Alle Farben Rot - Laksmi Pamuntjak - E-Book

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Laksmi Pamuntjak

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Beschreibung

Wenige Jahre, bevor in Deutschland und Frankreich Millionen junger Menschen demonstrierten und gegen die enge Welt ihrer Eltern rebellierten, waren die Straßen Indonesiens rot von Blut. Im Jahre 1965 hatte sich der junge General Suharto an die Macht geputscht, seitdem war das Land geteilt in Freund und Feind der neuen Herrschenden, verfolgt wurden alle, die im Verdacht standen, Kommunisten zu sein. Misstrauen und Angst spalteten Dorfgemeinschaften und Familien, viele verloren in gewaltsamen Unruhen ihr Leben, Tausende wurden ohne Prozess in Strafkolonien auf entlegenen Inseln verschleppt. Jahrzehnte später, lange nach Suhartos Sturz im Jahre 1998, sucht eine Frau auf der Gefangeneninsel Buru nach den Spuren des Mannes, den sie in jenen Tagen geliebt und dann verloren hat. In den Wirren einer Straßenschlacht wurden Amba und Bhisma damals auseinandergerissen, und Amba wusste all die Jahre nichts über das Schicksal ihrer großen Liebe. Bis sie eines Tages eine anonyme Mail erhält, aus der hervorgeht, dass Bhisma damals nach Buru verschleppt wurde. Und so macht sich Amba auf, um endlich Antworten auf die Fragen zu finden, die sie schon so lange quälen. Entlang der Linien des indonesischen Nationalepos Mahabharata, jener großen Erzählung von Liebe und Krieg, entfaltet Laksmi Pamuntjak das Panorama einer jungen Nation und ihres bewegten 20. Jahrhunderts zwischen Kolonialzeit und Unabhängigkeit, Diktatur und Demokratie.

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Das Buch

Wenige Jahre, bevor in Deutschland und Frankreich Millionen junger Menschen demonstrierten und gegen die enge Welt ihrer Eltern rebellierten, waren die Straßen Indonesiens rot von Blut. Im Jahre 1965 hatte sich General Suharto an die Macht geputscht, viele verloren in gewaltsamen Unruhen ihr Leben, Tausende wurden ohne Prozess in Strafkolonien auf entlegenen Inseln verschleppt.

Jahrzehnte später, lange nach Suhartos Sturz im Jahre 1998, sucht eine Frau auf der Gefangeneninsel Buru nach den Spuren des Mannes, den sie in jenen Tagen geliebt und dann verloren hat. In den Wirren einer Straßenschlacht wurden Amba und Bhisma damals auseinandergerissen, und Amba wusste all die Jahre nichts über das Schicksal ihrer großen Liebe. Bis sie eines Tages eine anonyme Mail erhält, aus der hervorgeht, dass Bhisma damals nach Buru verschleppt wurde. Und so macht sich Amba auf, um endlich Antworten auf die Fragen zu finden, die sie schon so lange quälen.

Ein großer Roman über Liebe und Gewalt in Zeiten politischen Aufruhrs.

Die Autorin

LAKSMI PAMUNTJAK ist eine renomierte indonesische Essayistin, Lyrikerin und Journalistin. Seit 1994 schreibt sie regelmäßig über Politik, Film, Musik und Literatur, u.a. für das liberale indonesische Wochenmagazin Tempo, die Jakarta Post und den Jakarta Globe sowie für internationale Publikationen wie den Guardian Ihre Gedichte und Kurzprosa sind in diversen internationalen Literaturmagazinen erschienen, darunter Asia Literary Review und Not a Muse: World Poetry Anthology. Alle Farben Rot ist ihr Debütroman. Laksmi Pamuntjak lebt mit ihrer Familie in Jakarta.

Laksmi Pamuntjak

Alle Farben rot

Roman

Aus dem Indonesischen von Martina Heinschke

Ullstein

Die indonesische Originalausgabe erschien 2012 und in revidierter Fassung 2013 unter dem Titel Amba bei Gramedia Pustaka Utama, Jakarta. Die deutsche Ausgabe enthält zusätzlich Passagen aus der englischen Fassung des Romans, der in der Übersetzung der Autorin unter dem Titel The Question of Red ebenfalls im Jahre 2013 bei Gramedia Pustaka Utama erschienen ist. Ergänzungen und Veränderungen erfolgten in Abstimmung mit der Autorin.

Die Veröffentlichung dieses Buches wurde durch die Unterstützung des Übersetzungsförderungsprogramms des Ministeriums für Bildung und Kultur der Republik Indonesien ermöglicht.

Buch 2: Kapitel 2, Subagio Sastrowardoyo, Wirf dies Wort! Gedichte. Aus dem Indonesischen von Helga Blazy, Unkel/Rhein; Band Honnef: Horlemann, 1992, S. 8–9.

Buch 2: Kapitel 4, Iwan Turgenjew, Vorabend. Väter und Söhne. Deutsch von Harry Burck und Dieter Pommerenke, Berlin: Aufbau-Verlag, 1994, S. 37. Abdruck mit freundlicher Genehmigung © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1994 (für die Übersetzung)

Buch 2: Kapitel 4, Iwan Turgenjew, Vorabend. Väter und Söhne. Deutsch von Harry Burck und Dieter Pommerenke, Berlin: Aufbau-Verlag, 1994, S. 182.

Buch 6: Kapitel 2, Bertolt Brecht, Liebesgedichte. Herausgegeben von Elisabeth Hauptmann, Frankfurt: Insel Verlag, 1976.

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

ISBN: 978-3-8437-1183-8

© 2013 by Laksmi Pamuntjak© der deutschsprachigen Ausgabe2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, MÜNCHENUmschlagabbildung: © AKG Images / Werner Forman

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für die in Buru Inhaftierten,die mich mit anderen Augen zu schauen gelehrt haben

Für meine Eltern und meine Tochter Nadia

Inhalt

Über das Buch und die Autorin

Titelseite

Impressum

Widmung

Vorwort

Prolog

Buch 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Buch 2

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Buch 3

1. Kapitel

2. Kapitel

Buch 4

Buch 5

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Buch 6

X

2. Kapitel

3. Kapitel

Buch 7

1. Kapitel

Glossar

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Die Molukken, jahrhundertelang unter dem Namen »Gewürzinseln« bekannt, liegen im indonesischen Archipel, östlich von Sulawesi (Celebes) und westlich von Neuguinea.

Buru, die drittgrößte dieser Inseln, ist gebirgig mit einem schmalen Küstenstreifen und wenigen Tälern. Sie ist reich an Teak-, Sago- und Nelkenbäumen und Ursprungsort des Melaleuca- oder Cajeputöls.

1950 wurde die Insel Teil des unabhängigen Indonesien. Unter den hundertsechzigtausend Bewohnern sind Christen und Muslime der sunnitischen Glaubensrichtung etwa gleich stark vertreten – jeweils um die vierzig Prozent –, während die übrigen Einwohner traditionelle Glaubensformen praktizieren. Etwa ein Drittel der Einwohner gehören zu einheimischen ethnischen Gruppen, den Buru, Lisela, Ambelau und Kayeli. Die meisten Muslime stammen von Java, während die Christen indigene Bewohner der Insel oder Migranten aus anderen Teilen der Molukken sind.

Während der Regierungszeit Suhartos (1965–1998) bestand auf Buru eine große Strafkolonie, in der über zwölftausend Männer unter dem Vorwurf, Mitglieder oder Sympathisanten der kommunistischen Partei zu sein, mehr als zehn Jahre lang gefangen gehalten wurden, ohne dass jemals gegen sie eine formelle Anklage erhoben oder ein Gerichtsverfahren eingeleitet worden ist. Hunderte Gefangene fanden den Tod durch Krankheiten, Unterernährung oder Gewalt.

Nach ihrer offiziellen Freilassung in den Jahren 1978 und 1979 entschieden sich einige Hundert der Gefangenen, auf Buru zu bleiben. Auch wenn heute kaum noch Spuren der Lager auf der Insel zu finden sind, bleibt Buru ein Symbol für die Unterdrückung während der »Neuen Ordnung« unter Präsident Suharto.

Prolog

Das Mahabharata erzählt von drei Königstöchtern, so strahlend und wertvoll wie Diamanten: Amba war die älteste, gefolgt von den Zwillingsschwestern Ambika und Ambalika. Amba war mit König Salwa verlobt, einem Mann, den sie weder hasste noch liebte – so wie es damals das Schicksal der meisten Frauen war.

Eines Tages war der Königshof plötzlich in blendendes Licht getaucht. Danach erzählten die Leute sich etwas von einem Räuber auf einem Streitwagen, von einem Mann übernatürlicher Gestalt. Sehr bald war klar: Amba und ihre Schwestern waren entführt worden. Der ganze Hof war in heller Aufregung; denn zu solch einer Tat war einzig der unvergleichliche Krieger Bhisma fähig. Das große Epos erzählt uns, dass das Schicksal zu Ambika und Ambalika freundlich war: Sie sorgten für das Fortleben des Bharata-Geschlechts mit Destarastra und Pandu, den Vätern der Kurawas und der Pandawas, als ihren Söhnen. Ambas Leben aber nahm einen anderen Verlauf.

König Salwa entsandte eine Armee, um seine Verlobte zurückzuerobern. Doch gegen Bhisma konnten seine Männer nichts ausrichten. Der nächste Morgen gab den Blick frei auf ein Leichenfeld: gebrochene Knochen, Blutlachen, die Häupter der halben königlichen Armee trieben auf dem Fluss. Währenddessen – und dies müssen wir uns ausmalen, da das große Epos hier nur eine zarte Andeutung macht – verliebte Amba sich in ihren Entführer und er sich in sie. Aber die Stärke dieses Gefühls ängstigte Amba. Es war stärker als alles, was sie jemals in ihrem Leben gespürt hatte. Überwältigt bat sie Bhisma, sie zu Salwa zurückzubringen. Bhisma sagte kein Wort zu ihrer tränenreichen Bitte, doch er zögerte keinen Augenblick und brachte sie zu dem von ihr auserkorenen Bräutigam.

König Salwa aber wollte Amba nicht annehmen. Sein Stolz war wie ein mächtiger Berg, von dem aus er herrschte. Er erklärte ihr, dass sie ihn entehrt habe. Wie eine Maske trage sie ihre Liebe zu Bhisma vor ihrem Gesicht; ihre Züge seien für alle Welt sichtbar verändert. Öffentlich beschämt, blieb der verzweifelten Prinzessin keine andere Wahl als die Rückkehr zu Bhisma, auf ihn nun richtete sie die Hoffnung auf Rettung ihrer Ehre. Aber wie hätte sie ahnen sollen, dass dieser lange Jahre vor ihrer Begegnung ein Gelübde abgelegt hatte? Als treuer Sohn seines Vaters hatte er ewige Keuschheit geschworen, nur damit sein Vater die Frau ehelichen konnte, die er begehrte. Immer schnell bereit, Pflichterfüllung vor Eigennutz zu honorieren, hatten die Götter Bhisma mit dem außerordentlichen Privileg beschenkt, den Zeitpunkt seines Todes selbst bestimmen zu können; bis dahin würde er unbesiegbar sein. Einem Mann, der liebte, bedeutete Unbesiegbarkeit natürlich nicht viel; doch mehr als jedem Mann war Bhisma bewusst, wann der Mensch endet und der Nachruhm beginnt. Als Amba zu ihm kam und ihn bat, ihr die Hand zur Ehe zu reichen, schüttelte er den Kopf und wandte sich ab. Aber selbst die Bäume und Vögel konnten seine Trauer spüren.

Hin und her verbracht und allseits abgewiesen, wandelte sich Ambas Herz zu Stein.

In ihrem nächsten Leben kam sie als Srikandi zur Welt und wurde eine von Prinz Arjunas vielen Frauen. Die indische Version des Epos kennt Srikandi als Sikhandin, einen männlichen Krieger, der vormals eine Frau gewesen war. Kein Text erzählt, dass Srikandi wunderschön war, aber jeder ist davon überzeugt; für eine Prinzessin wie sie war das selbstverständlich. Ihre Schönheit herauszuheben würde aber den Blick auf etwas Falsches lenken: Denn Srikandi war dazu ausersehen, den unbezwingbaren Bhisma zu Fall zu bringen.

Während der Schlacht auf dem Feld der Kuru, als sich die beiden Zweige der Bharata-Familie, die Kurawas und die Pandawas, bekriegten, achtete Arjuna darauf, dass Srikandi an seiner Seite war; und in der Tat ließ Srikandi hinter Arjuna auf dem Streitwagen stehend einen Schwall an Pfeilen losschnellen, gleich einem Vogelschwarm, der auf eine Insel niedergeht. In der indonesischen und auch der indischen Version des Epos entwaffnete Srikandis Weiblichkeit den edelmütigen Bhisma: Er ließ es zu, dass sein Körper von Srikandis Pfeilen so bespickt wurde, dass kein einziger Fingerbreit mehr frei blieb. In beiden Versionen traf Srikandi die gleiche Wahl: Bhisma zu töten und Arjuna zu retten, so als sei es nie jemandem in den Sinn gekommen, dass es vielleicht auch eine andere Lösung hätte geben können, ein weniger brutales, ein weniger gnadenloses Ende, eine Lösung, in der ihrer beider Los nicht so unauflöslich miteinander verbunden wäre wie das Rot und Weiß der indonesischen Flagge – so schwer, so schicksalsbeladen.

***

Nun sollten Sie wissen, dass Javaner bei der Namensgebung für ihre Kinder große Vorsicht walten lassen. Sie haben ein feines Gespür für die große Last und die Geschichte eines Namens: Ein Leben sollte dem Namen gerecht werden; gelingt dies nicht, so ist etwas aus dem Lot. Unglück, Krankheiten oder Missgeschicke sind die Folge. Mit dem Ausdruck keberatan nama beschreibt man einen Menschen, der durch einen großen oder bedeutungsschweren Namen über Maß belastet ist.

Wenn Sie heutzutage nach Indonesien reisen, werden Ihnen viele Menschen, insbesondere Javaner und Javanerinnen, begegnen, deren Namen an Figuren aus den großen Hindu-Epen erinnern: Rama, Shinta, Laksmana, Krishna, Yudhistira, Larasati, Arjuna. Sie werden wahrscheinlich auch einige Bhismas finden; denn er zählt zu den edelsten unter den Kriegern, ein Mann, für den die Pflicht über allem steht. Und Sie werden immer wieder den Namen Srikandi hören, als Beispiel für eine starke, kühne Frau, die sich behaupten kann, eine Kriegerin unter den Frauen.

Wenn Sie über die Figuren des Epos nachdenken, mögen Sie sich vielleicht fragen, warum Ihnen nie der Name Amba begegnet ist, weder auf Ihrer Reise noch in den Nachrichten oder den Familiengeschichten. Und dies, obwohl es doch letztlich Amba war, die Bhisma getötet hat und somit das Ende der Schlachten aller Schlachten ermöglicht hat. Hat ihre Geschichte überhaupt keinen Glanz? Amba ließe sich doch als eine mythische Heldin sehen – könnte sie nicht Vorbild und Inspiration für die Frauenbewegung sein?

Aber nein, der Name Amba erinnert die Menschen noch immer an das übelste Schicksal, das eine Frau ereilen kann: Amba ist die Frau, die zweimal verächtlich zurückgewiesen wurde, die nicht nur von einem, nein, von zwei edlen Männern im Stich gelassen wurde, und das Bild, das wir uns von ihr machen, wird nicht durch die Vorzüge ihres Verstandes, ihrer Fähigkeiten, ihres Herzens oder auch ihrer Schönheit bestimmt, nein – erinnert wird einzig ihr brennendes Begehren nach Rache. Und es gibt nichts Schändlicheres als eine Frau, die sich nicht würdevoll in ihr Schicksal fügt, sondern die stattdessen an den Männern, die aus welchen Gründen auch immer sie aus ihrem Leben ausgestoßen haben, Rache zu nehmen sucht.

In der Tat ist dieses Bild so übermächtig, dass die Leute vergessen, dass ohne Amba die große menschliche Tragödie der Schlacht auf dem Kurufeld nie ein Ende gefunden hätte; denn es war Amba in der Gestalt der Srikandi, die das Leben des großen Kriegers Bhisma beendete. Als Bhisma fiel, legten beide Kriegsparteien sofort die Waffen nieder und waren in Trauer vereint; der Verlust erinnerte sie schmerzlich an ihre gemeinsame Herkunft.

Anders als im Fall ihrer beiden Schwestern stand Ambas Sieg nicht am Anfang der Geschichte.

Vielleicht möchten Sie jetzt einwenden, dass diese Zeit doch wirklich unvorstellbar lange zurückliegt und sich das Bild von Heldinnen während der letzten Jahrhunderte sehr gewandelt hat. Aber hierin liegt die verstörende Kraft der Mythen: Sie schleichen sich auch jetzt noch an uns heran, um uns das Schicksal anzudeuten. Manchmal können sie die Wahl eines Menschen beeinflussen, lange bevor sich ihm der Zwang zur Entscheidung stellt. Das ist der Grund, warum Sie kaum eine Amba in Indonesien finden und ebenso selten eine Ambika oder Ambalika. Man will Unglück nicht herbeireden. Heißt es nicht auch mancherorts bei Ihnen: Wenn ma’ de Deifl nennt, kumd er grennt?

Einzelne aber wagen es, ihrem Nachwuchs kulturell unpopuläre Namen zu geben. Vielleicht treffen sie diese Wahl, weil sie den Mythos und seine Wirkung anders deuten; vielleicht wollen sie auch gerade die Ansicht, ein Name beeinflusse das Leben, herausfordern. Manchmal ist es auch nur das Gefühl, dass einzig dieser Name passt.

Und ist es nicht so, dass alle Geschichten da sind, um neu geschrieben zu werden?

Buch 1

Samuel & Amba

BURU, MÄRZ 2006

»Als sie dies hörte, trat Amba näher und fand das lodernde Feuer. Dann sah sie die Gestalt dieses Überdauernden, Rama aus dem Geschlecht der Bhrgu. Sie senkte ihr Haupt und erwies seinen strahlenden Füßen Ehre, und während sie sie berührte, glichen ihre Hände Lotosblüten. Stumm in ihrem Kummer saß sie vor Rama, diesem Ewigen, und über ihr Gesicht strömten Tränen.«

Udyoga Parva, CLXXIX

1

Schatten der Nacht

Vor der Insel Buru liegt das Meer tief und abwartend gleich einer Mutter. Die Uferwiesen sind von Tau überzogen, und die Tropfen funkeln im Morgenlicht wie zersplittertes Glas, das ein Geheimnis birgt. Der helle Tag lässt Felder und Wiesen schweigen. Erst die Nacht wird eröffnen, was im gleißenden Licht verborgen ist.

Aber ab und zu geschieht etwas auf dieser fernen Insel – etwas Außergewöhnliches, das der Alltag nicht beiseiteschieben kann. So etwas besprechen die Leute flüsternd, ähnlich dem Wind, der über die Steine streicht und schließlich über den Gräbern von Unbekannten erstirbt.

Und in den Tälern zwischen den Bergketten gibt es Geschichten, die sich wie durch ein Gedicht oder einen Zauberspruch unerkannt entfalten.

Wie diese Geschichte von Amba und Bhisma.

***

WAEAPO, BURU, MÄRZ 2006

Vor drei Tagen hatte man zwei Frauen eilends ins Krankenhaus von Waeapo gebracht. Die erste kam aus Jakarta – das sagte zumindest der Personalausweis in ihrer Tasche, der auf den Namen Amba Kinanti Eilers ausgestellt war. Demnach war sie zweiundsechzig Jahre alt. Von ihrem Gesicht her war sie wohl eine Indonesierin und hatte nach der Heirat mit einem Ausländer dessen Familiennamen angenommen. Aber das spielte hier keine Rolle: Wie alle wurde auch sie nur unter dem ersten Namensteil registriert. Bei der Einlieferung war sie bewusstlos; sie war von der zweiten Frau angegriffen und schwer verletzt worden.

Ihre Angreiferin war Mukaburung, die Adoptivtochter eines Klanoberhaupts von Kepala Air in Waeapo. Manche sagten, sie hätte sich bei dem Vorfall selbst verletzt, aber das wurde nie geklärt. Auf alle Fälle nahm das Krankenhaus auch sie für einige Tage auf. Wenn es Befürchtungen gab, dass sie die Frau aus Jakarta nochmals angreifen würde, so zeigte die Krankenhausleitung diese nicht.

Aber auch hiervon abgesehen, hatten die Mitarbeiter allen Grund, in heller Aufregung zu sein. Ihr Krankenhaus lag am Oberlauf des Waeapo und war wahrlich nicht groß. Seine Monatsberichte bestanden fast ausschließlich aus Eintragungen über rostiges Gerät und abgelaufene Medikamente; denn hier wurde kaum etwas jemals gebraucht. Patienten mit einer ernsteren Krankheit oder in einem kritischen Zustand wurden nur hierhergebracht, wenn die Straßen aufgrund von Regen und Schlamm unpassierbar waren. Ganz eindeutig, in diesem Krankenhaus hatte es bis dahin noch nie solch einen spektakulären Fall gegeben.

Aber auf Buru war man gewohnt, Fragen zu stellen und keine Antworten zu erhalten. Alles deutete auf eine geheime Absprache zwischen der Krankenhausleitung und dem Oberhaupt der örtlichen Stammesgemeinschaft hin. Beim Mitarbeitertreffen am Tag nach der Einlieferung verlor der Krankenhausdirektor nur drei Sätze über den Fall: »Beide Frauen benötigen gleichermaßen unsere Aufmerksamkeit. Wir haben alles unter Kontrolle. Und keine weiteren Fragen bitte.«

Was auch immer hinter den Kulissen vor sich gegangen sein mag – das Krankenhaus war stolz, dass man das Leben der Frau namens Amba hatte retten können. Nur eine Sache trübte die Freude: Als die Frau zu sich kam, sprach sie noch kurz, etwa fünf Minuten, dann aber verfiel sie in ein tiefes Schweigen. Da niemand sie kannte, wusste man letztlich nichts über sie. Sie stammte aus Jakarta und war wahrscheinlich Javanerin, aber irgendetwas Nicht-Javanisches war auch an ihr.

Sie hatte ein interessantes Gesicht, markant und würdevoll, und sicherlich würde jeder sie jünger schätzen als die zweiundsechzig Jahre, die ihr Ausweis besagte. Auch ihre Augen waren überraschend, unbestreitbar die Augen einer Mutter, Augen, die für die Liebe eines Kindes auf vieles zu verzichten gelernt hatten. Ihr Mund mit der strengen und dennoch sinnlichen Linie der Lippen deutete auf eine gewisse Vorsicht und Verletzlichkeit hin, so als sei er seit Jahren gewohnt, Geheimnisse nicht preiszugeben. Als sie zu Bewusstsein kam, war ihr Verhalten rätselhaft. Sie beharrte darauf, ihren Mann zu sehen, der in einem Zimmer am Ende des Korridors liege. »Er ist hier«, wiederholte sie unablässig. »Ich bin von weit gekommen, um ihn zu sehen.«

Aber es gab keinen Patienten in diesem Trakt, auf den ihre Beschreibung auch nur im Entferntesten hätte zutreffen können. »Wir würden Ihnen ja gerne helfen«, sagte der Leiter des Krankenhauses, »aber zu uns kommen nur Ortsansässige mit kleinen Verletzungen. Jeder kennt jeden hier. Und der einzige Patient, der schon etwas länger in unserem Krankenhaus liegt, ist Manaboya, ein Weiberheld. Der Vater eines Mädchens, mit dem er ein Techtelmechtel angefangen hat, hat ihn mit dem Beil attackiert und fast zerhackt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das der Mann ist, den Sie meinen.« Der Direktor war sich unsicher, ob die Frau überhaupt zugehört hatte. Aber nach einer Weile des Schweigens sagte sie: »Mein Mann ist schon lange tot. Eigentlich war ich die ganzen Jahre mit einem Toten verheiratet.« Von da an blieb sie stumm, in sich zurückgezogen, fast wie im Wachkoma.

***

Vierundzwanzig Stunden später hatten sich ein paar Einzelheiten mehr herumgesprochen. Demnach hatte man die beiden Frauen bei heftigem Regen auf einer kleinen, hügeligen Lichtung mitten im Wald gefunden. Amba blutete stark, umarmte aber weiterhin fest einen Erdhaufen, offenbar ein einzelnes Grab auf jener Lichtung. Mukaburung kniete unweit von ihr. Sie hatte den Blick auf das Grab gerichtet und hielt ein Messer in der Hand, von dem noch Blut tropfte. Abgesehen von der Waffe und dem Blut war dieser Anblick nicht allzu ungewöhnlich. Jemand, der die Gebräuche der Leute am Oberlauf des Waeapo – die ursprünglichen Bewohner sagen am »Kopf des Wassers« – kennt, der weiß, dass diese ihre Toten wie Lebende umarmen. Und zudem hat, wer hier lebt, schon viele erstaunliche Vorkommnisse im Wald gesehen, bei denen Tod oder Sex oder Tod und Sex eine Rolle spielten.

Als man Mukaburung fragte, was vorgefallen sei, ereiferte sie sich: »Diese dahergelaufene Frau hat kein Recht, dieses Grab zu umarmen.« Der Anblick hatte in ihr eine unbändige Wut entfacht. Wusste die andere denn nicht, dass dies das Grab von Mukaburungs Mann war, den der Häuptling selbst, ihr Adoptivvater, ihr angetraut hatte?

***

Ein fremder Mann saß im Verwaltungsbüro. Keiner hatte ihn je zuvor gesehen. Dies versetzte das Krankenhaus von Waeapo erneut in Aufregung.

Wie Amba, so schien auch dieser Mann wie vom Himmel gefallen, und offenbar kam er, um nach ihr zu sehen. Zwei Dinge hatte das Krankenhaus nun zu tun. Man musste dem Mann erläutern, was nach Meinung des Krankenhauses geschehen war. Und zudem sollte man sichergehen, dass der Fremde die Patientin wirklich kannte. Beide Aufgaben wurden Oberarzt Dr. Wasis übertragen.

Dr. Wasis war ein aufrechter und geradliniger Mann, und das sprach auch aus seinem Äußeren, seiner Haltung und seiner Stimme. Seine Mitarbeiter hatten ihn informiert, dass der Besucher einige »Freunde bei der Polizei« hatte. Somit war klar, dass diese »Freunde« den Fremden auf das Krankenhaus verwiesen, wenn nicht gar dorthin geleitet hatten. Also hieß es für alle, vorsichtig zu sein. Auf der Insel vermied man, mit Polizei oder Militär zu tun zu haben. Keiner wollte in irgendetwas hineingeraten.

Aber hinsichtlich einer Beobachtung konnte und wollte niemand seine Zunge im Zaum halten: Der Fremde konnte unmöglich der Sohn der Frau aus Jakarta sein. Er war zwar wesentlich jünger als sie, aber immerhin Mitte vierzig und damit nicht jung genug. Demnach war er vielleicht ein Kollege, ein Geschäftspartner oder gar ihr Liebhaber, warum nicht? In seinem Gesicht deutete nichts auf eine noch so entfernte Verwandtschaft mit ihr hin. Die einzige Gemeinsamkeit – soweit dieses Wort in diesem Zusammenhang überhaupt in Betracht gezogen werden konnte – war das Außergewöhnliche ihrer beider Erscheinung, das sich gegen jede Einordnung sperrte. Anders als die Frau war der Fremde dunkelhäutig mit einem glänzend dunkelkaramell-braunen Teint. Seine Gesichtszüge waren ein wenig melanesisch, und seine Augen hatten eine Farbe irgendwo zwischen dunkelgrün und goldbraun. Zudem war er mindestens ein Meter achtzig groß und von drahtig muskulöser Statur. Dies alles bot den Krankenschwestern viel Gesprächsstoff, und sie diskutierten heiß, teils lüstern kichernd, was es mit dem Mann wohl auf sich habe.

Früher, vor langer Zeit, kamen nur Seefahrer an Burus Küsten, vornehmlich Bugis aus dem benachbarten Sulawesi und Leute von der kleinen Insel Buton. Das waren kräftige Kerle, geradeheraus, die das Meer liebten; nur wenige von ihnen ließen sich dauerhaft auf der Insel nieder. Obgleich die landschaftlichen Gegebenheiten nicht gerade einladend waren und die Einheimischen als streitbar und widerspenstig galten, hatte sich dies in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Durch eine ungewöhnliche, von Zwang gezeichnete Geschichte war Buru ein Magnet und vielfarbiger Ort geworden.

Doch kehren wir zu dem Fremden im Büro des Krankenhauses zurück. Dort berichtete Dr. Wasis dem Besucher, was sich bei der Einlieferung der beiden Frauen zugetragen hatte: »Als die Frau hier ankam, hatte sie einen kleinen Gegenstand in der Hand. Sie hielt ihn so fest, dass wir zwei Pfleger und eine Schwester brauchten, um ihre Faust zu öffnen. Als wir das Ding schließlich hatten, war ihre Haut beinahe mit abgelöst.«

»Aber Sie sagten doch«, warf der Besuch sichtlich erschüttert ein, »dass sie mehrere Stichwunden hatte.«

»Sehr wohl, und dennoch schien sie wie an diesem Objekt zu kleben«, erwiderte der Arzt. »Als man den Gegenstand schließlich ihrem klammernden Griff entwinden konnte, war es ein Foto, und zwar das eines Kindes. Die Leute sagten, danach habe sie so traurig ausgesehen, als habe man ihr das Herz gebrochen.«

»Und wissen Sie, wo sich dieses Ding – dieses Foto jetzt befindet?«

»Vermutlich bei der Polizei. Ich meine, vielleicht braucht man es noch als Beweis. Es kann aber auch sein, dass die Beamten es dem Klan-Vorsteher zur Aufbewahrung übergeben haben.«

»Verstehe«, sagte der Besucher. Er schien entsetzt und bedrückt.

»Kommen Sie«, forderte Dr. Wasis ihn auf. »Ich bringe Sie jetzt am besten zu unserer Patientin.«

»Danke, das ist sehr freundlich. Auch danke ich Ihnen vielmals für Ihre Auskunft, Dr. Wasis. Ich wollte noch sagen: Mein Name ist Samuel, Samuel Lawerissa.«

»Wir sind es, die zu danken haben; denn Ihr Kommen, Herr Samuel, ist sehr hilfreich für diesen Fall. Ich vermute, dass Sie ein Verwandter von Frau Amba sind?«

»Nein. Ich bin ein Freund.«

»Ein Freund?«

»Ja.«

»Aber vielleicht können Sie uns trotzdem etwas über die Patientin erzählen?«

Der Besucher, der sich als Samuel vorgestellt hatte, nickte höflich, aber er erwiderte nichts.

Der Arzt versuchte es in anderer Form: »Was verbindet diese Freundin von Ihnen mit dem Mann in dem Grab?«

Auch hierauf gab der Besucher keine Antwort.

Auf Buru begegnet man oft Menschen, die ihren Erfahrungen keine Stimme verleihen. Angesichts tiefer, schmerzvoller Gefühle ist schweigendes Für-sich-Behalten nicht der schlechteste Weg. Als Javaner kannte der Arzt die vielen Schattierungen der Wortlosigkeit. Und dennoch runzelte er einen Moment lang die Stirn.

»Bitte geben Sie mir Bescheid, wenn ich Ihnen helfen kann«, sagte er daraufhin mit feiner Stimme.

***

Im Krankenzimmer lag Amba schwach und von Kissen gestützt auf einem Bett. Das Leintuch war angegraut, die Matratze muffelte etwas nach Schweiß und Urin. Es war später Vormittag, und die Sonne traf einen Teil ihres Gesichts. Sie hatte die Augen geöffnet und starrte vor sich hin. Ihr war anzusehen, was sie durchlitten hatte. Trotzdem sprach Haltung aus ihr, und sie erfüllte den Raum mit ihrem Schweigen.

Erstaunlich aber war die Reaktion des Besuchers, oder besser gesagt, wie die Gegenwart dieser Frau sein Erscheinungsbild veränderte. Wer den Mann vorhin ins Krankenhaus hatte kommen sehen, dem wurde jetzt bewusst, dass hinter seinem schönen Gesicht etwas Hartes und Gereiztes war, das seinen Ursprung nicht in ihm hatte, das ihn aber fesselte; als würde sein Selbst von etwas unterminiert, von einem Klagegesang, einer Nachtwache, etwas Schwarzem, das sich wie ein Krebsgeschwür ausbreitete. Sein Gang, stets leicht gebeugt, zeigte, dass ihm seine Größe unangenehm war, als bitte er die Welt um Entschuldigung für etwas, das er unrechtmäßig besaß. In seinem Gesicht hatte sich die Linie eines Ärgers eingegraben, als kränke ihn, dass auf seiner Lebenswanderschaft stets neue Widrigkeiten ihn an der Suche nach seinem Platz gehindert hatten. In diesem Zimmer aber wandelte er sich zu einem anderen, als zerbrösele beim Anblick dieser Frau sein hartes Selbst.

Plötzlich fühlte auch Dr. Wasis sich zu längeren Erklärungen gedrängt.

***

Strömendes Blut, unaufhörlich fließendes Blut, kaum zu stillendes Blut, immer wieder fielen diese Worte im Strom der Ausführungen von Dr. Wasis.

»Aber Sie hatten vorhin doch gesagt, dass die Verletzungen nicht so schwer waren?«, wandte Samuel mühsam ein. Er strengte sich an, nicht kläglich zu wirken.

»Ja, und deshalb wird sie sich auch relativ rasch erholen«, antwortete Dr. Wasis, auch wenn seine Stimme nicht ganz sicher klang. »Wir müssen die nächsten zehn Tage abwarten. Zurzeit ist der beste Weg zur Heilung vollkommene Ruhe.«

»Was ich nicht verstehe, aber Sie werden Ihre Gründe dafür haben, ist, warum die Frau, die Amba attackiert hat, ebenfalls in Ihr Krankenhaus, noch dazu in diese Station aufgenommen wurde. Hat das unter den gegebenen Umständen irgendeinen Sinn? Ist das nicht fahrlässig?«

»Nun ja, zum einen hatte die Angreiferin auch sich selbst verletzt. Auch hierbei handelte es sich um oberflächliche Wunden, nicht wirklich besorgniserregend, Sie werden jetzt wissen, was ich damit meine. Meiner Einschätzung nach war das für sie eine Art Reinigungsritual. Die Gebräuche der Menschen hier sind schwer zu verstehen. Seit Jahren lebe ich schon hier, aber wie die Leute hier denken und handeln, bleibt mir fremd.« Der Arzt seufzte wie unter der Last wiederauflebender Erinnerungen. »Außerdem war es der Wunsch, nein, ich sollte besser sagen: der ausdrückliche Befehl ihres Adoptivvaters. Er befürchtete wohl, dass man Mukaburung in Polizeigewahrsam nehmen würde, und wollte dies vermeiden.«

Samuel zog die Brauen kurz zusammen, entschloss sich aber, hierauf nicht einzugehen. »Können Sie mir sagen, wie Amba hierhergebracht wurde?«

Dr. Wasis registrierte, dass dieser Samuel erneut nicht das höfliche »Frau« verwendete, als er über die doch deutlich ältere Freundin sprach. Diese Andeutung von Vertrautheit zwischen den beiden irritierte ihn ebenso wie die offensichtliche Nervosität in den Bewegungen des Besuchers, wenn er sich jetzt im Krankenzimmer nach der Patientin erkundigte. Obgleich die Frau auf sein Kommen in keiner Weise reagiert hatte, schien sie dennoch diesen Mann einzuschüchtern, so als befürchte er eine Zurechtweisung, wenn nicht sogar Zurückweisung. Da war zweierlei: Sie flößte ihm Angst ein, und zugleich war er untröstlich beim Anblick ihres Leidens. Da Dr. Wasis das Verhältnis der beiden letztlich aber gleichgültig sein konnte, versuchte er nur, sachlich Auskunft zu geben.

»Die Leute, die Frau Amba ins Krankenhaus gebracht haben, waren rein zufällig vorbeigekommen. Es waren ein Mann und eine Frau – beide jung und vielleicht nicht allzu zuverlässig. Sie stammen auch nicht von hier. Ihrer Aussage nach kamen sie von einer nahe gelegenen Cajeputöldestillerie. Sie hatten ihren Kleinlaster an der Straße geparkt, und mit dem wollten sie nach Namlea. Ohne dieses Fahrzeug wäre Frau Amba vielleicht nicht mehr zu helfen gewesen. Der Mann erzählte mir, er glaube, Frau Amba zuvor schon einmal in Air Buaya gesehen zu haben. Damals sei sie aus dem Haus des dortigen Soa-Chefs gekommen – soa, das ist das Wort, das man hier für Klan oder Sippe gebraucht. Das konnte gut sein; denn der Soa-Chef ist so etwas wie ein Dorfvorsteher, und bei ihm sollte sich jeder melden, der Air Buaya besucht. Als ich den jungen Mann später aber nochmals vor meinen Kollegen darauf ansprach, wich er aus. Er zog die Brauen zusammen und sagte, er sei sich nicht sicher. Damals sei es schon dämmerig gewesen, und da die Frauen in den Küstenorten alle ein Kopftuch tragen, habe er sie nicht so genau erkennen können. Als ich ihn später ein zweites Mal dazu befragte, hatte er eine andere Antwort auf Lager. Er meinte, die Frau erinnere ihn und seine Freundin an einen nituro, der vor einiger Zeit in der Region immer wieder zu sehen war.«

Als Dr. Wasis sah, dass Samuel hierauf nicht reagierte, fuhr er fort: »Nituro sind ruhelose Seelen Verstorbener auf der Suche nach einer verlorenen Liebe, das kann ein Geliebter oder auch die Tochter sein. Vor einiger Zeit wurde solch ein Geist in der Küstenregion immer wieder gesehen.«

Unwillkürlich schauten die beiden Männer zu Amba hinüber. Samuel dachte bei sich, dass sich dieser Gedanke leicht einstellen konnte, wenn man die hagere Frau mit ihrem eigenwilligen Mund und ihren blutenden Wunden sah.

Unvermittelt sagte er: »Sie ist nach Buru gekommen, um die Liebe ihres Lebens zu suchen, einen Mann namens Bhisma. Auf der Überfahrt haben wir uns rein zufällig kennengelernt. Und später war sie plötzlich verschwunden.«

***

Als Samuel Dr. Wasis zurück ins Büro folgte, dachte er bei sich, dass es schon verrückt war, wie sehr ihn diese Frau faszinierte. Es war noch gar nicht lange her, dass er ihr zum ersten Mal begegnet war, auf der Lambelu, dem Schiff, das dreimal die Woche zwischen Ambon und Buru verkehrte. Damals war Amba in Begleitung eines etwa fünfundsechzig Jahre alten Herrn, Zulfikar Hamsa, der sich auf ihre Bitte hin als ihr Verwandter ausgab. Der alte Herr war früher wohl ein Freund dieses Bhisma gewesen, über den Amba irgendwie gehört hatte, dass er auf Buru verstorben sei. Samuel konnte nicht mehr sagen, wie es dazu kam, dass sie sich angefreundet hatten, oder warum er sich entschlossen hatte, ihr zu helfen. Die Frau hatte ihn von Anfang an beeindruckt. Sie wirkte wie ein stolzes, verletztes Tier, das ein verlorenes Junges sucht, entschlossen und zugleich selbst gefährdet. Er wusste, dass ihre Suche nicht einfach war. Und in der Tat erwies sie sich als mehr als nur schwierig. Und so hatte er sich binnen kurzer Zeit tief in ihr Leben verstrickt.

Als sie das Büro von Dr. Wasis im ersten Stock erreichten, ließ sich Samuel auf dem angebotenen Stuhl nieder. Zum Erstaunen des Arztes begann er von sich aus zu erzählen.

»Wir haben gleich nach der Ankunft in Namlea mit der Suche begonnen. Der ältere Herr, der Amba begleitet hatte, hat mit diesem und jenem telefoniert, und wir sind der einen oder anderen Spur gefolgt. Schließlich mussten wir aber feststellen, dass wir nicht weiterkommen. Ich weiß, wie enttäuscht sie war, aber auch sie sah ein, dass es besser sei, die Heimreise anzutreten. An einem der letzten Abende in Buru sagte Ambas Verwandter für mich völlig überraschend, dass dringende Angelegenheiten ihn vorzeitig nach Hause riefen, und er bat mich, Amba nach Jakarta zu begleiten. Ich sagte ihm dies gerne zu. Schließlich sind wir beide mit der Expressfähre nach Ambon gereist. Auch wenn sie hart im Nehmen ist, hatte Amba mit den Worten: ›Ich sehe keinen Sinn darin, nochmals sechs Stunden in der Hölle zu verbringen‹, sich geweigert, wieder das schäbige Pelni-Schiff zu besteigen. Wir kamen also gegen Abend in Ambon an, und da es keine Flüge mehr gab, wollten wir am nächsten Tag nach Jakarta fliegen. Wir fanden ein Hotel und verabredeten uns für den nächsten Morgen früh in der Lobby, um rechtzeitig am Flughafen zu sein. Am Morgen war Amba aber nicht zu sehen, und die Rezeptionistin informierte mich, dass sie schon abgereist sei. So habe ich mir dann ein Taxi bestellt und bin zum Flughafen gefahren. Dort habe ich sie wie verrückt gesucht, konnte sie jedoch nirgends finden. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Mir wurde dann klar, dass sie nie vorgehabt hatte, nach Jakarta zurückzukehren, bevor sie nicht das, was sie auf Buru suchte, gefunden hatte. Und ganz offensichtlich wollte sie ihre Suche lieber alleine fortsetzen.«

Samuel machte eine kurze Pause. Er vermied den Blick seines Gegenübers, so als befürchtete er, soeben zu viel erzählt zu haben. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Irgendwie ist es auch komisch: Ich dachte immer, als Javanerin sei sie vorsichtig und rücksichtsvoll. Dabei kann man genauso gut sagen, sie ist javanisch genug, um rücksichtslos zu sein.«

»Aber Sie sollten uns nicht über einen Kamm scheren«, sagte Dr. Wasis mit einem breiten, erfrischenden Lächeln. Sein Blick war freundlich.

»Nein, das war auch überhaupt nicht meine Absicht …«

»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie in Stereotypen denken.«

»Nein, das tue ich auch nicht. Aber, ich meine, …, na, wie soll ich das sagen; also ich meine …, ach, manchmal weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich meinen soll. Aber so bin ich halt.«

Dr. Wasis nickte: »Ich ahne vielleicht, woran Sie denken.«

»Ich meine, auch Sie, Herr Doktor, kennen wahrscheinlich Situationen im Leben, die einem so überhaupt nicht in den Kopf rein wollen, und da kann es schon mal sein, dass man zu bestimmten Deutungen greift.«

Dr. Wasis nickte. »Ja, ich verstehe wohl, was Sie meinen. Aber dennoch, auch bei uns Javanern gleicht keiner dem anderen.«

Sie schwiegen eine Weile. Samuel schaute aus dem Fenster. Schwarze Regenwolken waren aufgezogen. Das Büro lag auf gleicher Höhe mit der Krone des Lindenroseneibisch im Hof des Krankenhauses. Für einen Augenblick gab ein letzter Sonnenstrahl dessen Blättern einen warmen, heimeligen Glanz.

»Herr Dr. Wasis«, fragte Samuel schließlich, »es stört Sie doch nicht, wenn ich mich ein paar Tage bei Ihnen im Hospital aufhalte?«

***

Eine Stunde später saß Samuel nachdenklich auf der Veranda des Krankenhauses. Der Regen prasselte in Strömen auf Wiesen und Asphalt, ließ Blätter und Zweige sich beugen wie einen Trupp besiegter Sklaven. Er bedeckte die Wunden der Bäume und die Löcher der Steine wie mit einem zarten Schleier, die kleinen Dinge aber wie Kiesel und Moos riss er los und spülte sie unbemerkt ins nächste Dorf, wo sie stumm und zerschlagen anlandeten gleich all den Namenlosen der Geschichte. Alles fühlte sich schwer und ein wenig grausam an. Es ist schon erstaunlich: Solch ein kräftiger Dauerregen beruhigt durch das stetige Fallen der Tropfen, den Geruch, das Rauschen und das melancholische Grau, er kann aber auch wehrlos machen gegenüber unerbetenen Gedanken und Erinnerungen. Ihrem Strom setzte Samuel sich aus. Er fühlte sich schuldig. Warum nur war er so stumpf und in seiner Gekränktheit gefangen gewesen, dass er Amba nach ihrem Verschwinden sich selbst überlassen hatte, bis sie auf dieser Insel beinahe umgekommen wäre? Er, Samuel Lawerissa, hatte sich doch vorgenommen und zugesagt, sie zu beschützen. Er wusste doch, dass ihre Suche gefahrvoll war! Und jetzt nahm sie von ihm keinerlei Notiz. War ihr Schweigen ihre Art, ihn zu strafen? Wie stechend schmerzte diese Stille!

Immer wieder ging er den Korridor hinunter und sah nach Amba in ihrem Zimmer. Sein Kopf war voller Fragen: Hatte er bislang alles falsch verstanden? Hatte er sie falsch gedeutet? War ihre Freundschaft für sie nur ein Mittel, um bis an jenen dunklen Punkt ihrer Suche vorzudringen, und glaubte sie, dass damit auch ihre eigene Geschichte beendet war? Oder war er nur das zufällige Opfer der Rachegelüste einer Frau, die einen Mann fühlen lassen will, was es bedeutet, verlassen zu werden? Samuel wusste nicht, welches Signal er aussenden müsste, um Ambas Schweigen sprechen zu lassen.

Dazwischen ließ er sich erneut auf der Veranda nieder, zündete sich jedes Mal eine Zigarette an und schaute in den Regen. Er hoffte auf neue Töne, eine neue Melodie, die dem Chaos seiner Gefühle einen Anker geben könnte. Aber da war nur das Rauschen des Regens.

***

Samuel war kein Fremder auf Buru. Anfänglich wollte er nicht, dass Amba dies erfuhr. Weshalb auch? Ihm fiel es seit jeher schwer, viel über sich zu erzählen. Da er erst am Ende, kurz vor ihrem Verschwinden, mehr von sich preisgegeben hatte, fühlte er sich nun schuldig, zumal er selbst sich stets gekränkt und verletzt gefühlt hatte, wenn er glaubte, dass diese Frau ihm nicht voll vertraute.

Samuel kannte Buru nur allzu gut. Er war auf der Insel aufgewachsen, mit ihrer Natur und all dem, was in jenen Jahren dort geschah. Sie war die Schule seines Lebens. Am besten lässt sich vielleicht sagen, er war zusammen mit Buru groß geworden. Seine Eltern hatten hieran kaum Anteil, eher noch die Geschichte: 1950, nachdem die indonesische Regierung die Separatisten der Republik der Südmolukken besiegt hatte, waren seine Eltern, beide aus Ambon, mit Tausenden Mitkämpfern in die Niederlande ins Exil gegangen. Wie so viele Männer aus seiner Region hatte auch Samuels Vater im kolonialen Heer gekämpft; nach dessen Auflösung hatte er seine Hoffnungen auf eine unabhängige Molukkenregion gerichtet und nicht auf den neuen indonesischen Staat, für den er und seinesgleichen nur schäbige Verräter waren. Doch dieser Traum endete im Exil. 1966 aber, als Samuel acht Jahre alt war, hatten ihn seine Eltern zurück auf die Molukken geschickt, nicht nach Ambon, wo die Geschichte der Familie wahrscheinlich noch bekannt gewesen war, sondern nach Buru zu einem entfernten Onkel. Samuel erfuhr nie, was seine Eltern zu diesem Schritt bewogen hatte und warum die Wahl auf ihn gefallen war. Ein Grund mag sein, dass er unter den fünf Geschwistern der jüngste war und somit am wenigsten auffallen würde. Möglicherweise hatten sie ein schlechtes Gewissen, dass sie die Kinder von ihren »Wurzeln« – was man auch immer hierunter verstehen mag – getrennt hatten, und wollten ihm die Heimat wieder schenken. Vom Leben in Holland blieb ihm kaum etwas in Erinnerung, nur dass sie immer hungrig waren, stets froren und dass sich die Eltern unentwegt stritten. Sein Vater war Spieler und Trinker, während bei der Mutter kein Tag ohne Tränen verging. Als unwillkommene Staatenlose in der Fremde, mit fünf Kindern abhängig von öffentlichen Zuwendungen und den Gaben anderer, in allem zu knapp – diese Situation überstieg ihre Kraft.

Samuels Onkel war in jenen Jahren der Leiter des Depots der staatlichen Ölgesellschaft Pertamina in Namlea. Das war ein kleiner Betrieb, und jeder wusste, dass diese Position ihren Inhaber auf der Karriereleiter nicht weiter nach oben führen würde. Aber Samuels Onkel hatte auch keine großen Ambitionen. Er war glücklich, dass er seine letzten Dienstjahre in einer geachteten Position verbringen konnte – weit entfernt von den Menschen, die ihn aus jungen Jahren kannten, die jetzt erstaunt sein würden, wie dick er geworden war, und die bei der Begrüßung gleich sagen würden, Hey, erinnerst du dich an unseren Freund, den Bram? Du weißt doch, dass er vor kurzem zum Vizedirektor befördert worden ist?, während sie hinter seinem Rücken lachend tuscheln würden, Der Lukas ist schon zu bedauern, der kommt einfach nicht voran. Aber Samuels Onkel machte sich nichts aus alledem. Buru gab ihm einen ruhigen und überschaubaren Raum, und nach einer anderen Welt sehnte er sich nicht.

Samuel kümmerte sich nicht darum, was sein Onkel, dessen Frau oder die Leute in ihrer Umgebung dachten. Er ärgerte oder sorgte sich nie über Personen oder Dinge, die ihn nicht betrafen. Er blieb ein Einzelgänger und füllte seine Zeit damit aus, zu beobachten, was auf der Insel vor sich ging. So hörte er auch, wie Ende der 1960er Jahre die Vertreter der Regionalverwaltung den Leuten von Buru erklärten, dass Schiffsladungen von Fremden bald auf die Insel kommen würden. Anders als die Zuwanderer bisher, die sich immer in den Küstenorten niederließen und von denen nur manche als kleine Sago-Diebe ab und an ins Inland zogen, würden diese Neuankömmlinge flussaufwärts siedeln, Land urbar machen, Straßen bauen und dann dort leben. Es würden viele sein, am Ende wohl zwölftausend, während die Region bis dahin nur siebentausend Bewohner zählte. Wie zu erwarten, wussten die Einheimischen mit diesen Informationen wenig anzufangen. Sie zogen die Brauen hoch, legten die Stirn in Falten und antworteten lediglich mit einem nachdenklichen »A-ha«. Den Regierungsleuten genügte diese Reaktion allem Anschein nach nicht. Sie warnten: »Habt acht! Denn die da kommen sind Verbannte, Kommunisten. Wir müssen sie von uns fernhalten. Sie sind grausam und gefährlich.«

Es war an einem Nachmittag, als die erste Welle dieser Ausgestoßenen Buru erreichte: erschöpfte, stumme, argwöhnische Männer in verdreckten khaki-braunen Uniformen. Samuel beobachtete sie aus der Ferne. Das war 1969. Nachdem sie alle an Land gegangen waren, folgte er ihnen heimlich auf ihrem Marsch an einen Ort, den man später die »Transit-Einheit« nennen würde. Mit seinen elf Jahren war er darin geübt, sich mit langen, leichten Schritten unauffällig überall hinzuschleichen. Er beobachtete, wie sich die Gesichter dieser Verbannten aufhellten, als sie schließlich ihr Ziel erreichten. Die Baracken der Transit-Einheit waren die einzigen Bauten in dieser Brackwasserregion, die nicht auf Stelzen standen. Die Küche lag separat auf etwas erhöhtem Grund und war Samuel gut bekannt, da er dort manchmal, wenn die Wachen zur Jagd gegangen waren, Streichhölzer und Kaffee entwendet hatte. Er wusste, was die Ankömmlinge erwartete, sobald ihre Bewacher die Tür zum Seitenraum öffneten: Wasserlachen, darin aufgetürmt ein paar zerbrochene Stühle und an der Wand ein leuchtend roter Schriftzug Zerschlagt die PKI!; doch bevor sie ihren Blick auf all diese Dinge würden richten können, würde ihnen der Gestank von Moder, Schimmel, Öl und Rattenpisse entgegenschlagen, und die Luft würde zittern unter den Sonnenstrahlen, die in das Dunkel des Raums eindrangen. Aber diese Fremden – diese Kommunisten – schien all dies nicht zu berühren: Denn in diesem muffeligen Raum gab es Zucker, Salz und genug Kaffee für einen Abend, und das war für diese Menschen offenbar ein unverhofftes Glück.

Später, als Samuel als junger Mann zum ersten Mal Buru verließ, wurde ihm bewusst, dass ihn kein Ort auf Erden so viel über das Leben hätte lehren können. Alles, was er über die Welt wusste, hatte er auf Buru gelernt. Die Insel war in ihm. Auch Tausende Kilometer entfernt konnte er jede Bewegung, jedes Raunen und Nagen des Windes dort hören. Buru hatte ihn etwas über Regen und Trockenheit gelehrt, über Wahres und Ergreifendes, hatte ihm gezeigt, was im Wind zu spüren ist.

Von dieser Intuition hatte er sich auch leiten lassen, als er auf seiner letzten Reise nach Buru Amba begegnete. Damals, auf dem Schiff, hatte er sich ihr sogleich verbunden gefühlt, und jetzt war er ihretwegen zurückgekommen.

***

Der nächste Tag war Samuels zweiter Tag im Krankenhaus. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, abends zu seinem Hotel in Namlea zurückzufahren. Er wollte in Ambas Nähe bleiben aus Furcht, dass sich etwas Unerwartetes oder gar Schlimmes ereignen könnte, was ihn wieder von ihr trennen würde. Es gibt ja solche Unglückspilze, die nach einem vielversprechenden Anfang am Ende das Nachsehen haben. Gibt es nicht sogar eine spezielle Redewendung hierfür? Samuel wollte hierüber lieber nicht nachgrübeln.

Am Abend zuvor hatte er auf das Angebot von Dr. Wasis hin einen freien Raum in der Nähe von Ambas Zimmer bezogen. Mangels anderer Beschäftigung rauchte er dort so viel, dass ihm die Lungen zu zerplatzen drohten. Nirgends gab es einen Hinweis, der das Rauchen untersagte. Auch von den Ärzten und Schwestern sprach ihn keiner darauf an. Mithin schien es erlaubt zu sein – als teile man hier den zynischen Blick auf das Krankenhaus als Ort ehrbaren Tötens.

Amba sprach weiterhin kein Wort. Sie hatte an diesem Vormittag zwei Tabletten erhalten – laut Auskunft der Schwester handelte es sich um Paracetamol –, zwei Glas lauwarmes Wasser und eine Extradecke gegen die Kälte, da die Nächte in Buru etwas von der uralten, unheilvollen Kälte haben, die Erzählungen zufolge von Zauberern verbreitet wird. Nahrung hatte Amba weiterhin abgelehnt, so als wolle sie sich nur noch von Infusionen ernähren. Samuel wurde unsicher, worauf er seine Hoffnung gründen sollte.

***

Am dritten Tag klopfte mittags eine Schwester an seine Tür und fragte, ob er sich nicht zu Amba in deren Zimmer setzen wolle. Womöglich könne er als ihr Bekannter sie leichter zum Sprechen bewegen.

»Hat sie noch immer nichts gesagt?«, fragte Samuel. Die Schwester meinte: »Nein, aber vielleicht ändert sich das mit Ihrer Hilfe.«

Als Samuel in das Krankenzimmer trat, saß Amba aufrecht wie eine Herrscherin in ihrem Bett. Ihr Gesicht und ihre Arme waren dick mit Babypuder eingerieben, was ihr das Aussehen einer Dorfbraut gab. Die Schwester, die allem Anschein nach aus der hiesigen Gegend stammte, lächelte schüchtern, wie schön sie sie hergerichtet hatte.

Samuel setzte sich neben Amba ans Bett. Er schluckte kurz, bevor er ein Gespräch zu beginnen versuchte.

»Ich bin nach Buru zurückgekommen, weil ich mir um dich Sorgen machte.« Er wusste, dass diese Worte falsch und unangemessen klangen, so als spreche er nicht zu einer erwachsenen Frau, sondern zu einem Kind. Im gleichen Moment stieg in ihm ein Zorngewitter auf. »Und wieso hast du eigentlich geglaubt, mich austricksen zu müssen?« Samuel hatte die Stimme angehoben und merkte, dass diese bebte. Er hasste es, wenn seine Verletzlichkeit erkennbar wurde, er fast wie ein Opfer erschien. Zugleich fühlte er sich aber auch in anderer Hinsicht schlecht. Wie ein Blitz ging ihm das Bild seiner Mutter durch den Kopf: War da nicht die gleiche Aggressivität in seiner Stimme, die die Mutter bei seinem nichtsnutzigen Bruder immer kritisiert hatte? Wie oft hatte sie zu dem gesagt: Das Problem mit dir, junger Mann, ist, dass du die Stimme hebst, wo du eigentlich für eine Beruhigung der Lage sorgen solltest! War das der Grund gewesen, dass sie ihn nach Buru geschickt hatte? Sollte er die Regel durchbrechen, dass die Söhne immer in die Fußstapfen eines brutalen Vaters treten? So lehnte er sich unvermittelt zu Amba hinüber und fragte sanft, wenn nicht gar zerknirscht: »Entschuldige, bitte entschuldige. Das war nicht meine Absicht. … ich war in Sorge. Hast du noch Schmerzen?« Von Amba aber erhielt er nicht einmal die Andeutung einer Reaktion.

***

Unvermutet trat eine andere Schwester in den Raum. Sie war hübsch. Anders als die vorherige hatte sie ein entschiedenes, sicheres Auftreten. Samuel war zunächst angetan, als er sah, wie sie ohne gespielte Höflichkeit aufrecht ans Bett von Amba trat und diese begrüßte. Allerdings erinnerte ihre Stimme etwas an eine Fernsehreklame, dieser hohe, gekünstelt melodiöse Ton junger Mütter mit makellosem Äußerem, die mit verführerischem Lächeln ihrem Gatten und den Kindern Instantnudeln servieren. Ihr hohes, professionell freundliches »Na, wie geht es Ihnen heute?«, »Ist es nicht ein wunderschöner Tag«, setzte sie mit der Aufforderung fort: »Wollen Sie nicht doch einmal etwas essen?«, »Versuchen Sie’s doch mal, für mich!« Insgeheim freute sich Samuel, dass Amba weiterhin schwieg. Sie war doch kein Kleinkind! Zugleich bemerkte er, dass sich ihre Muskeln ein wenig entspannten. Sie war so dünn, dass sich alles auf der Haut abzeichnete. Er stand auf und hätte gern Ambas Hand berührt. Die Schwester, die sich an der Rollklemme des Infusionsschlauchs zu schaffen machte, ließ ihm hierfür aber keinen Platz. Sie ignorierte ihn. Offensichtlich hatte sie gelernt, den Patienten in die Augen zu blicken, nicht aber deren Angehörigen oder Freunden. Gleichwohl hatte Samuel das Gefühl, dass sie ihn aus dem Augenwinkel durchaus beobachtete. Oder hatte sie auch gelernt, seine Geste als falsche männliche Eitelkeit zu verstehen, und wollte mit Amba von Frau zu Frau solidarisch sein?

Er beobachtete, wie die Schwester im Plauderton Amba erklärte, dass man ihren Namen bislang falsch geschrieben habe. Die Leute hier hätten gedacht, sie heiße Am-ba-ra, was nicht verwunderlich sei, da ein Frauenname, der mit A beginne, nur selten zwei Silben habe. »Seien Sie aber beruhigt«, fuhr sie fort. »Ich habe das korrigiert und den Leuten erklärt, dass der Name aus dem Mahabharata stammt, wo er der Name einer berühmten Prinzessin ist. Und ich habe ihnen auch gesagt, dass dieser Name sehr gut zu Ihnen passt.« Die Schwester machte absichtlich eine Pause, um zu sehen, ob sich Ambas Miene veränderte. Dann fügte sie mädchenhaft hinzu: »Und wissen Sie, warum? Weil Sie soooo schön sind.«

Samuel konnte nicht abschätzen, woher diese Schwester stammte. Irgendetwas Hartes und Ambitiöses war an dieser Frau, was man bei den Leuten hier so nicht fand. War sie vielleicht eine Javanerin, die mit einem Einheimischen verheiratet war, und hatte dies in ihr ein an Mutwillen grenzendes Selbstvertrauen geweckt? Während Samuel hierüber noch sinnierte, hörte er sie unvermittelt über ihre ach so treue verstorbene Mutter sprechen, was seine Alarmglocken vollends läuten ließ. Treue, so sagte sie weiter, sei etwas Sinnloses, vollkommen fehl am Platz, denn sie hefte sich immer an die falsche Person: Entweder werde Treue verraten und schamlos ausgenutzt, oder aber man warte bis in alle Ewigkeit auf etwas, was man nie besitzen könne. In diesem Moment konnte Samuel erahnen, was ihre nächsten Worte sein würden; denn sie stammte aus der gleichen Welt, lebte im gleichen kulturellen Kosmos wie Amba. Wie für diese zählten auch für sie die kleinsten Zeichen, und Samuel sah sie schon zu einer Erklärung ansetzen, warum den Javanern im Krankenhaus der Name Amba unangenehm war, und er sah sie auch schon andeuten, dass die Ereignisse, die Amba hierhergeführt hatten, mit ihrem Namen in Verbindung stehen könnten.

»Vielen Dank«, unterbrach Samuel sie rasch und mit lauter Stimme. »Bitte lassen Sie die Dame jetzt allein. Sie braucht Ruhe. Ich werde mich um sie kümmern.«

In nur einer Sekunde wurde die Schwester wieder zu einer anderen. Sie schaute zu ihrer Patientin und sagte mit fast ehrlicher Fröhlichkeit, dass sie versuchen werde, für Amba einen Radioapparat aufzutreiben. »Radio heißt Musik, und Musik heißt Heilung«, erläuterte sie weiter. Und nachdem Amba immer noch schwieg, ging sie zum Thema Essen über – der wohl älteste Trick, um Menschen aus der Reserve zu locken. Sie schwärmte von Klebreissnacks, gebratenen Bananen und den süßesten Brotfruchtküchlein der Welt, die sie mitbringen werde, sobald Amba ihr verspreche, davon zu kosten. Und sie schloss mit dem Satz: »Wenn nicht, dann wäre ich todunglücklich, denn dann konnte ich meine Aufgabe in dieser Welt nicht erfüllen.«

Samuel hatte sich gerade beruhigt und rechnete damit, dass diese nervige Frau bald den Raum verlassen würde, da wandte sie sich plötzlich ihm zu. Ihre Augen blitzten.

»Sie würden sicherlich gerne etwas mehr über die einheimische Frau erfahren, die Frau Amba angegriffen hat, nicht wahr?«

Samuel blickte die Frau ebenso scharf an.

»Vielleicht später, aber nicht jetzt!«

»Ich möchte nur, dass Sie wissen, dass wir alle diese Frau kennen. Wir alle kennen sie, weil sie sehr oft hier ist.«

»Verstehe. Vielen Dank, aber jetzt, bitte nichts mehr.«

Und weil die Frau schon wieder zum Reden ansetzte, beugte er sich in ihre Richtung und zischte: »Können Sie denn nicht warten, bis sie sich erholt hat?«

Die Schwester beachtete ihn nicht: »Und weil wir alle diese Frau kennen, wissen wir, dass sie ein Recht hat, wütend zu sein. Der Tote ist wirklich ihr Ehemann. Diese Frau, sie heißt Mukaburung, ist die Adoptivtochter des mauweng – das ist ein Vorsteher eines der großen Klane hier. Er hatte sie diesem Mann zur Frau geschenkt, da der Mann, er war ein Arzt, dem Dorf so verdienstvoll geholfen hat.«

Samuel geriet in Panik. Was konnte er tun, um das Gerede dieser Frau abzustellen? Er konnte sie doch nicht einfach erwürgen, oder? Er hoffte nur, dass Amba dies alles nicht hören würde.

Aber die Frau war immer noch nicht fertig: »Und wissen Sie, wie man den Toten in jenem Grab nennt?«

»Woher sollte ich …?«

»Die Leute hier nennen ihn den Weisen von Waeapo.«

Samuel schwieg.

»Man weiß nicht viel über ihn. Keiner weiß, woher er stammte. Viele, darunter auch ich, haben ihn sogar niemals gesehen. Aber man erzählt sich, dass er sehr groß und äußerst gutaussehend war, manche Frauen sagen, so gutaussehend, als sei er nicht von dieser Welt. Andere erzählen, dass er vormals ein politischer Gefangener war, also ein Kommunist!«

Am liebsten hätte Samuel sie rechts und links geohrfeigt. Merkte sie denn nicht, dass die Frau hier im Zimmer, ihre Patientin, dies alles besser nicht hören sollte? Hatte Amba kein Recht auf ihre eigenen Erinnerungen?

Aber er brauchte die Schwester weder zu ohrfeigen noch zu würgen; denn plötzlich drehte sie sich um und ging. An der Tür blickte sie nochmals zurück und sagte: »Es wäre sicher schön, gemeinsam alt zu werden, gemeinsam mit jemandem …«

2

Trümmer

Eine Woche ist eine lange Zeit, wenn man an einem Ort am Rand der Zivilisation festgehalten ist. Samuel verbrachte die Morgenstunden entweder in Ambas Zimmer und beobachtete sie, wie sie schön gebettet und hergerichtet zwischen ihren Kissen lag, oder er saß neben ihr auf der Terrasse, wenn die Schwestern sie in den Rollstuhl gesetzt hatten, da sie – wie sie ihn jedes Mal erneut belehrten – auch an die frische Luft müsse. Weniger strikt war der Tagesablauf gegen Abend – den Stunden, in denen der Tod umgeht.

Einige Tage zuvor hatte Samuel darauf bestanden, dass Ambas Bett weg von der Tür und näher ans Fenster geschoben wurde. Jedes Mal nämlich, wenn er neben ihrem Bett eingenickt oder in einen Halbschlaf verfallen war, hatte er geträumt, dass Mukaburung mit einer Machete zu Amba ins Zimmer schlich und ihr den Hals durchschnitt, ganz so wie wenn man ein Schwein absticht.

Als er wieder einmal nachdenklich auf Amba blickte, wurde ihm in aller Deutlichkeit bewusst, wie schwach ihr rechter Arm und ihre Brustmuskulatur noch waren. Dort hatte sie die meisten Stiche erlitten. Sie konnte kaum den Arm zum Glas ausstrecken, geschweige denn es mit ihrer Hand fest umfassen. Dr. Wasis hatte gesagt, dass sie noch mehrere Wochen lang Antibiotika brauche und dann auch Physiotherapie. Dabei hatte der Arzt zu Boden geblickt; wer wusste nicht, dass es Physiotherapeuten nur an einem großen Krankenhaus, das nächste war auf Ambon, gab und dass dies alles mit hohen Kosten verbunden war! Samuel hatte keine Ahnung, ob Amba diese würde tragen können. Und wenn nicht, sollte dann er das alles übernehmen – zwei Tickets mit dem Schnellboot nach Ambon und dann noch die Behandlungskosten! – , sollte er, der im Alter von achtundvierzig Jahren noch nicht einmal eine Familie gegründet hatte, nun von einem Niemand zum absolut Armen werden? Er versuchte, nicht weiter hierüber nachzudenken, nicht über Armut, nicht über den Tod und nicht über ein Leben, in dem diese Frau nicht mehr in seiner Nähe war.

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