Alles Gute - Eva Rossmann - E-Book
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Alles Gute E-Book

Eva Rossmann

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Beschreibung

Eine App gegen die Spaltung der Gesellschaft. Zu gut, um wahr zu sein? Seit Jahren warnt Peter Gruber vor politischen Tendenzen, die jenen der 1930er ähneln. Nachdem er als Lehrer suspendiert worden ist, bringt ihn seine Nichte Lisa auf eine gute Idee: Er entwickelt eine App, die zum besseren Miteinander beitragen soll. Schnell hat »LISA wünscht ALLES GUTE« Millionen User. Doch dann verschwindet Gruber spurlos. Hat er Neider, hat er den Hass derer auf sich gezogen, die Wut und Ressentiments schüren? Zu viele fühlen sich abgehängt, setzen ihre Hoffnung auf die Union der Sozialpatrioten, die selbsternannten Retter des Abendlands. Oder sind Tech-Riesen hinter ihm her, die aus dem Handel mit persönlichen Daten ein Milliardenbusiness machen? Mira Valensky und Vesna Krajner folgen Grubers Spur.

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Eine App gegen die Spaltung der Gesellschaft. Zu gut, um wahr zu sein?

Seit Jahren warnt Peter Gruber vor politischen Tendenzen wie in den 1930er-Jahren. Er wird als Lehrer suspendiert und entwickelt eine simple App für ein besseres Miteinander. Schnell hat sie Millionen User. Nach massiven Drohungen verschwindet er spurlos.

Hat Gruber selbst im engsten Kreis Feinde? Vorgebliche Patrioten schüren Wut und Ressentiments – wozu sind Menschen bereit, die sich abgehängt fühlen? Oder sind tatsächlich Tech-Riesen hinter seiner App her? Der Handel mit persönlichen Daten ist längst ein Milliardengeschäft.

„Gerade die Geschichte unserer beider Länder Österreich und Deutschland in den letzten hundert Jahren sollte uns Lehre genug sein. … Deswegen bleibe ich dabei: Auf diesem rechten Auge müssen wir sehr wachsam sein und sehr, sehr aufpassen.“Ralf Rangnick, Teamchef der österreichischen Fußballnationalmannschaft, ORF ZiB2

Die Autorin

Eva Rossmann, geboren 1962 in Graz, lebt im Weinviertel/Österreich und auf Sardinien. Verfassungsjuristin, politische Journalistin, staatlich geprüfte Köchin. Seit 1994 freie Autorin und Publizistin. Ihre gesellschaftspolitischen Krimis rund um die Wiener Journalistin Mira Valensky und ihre bosnischstämmige Putzfrau und Freundin Vesna Krajner wurden zu Bestsellern und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Zuletzt ist bei Folio erschienen:Fine Dying(2023).

Ihr jüngstes Kochbuch zur Krimiserie:No Stress. Mira kocht(2021).

ALLES GUTE

Lektorat: Joe Rabl

© Folio Verlag Wien • Bozen 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: no.parking, Vicenza

Gestaltung Innenteil: Dall’O & Freunde

Druckvorbereitung: Typoplus, Frangart

Printed in Europe

ISBN 978-3-85256-903-1

www.folioverlag.com

E-Book ISBN 978-3-99037-159-6

Inhalt

[ 1. ]

[ 2. ]

[ 3. ]

[ 4. ]

[ 5. ]

[ 6. ]

[ 7. ]

[ 8. ]

[ 9. ]

[ 10. ]

[ 11. ]

[ 12. ]

[ 13. ]

[ 14. ]

[ 15. ]

[ 16. ]

[ 17. ]

[ 18. ]

[ 19. ]

[ 20. ]

[ 21. ]

[ 22. ]

[ 23. ]

[ 24. ]

[ 25. ]

[ 26. ]

DANKE!

[ 1. ]

Ich lehne mich an die Mauer und schaue über Graz, die Musik noch immer im Ohr. Ein letzter Hauch Abendlicht auf den Dächern der Altstadt. Der Moment, in dem alles gut ist. Magisch. Ich sehe zu Vesna hinüber. Besser, ich behalte meine Gedanken für mich. Schwärmerische Gefühle sind meiner Freundin eher fremd.

Vesna lächelt. „Es passt“, sagt sie.

Rund um uns Menschen, sie sind wie wir in der Pause ins Freie hinaus. Es ist Mitte September, aber die Luft ist lau. Keine aggressive Hitze, sondern gute Wärme, die von den Mauern und Wegen strahlt. Die Kasematten, übrig geblieben von einer mittelalterlichen Burganlage, jetzt einer der schönsten Veranstaltungsorte, die ich kenne.

„Er ist großartig“, sagt Vesna. „Und die anderen auch.“

Ich nicke.

„Wer hätte das gedacht, vor ein paar Jahren.“

„Es gibt eine Menge, was wir uns nicht gedacht haben“, murmle ich. Der magische Moment ist vorbei. Aber der Schlossberg, er bleibt. Mit Befestigungsanlage und Uhrturm, vielen hohen Bäumen, kleinen Wegen und nicht ganz so charmanten Gastronomieeinheiten.

Vesna sieht auf die Uhr. „Wir sollten zurück. Man muss sich vorstellen: Tausend Menschen sind gekommen und ich sage dir, das ist erst der Anfang. Es ist Musik, die in den ganzen Körper geht. Und in Seele.“

„Sie werden das größte Stadion rocken“, spotte ich.

So vieles haben wir schon miteinander erlebt. Wie lange ist es her, dass ich Lifestyle-Journalistin beim „Magazin“ war und sie meine Putzfrau? Das Wiener Wort Bedienerin hat Vesna Krajner nie gemocht. „Ich putze anderen Leuten Dreck weg“, hat sie gesagt. Drei Jahre alt waren ihre Zwillinge, als sie mit ihnen vor dem Krieg in Jugoslawien nach Österreich geflüchtet ist. Inzwischen gehört ihr ein gut gehendes Reinigungsunternehmen, Fran und Jana haben studiert und jetzt gibt es auch Lilli, ihre heiß geliebte Enkeltochter. Was bleibt? Letztlich sind es Beziehungen. Wie ihre zu Hans. Der jetzt wohl hinter der Bühne auf Teil zwei des großen EverLyn-Konzerts wartet. Ein Rockstar der besonderen Art.

„Was hätte wohl Evelyn …“, setze ich an. Ein Mann versperrt uns den Weg. Vesna versucht ihn zur Seite zu schieben.

„Sie müssen mir helfen!“ Er sieht sich gehetzt um.

„Keine Zeit“, antwortet Vesna. „Mein Mann spielt Konzert.“

„Sie … sind vielleicht meine letzte Chance!“ Er packt meine Freundin am Oberarm.

Bald geht’s weiter. Wie wird man ohne Aufsehen einen Irren los? Vesna versucht es mit einer halben Drehung und einem raschen Schritt zur Seite. Er taumelt, hält sich an mir fest. Durchschnittstyp, mittelgroß, mittelschlank, nicht jung, nicht alt, Brillenträger, braune dichte Haare mit grauem Schimmer. Verrückte haben keine besondere Physiognomie.

„Sie müssen mir helfen! Sie verfolgen mich! Ich lasse mich schon länger nicht mehr in der Öffentlichkeit sehen, ich habe mich zurückgezogen, aber es hat nichts gebracht! Was soll es auch bringen? Die Shitstorms, die bleiben und falsche Beschuldigungen. Dazu die durchstochenen Lisas, die Telefonanrufe. Sie wissen, wo ich bin. Immer.“

„Am besten, Sie schalten Computer aus“, rät Vesna und setzt sich Richtung Kasematten in Bewegung. „Wir müssen zurück, mein Mann …“

Es gelingt mir nicht, seine Hand abzuschütteln. Er ist kräftiger, als es scheint. „Es gibt auch Drohbriefe, ganz analog, und die Lisas mit dem Messer, und Sachen, die in Verbindung mit meiner verstorbenen Frau stehen, die wissen genau, wer ich bin, wo man mich treffen kann …“

Vesna sieht auf die Uhr und macht mir Zeichen, die ich nicht zu deuten weiß. Weg sind sie, unsere Momente der glücklichen Verbundenheit mit dem Universum, dem Schlossberg, der Musik, dem …

„Lisa hat ein Messer?“, fragt Vesna. Immer mehr Menschen, die entspannt schwatzend und gut gelaunt an uns vorbeiströmen. Sie will ihn ablenken. Kapiert. Ich reiße mich los und setze mich auch in Bewegung. Er breitet die Arme aus, flehend. Tappt händeringend neben uns her. Irgendwo müssen doch die von der Security sein. – Wie werden sie mit ihm umgehen? Er ist verzweifelt, so viel ist klar.

„Nicht Lisa! Im Polster, da stecken Messer! Ich weiß es nicht, das ist es ja! Die von der USP, sie sehen mich schon seit meinen Schultagen als Feind! Mit denen ist nicht zu spaßen! Man muss aufhören, sie zu verharmlosen! Vielleicht sind es auch die gierigen Giganten, die Lisa kaufen und missbrauchen wollen!“

Ich schüttle den Kopf. Auch wenn ich davon ausgehe, dass er von der Union der Sozialpatrioten und nicht von USB, der Computerschnittstelle und den dazu passenden Datensticks, redet: Seine Schulzeit liegt sicher dreißig Jahre zurück, da war von dieser Bewegung zum Glück noch lange keine Rede. Ein Psychopath.

„Wer ist Lisa? Wer will sie kaufen und missbrauchen?“, ruft Vesna. Rund um uns fröhliches Gedränge.

Zwei Frauen starren uns an. Sie haben offenbar Teile des bizarren Dialogs mitbekommen.

„Wir kennen ihn nicht“, versuche ich ihnen zu erklären. Vielleicht finden sie jemanden von den Wachleuten.

Die beiden drücken sich an uns vorbei, es ist klar: Die halten nicht nur ihn, sondern auch uns für Freaks.

„Meine Lisa wünscht alles Gute! Das ist ihr Auftrag! Gegen die Spaltung!“

Die Erklärung macht nichts besser, ganz im Gegenteil.

Vesna wirft einen Blick auf die Uhr, runzelt die Stirn. „Mit Lisa, Sie meinen keine Frau, sondern diese App – kann das sein?“

Er holt tief Luft. „Natürlich. Was sonst. Ich bin Peter Gruber. Ich habe sie erfunden. Das heißt, um ehrlich zu sein, war es Lisa. Meine Nichte. Jedenfalls was die Figur angeht.“

Mir dämmert etwas. Ich habe die App. Ich habe sie sogar vor kurzem erst benutzt, um mich wieder mal ganz unverbindlich bei einer Cousine zu melden. Eine Strichfigur, freundliche Kleinkinderzeichnung, runder Kopf mit lächelndem Mund, daran zwei Strichbeine. Daneben der Text „Alles Gute“. Man kann das Logo posten und zeigen, dass man an jemanden denkt. Im Guten. „Sie haben die App Lisa entwickelt“, sage ich.

Er schüttelt den Kopf. „Entwickelt eigentlich nicht, das haben zwei hochbegabte Jungs getan.“

„Sie machen Millionen damit. Wenn Sie es wirklich sind“, setzt Vesna nach. Wir sind nahe beim Eingang, eigentlich wollten wir noch hinter die Bühne.

„Niemand soll damit reich werden, es geht um ein einfaches Tool für mehr Miteinander! Gegen die Spaltung! Lisa hat die Zeichnung gemacht, um mich zu trösten. Nach dem Tod meiner Frau, nachdem man mich suspendiert hatte. Ich habe die Figur gesehen und mir gedacht: Vielleicht bringt sie mehr als Aufklärung und Fakten und Aktionen, die ohnehin keiner will.“

„Und deswegen man verfolgt sie? Und will eine App erstechen?“ Vesna weicht einer Gruppe lachender Frauen aus, sie sind wohl alle schon über sechzig, aber ganz taufrisch sind die Musiker von EverLyn auch nicht.

Ich nicke, Vesna hat es auf den Punkt gebracht. Ich will keinen Song verpassen. Wer immer er ist, Gruber oder Hochstapler, der Typ spinnt.

„Nicht die App, das waren Polster. Zum Glück hat Lisa sie am Heimweg nicht gesehen.“

„Und wohin ist Ihre Lisa so gegangen?“, fragt meine Freundin.

„Na heim. Nach dem Kindergarten.“

„Ihre App geht also noch in den Kindergarten.“

„Meine Nichte! Die haben nicht nur mich, sondern auch sie bedroht! Ich muss untertauchen, die wollen mich beseitigen! Sie müssen herausfinden, wer dahintersteckt! Sie müssen Lisa beschützen!“

„Jetzt müssen wir zurück ins Konzert“, mische ich mich ein.

Vesna nickt. „Wir vereinbaren einen Termin, in Ordnung? Mein Sohn ist IT-Experte, wenn es um die App geht, er kann helfen. Auch wenn ich nicht weiß, wie man App entführt. Ich werde mit ihm reden, vielleicht kann er bei Treffen dabei sein. Dann können wir besser über alles reden.“

Peter Gruber schüttelt so heftig den Kopf, dass er mich an eine durchgeknallte Computerspiel-Figur erinnert. Noch drei Sekunden, dann schleudert er seinen Kopf ab und ein neuer …

„Nein! Niemand aus der Branche! Man weiß nicht, was die für Interessen haben! Ob sie mit ihnen gemeinsame Sache machen! Es wird gekauft, bestochen, überall geht es ums Geld und um die Macht und das ist erst der Anfang. Die wollen mich beseitigen, um an Lisa zu kommen!“

Vesna sieht wieder einmal auf die Uhr. „Fünf Minuten. Was ist mit Lisa?“

Jetzt nickt er. Inzwischen ist es dunkel geworden. Menschen, die nach drinnen drängen, dicht an dicht. Irgendwo schlägt eine Glocke. Melodisch. Oder war es ein Handyton? Es ist zu laut, um selbst Glockengeläut eindeutig auszunehmen.

„Ich … war Gymnasiallehrer. Sie haben mich suspendiert. Dabei: Die Parallelen zur Zwischenkriegszeit sind bedrohlich. Noch können wir handeln, gegensteuern, hoffe ich. Aber niemand will die Zeichen der Zeit erkennen. So war das schon damals. Und was ist passiert? Eben. Man weiß nicht, wer schlimmer ist, die Ignoranten oder die Kollaborateure, die ihr Fähnchen nach dem Wind richten, noch bevor er zum Sturm wird.“

„Okay“, unterbreche ich ihn. „Ich glaube, das wird eine lange Geschichte. Wie wäre es mit einem Drink nach dem Konzert?“

Peter Gruber starrt in die Menschenmenge. „Ich kann nicht so lange bleiben. Es ist zu gefährlich. Es wird Zeit, dass der Westen seine Hochnäsigkeit ablegt! Wir haben die Demokratie nicht gepachtet! Wir sind nicht besser oder klüger als die Menschen in Ländern, in denen schon jetzt Krieg ist. Wer kümmert sich noch um Verständigung? Um Dialog und Kompromiss?“

Es scheint mir nachvollziehbar, dass man ihn von der Schule geworfen hat. Im schlechteren Fall ein Verschwörungstheoretiker der besonderen Art. Im besseren ein besessener Weltretter. Klar gibt es beunruhigende Signale. Aber unsere Welt ist groß und bunt, sieht man gerade heute Abend. Sie lässt sich nicht auf Hetzer und ihre Gefolgsleute reduzieren.

„Keine Zeit für Vortrag. Sie kommen besser zum Punkt. Sie sind der doppelte Onkel: von Lisa, der App, und Lisa, der Nichte“, sagt Vesna ungeduldig. Sie bedauert schon, ihm fünf Minuten gegeben zu haben.

„Es geht um die Zusammenhänge! Immer! Verkürzt: Die USP und ihre Freunde in der Regierung haben dafür gesorgt, dass ich freigestellt wurde. Zum Glück hatte ich durch eine Erbschaft ein wenig Geld. Ich brauche nicht viel. Und zum Glück gibt es meine Nichte Lisa. Ohne sie wäre ich an allem, vor allem aber am Tod meiner geliebten Frau, zerbrochen. Sie hat mir die Strichfigur gezeichnet und damit mein Leben verändert.“

„Und deswegen ist man jetzt hinter Ihnen her“, sagt Vesna trocken.

„Es gibt starke Kräfte, die Interesse an der Spaltung der Gesellschaft haben, die gegen das Miteinander arbeiten, früher hat man es Solidarität genannt, oder auch Nächstenliebe. Und es gibt welche, da macht die Gier vor nichts halt. Für die gibt’s nur Geld und Erfolg und Macht. Wenn sie erkennen würden, wohin das führt!“

„Vielleicht es wäre besser, Sie konzentrieren sich auf einen Feind“, wirft Vesna ein.

Er lässt sich nicht beirren. „Algorithmen haben keine Moral! Wenn meine App in falschen Händen ist, dann wird sie pervertiert, statt ums Gute geht’s um Gewinn, statt um Freude geht’s um Datenabzocke! Ich will, dass Menschen etwas ohne Profit und Belohnung tun, einfach anderen eine unschuldige freundliche Figur schicken und alles Gute wünschen, als Zeichen der Verbundenheit, der Gemeinschaft! Das darf nicht verkauft werden! Der Gewinn wird gespendet! Alles nachvollziehbar … Es war gar nicht gedacht, dass man überhaupt etwas damit verdient, aber das ist passiert … Das ist nicht zu stoppen …“

Jemand drängelt durch die Menge, gegen den Strom, nach draußen. Der Schwarm driftet ein wenig auseinander. Unser Psycho zuckt zusammen, sucht nach einer Fluchtmöglichkeit. Hinter uns die Mauer, vor uns die Menschenmasse. Vesna packt ihn, gibt ihm, so gut es geht, Deckung. Ich blende gerne aus, dass sie neben ihrem Reinigungsunternehmen noch einen anderen Erwerbszweig hat. Personenschutz, inzwischen ganz legal, während das Detektivische irgendwo in der Grauzone mitläuft. Auch dabei geht es ums Sauberhalten, sagt sie. Ich versuche mich zu ducken. Ist schwierig, ich bin um einen halben Kopf größer als Vesna. Die Menge spuckt aus, was da konträr unterwegs war.

Der Gesichtsausdruck meiner Freundin wechselt von gespannter Aufmerksamkeit zu freudigem Strahlen. Hans. Ihr Hans. Im Bühnenoutfit, die weißen Haare eher struppig, Jeans, eine Lederjacke, mit der er schon vor einem halben Jahrhundert am Schlagzeug gesessen ist. Damals, als er noch nicht davon ausgegangen ist, dass seine Musikerkarriere von vierzig Jahren Autohandel unterbrochen sein würde.

Er ist bestens gelaunt, wehrt Huldigungen und Autogrammwünsche ab. „Ich muss meine Liebste einfangen“, sagt er. „Sonst geht sie mir durch, das macht sie gerne!“ Die Leute lachen. Vesna, die immer coole, fast immer kühle Vesna, wirft sich ihm an den Hals, lacht auch. „Dem renn ich nicht davon! Nie!“

Hans küsst sie. „Ihr wolltet vor dem Pausenende vorbeischauen, anstoßen, gleich geht’s weiter …“ Er ist aufgekratzt, glücklich. „Sie können gern mitkommen“, sagt er zum doppelten Onkel. Statt Spaltung ganz viel fröhliches Miteinander, vielleicht entspannt das selbst ihn.

Der freilich schaut an Hans vorbei. Schnappt nach Luft, duckt sich. „Ich muss weg! Sofort! Ich … Man kann niemandem mehr trauen, niemandem!“

Hans sieht Vesna fragend an.

„Wir reden am Mittwoch, okay? In ‚Sauber, Reinigungsarbeiten aller Art‘, in Vesnas Firma“, schlage ich vor. Anstoßen mit den Musikern klingt großartig.

„Nein! Das ist viel zu gefährlich!“

„Das ist in Wien!“

„Darum geht’s nicht.“

„Dann bei ‚Auf die Palme!‘, der Location im ehemaligen Autohaus US-Speed. 14 Uhr. Da ist niemand. Außer uns.“

„Ist meine ehemalige Firma“, ergänzt Hans.

Liegt es an ihm, dass Peter Gruber nickt? Jedenfalls scheint er nicht zu wissen, dass Vesnas Unternehmen gleich im Haus dahinter ist. Ob er wirklich kommen wird? Kann mir egal sein, jetzt gibt’s einen Backstage-Drink und dann großartige Musik.

Der ehemalige Lehrer starrt mit eingezogenem Kopf an uns vorbei, er fingert ein Kuvert aus der Jackentasche, gibt es Vesna. Er rennt los, den steilen Weg nach unten, touchiert beinahe einen Baum, dann ist er schlossbergabwärts verschwunden.

„Und was war das jetzt?“, fragt Hans.

„Der Onkel von zwei Lisas“, murmle ich.

Unterdessen hat Vesna das Kuvert geöffnet. Geldscheine. Sie zählt. „Das sind zehntausend Euro. Und ein Zettel, auf dem ‚Anzahlung‘ steht. Samt Telefonnummer.“

[ 2. ]

Unser Kater Vui weicht mir nicht von der Seite, er verfolgt jede meiner Bewegungen mit konzentrierter Aufmerksamkeit. Kein Wunder. Ich stehe in der Küchenzeile unseres weitläufigen Wohnraums. Beim Kochen kann immer etwas abfallen. Und er kennt Methoden, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen.

In einer halben Stunde wird Oskar heimkommen. Wenn ihn kein zeitraubender Klient daran hindert. Anders als Vesnas Liebster dürfte er bei seinem Beruf bleiben. Er ist Wirtschaftsanwalt. Seine kleine Kanzlei hat einen ausgezeichneten Ruf. Er kann sich seine Klienten aussuchen und er kann es sich leisten, das nicht bloß nach der Höhe des Honorars zu tun. Hans hat sich fürs Abenteuer entschieden. Nicht nur er, auch Vesna wirkt verjüngt. Ein Autohändler, der als Musiker neu durchstartet. Vollgas der anderen Art. Schon lange her, dass wir ihn kennengelernt haben. Im Fall rund um Evelyn war er einer unserer Hauptverdächtigen. In einem Maybach ist er vorgefahren, ist zu dieser Frau in dem abbruchreifen Häuschen, die einmal zu oft Pech gehabt hat. Und doch einst eine vielversprechende Sängerin war. – Ob ich möchte, dass auch Oskar ausbricht? Den Alltag sein lassen … klingt verlockend. Auch wenn ich zugebe, dass ich eher fürs bequeme Leben bin. Und eigentlich genug Aufregung habe. Immer wieder. Herr Anwalt Kellerfreund würde dafür plädieren, dass ich den einen oder anderen gut recherchierten Artikel schreiben und ansonsten einsehen sollte, dass sich die Welt auch ohne meine Einmischung weiterdreht.

Es passt schon, wie es ist. Zumindest im Großen und Ganzen. Und was die schönen Seiten des Lebens angeht, so bietet sich zum Beispiel ein gutes Essen an. Heute Abend werde ich einiges von dem zubereiten, was ich am Grazer Kaiser-Josef-Markt gekauft habe. Regionales. Aus eigener Erzeugung. Ich mag den Dialekt steirischer Marktstandlerinnen. Andere nennen es Gebell, für mich ist es freundlicher Zuspruch. „Käferbohnen“ klingt nach Käfern. Aber „Kaeiifabooana“, mit vielen genussvoll lang gezogenen Vokalen, das klingt nach Verlockung.

Die dicken dunklen Bohnen, die ich gestern gleich nach meiner Rückkehr eingeweicht habe, köcheln – natürlich ohne Salz, sonst würden sie nie weich – zugedeckt auf dem Herd. Weil sie doch recht üppig sind und Oskar nicht gerade ein Fan von grünem Salat, habe ich mir etwas anderes überlegt: saure Äpfel. Hat Anklänge an die russische Küche. Ich brate fingerdicke Apfelscheiben kurz in einer Pfanne an, beträufle sie mit weißem Balsamico und lasse sie kalt ziehen. Es gibt welche, bei denen ist inzwischen alles Russische tabu. Was kann die gute Küche, was können russischstämmige Menschen, gerade auch Regimegegner, für einen psychopathischen Despoten?

Gegen die Spaltung, für mehr Miteinander. So soll die App von Peter Gruber wirken. Einigermaßen naiv. Auch wenn ich sie selbst verwende. Ganz abgesehen davon, dass es die eine große Spaltung, so als würde ein Land, jedes Land, in der Mitte mit einem Beil durchgehauen, nicht gibt. Stattdessen gibt’s viele Konflikte, vielleicht mehr als früher. Und auch Selbstgerechte, die deutlich mehr Möglichkeiten haben, sich zu äußern, als in vergangenen Jahrzehnten. Ich habe vor kurzem eine Soziologin interviewt, die davon ausgeht, dass „die Spaltung der Gesellschaft“ ein Konstrukt derer ist, die sie eigentlich befördern wollen. Darüber zu reden schüre Unsicherheit, Angst. Wir alle, oder fast alle, wollen eigentlich Freude, Friede, Eierkuchen – nur eben ein ganz besonders großes Stück davon für uns selbst, hat sie gesagt. Würden wir lernen, mit genug zufrieden zu sein, dann hätten die Spalter ein schweres Leben. Und jene, die wirklich zu wenig haben, die Chance auf mehr. Auch bloß eine These, aber sie hat mir gefallen.

Meiner Chefredakteurin war sie zu sozialromantisch. Sie wollte das mit der Spaltung, die uns von den Hetzern aufs Aug gedrückt werden soll, in den Mittelpunkt stellen. Erinnert mich an einen alten Kinderspruch, habe ich geantwortet: Wer es sagt, der ist es selber! Sie hat mich irritiert angesehen. Sie ist aus der Computer- und Handygeneration. Wir sind als Kinder im Hof herumgetollt und wenn die eine die andere eine „blöde Kuh“ geschimpft hat, war es am coolsten zu antworten: „Wer es sagt, ist es selber!“ Sam hat gelacht und mir eine Old-School-Anti-Stalking-Kolumne vorgeschlagen. Sie hat Ecco, ein Onlinemedium mit Qualität, aufgebaut und sie hält es ziemlich gut am Laufen. Inzwischen gibt’s auch einen europäischen Verbund an Ecco-Ausgaben. Unter anderem in Italien, was mir besonders lieb ist. Allein dafür sollte ich ihr dankbar sein. Ansonsten hat sie eben einen etwas anderen Blick aufs Leben als ich. Um Versöhnliches zu denken. Die Sache mit Gruber, seiner Lisa und seiner Angst wäre eigentlich eine Story, die gut für Ecco passen würde. Vorausgesetzt, ich recherchiere noch einiges nach. Ich bin gespannt, ob Peter Gruber am Mittwoch aufkreuzt. Eine Anzahlung von zehntausend Euro ist ein starkes Indiz dafür.

Vui wummert mir seinen dicken Kopf in die Kniekehle. Ich bin nicht klein, trotzdem braucht er sich dafür nicht zu strecken. Unser weißer Maine-Coon arbeitet in der höchsten Katzenklasse. Gewichts- und größenmäßig. Fast wäre ich eingeknickt. Vor mir am Brett liegt ein zart geräuchertes Schweinsfischerl. Noch so etwas nett Steirisches. Hat nichts mit Fisch zu tun, auch wenn es, mit viel Fantasie, ein wenig so aussieht. Es war der gängige Ausdruck für das Filet vom Schwein. Vor grenzüberschreitendem Fernsehen und Streaming. Kein Grund zu raunzen. Dafür sind neue Wörter zu uns gekommen. Sprache lebt. Trotzdem möchte ich das eine oder andere vor dem Aussterben bewahren. – Ob Peter Gruber das mit dem „Beseitigen“ wörtlich gemeint hat? Oder ist er doch in erster Linie ein Neurotiker?

„Die können allerdings auch Todesangst haben“, sage ich zu Vui. Er sieht mich unerschrocken mit seinem blauen und seinem braunen Auge an. Was er will, ist eine Kostprobe vom Schweinsfischerl, wie immer ich das Teil auch nenne. Er soll nicht betteln, also ein Kompromiss: Ich schneide zwei Scheibchen für ihn, zwei Scheibchen für mich ab und lege seine in die Futterschüssel. Weil er mir so interessiert beim Denken zuschaut. Sekundenbruchteile später sind die Stücke weg und er sieht mich an, als hätte es sie nie gegeben.

Der Hühnerfond steht bereit, die Burrata lasse ich in einer Schüssel abtropfen. Für dieses Gericht sollte sie zimmerwarm sein. Bis Oskar kommt, könnte ich das eine oder andere im Internet nachsehen. Er hat mir versprochen, etwas über die Stiftung herauszufinden, von der ich auf der Homepage zur Lisa gelesen habe. „Lisa wünscht Alles Gute“ heißt die App im Wortlaut. Damit man sie in den App-Stores nicht verwechseln kann. Weil es viele Applikationen gibt, die beliebte Mädchennamen wie Lisa, Lena, Sara oder Mia verwenden. Unter den FAQ wird erklärt, warum man bloß das fixe Logo mit der lächelnden Strichfigur samt dem Text „Alles Gute“ verschicken kann: um sicherzugehen, „dass diese einfache Botschaft für ein besseres Miteinander nicht missbraucht oder verfälscht werden kann“. Allerdings gibt es sie inzwischen in mehr als fünfzehn Sprachen. Wer möchte, kann ohnehin, je nach Medium, noch etwas dazuschreiben: hängt eben davon ab, ob man via E-Mail oder WhatsApp oder Threema oder TikTok postet. Wie viel verdient man mit so einer App? Der Download kostet einen Euro, ich habe sie geladen und dabei nicht daran gedacht, wie viele es sonst noch tun. Und, ich gebe es zu, ich habe mich auch nicht darum gekümmert, welche Berechtigungen ich dem Anbieter durch den Download erteilt habe. Sollte man tun, das weiß ich von Fran, Vesnas schlauem Sohn.

Im Netz kursieren Gerüchte, Gruber sei längst Multimillionär und habe sich deswegen aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Er sei ein Betrüger, ihm gehe es nicht um Verständnis und Miteinander, sondern ums Geld. Das Logo sei patentiert und jeder, der es nachmache, werde erbarmungslos verklagt. Jetzt, wo so einiges klar werde, entziehe er sich der Kritik. So seien sie eben, die „Eliten“, die „uns arbeitende Menschen an der Nase herumführen“. Es gibt auch Postings, die radikaler sind. Mit Heuchlern und Hetzern solle man „kurzen Prozess“ machen. Ich habe bei weitem nicht alles gelesen, was in den Suchmaschinen aufgepoppt ist. Es tut mir nicht gut zu sehen, wie gewisse Menschen ticken. Und der Erkenntnisgewinn geht gegen null.

Ich öffne die Lisa-App auf meinem Smartphone. Viel kann man, können wohl auch die Betreiber, nicht damit anstellen. Ein einfaches Tool, so wie Peter Gruber gesagt hat. Man kann das Logo auf den gewünschten Kommunikations-Kanal laden und wünscht jemandem „Alles Gute“, lächelnde Strichfigur inklusive. Ob seine Nichte sie genau so gezeichnet hat? Ist wohl nicht wichtig. Es funktioniert. Sie stimmt fröhlich, freundlich. Wie hat Gruber bei den Kasematten gesagt? Er hat die Zeichnung gesehen und sich gedacht, dass gute Wünsche vielleicht mehr Positives bewirken als mahnende Worte. Ist er ein Heuchler? Der Hinweis in der App, dass man auch Karten, T-Shirts und Polster mit dem Lisa-Logo bestellen kann, ist mir bisher entgangen. Ein bisschen Zusatzgeschäft soll also mit all den guten Wünschen doch gemacht werden. Ich suche nach einem Bestell-Button und finde stattdessen den Hinweis: „Ordern können Sie die analogen Lisas über unsere Homepage, niemand soll durch einen schnellen Klick zu einem Einkauf verleitet werden.“ Zu gut, um wahr zu sein? Vielleicht können die Betreiber durch den Aufruf der Homepage auf andere, auf mehr Daten zugreifen. Ich nehme mir vor, Fran danach zu fragen.

Ein Klick auf meinen App-Store. Die Lisa-wünscht-Alles-Gute-App wird mit „mehr als 4 Mio. Downloads“ ausgewiesen. Macht mehr als vier Millionen Euro. Dazu die Gewinne aus dem Onlineshop – wer immer sich so einen Polster bestellt. Und natürlich die aus den anderen App-Stores. Insgesamt werden es wohl zwischen sechs und acht Millionen Downloads sein. Vorsichtig geschätzt.

Da steht auch etwas zum Thema Datensicherheit: „Die Datenschutz- und Sicherheitspraktiken können je nach Verwendung, Region und Alter des Nutzers variieren. Diese Informationen wurden vom Entwickler zur Verfügung gestellt und können jederzeit von ihm geändert werden.“ Kurz zusammengefasst: Alles ist möglich, besser, du liest das Kleingedruckte. Da erzählt der App-Store etwas über geteilte Daten, personenbezogene Daten, App-Interaktionen. Und davon, dass die Daten bei der Übertragung verschlüsselt werden. Wer sieht sich so etwas genau an und überlegt, was es bedeutet? Ich bisher nicht. Ohne Interpretation durch unseren Experten Fran würde ich wohl auch nicht schlau daraus. Aufs Erste scheint es, als würde die Lisa-App nicht viel an Daten nutzen, aber so manches ist anders, als es scheint. Als es mir scheint. Datenverkauf. Noch etwas, mit dem Peter Gruber bei Millionen an Downloads verdient haben könnte. Wie viel? Keine Ahnung.

Ich öffne meinen Laptop und bin zehn Minuten später auch nicht klüger. Wie filtere ich aus der Menge an Vorschlägen und Informationen das, was ich brauche? Wenn ich „Gewinn durch Datenverkauf“ eingebe, poppen zuallererst Suchergebnisse von Unternehmen auf, die mir erklären, wie ich meinen Gewinn vergrößern kann, wenn ich die richtigen Daten kaufe. Erst deutlich weiter unten gibt’s einen Eintrag unter „Die wertvollste Ressource der Welt? Eventuell Daten“. Angeblich verdienen die Social-Media-Giganten rund zwei Cent pro Minute genutzter Bildschirmzeit. Und wenn ich mehr als eine halbe Stunde auf ihrer Plattform bin, steigert sich das noch.

Ich seufze. Auch das klingt plausibel, aber ich kann es nicht nachvollziehen. Klar ist wohl: Lisa hat Peter Gruber reich gemacht. Mit oder ohne Datenverkauf. Glücklich scheint er nicht zu sein. Im Gegenteil. Er hat Angst. Oder hat er uns das nur vorgespielt? Um unbehelligt untertauchen zu können? Als Teil eines größeren Plans?

Ich freue mich auf Oskar. Nicht, dass er mehr von Online-Umtrieben versteht, eher im Gegenteil. Aber er denkt so strukturiert. Während mein Gehirn zum Mäandern neigt. Außerdem kann ich mich dann auf die schönen Dinge des Lebens konzentrieren. Wie Kochen und Essen. Ich stehe auf und sehe mich nach Vui um. Wenn er nicht frisst, hat unser Kater zwei Lieblingsplätze: Der eine ist der Korb mit den alten Zeitungen. Der andere ist mein Laptop. Am besten aufgeklappt. Die logische Erklärung ist wohl, dass das Gerät so mehr Wärme abstrahlt. Das mag er. Die andere: Unser Kater ist die Reinkarnation eines Reporters, vielleicht sogar eines Schriftstellers. Ich tendiere zu Egon Erwin Kisch. Oskar zu Kafka. Vui schreibt manchmal geheimnisvolle Botschaften auf dem Laptop. Und er ruht auf bedrucktem Papier. Vielleicht kann er im Schlafen lesen. Seit ein Kollege von Oskar geglaubt hat, wir meinen das ernst, sagen wir immer dazu, dass wir Seelenwanderung trotzdem für eher unwahrscheinlich halten. Obwohl … so wie mich Vui ab und zu ansieht …

Ich finde unseren Kater zwischen Herd und Kühlschrank. Er liegt eingekringelt auf einem Geschirrtuch. Und hofft wohl eher auf Futter als auf geistige Nahrung. Wir sollten recherchieren, welcher Schreiber verfressen war. Welcher bedeutende Schreiber. Weil dass es sich nicht um irgendeinen Provinzjournalisten handeln kann, der in unserem prächtigen Vieh wiederauferstanden ist, darüber sind wir uns einig.

Vui hebt den Kopf, als ich die Kühlschranktür öffne. Zwiebel, Knoblauch, Kren: Daran hat er wenig Interesse. Beleidigt trabt er davon. Mise en Place. Die hat bei unserem letzten Fall eine gewisse Rolle gespielt. Manningers wunderbares Gasthaus „Apfelbaum“. Wir sollten wieder mal hin. Zum Hauptgang wird es Safran-Fregola geben. Ich werde diese köstlichen handgerollten Pasta-Kügelchen aus Sardinien wie Risotto zubereiten. Also brauche ich fein geschnittene Zwiebel und etwas Knoblauch. Hühnerfond hatte ich noch im Tiefkühler, ein Rest trockener Weißwein steht auch bereit.

Die Käferbohnen sind inzwischen weich. Wie immer habe ich zu viele gekocht. Die eine Hälfte fülle ich mit ein bisschen Kochwasser in eine Glasbox. Darüber Salz und ein Spritzer Essig, das konserviert. Ich lege jeweils drei Balsamico-Apfelringe auf große flache Teller und streue die lauwarmen Bohnen darüber. Naturbelassenes Meersalz, Pfeffer, noch etwas vom weißen Balsamico. Das Kürbiskernöl kommt erst vor dem Servieren drauf. Lässt man es zu lange verlaufen, erinnert es doch stark an grünliche Wagenschmiere.

Ich sehe zum Laptop. Und lächle amüsiert. Vui hat seinen Lieblingsplatz bezogen. Vielleicht hat er sogar etwas geschrieben. – Habe ich den Computer deswegen offen gelassen? Wie muss man drauf sein, wenn man schon darauf hofft, dass einem der Kater neue Inspiration bringt? Ich gehe zum Tisch und pflücke unser Tier herunter. Schwer ist er immer. Aber er kann sich noch schwerer machen, wenn er keine Ortsveränderung möchte. Interessiert sehe ich auf den Bildschirm.

Uuuuuuuuuuuuusppp…grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr

So klar war er noch selten. Ich kraule Vui zwischen den Ohren. USP. Die Union der Sozialpatrioten. Und grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr heißt wohl, er mag die auch nicht. Wer weiß, ob diese Partei, die sich als „neue Volksbewegung“ bezeichnet, einen Kater mit einem braunen und einem blauen Auge für rassisch einwandfrei hielte. Grrrrrrrrr könnte natürlich auch Gruber bedeuten. Oder alles beide. Vielleicht gar nicht so schlecht, wenn mein Hirn mäandert.

Es gab einen Eklat rund um Peter Gruber, der ursprünglich an mir vorbeigegangen ist. Ich glaube, wir waren damals gerade in Sardinien, im Haus einer lieben Freundin. Auszeit von vielem, auch von der österreichischen Innenpolitik. Wobei die italienische nicht besser ist, nur kriegen wir da weniger mit.

Dass sich der Ex-Geschichtslehrer und Neo-IT-Unternehmer schon vor einiger Zeit aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, dafür gab es einen Anlass: Er war Gast in einer der bekanntesten deutschen Talkshows. Sie trug den Titel „Was tun gegen die Spaltung der Gesellschaft?“. Er wollte seine Lisa-App im besten Licht präsentieren: gute Wünsche als Mittel für ein neues Miteinander. Doch dann hat ihn der Moderator offenbar gefragt, ob er nicht selbst so sehr polarisiert habe, dass man ihn aus dem Schuldienst entlassen musste. Laut Medienberichten hat sich Gruber damit verteidigt, dass er bloß die bedrohlichen Parallelen zur Zwischenkriegszeit behandelt habe, das gehöre zur Zeitgeschichte, das sei seine Aufgabe als Lehrer gewesen. Und wer spaltet dann eigentlich, soll der Moderator weitergefragt haben. Klimakleber? Seenotretter? Die USP? Wohl eher die USP und vergleichbare Gruppierungen, war Grubers Antwort. Dann soll er die Sozialpatrioten mit den Nazis verglichen haben. Der Sprecher der deutschen USP hat ihn flugs „den größten Hetzer und Spalter“ genannt. Und einen Heuchler, der „den Menschen Millionen aus der Tasche zieht“. Die App kostet einen Euro. Zählt man alles zusammen, ergibt das freilich Millionen. Habe ich vorher nicht gerade ähnlich gerechnet? Was folgte, war so etwas wie ein Shit-Hurricane. Es gab erstaunlich wenige, die Gruber in Schutz genommen haben. Man hält sich bedeckt, wenn es um Internet-Tycoons geht. Sie haben einen noch schlechteren Ruf als andere Millionäre. Viel Geld zu haben wird nur Celebritys verziehen. So wie dieser Sängerin mit den zwei Privatjets. Ich will wissen, was in dieser Talkshow genau gesagt wurde. Irgendwo im Netz werde ich sie finden.

Aber nicht jetzt. Ich klappe den Laptop zu, streichle Vui, um mich noch einmal zu bedanken. Er schnurrt. Vielleicht ist er lieber Kater als Redakteur. Ich gehe in die Küchenzeile und stelle den Topf mit dem Hühnerfond zu. Ich habe Hunger. Oskar ist inzwischen überfällig. Wobei: Wir wollten nie das alte Ehepaar werden, bei dem alles seine feste Zeit und Regel hat. Das Essen und der Urlaub und vielleicht sogar der Sex. Sind wir auch nicht geworden. Immerhin. Und Oskar als Rocker: kann ich mir nicht vorstellen. Andere Eskapaden, die vielleicht besser zu ihm passen würden, fallen mir auch keine ein. Zum Glück.

Als mich etwas hinter dem Ohr berührt, zucke ich zusammen. Mein Mann gibt einen erstaunten Laut von sich. Üblicherweise klingelt er, bevor er die Eingangstür aufschließt. Hat mit seiner Art von Höflichkeit zu tun, nicht einfach in ein Leben zu platzen, auch nicht in meines.

„Wen hast du erwartet?“, fragt er.

„Niemanden … Ich dachte gerade an Eskapaden. Und dass ich mir bei dir keine vorstellen kann.“

„Nicht besonders schmeichelhaft.“

„Sehe ich anders … Geht die Türklingel nicht?“

„Die Tür war bloß angelehnt. Ich dachte, du bist vielleicht in der Arbeitswohnung und hast vergessen …“

Angelehnt? Ich runzle die Stirn. Ich war drüben. Vor mehr als einer Stunde. Um den Laptop zu holen und dann mit den Essensvorbereitungen zu beginnen. Ich habe die Tür nicht geschlossen?

„Kann schon mal passieren“, murmelt Oskar und stellt seine abgewetzte Aktentasche auf die Vorzimmertruhe.

„Für so etwas bin ich noch zu jung“, behaupte ich.

„Hat wohl weniger mit Alter als mit Ablenkung zu tun.“

Vui. Klar. Der wollte ins Stiegenhaus. Ich konnte ihn gerade noch einfangen und dann … egal. Die Kaeiifabooana rufen.

Wenig später schnappt Oskar nach Luft und hält sich die Nase zu. Ich habe nicht nur reichlich Kernöl über die Bohnenvorspeise geträufelt, sondern auch viel frischen Kren darauf gerieben. Offenbar etwas zu viel.

„Putzt durch“, sage ich.

Er versucht zu lachen. Tränen in den Augen. „Du bringst mich zum Weinen“, prustet er.

„Ich bringe dich zum Lachen“ widerspreche ich.

„Alles zusammen. Typisch. – Die Bohnen sind großartig. Der Sitz der Alles Gute AG ist übrigens nicht Graz, sondern ohnehin Wien.“

Ich runzle die Stirn. „Warum war Gruber dann am Grazer Schlossberg? Niemand hat gewusst, dass wir dort sind.“

„Niemand? Da kann man sich nicht sicher sein. Und damit meine ich gar nicht Social Media. Man braucht doch nur in Vesnas Firma anzurufen. Oder man weiß, dass Hans Tobler ihr Mann ist und zählt zwei und zwei zusammen.“

„Du meinst, es ging ihm darum, Vesna zu treffen?“

„Und nicht dich?“ Oskar sieht mich nachdenklich an. „Wirkt eher wie ihr Metier, oder? Er wollte dir als Journalistin wohl kaum zehntausend Euro zustecken.“

„Wenn, wäre es ein großes Missverständnis. Klar ist, dass er mit der Lisa-App Millionen verdient hat. Und mit dem ganzen Drumherum noch zusätzlich.“

Oskar teilt einen Apfelring, legt eine große Bohne darauf, etwas vom Kren. Ich liebe es, wenn er so sorgsam isst, statt alles in sich hineinzustopfen. „Du solltest Umsatz nicht mit Gewinn verwechseln. Wobei … die Sache scheint wirklich gut zu laufen.“

„Er hat gesagt, dass es nie darum gegangen sei, mit der App Geld zu verdienen. Und dass er alles spenden will. Gibt es tatsächlich eine Stiftung?“

„Es ist jedenfalls keine gemeinnützige Stiftung“, murmelt Oskar. „Bei der Alles-Gute-Privatstiftung hat er sich einiges offengelassen.“

„Mir ist die ganze Sache gleich etwas zu … gut vorgekommen“, stelle ich klar.

„Der Geschäftsführer der Stiftung ist ein gewisser Christof Beck. Steuerberater. Ich kenne ihn nicht. Er ist auch im Vorstand. Die anderen Vorstände sind Alexander Silvestri, der persönliche Assistent von Gruber, und Gruber selbst.“

„Wirkt wie klassische Verschleierung. Die tun, was Gruber will.“

„Kann sein, muss es aber nicht. Gruber ist auch der Stifter. Zweck der Stiftung: Der Gewinn der Alles Gute AG muss an gemeinnützige Einrichtungen zum sozialen Ausgleich und besseren Miteinander gehen. Abgesehen von fünfundzwanzig Prozent, die für seine Nichte Lisa bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag verwaltet werden.“

„Wow – wie hast du das so schnell herausgefunden?“

„Stiftungserklärungen stehen im Firmenbuch und sind öffentlich.“ Oskar lächelt.

„Jedenfalls hat Gruber mit der App und allem drum herum nicht nur Umsatz, sondern auch Gewinn gemacht, sonst hätte er ja gar keine Stiftung gründen können“, füge ich hinzu. So ganz ahnungslos bin ich in diesen Dingen auch nicht.

„Na ja. Das mit den Stiftungen geht in Österreich leichter, als die meisten glauben. Man braucht weniger als hunderttausend Euro. Und eine halbwegs korrekte Stiftungserklärung.“

„Wie passt das mit dieser AG, von der du geredet hast, zusammen?“

„Er braucht ein Unternehmen, in welcher Gesellschaftsform auch immer. Das operative Geschäft kann man über eine Stiftung nicht abwickeln. Die Alles Gute AG gehört übrigens zum ganz überwiegenden Teil Peter Gruber, der auch Vorstandsvorsitzender ist.“

„Lass mich raten: Geschäftsführer ist wieder dieser Steuerberater.“

Oskar lächelt. „Beck und Silvestri besitzen je fünf Prozent an der AG. Das Unternehmen ist klein, ich schätze mal, dass es weniger als zehn Beschäftigte gibt.“

„Das geht sich aus, mit Onlineshop und App und Millionen Downloads?“

„Alles ausgelagert. Bis hin zum Putzdienst.“

„Vielleicht könnte Vesna auf diesem Weg einmal nachschauen …“

„Die alte Putzfrauen-Nummer? Sie macht sauber und schnüffelt rum? Ich glaube nicht, dass die so naiv sind. Wenn sie etwas zu verbergen haben.“

„Ist wohl naheliegend, bei dieser Konstruktion“, werfe ich ein und stehe auf. Wie bequem, dass unser Wohnbereich aus einem einzigen großen Raum besteht. So kann ich das Fregola-Risotto rühren und gleichzeitig mit Oskar reden.

„Auslagern: Das machen viele so, gerade im Digitalbereich“, meint er.

Ich lasse die fein geschnittene Zwiebel in etwas Butter und Olivenöl glasig werden, rühre Fregola und gehackten Knoblauch ein und lösche wenig später mit Weißwein ab. Ein naiver Weltverbesserer scheint Gruber jedenfalls nicht zu sein. – Andererseits: Warum sollte jemand, der eine gute Idee hat, sie nicht auch möglichst gut umsetzen?

„Stimmt es eigentlich, dass er die App hat patentieren lassen und alle verklagt, die sie kopieren?“, frage ich.

„Mira, mein Tag hat lange nicht so viele Stunden, wie es Zeug gibt, das irgendwo behauptet wird. Es gibt kein Patent auf eine App. Zumindest nicht auf so eine.“

„War also Fake.“

„Es gibt so etwas Ähnliches. Die AG hat die Wort-Bild-Marke des Logos schützen lassen. Weltweit.“

„Ist das üblich?“

„Wenn man an die Marke glaubt und daran, dass sie weltweit von Interesse sein könnte, dann ja.“

„Naiv und wirr wirkt das nicht. Eher geschäftstüchtig.“

„Oder vorsichtig. Ich verstehe bloß nicht, warum man jetzt schon eine App braucht, um jemandem alles Gute zu wünschen. Von Angesicht zu Angesicht ist das doch deutlich persönlicher“, überlegt Oskar.

„Das schlagen sie auf ihrer Homepage vor“, gebe ich zurück. „Sie sagen, die App sei bloß ein Hilfsmittel, ein Tool, wenn man nicht genau weiß, wie und wann und wo.“ Ich ergänze die Fregola mit einem großen Schöpfer kochender Suppe und rühre um. Safranfäden dazu, einen Hauch Cayenne. Und einen Zweig Thymian. Zum Glück haben wir viele Kräuter auf unserer Dachterrasse.

Ich stoppe am Tisch und nehme einen Schluck Wein. Sardischer Vermentino wäre zur Fregola ideal gewesen, aber auch in Österreich wächst mehr als genug, was uns schmeckt. Eva und Martina Berthold. Mutter und Tochter, die im Weinviertel großartige Weine produzieren. Denen wir seit vielen Jahren, nicht nur deswegen, verbunden sind.

„Der Veltliner ist köstlich“, sage ich und proste Oskar zu. „Wir sollten zu Eva. Nicht nur, um Wein zu kaufen. Auch um mit ihr wieder einmal zu plaudern. Und ihr zu sagen, wie toll ihr DAC schmeckt. Gute Worte. Ganz analog.“

Oskar nickt. „Wenn ich mit jemandem rede, kann ich erkennen, wie er zu mir steht. Online schickt man mir eine grinsende Strichfigur und ich soll glauben, dass das gut gemeint ist.“

„Vielleicht ist es einfach besser als nichts. Ich habe meiner Cousine vor kurzem eine Lisa gepostet. Ich hatte ewig keinen Kontakt mit ihr, so musste ich nichts erklären, aber sie hat doch gesehen, dass ich an sie denke. Vielleicht meldet sie sich zurück. Ich würde gerne wissen, wie es ihr geht.“

„Du kannst sie anrufen.“

„Wäre mir zu … ich weiß nicht. Zu verbindlich. – Ganz abgesehen davon: Wenn wir im persönlichen Kontakt wirklich erkennen könnten, wie jemand tickt, dann gäbe es keine Lügen, Täuschungen, Betrügereien.“

Oskar lächelt. „Du hast recht. Aber du wirst zugeben, dass das online mehr geworden ist.“

„Warum soll es im Netz nicht auch Gutes geben?“

„Du selbst hast den Verdacht, dass zumindest bei Alles Gute nicht alles so gut ist, wie es scheint.“

„Ja. Andererseits … Peter Gruber hat sich gegen die USP engagiert und ist dafür sogar von der Schule geflogen“, murmle ich.

„Soviel ich mitbekommen habe, ist er allen auf die Nerven gegangen. Statt Geschichte zu unterrichten, hat er von den bedrohlichen Parallelen zur Zwischenkriegszeit schwadroniert und überall Zeichen eines neuen Weltkriegs gesehen. Ich halte Zeitgeschichte für wichtig. Es sollte mehr davon geben. Aber den Lehrplan zu ignorieren und sonst nichts mehr zu unterrichten, das geht eben nicht. – Es ist genau das, was mich an Social Media so nervt: Alles wird zugespitzt, da gibt es nur mehr Freund oder Feind. Für die einen ist Gruber ein Held, der gegen die neuen Rechten aufsteht. Für die anderen ein Hetzer, der sein Volk oder was immer verrät.“

„Du hast also auch ein wenig recherchiert? Dafür ist das Internet gar nicht so unpraktisch, oder?“ Ich schiebe die gläserne Terrassentür auf. Kühler Wind. Die Tage werden kürzer. Am Grazer Schlossberg war die Luft erstaunlich mild. Die Stadt hat südliches Flair. Oder war es einfach unsere Stimmung? Sagt man nicht, dass einem warm ums Herz werden kann? Was für ein schöner Abend. Das Auftauchen von Peter Gruber war bloß ein seltsames Intermezzo. Ich breche einen großen Zweig Thymian ab. Die Lichter von Wien. Immer wieder faszinierend. Wie viel Glück wir haben, so leben zu dürfen. Ich schließe die Terrassentür und achte darauf, dass Vui nicht ins Freie entwischt. Manchmal neigt er zu Kamikazeaktionen und geht am Geländer zwischen den Töpfen spazieren.

„Gute Wünsche sind gute Wünsche“, sage ich zu Oskar.

Er sieht mich irritiert an. „Und das ist ein Friedenszweig?“

„Das ist Thymian. Ob online oder nicht, es kann nicht schaden, wenn man anderen alles Gute wünscht. Und was das Drumherum angeht …“ Ich unterbreche und mache einen raschen Satz zum Herd. Gerade noch rechtzeitig, bevor meine Safran-Fregola angebrannt wäre. Mit einem großen Schöpfer Hühnerfond aufgießen, umrühren.

Die Türklingel.

Wenig später sitzt Vesna bei uns am Tisch. Hans habe Probe, EverLyn seien dabei, ihr Programm auszuweiten, auch eine CD und eine Vinylscheibe seien geplant. „Ich wollte das lieber nicht am Telefon besprechen.“

„Dass sie eine Platte herausbringen? So top secret ist die Band schon?“

Meine Freundin schüttelt ungeduldig den Kopf. „Peter Gruber. Das zumindest ist klar: Wir haben wirklich mit ihm geredet und nicht mit einem Hochstapler.“

Ich schenke ihr ein Glas Wein ein. „Wir wissen sogar etwas mehr.“ Es macht mir Freude, sie auf den neuesten Stand zu bringen. Ist nicht so häufig, dass ich einen Informationsvorsprung habe. Dank Oskar.

Zurück zum Herd. Die Fregola ist gerade richtig. Die Teigkügelchen sind gegart, aber noch bissfest. Die Konsistenz des Safran-Hühner-Fonds ist dickflüssig, er steht etwas über der Pasta. Ich weiß, dass er noch anzieht. Induktion auf Warmhaltestufe. Etwas milden Hartkäse darüber reiben und gemeinsam mit einigen Butterwürfeln unterrühren. Gute Wünsche. Freundliche Gedanken. Und sie auch aussprechen. Oder schreiben. Danke sagen. Vielleicht wäre besseres Zusammenleben wirklich so einfach? Allerdings braucht es dafür ein Gegenüber, das Ähnliches will.

Ich schöpfe die safrangelbe Fregola in drei vorgewärmte tiefe Teller, verteile cremige Burrata-Stücke darauf und umkränze es mit Scheiben vom geräucherten Schweinsfischerl. Vui wird mit einem Beutel seines Lieblingsfutters ruhiggestellt.

So essen wir ungestört. Friedlich, im Einvernehmen. Eine Zeit lang, nach angenehm viel Lob für mich, schweigend.

„Rezepte gegen die Spaltung“, sage ich dann.

Oskar legt die Gabel auf den Tellerrand. „Wir sind nicht gespalten.“

„Sagt die Philosophin auch, die ich vor kurzem interviewt habe.“

„Geheimstudie über uns?“

Ich lächle. „So schlimm ist es noch nicht.“

„Rezepte gegen Spaltung klingt gut. Und schmeckt gut. Vielleicht du sollst das Gruber anbieten. Zur Ergänzung“, schlägt Vesna vor.

„Besser gutes Essen als eine App fürs Gute“, assistiert Oskar.

„Nur …“, überlegt Vesna. „Warum ich eigentlich hier bin. Was ich lieber nicht am Telefon erzählen wollte: Gruber ist verschwunden.“

„Er hat sich doch schon seit längerem zurückgezogen“, werfe ich ein.

„Er hat mir diese Telefonnummer gegeben. Also habe ich angerufen. Mit meinem speziellen Handy, das man schwer nachverfolgen kann. Nichts. Er hebt nicht ab. Nur der Spruch: ‚Der Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar.‘“

„Könnte viele Ursachen haben“, überlege ich träge. „Er kann das Telefon ausgeschaltet haben. Kommt vor.“

„Über so viele Stunden? Warum gibt er mir dann die Nummer?“

„Vielleicht hat er sein Telefon verloren?“, rät Oskar.

„Unwahrscheinlich. Leider ist Fran mit einem schwierigen Kunden unterwegs. Sonst ich hätte ihn gefragt, ob man das klären kann. Wann und wo Telefon zum Schluss eingeloggt war, all so etwas.“

„Und wenn ihr in der Alles Gute AG anruft?“, schlägt Oskar vor. „Gibt’s übrigens noch einen Nachschlag?“

Ich bringe den Topf mit der restlichen Fregola. „Er hatte Angst. Man hat ihn offenbar bedroht. – Was, wenn wir das nicht ausreichend ernst genommen haben?“

Meine Freundin sieht mich an. „Er hat gesagt, man will ihn beseitigen.“

„Melodramatisch“, meint Oskar und nimmt noch Fregola. „Was gäbe es für einen Grund, ihn zu ermorden?“

Ich überlege. „Sie wollen seine Lisa, hat er gesagt. Wobei nicht ganz klar ist, wer ‚sie‘ sind. Und sie sind sauer auf ihn. Damit hat er wohl die USP und ihr Umfeld gemeint.“

„Wer gibt einem zehntausend Euro und geht dann nicht einmal ans Telefon?“, fragt Vesna.

„Jemand, der etwas plant und ihr seid Teil der Inszenierung“, schlägt Oskar vor.

„Jemand, der zu viel Geld hat und etwas weltfremd ist“, kontere ich.

„Das Firmenkonstrukt sieht nicht weltfremd aus“, widerspricht mein Mann.

Da muss ich ihm recht geben.

„Ich glaube, es hat keinen Sinn, solche Thesen zu machen“, stellt Vesna fest. „Wir sollten mit denen reden, die ihm nahe sind. Vor denen er keine Angst hat.“

„Seine Frau ist gestorben“, überlege ich. „Wir wissen nicht, woran. Aber es gibt Lisa, seine kleine Nichte. Sie muss Eltern haben.“

„Ich sehe zehntausend Euro als Auftrag.“

Oskar sieht meine Freundin etwas spöttisch an. „So einfach ist das nicht, daraus einen konkludenten Vertrag für Nachforschungen abzuleiten.“

„Was soll es sonst sein?“

„Schweigegeld? Köder? Strategische Maßnahme, um euch auf seiner Seite zu haben? Überlegt einmal: Wenn ein erwachsener, wenngleich vielleicht etwas neurotischer, Mann einen Tag lang nicht erreichbar ist, dann gibt es wohl keinen besonderen Grund zur Sorge. Was er euch erzählt hat, war einigermaßen wirr. Wenn ihr nicht einmal erkennen konntet, vor wem er sich konkret fürchtet.“

„Wenn er es weiß, er wäre zur Polizei gegangen“, stellt Vesna fest. „Wäre er? Vielleicht hat er guten Grund, es nicht zu tun.“

„Du glaubst den Gerüchten im Netz, dass er mit seinen Millionen untergetaucht ist? Das ist rechte Hetze. Es gibt genug Leute, die darauf reinfallen. Aber du?“ Ich schüttle den Kopf.

„Ich glaube wenig, was im Netz steht“, setzt Oskar noch eins drauf. „Mit diesem Gesocks habe ich nichts am Hut, das weißt du. Trotzdem könnte es in diesem Fall passen.“

„Du hast ihn nicht gesehen. Er war … verzweifelt. – Was, wenn er sich umbringt?“

„Dann hat es keinen Sinn, er redet mit uns und gibt mir das Kuvert“, widerspricht Vesna.

„Wer weiß, was seither passiert ist.“

Sie nickt. „Wir werden seine Verwandten fragen.“

„Woher hat er gewusst, wer ihr seid? Und dass er euch in Graz bei dem Konzert ansprechen kann?“, überlegt Oskar.

„Auch das will ich über Fran klären“, sagt Vesna. „Kann sein, es ist Zufall. Kann sein, es hat mit der Lisa-App zu tun. Mira hat sie verwendet.“

„Du meinst, die haben eure Spur online verfolgt? Das wäre wohl gegen die Datenschutz-Grundverordnung.“

„Vielleicht können sie mehr, als man darf. Vielleicht ist aber auch seine Familie in Graz. Das werde ich zuerst klären, da brauche ich meinen Sohn nicht.“

„Wie geht’s eigentlich Hans?“, fragt Oskar. „Tut mir wirklich leid, dass ich beim Konzert nicht dabei sein konnte.“

Vesna lächelt. „Er ist super drauf, anders man kann nicht sagen. Fast schon zu euphorisch. Ich überlege, ob er nicht übertreibt.“

„Du meinst wegen seines Herzinfarkts.“

„Er scheint nicht mehr daran zu denken, ich tue es schon. Ist eigentlich verrückt. Ich habe ihn bekniet, dass er die Firma sein lässt. Und vorgeschlagen, in der Pension kann er vielleicht wieder ein bisschen Musik machen mit alten Freunden. Und was ist jetzt?“

Ich lache. „EverLyn sind ein Riesenerfolg. Passt zu Hans. Er gibt immer Gas.“

Oskar runzelt die Stirn.

„Wäre mir zu anstrengend“, füge ich an und tätschle seinen Unterarm.