße springen.

Rasch faltete Ireen das kleine Los zusammen und preßte es gegen ihre Brust.

»Fünfundzwanzigtausend Dollar…« Nein, das konnte nicht wahr sein! Das mußte ein furchtbarer Irrtum sein, ein Spuk, der sie narrte. Rasch öffnete sie das Los wieder, glättete es und hielt es so, daß das Licht der großen Peitschenlampe hart darauffiel.

25.000 Dollar! Groß und deutlich in roten Zahlen stand es da.

Ireen schloß für einen Moment die Augen und hielt den Atem an. Sie hatte das Gefühl, daß in diesem Augenblick die ganze große Stadt die Augen geschlossen und den Atem angehalten hatte – mit ihr – wegen dieses unvorstellbaren Glücks, das da so unverhofft über sie gekommen war.

»Fünfundzwanzigtausend Dollar! Lieber Gott! So viel Geld!«

Sie ging langsam weiter auf die Anlagen des Washingtonparks zu.

*

Fast zum gleichen Zeitpunkt, an dem Ireen Moreland das Chekman-House in der 77th Street verlassen hatte, trat Joseph Buster auf der großen Station Burnside, ebenfalls im Herzen Chicagos, aus der Buszentrale heraus und ging über den breiten Platz auf den Omnibus zu, den ein Kollege von ihm hinauf zur Station Englewood steuerte.

Buster war zweiundvierzig, Vater von drei Kindern, hatte schütteres Haar, eine mittelgroße, etwas zur Fülle neigende Gestalt und ein frisches Gesicht. Seit fünf Jahren wohnte er mit seiner Frau Betty oben in der 49th Street in der Nähe der Corpus-Christi-Kirche.

Er verließ die Busstation von Englewood und schritt dem Washingtonpark entgegen. Er pflegte abends an der Ecke der breiten Straße den Park zu betreten, um langsam durch ihn hindurchzuschlendern. Es waren die einzigen Minuten des Tages, in denen er frische Luft schnappen und den Geräuschen der Stadt, die einem die Nerven zersägten, für kurze Zeit entfliehen konnte. Oben an der 51th Street verließ er den Park, um zu seiner Behausung zu kommen.

Aber an diesem Tag sollte es anders sein…

*

Ireen Moreland war stehengeblieben, senkte den Kopf und blickte auf ihre Schuhspitzen, auf die sich die feuchten Nebeltropfen gesetzt hatten und das vielhundertfache Schillern der bunten Neonröhren der Bogenlampen widerspiegelten.

Fünfundzwanzigtausend Dollar! Unfaßlich! Es konnte doch gar nicht wahr sein. Sie machte plötzlich kehrt, lief zurück – und prallte mit einem Mann zusammen.

Als sie in sein Gesicht blickte, erschrak sie. Aber es war kein unangenehmer Schreck, denn der Mann, in dessen Augen sie blickte, war der gleiche, den sie schon im Bus gesehen und der auch bei dem Losverkäufer gestanden hatte.

»Entschuldigen Sie«, stammelte sie. »Es tut mir leid…, ich habe…«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, es war meine Schuld, ich hätte aufpassen sollen«, sagte der Mann mit einer seltsam weichen Stimme und hatte den Hut abgenommen. »Ich habe mich nämlich gerade umgesehen.« Und dann sagte er zu Ireens Verwirrung: »Um ehrlich zu sein, ich hatte mich nach Ihnen umgesehen.«

»Nach mir?« fragte sie, ohne ihn anzusehen.

Sirrend und quietschend zogen die Autos über den nasse Asphalt. Der Schimmer der Bogenlampen zitterte auf der glänzenden Straße. Immer noch quollen die Nebel aus den Seitenstraßen und drüben aus dem Park heran.

»Entschuldigen Sie, Miß, daß ich Sie angesprochen habe, aber da ich nun schon einmal ehrlich war, will ich es auch weiter sein. Ich habe Sie nämlich schon seit langem gesehen. Genauer gesagt, seit dem Ende des Sommers. Damals trugen Sie ein grünes Kleid mit weißen Punkten…« Er brach ab und nahm ein Taschentuch hervor, um sich umständlich die Nase zu putzen.

Weshalb stehe ich noch hier? fragte sich Ireen, was soll ich mir das anhören? Welcher Unsinn überhaupt. Aber es war ein Mann, der zu ihr sprach, ein junger Mensch, der behauptete, Interesse an ihr zu haben. Ein Mann! Hätte sie nicht noch vor zehn Minuten – ach was, vor fünf Minuten – alles dafür gegeben, einen Menschen zu finden, der sagte, daß er wirklich ehrliches Interesse an ihr hätte?

Aber war es jetzt nicht anders? Hatte sie nicht plötzlich Geld, viel Geld? Fünfundzwanzigtausend Dollar!

Sie schob den Gedanken sofort wieder von sich. Vielleicht stimmte es ja gar nicht. Es stimmte sogar höchstwahrscheinlich nicht. Wie oft hatte eine der Frauen aus dem Büro ein Los gehabt, auf dem eine Zahl stand; und hinterher erwies es sich als irgendeine geschickte Reklame. Mrs. Toonby beispielsweise hatte auch eine Zahl auf einem Los stehen gehabt, das sie irgendwo gezogen hatte, und hinterher hieß es, man müsse abwarten, bis in einem Vierteljahr die Nummern herauskämen.

Aber auf ihrem Los war nicht nur eine Zahl, sondern es stand ganz deutlich das Wort Dollar dahinter.

Fünfundzwanzigtausend Dollar würde sie besitzen! Nein, sie schüttelte den Kopf, ohne etwas zu sagen, und der Mann bezog es auf sich.

»Verzeihen Sie«, stammelte er und hatte wieder den Hut abgenommen. »Ich wollte nur sagen – daß ich mir schon lange vorgenommen habe, Sie zu fragen, ob ich Sie nicht zu einer Tasse Kaffee einladen darf. Da drüben, sehen Sie, das ist ein kleines gemütliches deutsches Café, da sitzt man dann schön im Hochparterre und kann auf die Straße sehen.«

Man sitzt da und kann schön auf die Straße sehen, ging es durch Ireens Kopf. Na und? Was war denn das, auf diese Straße zu sehen? Die sah sie ja von hier auch. Jeden Abend sah sie sie um die gleiche Zeit in der gleichen Beleuchtung. Zu was sollte sie da noch Geld ausgeben, um sich in ein Hochparterre zu setzen, eine Tasse Kaffee zu bezahlen und die Straße zu besichtigen?

Wie bin ich auf einmal verändert! Was hat das zu bedeuten? Ich kann mich doch wegen eines kleinen Papierstückes nicht plötzlich in einen anderen Menschen verwandeln. Noch gestern, auch vorhin noch hätte ich mich doch riesig gefreut, wenn der Mann mich zu einer Tasse Kaffee eingeladen hätte. Kann man denn wegen eines lächerlichen Stück Papiers so plötzlich ein völlig anderer Mensch werden?

»Es muß ja nicht heute sein«, hörte sie die Stimme des Mannes wie aus weiter Ferne kommen, »absolut nicht, Miß – ich will ehrlich sein, ich kenne Ihren Namen. Ich bin Ihnen eines Morgens gefolgt bis in die 77th Street, und dann habe ich den Pförtner in Ihrem Kontorhaus gefragt. Seitdem weiß ich, daß Sie Miß Ireen Moreland sind.«

Da nahm die junge Frau denn doch den Kopf herum und blickte den Mann forschend an.

Er sah wirklich nicht sonderlich gut aus. Der Hut schien zu klein zu sein, das Haar war sicher schon lange nicht mehr geschnitten worden, und die Brille war viel zu groß; die Augen wirkten riesenhaft darin und hatten etwas Verschwommenes. Aber waren sie ihr vorhin im Bus nicht noch geheimnisvoll vorgekommen? Hatte sie nicht gespürt, daß etwas Anziehendes von diesem Männergesicht ausging, etwas, das sie beeindruckte? Doch, so war es gewesen! Nur das kleine Papierstück in ihrer Tasche trug die Schuld daran, daß sie plötzlich alles in einem anderen Licht sah.

Oder war es vielleicht kein Zufall? Sprach der Mann sie bewußt an? Wußte er etwas von dem, was sich vor knapp sieben Minuten ereignet hatte? Ahnte er etwas von dem Reichtum, der da auf sie zukam?

Aber dann verwarf sie den Gedanken wieder. Es war ja Unsinn. Er konnte gar nichts davon ahnen oder wissen. Denn das Los hatte der Verkäufer aus der großen Trommel herausgeholt und ihr zugeschoben. Es hätte irgendein x-beliebiges anderes sein können, eines der vielen zusammengefalteten Briefchen. Aber es war das gewesen, was sie jetzt in der Tasche trug; und sie hatte es erst drüben unter der Laterne geöffnet. Er konnte gar nicht wissen, was darauf stand.

»Seien Sie nicht böse«, hörte sie da wieder die weiche, wohlklingende Stimme des Mannes, »wenn Sie nichts gewonnen haben.« Seinen Worten folgte ein kleines Lachen, das aber jäh abbrach. »Da gewinnt man doch nie etwas. Aber ich fand es trotzdem nett, daß Sie ein Los genommen haben. Menschen, die hoffen, sind gute Menschen. So steht es in irgendeinem Drama von Shakespeare.« Wieder das kleine Lachen.

Er las Dramen von Shakespeare und beobachtete die Menschen.

Er war ihr sogar bis hinunter in die 77th Street gefolgt; bis zum Chekman-House, wo er den Pförtner nach ihr gefragt hatte.

Und schon seit dem Ende des Sommers beobachtete er sie. Ja, sie erinnerte sich, damals in den letzten Septemberwochen hatte sie das Grüne mit den weißen Punkten zuweilen getragen. Es waren die letzten warmen Tage gewesen.

Es war das Kleid, das sie sich gekauft hatte, als sie mit Rodger hinüber nach Milwaukee gefahren war.

»Ich arbeite bei der Parker Line«, sagte der Mann da unvermittelt neben ihr.

Fünfundzwanzigtausend Dollar! Ich habe ein Vermögen in meiner Tasche. Wenn Mutter das noch hätte erleben können! Und was würde Vater für Augen machen! Auf dem schnellsten Wege würde sie jetzt nach New York fahren. Am besten morgen schon. Oder weshalb nicht noch heute?

»Parker Line? Ist das nicht eine Fluggesellschaft?« fragte sie.

»Doch, doch«, nickte der Mann, »eine große Fluggesellschaft. Natürlich nicht eine der größten. Aber es sind gute Maschinen. Der Präsident hat neulich auch eine davon benutzt.«

»Hat der Präsident nicht eine eigene Maschine?« fragte sie, ohne darüber nachgedacht zu haben, was sie sagte.

»Ja, natürlich schon; aber es kann auch einmal vorkommen, daß er ein Flugzeug der öffentlichen Linien benutzen muß. Wissen Sie, die Parker Line ist…«

Ireen Moreland hörte nicht, was der Mann weiter erzählte. Sie preßte die kleine Handtasche, in der das Los war, gegen ihre Brust und hielt sie mit beiden Händen fest. Langsam war sie neben dem Mann bis zum Rand des Bürgersteiges hergegangen. Da blieben sie stehen. Die Autos zischten so dicht vorüber, daß der Luftdruck sie berührte.

Immer noch sprach der Mann neben ihr. Plötzlich, als sie ihm das Gesicht zuwandte, zog er wieder den Hut.

»Mein Name ist übrigens Coster, Philip Coster. Meine Freunde nennen mich Phil.«

Wie alt mochte er sein? Ende der Dreißig? Vielleicht auch schon über vierzig? Aber selbst, wenn er fünfundvierzig wäre, was spielte das für eine Rolle? Er war ein Mensch, der mit ihr sprach, der Interesse an ihr hatte, der sie seit dem September beobachtete und ihr schon bis in die 77. Straße gefolgt war.

Fünfundzwanzigtausend Dollar! Ja, sie würde noch heute eine Maschine nehmen. Weshalb nicht eine von der Parker Line? Aber er würde ja doch nichts davon haben.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie plötzlich und wandte sich ab.

»Miß Moreland!«

Nach drei Schritten blieb Ireen stehen, blickte sich über die Schulter um und sah seine großen traurigen Augen in den Brillengläsern schwimmen.

»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte sie, »vielleicht ein andermal.«

Dann hielt sie auf den Park zu, durch dessen Bäume die Nebelschwaden über die breite Straße zogen. Es hatte an der Ecke hinter der Universität zwei Wege für Ireen Moreland gegeben: den über den Fahrdamm hinüber zu dem kleinen deutschen Café – von dessen Hochparterre man einen Blick auf die Straße hatte – und den Weg zum Park hinüber, in dessem Dunkel der Tod lauerte.

*

Sie schritt rasch aus und hatte die Anlagen bald erreicht.

Welch eine Stunde! In ihrem ersten Viertel war der Mann gekommen. Ein fremder Mensch aus dem gewaltigen Schmelztiegel Chicago. Er hatte plötzlich vor ihr gestanden und sie zu einer Tasse Kaffee einladen wollen. Im zweiten Viertel dieser Stunde war das Los gekommen. Für sie war es das große Los. Das dritte Viertel würde ein Rausch sein.

Rasch schritt sie aus, und die Gedanken jagten nur so durch ihren Kopf. Ich werde kurz nach Hause gehen, um mir das dunkelblaue Kostüm anzuziehen, und dann – natürlich, ich kann gleich drüben bei Pierrot meine hochhackigen Schwarzen abholen. Ja, und dann, dann werde ich zum Flugplatz fahren.

Zu welchem Flugplatz fuhr man da eigentlich? Das würde sich schon finden. Zunächst mußte sie ja ihren Koffer packen. Allzuviel würde sie nicht mitnehmen; wozu auch, das hatte sie ja nicht nötig. Wer Geld hatte, der brauchte keinen Koffer zu schleppen. Sicher hätte Mr. Coster dazu jetzt einen passenden Spruch von Shakespeare gewußt.