Alles ist beseelt - Ashley Curtis - E-Book

Alles ist beseelt E-Book

Ashley Curtis

0,0
20,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»A Viable Animism« - Im englischen Titel seines aktuellen Buches bezieht sich der gebürtige Amerikaner Ashley Curtis sehr bewusst auf die Rede des Wissenschaftshistorikers Lynn White Jr. aus dem Jahr 1966. Diese bildet auch den Ausgangspunkt zu Curtis' philosophischer Argumentation für eine »praktikable Entsprechung zum Animismus«. Denn wie White vor über 50 Jahren ist Curtis der Überzeugung, dass nur eine grundlegende Veränderung unseres Weltbildes uns aus der globalen ökologischen Krise führen kann. In »Die historischen Ursachen unserer ökologischen Krise« (Science, 03/1967) macht White das westliche, christlich geprägte, nachaufklärerische Weltbild mit seinem starren Mensch-Natur-Dualismus für die massive Schädigung des Planeten durch den Menschen verantwortlich. Wenn die ökologischen Probleme primär philosophischen Ursprungs sind und nicht wissenschaftlich, technisch, politisch oder ökonomisch begründet, dann können sie folglich auch nur über einen philosophischen Wandel gelöst werden. Doch wie kann ein solcher Wandel geschehen? Wie könnte ein alternatives Weltbild aussehen, das den Menschen daran hindert, die Natur für seine eigenen Zwecke auszubeuten und zu zerstören? Ist eine Lehre der Allbeseelung in unserer Zeit überhaupt denkbar? Gegen die Umsetzung einer »praktikablen Entsprechung zum Animismus« spricht der tief verankerte Glaube an die Rechtmäßigkeit und Logik des Cartesianismus, an die Unterteilung in erlebendes Subjekt und unbelebte Materie, und allem voran in die unbestrittene Überlegenheit des Verstandes. Deshalb macht Ashley Curtis es sich in »Alles ist beseelt« zur Aufgabe, die Argumente des Cartesianismus zu zerlegen und glaubwürdig darzustellen, dass sie eben nicht so offensichtlich und selbstverständlich wahr sind, wie wir annehmen. Dann – so die Hoffnung – werden Leser:innen fähig sein, den Animismus unvoreingenommen zu beurteilen und vielleicht – mit ein wenig Glück – ändert sich sogar etwas in der Art, wie sie die Welt wahrnehmen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 256

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



1. Auflage

© Kommode Verlag, Zürich 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Text: Ashley Curtis

Übersetzung: Sabine Wolf

Lektorat: Patrick Schär, www.torat.ch

Korrektorat: www.torat.ch

Cover-Illustration: Stephan Schmitz

Gestaltung und Satz: Anneka Beatty

Druck: Beltz Grafische Betriebe

ISBN 978-3-9525014-5-0

eISBN 978-3-9055740-4-3

Kommode Verlag GmbH, Zürich

www.kommode-verlag.ch

ASHLEY CURTIS

ALLES IST BESEELT

WIE EIN WELTBILD UNSEREN PLANETENRETTEN KANN

Aus dem Englischen von Sabine Wolf

INHALT

EINFÜHRUNG

White bringt unsere Welt zum Wackeln (I)

Worin eine intellektuelle Bombe platztund wir über eine blaue Murmel staunen.

KAPITEL 1

Der Gute Bischof

Worin das Konzept von Materie hinterfragtund von einem Stuhl geträumt wird.

KAPITEL 2

Der Heilige David

Worin ein Fehler der westlichen Wissenschaft aufgedeckt wirdund ein Philosoph sich mit Brettspielen aus der Melancholie rettet.

KAPITEL 3

Zombies, Gürteltiere und Quadratwurzeln

Worin wir über Bewusstsein und unheimliche Kreaturen philosophierenund Sätze vielleicht zu Nilpferden werden.

KAPITEL 4

Raben, Elch und Wunderwaffen

Worin wir über Magie und Gestaltwandlung nachdenkenund Elche zu verführerischen Frauen werden.

KAPITEL 5

Rauszoomen und Reinzoomen

Worin wir die (Un-)Vereinbarkeit von Physik und Animismus betrachtenund Elfen Pilze in Drähten umherschieben.

KAPITEL 6

Sein oder Nichtsein

Worin wir zwei Thesen über die Bedeutung von Existenz vergleichenund man auf einem Bahnsteig von Tahiti träumt.

KAPITEL 7

Füreinander bestimmt

Worin sich der Kartesianismus als vermenschlichend entpupptund für Atome keine Zufälligkeit existiert.

FAZIT

White bringt unsere Welt zum Wackeln (II)

Worin Spüren über Denken gestelltund ein Kindheitsort zum Hoffnungsträger wird.

ANHANG

Die noblen Wilden oder:War es früher auch nicht besser?

QUELLENANGABEN

EINFÜHRUNG

White bringt unsere Welt zum Wackeln (I)

Worin eine intellektuelle Bombe platztund wir über eine blaue Murmel staunen.

1

Am 26. Dezember 1966 trat ein 59-jähriger Mediävist und Wissenschaftshistoriker an das Rednerpult der 133. Jahresversammlung des Forscherverbands American Association for the Advancement of Science und »ließ eine intellektuelle Bombe platzen, deren schriller Widerhall noch heute ertönt«1. Lynn White Jr.s Rede2, im März 1967 in der Fachzeitschrift Science unter dem Titel »Die historischen Ursachen unserer ökologischen Krise« veröffentlicht, wurde auf dem Gebiet der Umweltwissenschaften rasch zum Klassiker und gilt heute als »grundlegende Schrift der Umweltethik«3. Der Text wurde in zahlreiche Anthologien und Lehrbücher aufgenommen und ist in Studiengängen zu Ökologie, Ethik und Umweltwissenschaften Standardlektüre. Er ist ganze fünf Seiten lang.

Nach der Veröffentlichung musste White einiges aushalten. In seinem Nachruf heißt es, »eine Protestwelle von Kirchenmännern schwappte über seinen Schreibtisch, ein anschwellender Strom von Briefen und Artikeln«4. 1973 sagte White, man beschimpfe ihn »nicht nur in der Presse, sondern auch in anonymen Schreiben, als Möchtegern-Antichristen, wahrscheinlich im Dienste des Kremls, der um jeden Preis den wahren Glauben verraten wolle«5. Dass White bis zu seinem Tod 1987 praktizierender Christ war, schien kaum jemanden zu interessieren. Er selbst bemerkte ironisch: »Hätte ich doch nur den Wissenschaftlern die Schuld gegeben.«6

Aber White hatte dem Christentum die Schuld gegeben, die Schuld an einer ökologischen Krise globalen Ausmaßes:

Wir sind zu Schlußfolgerungen gekommen, die manchem Christen nicht gefallen werden. […] Die derzeitige zunehmende Zersetzung unserer gesamten Umwelt ist das Resultat einer dynamischen Technik und Naturwissenschaft, die sich in der mittelalterlichen Welt des Abendlandes herausbildeten. […] Ohne die ausgeprägten christlichen Vorstellungen von der Natur können wir die Geschichte ihrer Entwicklung nicht verstehen. […] Folglich werden wir weiterhin in einer sich verschlimmernden ökologischen Krise leben, bis wir den christlichen Grundsatz verwerfen, daß die Natur keine andere Existenzberechtigung hat, als dem Menschen zu dienen. […] Unsere derzeitige Naturwissenschaft und unsere derzeitige Technik sind so sehr von einer orthodoxen christlichen Arroganz gegenüber der Natur durchsetzt, daß von ihnen allein keine Lösung unserer ökologischen Krise erwartet werden kann. […] In diesem Falle trifft das Christentum eine schwere Schuld.7

White zielte nicht nur auf Kirchgänger ab: In seinen Augen war auch die nachchristliche, säkulare Kultur von einer »christlichen Arroganz gegenüber der Natur durchsetzt«. »Daß die meisten Menschen diese Vorstellungen nicht als christliche erkennen«, schrieb er, »ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Kein neues System grundlegender Werte ist in unserer Gesellschaft angenommen worden, um das des Christentums zu verdrängen.«8 Atheisten und Agnostiker seien also genau so wie Theisten weiterhin mit diesen Überresten christlichen Dogmas infiziert, häufig, ohne es überhaupt zu merken.

Whites Bombe ist so erstaunlich, weil er auf so wenigen Seiten so viele Grundannahmen zunichtemacht. Schon 1966 argumentierte er, dass die ökologische Krise nicht mehr lokal sei, sondern sich in globalem Ausmaß entfalte – und sich auf das Klima auswirke. Er argumentierte, die Wurzeln der Krise lägen nicht in Wissenschaft oder Technik, sondern in der Religion. Er argumentierte, dass selbst das säkulare westliche Weltbild auf religiösen Grundsätzen basiere, und zwar auf denen der jüdisch-christlichen Tradition. Er argumentierte, diese Tradition, insbesondere das Christentum, basiere auf einem Bild des Menschen als Unterdrücker, Beherrscher und Ausbeuter der Natur; die Existenzberechtigung der Natur bestehe in diesem Weltverständnis wiederum alleinig darin, dem Menschen zu dienen. Er argumentierte, dass wir der ökologischen Krise in keiner Weise entkommen könnten – nicht mithilfe der Naturwissenschaften, nicht mithilfe von Technik, nicht mithilfe eines neuen wirtschaftlichen oder politischen Systems – »sofern wir nicht zu einer neuen Religion finden oder unsere alte überdenken«9.

White war sich jedoch unsicher, ob ein solcher Wandel überhaupt möglich wäre. Wohlwollend verwies er auf das Interesse der damaligen »Hippies« am Zen-Buddhismus, »dessen Vorstellung von den Beziehungen zwischen Mensch und Natur fast ein Gegenstück zur christlichen ist«10. Allerdings hielt er es für unwahrscheinlich, dass eine Strömung wie der Zen-Buddhismus, tief von der Geschichte Asiens geprägt, im Westen je praktikabel wäre. Eher noch setzte er seine Hoffnung, sofern er denn welche hatte, »auf den bedeutendsten Radikalen in der christlichen Geschichte nach Christus […] Franz von Assisi«11. Franz von Assisi sei »so offensichtlich ein Ketzer« gewesen, dass der bedeutende Franziskaner Johannes Bonaventura später versucht habe, die frühe Geschichte seines eigenen Ordens zu unterdrücken. »Es ist erstaunlich«, so White über Franz von Assisi, »daß er nicht auf dem Scheiterhaufen endete.«12

Im ketzerischen Weltbild des Franz von Assisi sah White eine »bemerkenswerte Variante der Allbeseelungslehre über alle belebten wie unbelebten Dinge«13 – in anderen Worten die Überzeugung, dass alles, ob lebendig oder nicht, ein Bewusstsein oder bewusstseinsähnliche Eigenschaften besitze:

[Franz von Assisis] Brüderlichkeit mit den Werken Gottes kommt in seiner Lobeshymne auf den Weltenschöpfer deutlich zum Ausdruck: »Gepriesen seist Du, o Herr, für unsere Schwester Mond […]. Gepriesen seist Du, o Herr, für unseren Bruder Wind […] für unseren Bruder Feuer.«14

Ebendiese Sichtweise, dass allen Naturdingen ein Geist innewohnt, hatte das Christentum mit seiner Unterdrückung des alten Heidentums rücksichtslos ausgemerzt:

Im klassischen Altertum hatte jeder Baum, jede Quelle, jeder Bach und Berg seinen eigenen genius loci, seinen Schutzgeist. Diese Geister waren für die Menschen erreichbar, ihnen jedoch ganz unähnlich: Zentauren, Faune und Wassernixen beweisen diese Ambivalenz. Ehe man einen Baum fällte oder einen Bach staute, war es notwendig, den dafür zuständigen Geist zu besänftigen. Indem das Christentum die heidnische Naturbeseelung zerstörte, schuf es erst die Voraussetzungen für eine Ausbeutung der Natur. […] Die tatsächliche Alleinherrschaft des Menschen über den Geist hatte begonnen, und die alten Verbote über die Ausbeutung der Natur gerieten in Vergessenheit.15

Kurzum, als White forderte, wir müssten »zu einer neuen Religion finden«, meinte er nicht, wir sollten vom Christentum zum Islam, Judentum oder Hinduismus konvertieren. Auch betraf seine Forderung nicht nur offen religiöse Menschen. Ob Atheist, Agnostiker oder Theist – wer auch immer die Ansicht teilt, Menschen seien von der Natur getrennt und die wichtigste Aufgabe der Natur liege darin, menschlichen Bedürfnissen zu dienen, ist White zufolge unwissentlich im Netz eines eigenartig religiösen, speziell christlichen Dogmas gefangen.

Über Whites These lässt sich streiten, und viele Umweltschützer sind anderer Meinung. Laut Heike Molitor und Pierre Ibisch von der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde begegnen viele Naturliebhaber der Umwelt nach wie vor mit anthropozentrischen Ansätzen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen, auch

in den Mittelpunkt moralischen Handelns. Nur dem Menschen wird ein Eigenwert zugesprochen. Daraus leitet sich der Schutz der Natur ab, die für den Menschen zu schützen ist.16

So schrieb beispielsweise ein »renommierter Forstwirtschaftsprofessor« an White, dass »wir Redwood-Wälder schützen, weil Menschen sich an ihnen erfreuen. Wenn Franz von Assisi fand, wir sollten sie für Eichhörnchen bewahren, dann predigte er eine Religion für Eichhörnchen, nicht für Menschen.«17

In einem Artikel von 2016 beobachten Michael Paul Nelson und Thomas J. Sauer, für wie viel Irritation Überlegungen wie die von White in Naturschutzkreisen noch immer sorgen:

Diskussionen über die philosophischen und ethischen Grundlagen des Naturschutzes wurden jüngst […] von einigen namhaften führenden Umweltschützern als »alberne Streitereien, die vom Eigentlichen ablenken« bezeichnet. […] Führende Umweltschützer haben all jene, die aus Prinzip eine nichtanthropozentrische oder anderweitig vom Pragmatismus abweichende Position einnehmen, bespöttelt. […] Manche Naturschützer wurden aufgrund ihrer »moralischen Gewissheit« abgetan, und es wurde behauptet, man fände es »belastend, […] unproduktiv und letztendlich kontraproduktiv […], mit anderen Naturschutzbiologen« über ideologische Angelegenheiten »diskutieren zu müssen«. »Die Realität des angewandten Umweltschutzes«, hieß es, »ist zu komplex und nuanciert für [eine solche] moralische Überzeugung.«18

Völlig konträr zu White glaubt derweil eine weitere Fraktion von Denkern, die sogenannten Ökomodernisten, dass naturwissenschaftliche und technische Lösungen uns sehr wohl aus der Krise führen würden, dass unsere »Religion« irrelevant sei und Whites Anliegen kontraproduktiv, da er uns damit auffordere, einen menschzentrierten Lebensstil aufzugeben, der mühevoll erreicht worden sei und viele Vorzüge aufweise. Laut den Ökomodernisten sei niemand ernsthaft gewillt, unseren derzeitigen, sich ständig verbessernden Lebensstandard gegen die Armut, Anstrengungen, gesundheitlichen Mängel und die allgegenwärtige Gewalt vorindustrieller Gesellschaften einzutauschen. Ökomodernisten verwerfen somit das Ideal, »demzufolge die menschliche Gesellschaft in Einklang mit der Natur leben muss«, und beharren darauf, »dass die Erde ein menschlicher Planet ist«19. In Anbetracht der ökologischen Krise bevorzugen sie technologiegetriebene Lösungen, mitunter eine drastische Ausweitung der Nuklearenergie, kluge Urbanisierung, Intensivierung der Landwirtschaft mittels genetisch veränderter Nutzpflanzen sowie CO2-Abscheidung und -Speicherung. Manche befürworten auch offen die Idee des Geo-Engineerings – im wahrsten Sinne des Wortes ein Herumbauen am Planeten Erde.

Mithilfe von Geo-Engineering soll die Klimakrise durch Technologien von noch größerem Ausmaß entschärft werden.20 Zu den Ideen gehört, mit riesigen Maschinen Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu saugen; genetisch veränderte Pflanzen mit effizienteren (schwarzen) Silikonblättern zu züchten; Milliarden von Alufolienstreifen durch die Erdumlaufbahn segeln zu lassen, um Sonnenlicht umzuleiten; Schwefeldioxid in die obere Atmosphäre einzuspeisen, um Sonnenstrahlung abzuhalten; die Weltmeere mit Eisenschlamm zu düngen, um Meerespflanzen bei der Aufnahme von Kohlendioxid anzutreiben; und, als jüngste Idee, die Antarktis mit Billionen Tonnen Schnee künstlich zu beschneien, um den Kollaps des Westantarktischen Eisschilds aufzuhalten – ein Kollaps, der den Meeresspiegel ansteigen lassen und Küstenstädte fluten würde.

Wenngleich Ökomodernisten anerkennen, dass Menschen »materiell immer zu einem gewissen Grad von der Natur abhängig sein« werden und dass »selbst wenn eine vollständig künstliche Welt möglich wäre, sich viele von uns trotzdem dafür entscheiden [würden], mehr mit der Natur verbunden zu leben«21, mag ihre Vision eines »großen AnthropozänsA«22 auf so manchen dystopisch wirken.

White und die Ökomodernisten haben ganz offensichtlich das gemeinsame Ziel, die Klimakrise einzuhegen. Allerdings könnten ihre Ansichten, wie und warum wir das tun sollten, nicht weiter auseinandergehen. Am klarsten zeigt sich dieser Gegensatz in ganz unterschiedlichen Reaktionen auf ein berühmtes Foto: Die Blaue Murmel.

Die Blaue Murmel ist eine Aufnahme mit Symbolcharakter. Es handelt sich um ein Foto vom Planeten Erde, geknipst aus einer Entfernung von 29 000 Kilometern von einem der Astronauten der letzten bemannten Mondmission. Das Bild hat eine starke Wirkung. Michael Pollan schreibt:

Der Anblick dieses »hellblauen Punkts«, der in der unendlichen schwarzen Leere des Weltraums hing, löschte die Landesgrenzen auf unseren Karten aus und machte die Erde klein, verletzlich, einzigartig und kostbar. […] Die Kraft dieser neuen Perspektive [diente] als Inspiration für die moderne Umweltbewegung sowie die Gaia-Hypothese, [die] Vorstellung, dass die Erde und ihre Atmosphäre gemeinsam einen einzigen lebenden Organismus bilden.23

Diesen hellblauen Punkt live und leibhaftig zu sehen (noch bevor das berühmte Foto entstand), bewirkte in Edgar Mitchell, einem Besatzungsmitglied der Apollo 14, eine mystische Erfahrung:

Und plötzlich begriff ich, dass die Moleküle meines Körpers, die Moleküle meines Raumschiffs und die Moleküle im Körper meiner Partner in einer uralten Generation von Sternen geformt und erzeugt wurden. [Ich verspürte] ein überwältigendes Gefühl des Einsseins, der Verbundenheit. […] Es war nicht »sie und wir«, es war: »Das bin ich! Das ist das Ganze, alles ist eins.« Und es war von einer Ekstase begleitet, einem Gefühl wie »O mein Gott, Wahnsinn, ja« – einer Erkenntnis, einer Offenbarung.24

White bestätigt die Wirkungsmacht des Bildes. Doch dann schwenkt er in eine ganz andere Richtung als Pollan oder Mitchell:

Nichts berührte den amerikanischen Geist mehr als die Reaktion unserer Astronauten auf den Anblick dieses Planeten vom Weltall aus; man sprach vom »Raumschiff Erde«. Ökologisch gesehen ist diese Metapher eigentlich furchterregend. Ein Raumschiff ist ein durch und durch menschliches Konstrukt, ausschließlich entworfen, um menschliches Leben zu ermöglichen, zu keinem anderen Zweck. Es ist kein Zufall, dass einige unserer Raumfahrer auf der Reise zum Mond aus der biblischen Schöpfungsgeschichte lasen: Schließlich ist die Schöpfung in der jüdisch-christlichen Tradition bis ins Detail auf menschliche Nutzung und Erbauung ausgelegt, zu keinem anderen Zweck. Diese Gleichgültigkeit gegenüber einer möglichen Autonomie in anderen Lebewesen hat unsere Art technischer Entwicklung stark begünstigt und so die Verschmutzung unserer Weltkugel maßgeblich angetrieben.

Die Raumschiffmentalität ist die Krone des desaströsen menschzentrierten Blicks auf die Natur der Dinge und die Dinge der Natur, und ihr heutiger Reiz besteht darin, scheinbar ökologische Lösungen anzubieten, ohne dass bestehende Vorstellungen geopfert werden müssten. Wir befinden uns in größerer Gefahr, als wir denken.25

Die Ansätze der Ökomodernisten und des Geo-Engineerings sind der Inbegriff dessen, was White als »ökologisch furchterregend« empfand, nämlich den Planeten immer expliziter in ein menschgemachtes Raumschiff zu verwandeln und dabei nach Lösungen zu greifen, ohne »bestehende Vorstellungen« opfern zu müssen. 1967 warnte White vor den möglichen Folgen solcher Eingriffe:

Was sollen wir tun? Bis jetzt weiß niemand eine Antwort. Wenn wir nicht beginnen, über die Grundtatsachen nachzudenken, werden unsere Teilmaßnahmen neue Rückschläge bewirken, die gefährlicher sind als jene, die sie kurieren sollen.26

Derlei mögliche Rückwirkungen, im ökomodernistischen Optimismus ausgeblendet, lagen für White auf der Hand; als Historiker und Experte für mittelalterliche Technik war er sich nur allzu bewusst, wie oft in der Technikgeschichte gute Absichten von Verkettungen unbeabsichtigter Nebenwirkungen verdrängt wurden.

Allerdings muss man kein Mittelalterforscher sein, um das zu erkennen; vertraute Technologien jüngerer Zeitalter bieten genügend Beispiele. Das Wunder der Mobilität, geschaffen durch Automobil und Flugzeug; der Traum von billiger und unerschöpflicher Kernkraft; günstige, massenproduzierte Artikel seit der Industriellen Revolution; der Anstieg landwirtschaftlicher Produktivität dank chemischer Dünger und Pestizide; die Effizienz von Monokulturen und fabrikartiger Viehhaltung; das Phänomen der Verbundenheit durch Internet und Smartphone – all das hat seine Kehrseiten: Umweltverschmutzung; überwältigende Erderwärmung; bedrohliche Bestände von Atommüll und -waffen; Massenkonsum auf der Basis geplanten Verschleißes und Neukauf anstelle von Reparatur, mit der Folge weltweit wachsender Berge giftigen Schrotts; erschöpfte Böden; versiegte und verschmutzte Grundwasservorräte; eine drastisch schrumpfende Artenvielfalt; und, inmitten der am stärksten vernetzten Gesellschaft aller Zeiten, bindungslose Einsamkeit. All das gibt kaum Anlass zu Optimismus hinsichtlich der noch weitreichenderen Eingriffe, die sich Fürsprecher des Geo-Engineerings ausmalen.

White fragte: »Was sollen wir tun?«, und antwortete: »Bis jetzt weiß niemand eine Antwort.« Aber eigentlich hatte er eine ziemlich genaue Vorstellung. Wir sollten »zu einer neuen Religion finden« – und damit meinte er wie gesagt nicht, zu einer anderen Konfession zu konvertieren, sondern uns von bestimmten grundlegenden Werten zu befreien, die zweitausend Jahre Christentum in unserer religiösen wie säkularen Kultur verankert haben. White hatte auch eine recht konkrete Vorstellung davon, wie diese neue »Religion« auszusehen hätte. In einem Artikel von 1973 benannte er es ganz klar: »Das religiöse Problem besteht darin, eine praktikable Entsprechung zum Animismus zu finden.«27

Man könnte meinen, jetzt sei es an der Zeit, White aus dem Fenster zu werfen. Denn sein »religiöses Problem« ist ein ziemlich großes – vielleicht sogar noch größer als die potenziellen Probleme, die entstünden, wenn die obere Atmosphäre mit Schwefeldioxid angereichert würde. Und dieses »religiöse Problem« ist so groß, weil sich die meisten unserer Zeitgenossen einig sind, wenn sie sich denn bei irgendetwas einig sind, dass Animismus eben nicht praktikabel ist. Animismus – die Erfahrung, dass neben nichtmenschlichen Tieren auch Pflanzen, Flüsse, Berge, Wolken, Sterne, Steine und Wetterlagen nicht leblose oder unbelebte Bestandteile der Welt sind, sondern wahrnehmende und erfahrende Wesen – bedeutet für die meisten von uns primitive Illusion, das naive »magische Denken« abergläubischer, unaufgeklärter, vorwissenschaftlicher Völker. Von dieser Warte aus betrachtet, haben wir uns nicht etwa vom Animismus gelöst, weil wir einfach eine Lebensweise vorgezogen haben, in der der Mensch als von der Natur getrennt und über sie herrschend gilt (obwohl vielleicht auch das zutrifft), sondern weil unsere mühsam konstruierte, gewissenhaft überprüfte Wissenschaft einfach recht hat und der Animismus nicht. Und deshalb, Dr. White, selbst wenn wir uns alle miteinander wieder dem Animismus verschreiben wollten, um so unser eigenes Leben zu retten, das unserer Kinder und das unseres Planeten, könnten wir das gar nicht – genauso wenig, wie wir plötzlich, um unser eigenes Überleben zu sichern, glauben könnten, die Erde bilde das Zentrum des Sonnensystems oder die Sterne blieben bis in alle Ewigkeit an ihren Punkten am Himmelszelt. Denn das ist einfach nicht so.

Dr. White, Ihre Ideen waren äußerst interessant; Sie schreiben ganz wunderbar, und Ihre Einsichten in die Technikgeschichte und deren Verflechtung mit der Religionsgeschichte sind aufschlussreich; aber wenn Sie jetzt verlangen, wir sollten eine Perspektive einnehmen, die eine »praktikable Entsprechung zum Animismus« ist, dann scheinen Sie den Bezug zum Möglichen verloren zu haben und müssen wohl doch zum Fenster raus.

2

Wie vielleicht abzusehen war, plädiere ich dafür, White nicht zum Fenster rauszuwerfen – zumindest noch nicht gleich. Bitte behalten Sie ihn drinnen, bis Sie diese Seiten fertig gelesen haben. Denn ich möchte mich dafür starkmachen, dass Animismus durchaus praktikabel ist – mich sachte, behutsam, spielerisch dafür starkmachen, aber auch ganz ernsthaft.

Historisch gesehen ist der große Feind des Animismus das Christentum, Seite an Seite mit den kolonialistischen und kapitalistischen Unternehmungen, die es mit hervorbrachte. In meinem Plädoyer für den Animismus argumentiere ich aber nicht gegen das Christentum – da eben, wie White darlegte, der menschgemachte Dualismus nicht mehr dadurch belegt wird, wer in die Kirche geht und wer nicht. Das philosophische Gegenteil des Animismus ist weniger der historische Feind Christentum als eine tiefer verwurzelte, fast unsichtbare Weltsicht, die, wenngleich sie zu großen Teilen dem Christentum entstammen mag, heutzutage auch alle möglichen nichtchristlichen Überzeugungen stützt, ob atheistische, materialistische oder theistische.

Diese grundlegende Weltsicht, das philosophische Gegenteil des Animismus, ist auch als Kartesianismus bekannt, benannt nach dem französischen Philosophen des 17. Jahrhunderts René Descartes, ihrem deutlichsten Vertreter. Hier ist eine Kurzfassung:

Die physische Welt existiert, mit oder ohne uns. Sie ist leblos: weder lebendig noch im Besitz eines Bewusstseins. In diese Welt werden Geschöpfe mit Bewusstsein geboren, wie wir, die sich der physischen Welt für eine Weile bewusst werden, dann sterben und somit aufhören, sich ihrer bewusst zu sein. Dann besteht die physische Welt ohne sie fort. Das trifft auf den Einzelnen zu – ich wurde geboren, ich erfahre die Welt, ich werde sterben – wie auch auf kosmischer Ebene: Zuerst gab es kein Leben, kein Bewusstsein; dann entstand Leben und zusammen mit ihm, irgendwann, Bewusstsein; und das Leben wird wieder vergehen, spätestens wenn die Brennstoffvorräte der Sonne aufgebraucht sind und sie unser Sonnensystem verschlingt.B Und die physische Welt wird fortbestehen.

Wenn Sie diesen Absatz aufmerksam lesen, dürften Sie ihn kaum als ungewöhnlich empfinden – wohl eher als ziemlich offensichtlich. Der Kartesianismus ist keine esoterische, obskure, schwer zu entschlüsselnde Lehre. Vielmehr handelt es sich, zumindest wie ich den Begriff gebrauche, einfach um eine Bezeichnung für den Glauben, der vorige Absatz sei eine vernünftige Beschreibung gewisser grundlegender Bestandteile der Realität. Falls Sie den Aussagen in diesem Absatz zustimmen – unabhängig davon, woran Sie sonst noch so glauben –, können Sie sich selbst, wie die meisten von uns, als Kartesianer betrachten.C

Dieses Buch möchte zeigen, dass es mit diesem Absatz ein Problem gibt. Das Problem besteht nicht etwa darin, dass die Aussagen des Absatzes falsch wären – es ist noch viel schlimmer. Das Problem besteht darin, dass diese Aussagen unstimmig sind.

Es besteht ein riesiger Unterschied zwischen falschen und unstimmigen Aussagen, und er zeigt sich, wenn wir Aussagen über einen Mann namens Anton mit ähnlichen Aussagen über ein Stück Tapete vergleichen. Wenn ich sage, Anton habe Hunger, wenn Anton tatsächlich gerade eine große Mahlzeit verspeist hat und ihm beim Gedanken an auch nur eine weitere Gabel schlecht wird, dann ist meine Aussage falsch. Diese »Falschheit« ist recht leicht zu verstehen. Es braucht bloß das kleine Wort »kein«. Ich habe gesagt, Anton habe Hunger. In Wirklichkeit hat Anton keinen Hunger. Also ist meine Aussage inkorrekt.

Behaupte ich aber, die Tapete habe Hunger, werden Sie mich wahrscheinlich ein bisschen schräg anschauen. In dem Fall denken Sie wahrscheinlich, mit mir stimme etwas nicht. Wenn ich sage, Anton habe Hunger, können Sie mir einfach antworten, nein, das stimmt gar nicht, Anton hat keinen Hunger, und nicht weiter daran denken. Sage ich aber, die Tapete habe Hunger, werden Sie mich wahrscheinlich nicht korrigieren und sagen, nein, die Tapete hat gar keinen Hunger. Es ist genauso seltsam, zu sagen, die Tapete habe keinen Hunger, wie zu sagen, die Tapete habe Hunger; Hunger ist einfach kein Wort, das sich sinnvoll auf Tapete anwenden ließe. Anstatt mich zu korrigieren und mir zu sagen, nein, die Tapete hat jetzt gerade keinen Hunger, würden Sie überlegen, was Sie eigentlich von mir denken, und falls ich auf meiner Aussage bestünde und es damit ernst zu meinen schiene, würden Sie sich fragen, ob ich womöglich ein bisschen irre sei. Und dasselbe würden Sie wahrscheinlich denken, wenn ich stattdessen darauf bestünde, dass die Tapete keinen Hunger habe. Sie würden denken, dass ich – nun ja, etwas von der Rolle sei.

Wie kaum überraschen dürfte, möchte ich mit diesem Buch zeigen, dass die grundlegende Weltsicht aus besagtem Absatz – die kartesianische Weltsicht – weder richtig noch falsch ist wie die Aussage über Anton, sondern unstimmig wie die Aussage, die Tapete habe Hunger (oder keinen). Parallel zu diesem Argument möchte ich zeigen, dass es eine andere grundlegende Weltsicht gibt, die nicht unstimmig ist.

Und ja, die grundlegende Weltsicht, von der ich behaupte, sie sei im Gegensatz zur kartesianischen stimmig, ist der Animismus. Genau wie die Grundlage des Kartesianismus trägt die des Animismus unterschiedlichste und potenziell widersprüchliche Weltauffassungen. Im Einzelnen sind viele dieser Weltauffassungen schriftlich belegt, manche durch Angehörige überlebender animistischer Völker, andere durch Anthropologen, die versucht haben, in animistische Kulturen einzutauchen. Betrachten wir diese faszinierende Vielfalt in ihrer Gesamtheit, sieht die grundlegende animistische Weltsicht – die den vielen heutigen oder früheren Varianten des Animismus in der ganzen Welt gemein ist – wie folgt aus:

Die physische Welt ist nicht leblos. Alles in ihr ist in irgendeiner Weise (nicht unbedingt einer biologischen) lebendig und bewusst; das heißt, alles in ihr ist erfahrend. Diese Erfahrung nimmt höchst unterschiedliche Formen an und kann von der menschlichen Erfahrung völlig abweichen. Trotzdem kann diese Erfahrung manchmal – womöglich sporadisch, womöglich ungeregelt, womöglich auf traumähnliche Art und Weise – Menschen antreffen und von ihnen angetroffen werden.

Die animistische Weltsicht ist ziemlich genau das Gegenteil der kartesianischen, und sollten Sie überzeugte Kartesianerin sein – welcher Spielart auch immer: religiös, materialistisch, existenzialistisch, humanistisch usw. –, wird Ihnen der vorige Absatz unstimmig erscheinen. Er muss ihnen sogar unstimmig erscheinen. Zu behaupten, ein Stein sei erfahrend, ist nicht so anders, als zu sagen, die Tapete habe Hunger. In der grundlegenden Annahme jeglicher kartesianischen Weltsicht existiert die physische Welt unabhängig von allem Bewusstsein. Sie ist leblos – das heißt, nicht erfahrend –, außer jenen wenigen Bestandteilen, die lebendig und bewusst sind. Für einen Kartesianer kann Animismus nur unstimmig sein.

Aber wenn Animismus einem Kartesianer unstimmig erscheinen muss, wie können wir Kartesianer ihn dann fair beurteilen? Die Antwort ist offensichtlich: Wir müssen aus unserem Kartesianismus hinaustreten. Anders gesagt müssen wir unseren Glauben an die Grundsätze aus dem ersten kursivierten Absatz beiseitelegen, zumindest vorübergehend. Das ist leichter gesagt als getan. Wie können wir aufhören, an Dinge zu glauben, die so offensichtlich und selbstverständlich wahr erscheinen?

Gar nicht – solange sie so offensichtlich und selbstverständlich wahr erscheinen. Natürlich können wir so tun als ob, aber solange wir es nicht wirklich ernst meinen, solange wir nicht zu der Überzeugung gelangen, dass unser grundlegender Kartesianismus gar nicht so offensichtlich und selbstverständlich wahr ist, können wir es vergessen mit einer fairen Chance für den Animismus.

Somit stellt sich dieses Buch zwei eng miteinander verbundene Aufgaben. Nicht nur muss es uns Argumente bieten, warum die Annahmen des grundlegenden Animismus stimmig sind; zuerst muss es die des Kartesianismus auseinandernehmen, um glaubwürdig zu zeigen, dass sie eben nicht offensichtlich und selbstverständlich wahr sind. Erst dann ist die einstige Kartesianerin in der Lage, den Animismus fair zu beurteilen.

Um diese doppelte Mission zu erfüllen, ziehen wir kreuz und quer durch die Lande. Wir lernen etwas über die bekömmlichen Eigenschaften von Teerwasser, lesen Limericks über Bäume und Göttlichkeit, tauchen kurz ein in die Verzweiflung des größten Philosophen der englischsprachigen Welt, werfen einen Blick auf den Unterschied zwischen Autos auf einer Schnellstraße und fallenden Steinen, erfahren, warum so viele Professoren Artikel über Zombies schreiben, versenken uns in das Bewusstsein von Fledermäusen und Gürteltieren, sehen einem Mann dabei zu, wie er sich in einen Raben verwandelt, und einem anderen, wie er zum Elch wird, picknicken neben einer Eisenbahn, die sich Albert Einstein ausgedacht hat, messen die Schärfe von Chilis, betrachten Hamlet bei seiner eigenen Betrachtung von Suizid und überlegen, ob man von einer zufälligen Begegnung sagen kann, sie sei bedeutsam.

Am Ende von all dem kehren wir dann zu Lynn White Jr. und seiner intellektuellen Bombe zurück. Sollte mein Versuch erfolgreich sein, wird Whites Wunsch nach einer praktikablen Entsprechung zum Animismus nicht mehr so abwegig wirken wie vielleicht jetzt gerade. Sollte ich keinen Erfolg haben, werden Sie zumindest eine Reise hinter sich haben, von der ich hoffe, dass sie gleichermaßen aufregend und spielerisch ist.

Dieses Buch ist aus einer spielerischen Haltung heraus geschrieben, und ich wünsche mir, dass es Spaß macht. Aber ich habe es auch in vollem Ernst geschrieben. Ich hoffe, es wird in beiderlei Haltung gelesen.

ADas Anthropozän bezeichnet unsere jetzige geologische Epoche, eine Epoche, die sich durch erhebliche menschliche Auswirkungen auf die Geologie und die Ökosysteme des Planeten Erde auszeichnet.

BVielleicht spielt sich dieses kosmische Drama auch in anderen Teilen des Universums ab, vielleicht in anderen Universen – wir werden es nie erfahren.

CDiese Haltung lässt sich mit einer ganzen Menge weiterer Glaubensvorstellungen kombinieren. Religiöse Menschen können sie mit dem Glauben an die göttliche Schöpfung und ein nichtkörperliches Leben nach dem Tod vereinen; Materialisten mit einem Glauben an die Körperlichkeit des Bewusstseins; Existenzialisten können Wertschätzung für die Absurdität des Seins und die damit einhergehende Freiheit und Verantwortung hinzufügen; säkulare Humanisten einen Glauben an den intrinsischen Wert menschlichen Lebens und Gefühls usw. Trotz ihrer vielen und oftmals unüberbrückbaren Differenzen beruhen all diese Glaubensüberzeugungen – wie auch fast alle anderen – fest auf der Grundlage des Kartesianismus wie im kursivierten Absatz beschrieben. Aus diesem Grund bezeichne ich den Kartesianismus als »grundlegende« Weltsicht – er bildet das grundsätzliche Weltbild, in der Regel nicht hinterfragt und als selbstverständlich geltend, das einer Vielzahl verschiedener Weltsichten als Basis dient.

Die erste Behauptung des Kartesianismus lautet, die physische Welt existiere, mit oder ohne uns. Das ist gleichbedeutend mit der Aussage, die physische Welt bestehe aus Stoff – oder, eleganter ausgedrückt, aus Materie –, und dieser Stoff sei nun mal da, ob wir ihn nun wahrnähmen oder nicht. Im Kapitel »Der Gute Bischof« besuchen wir einen Philosophen, der die radikale Behauptung aufstellt, Materie existiere nicht – dass sogar das Konzept von Materie unstimmig sei.

KAPITEL 1

Der Gute Bischof

Worin das Konzept von Materie hinterfragtund von einem Stuhl geträumt wird.

1744 veröffentlichte der Bischof des irischen Cloyne das erfolgreichste Buch seines Lebens.28Siris: Eine Kette von Philosophischen Betrachtungen und Untersuchungen über die Tugenden des Teerwassers erreichte innerhalb eines Jahres sechs Auflagen. 1752, ein Jahr vor seinem Tod, veröffentlichte der Bischof eine Fortsetzung, Weitere Gedanken zur Teerwasserfrage.

Das bischöfliche Teerwasserrezept empfahl, ein Quart Holzteer in ein großes Glasgefäß zu geben und mit einer Gallone kaltem Wasser zu übergießen. Vier Minuten lang mit einer Kelle oder einem Stab umrühren, dann achtundvierzig Stunden stehen lassen. Danach die Flüssigkeit abgießen. Die Farbe sollte nicht heller sein als die von französischem Weißwein, nicht dunkler als die von spanischem. Abends und morgens eine halbe Pinte auf leeren Magen trinken; Kinder und »empfindliche Personen« sollten die Flüssigkeit verdünnt und dafür öfters trinken.

Diese Kur, so der Bischof, heile allerlei Beschwerden. Er beschreibt eine Familie mit sieben Kindern während einer Pockenepidemie. Sechs der Kinder tranken Teerwasser und »durchstanden die Infektion sehr gut«. Das siebte »konnte nicht dazu bewegt werden, Teerwasser zu trinken«, und uns wird zu verstehen gegeben, dass es starb. Teerwasser kuriere wirksam »so viele purulente Geschwüre«, dass der Bischof es schließlich auch bei »anderen Verdorbenheiten des Blutes« anwandte, darunter »kutane Ausbrüche« und die »schändlichsten Krankheiten […] Pleuritis und Peripeumonie«.

Der Autor der Siris – vom großen Philosophen Immanuel Kant später als »der Gute Bischof« bezeichnet – bewarb Teerwasser so energisch aus Sorge um seine Gemeinde. In Cloyne, einer abgelegenen, armen Gegend, waren kurz zuvor die Pocken und Dysenterie ausgebrochen – oder wie es der Bischof anschaulich nannte, die »blutige Ruhr«.

Ein Brief aus dieser Zeit an einen britischen Abgeordneten – »Die Plagen Irlands« – beschreibt das Land des Bischofs als »die elendigste Szenerie universellen Leides, von der je in der Geschichte zu lesen war«.29 Neben Krankheiten litt die Bevölkerung unter einer »Knappheit von Brot (die mancherorts einer Hungersnot gleichkommt)«. So sehr mangelte es an Brot, dass der Bischof in einer Solidaritätsgeste gegenüber seiner Gemeinde Mehl zum Pudern seiner Perücke erst wieder nach der Ernte verwendete.

Der Bischof glaubte, er habe eine günstige Möglichkeit gefunden, einer darniederliegenden Bevölkerung zu guter Gesundheit zu verhelfen. Doch nicht nur sollte sein Erfolgsbuch die physiologischen Tugenden des Teerwassers darlegen und dessen Wirksamkeit wissenschaftlich erklären. Das dritte Ziel bestand darin, wie es in der Stanford-Enzyklopädie der Philosophie heißt, »den Leser durch eine Aneinanderreihung kleiner Schritte zu einer Reflexion über Gott zu führen«30. Das Wort »Siris« im Titel stammt vom griechischen Wort für »Kette«, und die bischöfliche »Kette von Philosophischen Betrachtungen« führt, trotz einiger Schlenker, vom Teerwasser zur Theologie.

Was uns, wenn auch ein wenig abrupt, zu Gott bringt.