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Er steht für ALLES, was sie verabscheut. Doch das ändert NICHTS an ihren Gefühlen Polly will ausziehen, Jura studieren und nie mehr einen dummen Spruch darüber hören, welche Kleidung sie bei ihrer Figur angeblich tragen darf und welche nicht. Gleich im ersten Semester ergattert sie einen Job in einer renommierten Kanzlei, nur das mit der Wohnung hat sie gewaltig unterschätzt. Kurzerhand quartiert ihre beste Freundin Anna sie in der WG ihres Bruders Jonas ein. Doch in der Kanzlei verläuft es alles andere als erhofft: Pollys Figur gibt den Angestellten allerhand Gesprächsstoff. Sie will Stärke beweisen und erzählt niemandem davon. Selbst Jonas nicht, obwohl die beiden einander immer näherkommen … Mit dem zweiten Teil ihrer New Adult-Trilogie rund um die Freundinnen Anna, Polly und Anouk macht Kyra Groh auf einfühlsame wie humorvolle Weise auf gesellschaftlich relevante Themen aufmerksam: #Bodyshaming ist mehr als nur ein Hashtag – und kann tief verletzen.
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Seitenzahl: 537
INHALT
Playlist
Ein alter KosenameLansberg an der Wupper, 18. JuniAbiball des Konrad-Adenauer-Gymnasiums
Liking yourself is a rebellious act.
Eine viktorianische Dame mit Muffin TopKöln, 11. OktoberEinführungswoche Uni
Ein Hinterhaus im GrünenStadtrand von Köln, 11. OktoberWohnungsbesichtigung
Ein HerrengedeckKöln, 11. OktoberBar zum Pony
Eine Art Hobby-BaristaKöln, 11. OktoberJonas’ Wohnung
Infiltrate the places you belong.
Ein bekloppter PlanLansberg an der Wupper, 12. OktoberVogelhof
Eine Frage der RomantikLansberg an der Wupper, 13. OktoberHaus der Mühlfords
Ein verdammt teurer BHKöln, 13. und 14. OktoberJonas’ Wohnung
Ein Diktator für meine FantasieKöln, 14. OktoberJonas’ Wohnung
Ein Antrag mit KniefallKöln, 14. OktoberWG von Adem und Fynn
Eine verhängnisvolle Flasche SrirachaLansberg an der Wupper, 16. OktoberHaus der Mühlfords
Ein Lachen mit Crispy-StückchenLansberg an der Wupper, 16. OktoberHaus der Mühlfords
Ein Thai-Curry und ein IdiotensandwichKöln, 18. OktoberRechtswissenschaftliche Fakultät
Cooking and cleaning are basic human skills for women.
Ein toxischer GedankenstrudelKöln, 19. OktoberGaleway & Gabel
Ein Elefant auf der KücheninselKöln, 25. Oktober Bis 8. November Rechtswissenschaftliche Fakultät
Ein Walross mit SeeigelblutKöln, 9. NovemberGayleway & Gabel
Eine Schwarze WitweKöln, 11. NovemberRechtswissenschaftliche Fakultät
Ein Kuss wie FahrradfahrenKöln, 11. Und 12. NovemberRechtswissenschaftliche Fakultät
Ein versprochenes DateKöln, 12. NovemberLibanese Amirs Grill
Ein tiefschürfender KakaoKöln, 12. NovemberWG
Ein Abend mit Alete-SpaghettiLansberg an der Wupper, 19. NovemberHaus der Jagodas
Eine Single LadyLansberg an der Wupper, 20. NovemberHaus der Mühlfords
Ein extended CutKöln, 20. Und 21. NovemberWG
Ein Püree aus der TüteKöln, 25. NovemberRechtswissenschaftliche Fakultät
Ein Fotoalbum im KopfKöln, 26. November bis 14. DezemberWG
Ein Moment im AutoLansberg an der Wupper, 24. DezemberHaus der Mühlfords
Eine schöne BescherungLansberg an der Wupper, 24. DezemberHaus der Mühlfords
Eine noch schönere BescherungKöln, 2. JanuarWG
Ein Gefühl wie in die Hose machenKöln, 3. JanuarWG
Es ist okay, im neuen Jahr das alte du zu bleiben.
Ein Dessert und ein DetoxKöln, 4. JanuarGayleway & Gabel
Ein besonderer LöffelKöln, 4. JanuarWG
Ein bisschen too muchKöln, 14. Und 15. JanuarWG
Ein GeständnisKöln, 15. JanuarNeujahrsempfang von Gayleway & Gabel
Ein richtiger Silke
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Content Note.
Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte!
Wir wünschen euch das bestmögliche Lesevergnügen.
Für alle, die manchmal vergessen,
PLAYLIST
Gary Clark Jr., Junkie XL – Come Together
Modern Baseball – Your Graduation
Beach Bunny – Prom Queen
John Harvie – Bleach (On the Rocks)
renforshort – fuck, i luv my friends
KennyHoopla, Travis Barker – estella//
Beyoncé – Single Ladies (Put a Ring on It)
Neon Trees – Animal
Olivia O’Brien, Oli Sykes of Bring Me The Horizon – No More Friends
Miley Cyrus – Never Be Me
Dave Hause – Leave It in That Dream
SLANDER, Dylan Matthew – Love is Gone – Acoustic
Taylor Swift – this is me trying
Billy Joe Armstrong of Green Day – I Think We’re Alone Now
EIN ALTER KOSENAME
LANSBERG AN DER WUPPER, 18. JUNIABIBALL DES KONRAD-ADENAUER-GYMNASIUMS
»Du hast aber doch gesagt, dass du das Auto bekommst!« In meinem Schminkspiegel sehe ich, wie ich mir entnervt an die Stirn greife. Fuck. Mein ganzer Abend war darauf ausgerichtet, dass Anouk mich einsammelt. Vom Timing bis zur Auswahl des Kleides. Hätte ich gewusst, dass sie mich eine halbe Stunde vor Abfahrt hängen lässt, wäre dieser Fummel sicherlich nicht in meinem digitalen Einkaufswagen gelandet. Der Stretchanteil meines wadenlangen Bodycon-Kleides ist zwar hoch – aber nicht hoch genug, um eine zwanzigminütige Fahrt auf dem Rad zu überstehen.
»Ich konnte schlecht vorhersehen, dass unser Kombi einen Motorschaden haben würde und meine Eltern deswegen mit dem Transporter zum Sängerheim fahren müssen.« Den Transporter nutzt Anouks Familie für gewöhnlich nur, um Auslieferungen für ihren Bauernhof zu übernehmen. Anouk hasst diese Karre, weil sie fast zwanzig Jahre alt ist, keine Servolenkung besitzt und mit einem riesigen Logo des Vogelhofs bedruckt ist. Was gäbe ich dafür, dass auf unserem Auto einfach nur Werbung für einen Bauernhof wäre …
»Ich kann nicht mit dem Rad fahren«, protestiere ich und versuche, mit einem Pinsel den Bronzer auf meinen Wangen zu verteilen, den ich vor Schreck ein bisschen zu großzügig draufgeklatscht habe.
»Nun hab dich mal nicht so. Ich weiß, du bist eine Diva, aber …«
»Nein. Nein, das hat nichts mit Divengehabe zu tun. Es ist mir rein physikalisch schlichtweg nicht möglich. Es gibt eine gewisse Unverhältnismäßigkeit zwischen dem benötigten Hebeleffekt meiner Beine und der Weite meines Kleidersaums.«
»Soll heißen …?«
»Dass mein Kleid platzt, wenn ich es versuche. Es ist eng. Sehr eng.«
Anouk stöhnt genervt. Klar, sie kann das auch nicht nachfühlen. Anouk trägt niemals eng anliegende Kleider. Oder überhaupt etwas Enganliegendes. »Warum genau hast du dich für ein Kleid entschieden, in dem du dich kaum bewegen kannst?«
»Weil ich verdammt gut darin aussehe. Und weil ich allen den Mittelfinger zeigen will, die bisher dachten, dass man ab Kleidergröße vierzig nur in den Wallegewändern eines römischen Senators auf Tanzveranstaltungen gehen darf.«
»Oh, cool. Ich wusste nicht, dass du auf unserem Abiball so eine Art politisches Statement abgeben willst. Jetzt fühle ich mich noch schlechter, dass ich dich nicht abholen kann.«
Ich lache und klappe mit einem Schnappgeräusch das Bronzingpuder zu. Wenigstens bin ich jetzt schon mal fertig geschminkt.
»Okay, ich muss leider die unausweichliche Frage stellen …«, beginnt Anouk.
»Nein«, donnere ich sofort, weil ich genau weiß, was sie vorschlagen will.
»Aber wieso …?«
»Weil.« Einsilbige Antworten sind nicht gerade typisch für mich. Meine Freundinnen wissen, dass die Kacke am Dampfen ist, wenn ich mal nicht episch weit aushole.
Ich klemme mir das Handy zwischen Schulter und Ohr ein und suche nach meiner Handtasche.
Shit. Jetzt werde ich auch noch nervös. Ich werde nie nervös.
»Du sagst doch immer, du stehst darüber!«
»Ich stehe auch darüber. Es ist nicht wegen des Autos.« Wo ist meine verfluchte Handtasche?
»Also dann …«
»Nein, ich mein’s ernst, Anouk, ich werde sie nicht fragen.«
Ah, da ist sie! Die rechteckige schwarze Clutch in Krokolederoptik liegt auf meiner Kommode. Also genau dort, wo ich sie gestern Abend platziert habe, als ich mein Outfit noch einmal Probe getragen und mich dabei wie die kleine Schwester von Plus-Size-Supermodel Ashley Graham gefühlt habe. Alles ist gut, Polly, jetzt nur nicht die Nerven verlieren.
»Ich rufe Anna an«, schlage ich vor. »Vielleicht kann sie uns abholen.«
»Anna fährt wie vereinbart mit ihren Eltern und Brüdern hin.«
Ich stoße ein Ächzen aus. »Wie passen die eigentlich alle zusammen in eine Karre? Sind ihre Brüder nicht jeweils drei Meter breit?« Die gesamte Familie Jagoda ist ultrasportlich und besteht nur aus Erfolg und Muskeln. Sie betreibt das Fitnessimperium Lose it & Love it – ein Onlineprogramm, mit dem man in ein paar Wochen schlanker und definierter werden soll. Alle fünf, Annas Eltern, sie und ihre Brüder, sehen aus, als wären sie selbst ihre besten Kunden.
»Ach Quatsch. Jonas ist maximal zwei Meter breit, Paul dafür aber vielleicht vier.«
Gegen meinen Willen lache ich über diesen Kommentar. Annas Brüder … sie sind berühmt-berüchtigt bei jedem heterosexuellen Mädchen, das in Lansberg groß geworden ist. Bis auf Anna selbst natürlich. Und Anouk, die mit ihrem Freund Kaya gefühlt schon seit ihrer Geburt zusammen ist. Und, na ja … bei mir auch nicht. Ich bin zu clever, um mich in einen Kerl wie Paul Jagoda zu verknallen. Böse Zungen würden sagen, dass ich bei ihm sowieso keine Chance hätte, weil er der sexy Muskelprotz ist und ich die lustige Dicke bin. Aber damit habe ich kein Problem. Genauso wenig, wie ich ein Problem damit habe, mich selbst dick zu nennen. Ich bin dick. Na und? Es ist nur ein Wort und es trifft auf mich zu. Wieso sollte ich mich damit unwohl fühlen?
Jedenfalls ist das nicht der Grund, wieso ich nie auf die offensichtlich hotten Jagoda-Brüder gestanden habe. Ich habe Wichtigeres zu tun. Meine Karriere anleiern zum Beispiel. Ach ja. Und da gab es natürlich diesen einen Kerl, der mich gelehrt hat, von heißen Typen die Finger zu lassen. Diesen Kerl, dessen Name ich nicht mehr ausspreche, weil er äußerlich zum Anbeißen und innerlich zum Wiederausspucken war. So etwas kann ich beim besten Willen kein weiteres Mal gebrauchen.
»Also, wie machen wir es nun? Quälst du dich aufs Rad oder springst du über deinen Schatten und fragst deine Mutter?«
Wie auf Kommando geht die Tür meines Zimmers auf und besagte Mutter tritt polternd herein. Diese Frau kann wirklich nichts leise und diskret tun – die vielleicht einzige Gemeinsamkeit unserer sonst komplett unterschiedlichen Charaktere. Ihr wäre es in meinem Alter zum Beispiel äußerst wichtig gewesen, dass Paul Jagoda auf sie abfährt. Und auch heute macht sie sich noch von Männern abhängig und definiert sich rein darüber, was andere von ihr denken. Was ironisch ist, wenn man bedenkt, dass sich die halbe Stadt das Maul über ihren Nebenjob zerreißt.
»Oh«, macht Mama, als sie an mir hinabsieht. Ich kann in ihrem Blick lesen, dass ihr etwas auf der Zunge liegt. Doch sie spitzt nur die Lippen und sagt: »Das ist also das Kleid, um das du so ein Geheimnis gemacht hast?«
»Ist das deine Mutter? Fragst du sie?«
Ich ignoriere Anouk und zische stattdessen meiner Mum zu: »Offensichtlich.«
»Ich frag ja nur.« Verteidigend streckt sie die Hände von sich.
Und genau das ist der Grund, wieso ich – wie sie es nennt – so ein Geheimnis darum gemacht habe. Weil sie nie sagen kann, dass ich gut aussehe. Komplimente kommen bei meiner Mutter immer mit einem Disclaimer daher: Mit zehn Kilo weniger wärst du noch hübscher. In Kleidergröße achtunddreißig sähe das noch toller aus. Dieses noch in Mamas fragwürdigen Schmeicheleien trifft mich jedes Mal aufs Neue wie ein Peitschenschlag.
»Fragst du sie?«, will Anouk schon wieder wissen. »Falls nicht, muss ich nämlich jetzt sofort losradeln.«
Ich gebe mir einen Ruck und bringe die Worte »KannstduunszumAbiballfahren?« in einem einzigen Schwall heraus. Meine Mutter hat mir schon vor Wochen eröffnet, dass sie heute Abend nicht mitkommen wird. Ihr schlichtes »Oh? An einem Freitagabend? Aber, Schatz, da kann ich doch nicht!« hat mich nicht überrascht. Ich habe sie nicht einmal gefragt, ob sie wirklich dachte, die Ballnacht würde an einem Mittwochnachmittag abgehalten werden, um ihr besser in den Terminplan zu passen. Nicht, dass sie sich mittwochnachmittags Zeit genommen hätte. Da muss sie nämlich auch arbeiten. Allerdings in ihrem Hauptjob als Buchhalterin.
»Ich dachte, Anouk holt dich ab?«
Ich ringe erneut um Fassung, schalte das Mikro auf meinem Handy aus, damit Anouk die nachfolgende Unterhaltung nicht mithören kann, und erkläre: »Das Auto ist kaputt. Ihre Eltern mussten umdisponieren. Also … könntest du?«
Theatralisch schaut Mama auf die noble, mit Steinen besetzte Uhr an ihrem schmalen Handgelenk, schüttelt sich anschließend das geföhnte Haar auf und sagt: »Dann aber jetzt sofort. Ich habe um sieben die erste Party.«
Nie fand ich den Begriff Party unangemessener. Ich würde lieber auf eine Party gehen, auf der sich die Gäste gegenseitig mit stumpfen Messern den Blinddarm entfernen, als auf eine von Mamas Sexy-Hexy-Veranstaltungen.
»Noch so ein Drink und ich wäre bereit, mir von deiner Mutti eine Einführung in ihr Sortiment geben zu lassen, Polly!«
Ich nehme den Cocktail entgegen, der mir soeben über die Theke gereicht wurde, und sehe mit hochgezogenen Augenbrauen zu dem Typen neben mir. Es ist Bennet, einer meiner Klassenkameraden. Oder besser gesagt: einer meiner ehemaligen Klassenkameraden. Und zwar einer von der Sorte, die mir nach heute Abend definitiv gestohlen bleiben kann.
»Verstanden? ’ne Einführung!«
Ich blinzle ein paarmal provokativ, um ihm zu zeigen, dass der lahme Witz nicht besser wird, nur weil er ihn wiederholt. Ich hab’s kapiert: Meine Mutter verdient ihr Geld damit, Sexspielzeug auf Dildopartys zu verticken. Get over it. Ich selbst bin zwar noch lange nicht darüber hinweg, aber das ist ein anderes Thema.
»Mehr hast du nicht drauf?«, frage ich, während Bennet mich noch immer wie ein Mensch gewordener Zwinkersmiley anstarrt und auf eine Reaktion hofft.
Ich lasse ihn stehen und werfe ihm eine Fuck-off-Geste über die Schulter zu. Es soll ja Leute geben, die die Schule nach ihrem Abschluss vermissen. Das wird mir garantiert nicht passieren. Ich weiß einfach, dass ich für das Berufsleben gemacht bin. Davon trennt mich zwar noch ein mehrjähriges Jurastudium, aber diese Zeit kriege ich auch noch rum. In ein paar Jahren sitze ich schmalspurigen Proleten wie Bennet dann im Verhandlungssaal gegenüber und verknacke sie wegen Steuerhinterziehung. Oder wegen einer überstehenden Gartenhecke. Memo an mich: Nicht auf Zivilrecht spezialisieren.
Ich lasse meinen Allerwertesten auf dem Weg von der Bar zurück zu unserem Tisch noch ein wenig ausladender schwingen und setze mich schließlich wieder zwischen meine besten Freundinnen. Anna und Anouk sind in ein Gespräch über Annas anstehenden Portugalurlaub vertieft, eine Luxusreise, die ihre Eltern ihr zum Abschluss geschenkt haben. Normalerweise habe ich kein Problem damit, mich in eine Unterhaltung einzuklinken, aber in diesem Moment möchte ich einfach nur ungestört meinen Cocktail trinken und die Scham, die ich empfinde, gleich mit hinunterspülen.
Ja, ich tue immer so, als stünde ich über allem. Als kümmerte es mich nicht, dass meine Mutter lieber den Bunny 2001 an eine Schar kichernder Junggesellinnen verhökert, als an meinem Abiball teilzunehmen. Als hätte ich nicht mitbekommen, dass Annas und Anouks Eltern ihre Abwesenheit negativ aufgefallen ist. Als könnte ich ihren Nebenjob wohlwollend unter freie Auslebung weiblicher Lust abhaken.
Aber die Sache ist die: Ich kann’s nicht. Ich kann zwar nach außen hin so tun, als wäre ich stärker als all das, doch in mir drin sieht es anders aus. Und deswegen wird es Zeit, dass ich endlich hier wegkomme. Weg aus der Kleinstadt, in der jeder eine vorgefertigte Meinung über jeden hat.
»Alles okay bei dir, Pollyschmolly?«
Widerwillig hebe ich den Blick von meinem Glas mit klebrig-süßem Alkohol und entdecke Annas Bruder Jonas. Er sitzt schräg gegenüber am Kopfende des Tisches, die Krawatte mit gelöstem Knoten um seinen Hals, das weiße Hemd oben ein wenig offen. Jesus … wie kann ein Mensch nur derart viel Sport treiben, dass man die trainierte Brust selbst dann erkennen kann, wenn nur drei Knöpfe geöffnet sind?
»So hast du mich nicht mehr genannt, seit …?«
»Seit du auf Annas dreizehntem Geburtstag schmollend in der Ecke gesessen hast, weil dich irgendein Kerl geärgert hat.«
»Er hat mich nicht geärgert. Er hat behauptet, sein Vater wäre Richter am Bundesverfassungsgericht. Dabei arbeitete er im Amtsgericht Lansberg.«
»Und das hat dich verdammt geärgert.«
»Nun ja …« Ich strecke beide Hände mit den Handflächen nach oben aus und wäge an ihnen mein Argument ab. »Diese beiden Gerichte agieren nicht mal nach derselben Gerichtsbarkeit. Das eine ist die Verfassungsgerichtsbarkeit und das andere … Ach, egal.« Jonas zwinkert mir zu. Sag mal … hat der Typ selbst trainiertere Augenlider als ein normaler Mensch oder wieso sieht das bei ihm so … elegant aus? Wenn ich versuche, jemandem zuzuzwinkern, macht er garantiert sofort den FAST-Test, um zu überprüfen, ob ich gerade einen Schlaganfall erleide.
»Also erzähl, was ist der Grund für den mürrischsten Blick seit dem großen Amtsgericht-Zwischenfall vor fünf Jahren?«
»Nichts«, sage ich. »Ich habe bloß darüber nachgedacht, dass ich das hier nicht vermissen werde. Die Schule, meine ich. Die Stadt …«
Jonas nickt langsam. »Ja, so ging es mir auch. Es ist besser rauszukommen.« Kurz wirkt er ein wenig verloren und schwenkt, wie zur Ablenkung, ein halb volles Glas mit Cola in der Hand. »Anna meinte, du ziehst auch nach Köln?« Am Ende des Satzes geht seine Stimme ein kleines bisschen hoch. Gerade genug, um seiner Frage den Small-Talk-Charakter zu nehmen.
»Jap«, mache ich und lasse den Buchstaben »p« bestimmt und genüsslich von meinen Lippen prallen.
»Lass mal was von dir hören, wenn es so weit ist.« Er schaut mich aus halb geöffneten Lidern an, was seine Augen dunkler und ihn noch attraktiver aussehen lässt. Was hat es mit Jonas’ omnipräsenter Nettigkeit auf sich? Kann er einfach nicht anders, als überall seinen Charme zu versprühen? »Ich zeig dir meinen liebsten Libanesen und bewahre dich mit meinem hart erworbenen Insiderwissen davor, auf die peinlichen Ersti-Partys zu gehen.«
»Wird gemacht.« Ich tippe mir zum Salut an den Pony. Mit einem Typen wie Jonas auf einer Uniparty aufzutauchen, ist ganz bestimmt so, als würde man in Lady Gagas Fleischkleid in einem Tigerkäfig spazieren gehen. Er sieht heiß aus und ist scheißnett. Diese Jagodas haben wirklich einen unfairen Genpool.
»In welchem Viertel willst du wohnen?«
Ich ziehe eine Schnute, die Pollyschmolly würdig ist, und winke ab. »Ist mir egal. Hauptsache, ich kann es bezahlen und muss dort keine Anrufe von Leuten entgegennehmen, die sich über die Akkulaufzeit des Bunny 2001 beschweren.«
Jonas zieht eine Augenbraue hoch.
»Das erkläre ich dir bei unserem Date beim Libanesen.« Das sage ich mehr im Scherz, aber Jonas lächelt so breit, dass ich jeden einzelnen seiner perfekten Zähne sehen kann. Bestimmt machen selbst seine Backenzähne zum Start in den Tag erst mal zehn Liegestütze. »Geht klar.«
Zu meiner Überraschung reicht Jonas mir die Hand, um den Deal zu besiegeln, und ich schüttle sie. Für den Moment fühlt es sich gut an, so zu tun, als würde er dieses Angebot ernst meinen. Dabei wissen wir beide, dass er und ich niemals gemeinsam essen gehen werden.
EINE VIKTORIANISCHE DAME MIT MUFFIN TOP
KÖLN, 11. OKTOBEREINFÜHRUNGSWOCHE UNI
Das wird der perfekte erste Tag in meinem neuen Lebensabschnitt. Perfektion gibt es nicht, ich weiß, aber der heutige Tag wird der Sache sehr nahekommen.
Alles, was ich dafür brauche, ist bereits in meiner neuen Bibliothekstasche aus Klarsichtmaterial verstaut, aber ich gehe es zur Sicherheit noch einmal durch: Ich habe meine neue Student-ID mit einem Passfoto, auf dem ich tatsächlich gut aussehe und nicht wie auf einem Mugshot, einen Laptop mit vollem Akku plus Ladekabel – nur um sicherzugehen – und einen gefüllten Coffee-to-go-Becher mit dem hoffentlich letzten Cappuccino aus der grottigen Kapselmaschine meiner Mutter. Wenn ich die Wohnung, die ich heute Abend besichtigen werde, bekomme und meine Suche nach einer neuen Bleibe damit endlich endet, werde ich mir einen eigenen Espressokocher zulegen. Dann muss ich nur noch lernen, wie man damit umgeht, ohne die Küche in Brand zu stecken, aber auch das kriege ich hin. Es wird hoffentlich leichter sein, als den wichtigsten Punkt auf meiner ewigen Lebens-To-do-Liste endlich abzuhaken: eine Wohnung finden, und zwar keine WG.
Ich habe einen Eintrag in meiner Notizen-App, in der ich seit Jahren Buch über meine Karriereplanung führe, und dieser Punkt steht direkt unter meinem Ziel, mich für das Jurastudium in Köln einzuschreiben. Dummerweise hat der Wohnungsmarkt einen weitaus härteren Numerus clausus als mein Studienfach. Alles ist knallhart zugangsbeschränkt.
Ich bin schon seit dem mündlichen Abi auf der Suche nach einer eigenen Bleibe und so langsam verliere ich den Mut. Dabei entspricht Aufgeben überhaupt nicht meiner Natur. Ich bin ein Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Mensch und es treibt mich in den Wahnsinn, mir nicht durch bloßen Ehrgeiz den Traum von einer eigenen Wohnung erfüllen zu können. Vor ein paar Wochen dachte ich noch, die Finanzierung würde die größte Hürde zu meinem neuen Zuhause darstellen. Doch letzte Woche habe ich völlig überraschend eine Zusage für eine Position im Office Management bei einer großen Kölner Wirtschaftskanzlei erhalten, die zumindest diese Sorge ausgelöscht hat.
Natürlich könnte ich nach Köln pendeln. Lansberg, wo ich mit meiner Mutter lebe, ist nur etwa vierzig Kilometer von der Rheinmetropole entfernt und die Zuganbindung ist gut. Doch neunzehn Jahre mit dieser Frau unter einem Dach waren mehr als genug. Jeder Tag mit ihr fühlt sich an, als müsste ich rund um die Uhr einen Sack Flöhe hüten. Diätbesessene, dauernörgelnde Flöhe, die viel zu viel Zeit auf dem Crosstrainer verbringen.
Wahrscheinlich habe ich mich deswegen so darauf versteift, eine eigene Wohnung zu finden, statt in einer WG unterzukommen. Das Zusammenleben mit meiner Mum hat mir jede Hoffnung genommen, dass zwei Menschen friedvoll unter einem Dach koexistieren können.
Es ist acht Uhr, als ich meine Zimmertür zuziehe und so leise wie möglich durch unseren Hausflur tapse. Doch mein Versuch, mich unbemerkt davonzustehlen, scheitert kläglich.
Die Stimme meiner Mutter dringt gedämpft aus dem Esszimmer: »Apolonia?«
Ich könnte sie jetzt zum tausendsten Mal auf meinen bevorzugten Rufnamen hinweisen, aber ich erspare mir ihre Standardantwort darauf: Wenn ich meine Tochter Polly nennen wollen würde, hätte ich sie Polly genannt. Damit hat sie vermutlich irgendwie recht, aber ich hasse meinen vollständigen Vornamen deswegen nicht weniger.
Ich stecke meinen Kopf durch die Tür. Mama sitzt noch in ihrem verschwitzten Sportfummel am Tisch und genehmigt sich zum Frühstück eine Pampelmuse. Wie sehr muss man von der Diätkultur der Neunzigerjahre zerfressen sein, um sich freiwillig eine Pampelmuse reinzuziehen?
»Ja?«
»Lass dich mal ansehen an deinem ersten Unitag!« Puuuh, here we go again. Eine als Kompliment getarnte Beleidigung in drei, zwei, eins … »Sehr schick. Blazer stehen dir wirklich gut. Nur der Knopf vorne hat vor ein paar Monaten noch etwas weniger gespannt, nicht?«
Was gäbe ich dafür, dass besagter Knopf genau in diesem Moment mit Karacho abplatzen und meiner Mutter genau zwischen die Augen schnellen würde.
»Wenn du ihn aufmachst, ist es noch ein bisschen schmeichelnder.« Mhm … noch. »Es betont irgendwie … du weißt schon …« Sie umfasst die Hüftknochen, die aus ihren Yogapants herausschauen, und kneift sich links und rechts in den nicht vorhandenen Speck. »Früher nannte man das ein Muffin Top.«
Im Zug lasse ich auf die sinnvollste Art Luft ab, die ich kenne: Ich öffne WhatsApp und erstatte meinen besten Freundinnen Bericht darüber, dass meine Mutter sich auch heute früh nicht von ihrer charmantesten Seite gezeigt hat.
Ich bin seit der fünften Klasse mit Anna und Anouk befreundet und mindestens genauso lange verschweige ich ihnen, wie sehr mich die Sprüche meiner Mum in Wahrheit verletzen. Dabei teile ich eigentlich alles mit den beiden. Nur bei dieser einen Sache tue ich so, als ginge sie mir nicht an die unter dem Muffin Top liegenden Nieren. Wieso das so ist, kann ich nicht einmal genau sagen. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass die beiden schlank sind und das Gefühl nicht kennen, aufgrund ihres Gewichts abgestempelt zu werden. Vielleicht ist es aber auch ein zu großer Teil meiner Identität geworden, mich nicht um meine Figur zu scheren. Vor Anna und Anouk zuzugeben, dass meine Mutter mir mit ihren Kommentaren wehtut, fühlt sich an, als würde ich diese Einstellung verraten. Denn die Sache ist die: Ich habe kein Problem mit meinem Körper. Mein Körper beherbergt ein fantastisches Gehirn, das fast jedes Problem lösen kann und bei fast jeder Person gut ankommt. Nur … es ist wirklich verdammt harte Arbeit, sich nicht zu hassen, wenn man in einem Umfeld groß wird, das einen bei jeder Gelegenheit spüren lässt, wie verbesserungswürdig man ist. Manche Teenager nehmen Drogen, um gegen ihre Eltern zu rebellieren – ich habe beschlossen, mich selbst gut zu finden, obwohl ich nicht so schlank bin wie meine Mutter. Shocking.
PollyUnitag numero uno startet mit einem neuen Silke-Highlight: Wisst ihr, was ein Muffin Top ist? Ich weiß dank ihr, dass ich eines habe. Und bei euch so?
AnnaDas hat sie nicht gesagt??! Das geht so echt nicht, Polly. Du musst ihr das klarmachen.
Manchmal hasse ich das Texten, weil man Leuten währenddessen so schwer ins Wort fallen kann. Ich bin nämlich Expertin im Ins-Wort-Fallen und wende es besonders gerne an, wenn meine besten Freundinnen darüber diskutieren wollen, wie man meine Mutter doch noch zu einem feinfühligeren Menschen erziehen könnte.
PollyAch, wieso denn? Ist doch nur ein klassischer Silke. Außerdem ist das Topping doch eh der beste Teil vom Muffin.
AnnaNa gut. Akzeptiert. Bist du schon in der Uni?
PollyGerade im Zug. Der übrigens so vollgepackt ist, dass er jeden Augenblick ebenfalls ein Muffin Top entwickeln wird. Allerdings eines aus Fahrgästen statt aus Hüftgold.
AnoukKönntet ihr aufhören, über Gebäck zu reden? Ich hab noch nicht gefrühstückt.
PollyCroissants, Schwarzwälder Kirsch, Berliner, Hefeteilchen, Brioche …
AnnaPastéis de Nata …
AnoukBist du wieder im Portugal-Modus?
Anna hat den Sommer an der Atlantikküste verbracht, streunende Hunde gerettet, unfairerweise unbegrenzten Zugang zu portugiesischen Cremetörtchen gehabt und ganz nebenbei die Liebe ihres Lebens getroffen. Manche Leute erhalten das Glück eben in der XXL-Packung – aber keinem Menschen gönne ich das mehr als Anna. Mir hingegen würde ein kleines Testpröbchen voll Glück schon genügen. Ein heißer Surferdude wie Annas Freund Fynn muss darin nicht einmal enthalten sein. Eine Beziehung ist in meinem eng getakteten Fünfjahresplan nämlich nicht vorgesehen.
AnnaGedanklich, ja. Fynn und ich haben ein portugiesisches Café in Köln gefunden, in dem wir gestern ein wenig nostalgisch geworden sind.
AnoukAaah, to be young and in love …
Ich lese Anouks letzte Nachricht mit einer gewissen Skepsis. Denn eigentlich treffen beide dieser Faktoren auch in hohem Maße auf sie zu. Anouk ist neunzehn, genau wie ich, und seit über drei Jahren mächtig in love mit ihrem Sandkastenfreund Kaya.
Bevor ich jedoch antworten kann, fährt mein Zug in den Kölner Hauptbahnhof ein und ich muss mich ranhalten, nicht von der Masse an Muffin-Top-Passagieren zerquetscht zu werden.
Tag eins meiner Universitätskarriere läuft ein wenig schleppender an als gedacht. Ich bin ein ziemlich wissbegieriger Mensch – meine Mutter bevorzugt das Wort klugscheißerisch – und so fällt es mir schwer, die beiden Studenten aus dem dritten Semester, die uns zur Einführungswoche am vereinbarten Treffpunkt einsammeln, nicht sofort mit fachspezifischen Jurafragen zu löchern.
Die beiden heißen Justus und Konrad, was ich zunächst für einen Scherz halte. Doch sie haben entsprechende Hi-my-name-is-Sticker auf der Brust kleben, also muss etwas Wahres dran sein. Justus ist klein und schlank, mit einem Gesicht wie eine clevere Maus in einem Zeichentrickfilm. Konrad ist sehr groß und kräftig gebaut, er hat eine Figur, die ihn älter wirken lässt, eher wie jemanden, der schon angekommen ist im Leben. Beide tragen Outfits, die man wohl als typisch für Rechtswissenschaftler bezeichnen würde, vor allem Konrad passt mit seinen geschnürten Bootsschuhen, einem blau gestreiften Hemd und einem dünnen Schal genau ins Bild. Anouk würde diesen Look hassen, weil er Konrad aussehen lässt, als käme er aus reichem Hause. Ich aber habe eine Schwäche für Typen, die sich mit Anfang zwanzig so anziehen, als wären sie bereits am Ziel.
Justus und Konrad pferchen unsere fünfundzwanzigköpfige Gruppe mehr oder weniger begeistert dreinblickender Jura-Erstis in einen Seminarraum, wo sie eine PowerPoint-Präsentation mit dem Wochenprogramm aufrufen. Noch bevor sie den Text des ersten Slides herunterrattern, wird mir klar, dass wir diese Woche keine Paragrafen auswendig lernen werden. Der Beginn meiner Karriere als knallhartes weibliches Gegenstück zu Harvey Specter wird sich also um wenige Tage verzögern. Zunächst scheint nämlich eine Menge Socialising auf dem Plan zu stehen, angefangen bei einer Vorstellungsrunde über eine Campus-Rallye bis hin zu Kneipentouren an so ziemlich jedem Abend.
Keine Ahnung, wie ich das schaffen soll, wenn ich gleichzeitig so viele Wohnungsbesichtigungen wie möglich wahrnehmen will. Ich möchte nicht die Kommilitonin sein, die sich direkt in der ersten Woche aus allem ausklinkt, sondern Kontakte knüpfen und die anderen kennenlernen. Zumal wir eine bunt gemischte Truppe zu sein scheinen und die meisten echt nett aussehen. Es gibt noch ein paar weitere Klischeejuristen – wobei keiner den Look so verinnerlicht hat wie Konrad –, zwei, drei junge Frauen mit verdammt teuer wirkenden Handtaschen, etliche Normalos, deren Style sich unauffällig in das Gesamtbild einfügt, einige alternativ wirkende Jutetaschenträgerinnen und einen Typen, der offensichtlich ein großes Faible für das Mittelalter hegt. Lustigerweise gab es bisher in allen Jahrgangsstufen, in denen ich war, diese eine Person, die sich in ihrer Freizeit als Burgfräulein oder Elb verkleidet hat. Wobei dieser hier eher einen guten Zwerg abgäbe. Ein langer rotstichiger Bart umrahmt ein sympathisches Lächeln, das mich instinktiv zurücklächeln lässt.
Was die anderen wohl über mich denken? Denn dass wir einander alle auf den ersten Blick in Schubladen stecken, ist ja wohl klar – ob wir es wollen oder nicht. So ist unsere Gesellschaft nun mal gestrickt. Bin ich für sie eine der Normalos oder sortieren sie mich in die Kategorie Klischeejuristin ein? Oder denken sie einfach nur: Die Dicke dahinten trägt einen viel zu engen Blazer?
Arrrg. Nein. Stopp. Am liebsten würde ich mir gegen die Stirn schlagen, um diese Hirngrütze zu vertreiben. Genau aus diesem Grund muss ich zu Hause raus! Ich denke nie auf diese Weise über meinen Körper – es sei denn, meine Mutter hat ihn mal wieder kommentiert. Das muss aufhören. Dringend.
Wie aufs Stichwort klopft Konrad mit den flachen Händen auf seine Oberschenkel und sagt: »Dann wollen wir die Vorstellungsrunde mal beginnen.«
»Na, hoffentlich kommt jetzt kein komisches Spiel.« Ich drehe den Kopf zu meiner Rechten, wo diese Worte eben geflüstert wurden. Neben mir sitzt eine kurvig gebaute junge Frau, deren Kleidungsstil sich nicht drastischer von dem der Gruppenleiter – und streng genommen auch von meinem – unterscheiden könnte. Sie trägt ein offen stehendes Männerhemd mit einem Tanktop sowie sehr kurz abgeschnittene Shorts über Netzstrümpfen. Ihr Outfit gewährt einen tadellosen Blick auf die vielen in Erdtönen gehaltenen Tattoos, die ihre Arme, Beine und das Dekolleté zieren. Sie sticht so sehr aus der Gruppe heraus, dass ich mich frage, wieso mein Blick eben an Gimli, dem Zwerg, statt an ihr hängen geblieben ist. Was würde meine Mutter wohl sagen, wenn ich einen solchen Stil hätte? Ich meine: Sie hat einen rasierten Schädel, auf dem seitlich hinter dem Ohr die handtellergroße Tätowierung eines Eichhörnchens prangt. Kommt das auf der Ich-habe-als-Mutter-versagt-Skala vor oder nach Übergewicht?
Ich jedenfalls finde sie auf den ersten Blick atemberaubend. Vor allem, weil sie – genau wie ich – kein Problem damit zu haben scheint, mit einer Wildfremden ein Gespräch zu beginnen.
»Oh, ein Spiel wäre schlimm«, stimme ich ihr zu.
»Jeder sagt ein Wort, das ihn beschreibt, und der Sitznachbar muss etwas finden, das mit dem letzten Buchstaben dieses Wortes beginnt.« Sie schüttelt sich, als wäre ihr gerade ein Schauer über den Rücken gelaufen.
Ich grinse sie breit an. »Oh! Oder: Ich packe meinen Koffer und nehme mit: Sebastians Ehrgeiz, Steffis Offenheit und meinen tollen Humor!«
»Puh, wenn das passiert, gehe ich.«
Wir kichern beide und damit ist das Eis gebrochen. Ich halte ihr meine Hand hin und sage schlicht: »Polly.«
»Mel. Hey! Wow! Das nenne ich mal einen Händedruck.« Sie schüttelt ihre Hand aus, als hätte ich ihr gerade mehrere Finger zerquetscht.
Zum Glück belassen es Justus und Konrad bei einer klassischen Vorstellungsrunde, bei der jeder ganz zwanglos ein paar Sätze über sich verlieren soll. Sie gehen nach dem Alphabet, weswegen gerade ein Aaron von seinem liebsten Hobby, dem Wakeboarding, berichtet. Ich habe keine Ahnung, was Wakeboarding ist – braucht man dazu Wasserski? –, und setze daher lieber meine geflüsterte Unterhaltung mit Mel fort.
»Meinst du, man muss sich ein paar rahmengenähter Schnürschuhe zulegen, wenn man das erste Jahr bestehen will?« Sie nickt zu Justus und Konrad.
»Mhm, nein, ich glaube, man hat bis zum ersten Staatsexamen Zeit dafür. Fürs zweite braucht man dann aber so einen Schal.«
»Vielleicht mag ich dich«, sagt sie geradeheraus, deutet mit dem Zeigefinger auf mich und untermalt jede Silbe mit einem verschwörerischen Nicken.
»Sehr gut«, erwidere ich. »Ich dich vielleicht auch.«
»Apolonia?«
Ich brauche einen Moment, bis ich checke, dass wohl kaum eine zweite Apolonia in diesem Seminarraum sitzt und demnach ich gemeint sein muss. Vierundzwanzig Augenpaare bohren sich in mich und mir wird klar, dass es sehr scheinheilig von mir war, Justus und Konrad aufgrund ihrer Vornamen eine gewisse Spießigkeit anzudichten. Ich heiße schließlich wie eine viktorianische Dame.
»Hi! Apolonia nennt mich nur meine Mutter. Ich heiße Polly. Ich bin neunzehn, ziehe demnächst in die Stadt und will Wirtschaftsanwältin werden.«
EIN HINTERHAUSIM GRÜNEN
STADTRAND VON KÖLN, 11. OKTOBERWOHNUNGSBESICHTIGUNG
Die erste Hälfte des Tagesprogramms endet gegen sechzehn Uhr. Justus und Konrad geben uns vor der Verabschiedung die Wegbeschreibung zu der Kneipe mit auf den Weg, in der wir heute Abend auf den Anfang unseres Studiums anstoßen wollen. Meine Wohnungsbesichtigung ist um sechs, der Umtrunk beginnt zwei Stunden später. Das sollte locker zu schaffen sein, auch wenn sich die beiden Locations in entgegengesetzten Richtungen befinden. Bleibt nur noch das Problem, dass der letzte Zug nach Lansberg unter der Woche um halb zehn fährt. Ich müsste gegen neun also schon wieder Richtung Hauptbahnhof aufbrechen. So eine Scheiße. Die Wohnungsbesichtigung muss einfach ein Erfolg werden. Ich will keine weiteren wertvollen Unierfahrungen verpassen, weil ich die verfluchte Bimmelbahn erwischen muss.
»Wo wohnst du?«, frage ich Mel, als wir gemeinsam aus der Rechtswissenschaftlichen Fakultät spazieren und uns dabei fasziniert nach allen Ecken umdrehen. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass die nächste Phase meines Lebens begonnen hat. Die Phase, in der nur noch meine Leistung zählt. Die Phase, in der mein Notendurchschnitt nicht mehr durch vier Punkte in Sport runtergezogen wird. Die Phase, in der ich mir den Frühstückstisch nie wieder mit einer Pampelmuse teilen muss.
»Bei meinem Dad in Porz. Er ist ziemlich cool, daher schenke ich mir das Geld für die Miete. Und du?«
»Leider hab ich das Gegenteil von einem coolen Dad erwischt. Ich suche gerade etwas Eigenes, damit ich bei meiner Mutter rauskomme.«
»Komm mir nicht mit Müttern«, kommentiert sie mit einem Augenrollen. Vielleicht mag ich sie jetzt noch ein wenig mehr.
Während wir auf die nächstgelegene Haltestelle zulaufen, erzähle ich von meiner anstehenden Wohnungsbesichtigung und dem Dilemma mit der Abfahrtszeit der Bimmelbahn.
»Ich würde dich ja fragen, ob du bei mir pennen willst. Aber wir kennen uns erst seit sechs Stunden, das wäre also irgendwie weird. Vielleicht bin ich nächste Woche so weit.«
Ich muss laut loslachen. Ich weiß Menschen, die ihr Herz auf der Zunge tragen, wirklich sehr zu schätzen. Vorausgesetzt, ihr Herz ist kein Arschloch. Doch Mels scheint ein echtes Goldstück zu sein.
»Bis nächste Woche habe ich hoffentlich schon einen Mietvertrag.«
»Wo ist denn die Wohnung heute Abend?«
Ich nenne ihr die Adresse und krame schließlich mein Handy samt Google Maps hervor, weil Mel den Straßennamen nicht zuordnen kann.
»Oh«, macht sie. »Das ist so weit draußen, dass du genauso gut weiterhin aus Lansberg pendeln könntest.«
»Ich …« Doch meine Rückfrage wird von einem Rufen unterbrochen.
»Polly!«
Vom gegenüberliegenden Bürgersteig ist ganz deutlich mein Name zu hören. Mel und ich heben im Gleichtakt den Kopf und drehen uns zu der Stimme. Nur zwei Fahrspuren von mir entfernt steht … Jonas?
Ja. Es ist Jonas Jagoda, Annas älterer Bruder. Und ich habe keine Ahnung, was er hier macht. Das Wintersemester beginnt offiziell erst nächste Woche …
Ich kann seine weißen Zähne bis hierher blitzen sehen, als er den Mund zu einem breiten Grinsen öffnet. Er hebt den Arm auf diese typisch lässige Art zum Gruß, die man sich nur aneignet, wenn man das ganze Leben auf der Sonnenseite verbracht hat. Dann setzt er zu einem leichten Joggen an, überquert die Straße und hebt den Arm erneut, um einen anbrausenden Pkw-Fahrer zu besänftigen. Die Jagodas sind alle so lächerlich gut gelaunte und gut gebaute Menschen, dass Jonas bei diesem kleinen Run über die Straße aussieht, als würde er für Shampoo modeln. Der Gegenwind weht ihm das dunkelbraune Haar in die Stirn, von wo er es mit einer fließenden Handbewegung wegstreicht. Wenn Obelix in den Zaubertrank plumpsen musste, um lebenslang verdammt stark zu werden – in welchen Kessel sind dann die Jagodas gefallen? In einen voller Anti-Aging-Creme?
»Was machst du denn hier?«, fragt er mit ausgebreiteten Armen.
»Äh, was machst du hier?«, frage ich verdattert.
»Mein Kumpel Adem leitet so eine Ersti-Gruppe und ich wollte ihn fürs Gym einsammeln.« Natürlich ist er gerade auf dem Weg zum Gym.
Obwohl Jonas sonst nichts mit ihm gemeinsam hat, erinnere ich mich bei seinen Worten an einen anderen Typen, der immer auf dem Weg zum Gym, dem Fußballplatz oder dem Kraftraum war. Bei dem Gedanken an Ich-spreche-seinen-Namen-nicht-mehr-aus erschauere ich. Ich weiß, dass es keinen Unterschied macht, ob man Menschen nun wegen zu viel oder zu wenig Fitness verurteilt – aber Laurenz hat mich diesbezüglich einfach verdorben.
Ich überspiele meinen plötzlichen Flashback und die Tatsache, dass ich seinen Namen nun blöderweise gedacht habe, mit einem extrabreiten Grinsen: »Oh, Adem! Ich erinnere mich. Ist er wieder nüchtern?« Anna, Anouk und ich sind erst vor Kurzem bei Jonas auf einer Hausparty eingeladen gewesen, auf der wir seinen Kumpel Adem kennengelernt haben. Er hat ein Trinkspiel nach dem anderen vorgeschlagen, sich dabei aber als miserabler Kartenspieler erwiesen. Ich habe ihn regelrecht unter den Tisch getrunken.
Jonas zeigt erneut sein Hunderttausend-Watt-Lächeln und legt in Erinnerung schwelgend eine Hand auf meinen Oberarm. Mein Oberarm ist verwirrt, freut sich aber auch irgendwie, von Jonas so freundschaftlich behandelt zu werden.
»Ach stimmt, du kennst ihn ja. Es geht ihm wieder besser. Aber er musste lange seine Wunden lecken. Und ihr?«, fragt er und schaut erwartungsvoll von mir zu Mel und wieder zurück. Mir wird bewusst, dass ich viel zu lange auf ein Muttermal über seinem Schlüsselbein gestarrt habe, das sich an seinem dünnen Strickpullover und dem Kragen der Lederjacke vorbei einen Weg ans Tageslicht gebahnt hat.
»Wir sind auch zur Ersti-Woche hier«, springt Mel für mich ein und hält ihm die Hand hin. »Hi. Mel.«
»Freut mich.« Jonas nimmt die Hand von meinem Arm, ergreift Mels und stellt sich vor. »Polly und meine Schwester sind seit Jahren beste Freundinnen.«
»Wie schön«, kommentiert Mel mit einem spitzbübischen Grinsen und lässt ihren Blick einmal an Jonas auf und ab und dann zu mir herüberwandern.
»Also, Ersti-Woche?« Er streckt verheißungsvoll und einladend die Finger nach mir aus. »Denk dran, Pollyschmolly. Du schuldest mir ein Date beim Libanesen.« Eine Sekunde lang habe ich keine Ahnung, was er meint. Doch dann spielt mein Kopf die passende Erinnerung ab: Jonas hat seinen Lieblingslibanesen erwähnt, als wir uns beim Abiball über meinen Umzug nach Köln unterhalten haben. Bevor ich etwas erwidern kann, berührt er mich noch einmal am Arm und tippt sich dann an den nicht vorhandenen Hut – eine weitere Geste aus dem Katalog der mühelos coolen Sonnenscheinmenschen, die gleichzeitig Aufbruchswillen und Bedauern darüber ausdrückt.
Ich und mein irritierter Arm nicken ihm hinterher und sagen: »Ja, klar. Demnächst dann.« Als ob. Das, was er da so mir nichts, dir nichts als Date bezeichnet, wird niemals stattfinden. Vom Leben übervorteilte Männer wie Jonas können so etwas einfach daherreden, ohne es je in die Tat umsetzen zu müssen. Er ist bloß aufmerksam und lädt am Tag bestimmt zwei Dutzend entfernte Bekannte zu Verabredungen ein, die nie verwirklicht werden.
»Lass mich raten … Klarer Fall von: Du bist seit Kindesbeinen in den hotten großen Bruder deiner besten Freundin verliebt?«
Ich sehe Mel mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich hoffe, du beweist später im Gerichtssaal bessere Menschenkenntnis. Jonas und ich? Nicht in diesem Universum.«
»Wieso? Da lagen so krasse Funken in der Luft – wenn ich Haare hätte, hätte ich mich in eine menschliche Wunderkerze verwandelt.« Mel schlenkert mit den Armen über ihren Stoppeln, als würde ein lichterloh brennender Schopf sie in Panik versetzen.
»Glaub mir. Das waren keine Funken, das ist die Magie der Jagodas. Und ich hab wirklich keine Zeit für so einen Charmebolzen.«
Ihr Gesicht verwandelt sich in einen Mensch gewordenen Sabber-Emoji. »Oh Gott. Jetzt denke ich an seinen Bolzen.«
»Mel! Pfui!«
Dreimal gleiche ich die Daten aus der E-Mail mit der Realität vor meiner Nase ab. Das … das kann doch … das muss doch ein Fehler sein? Zum vierten Mal mustere ich die Fotos, die dem digitalen Wohnungsexposé beigefügt sind, und komme zu dem Schluss, dass ich meine Augen gar nicht so eng zusammenpetzen kann, als dass sich die Bruchbude vor mir in das darauf abgebildete Kleinod verwandeln könnte. Wo bin ich hier gelandet?
Schon die Info Nur fünfzehn Minuten bis zur Uni war mehr als glatt gelogen. Ich habe fünfzehn Minuten im Bus gesessen – so viel ist korrekt. Nur war ich anschließend noch eine halbe Stunde zu Fuß unterwegs, um diese Hütte hier zu erreichen. Dass ich nicht viel zu spät bin, habe ich einzig meinem Organisationstalent zu verdanken, das mich zu wichtigen Terminen grundsätzlich mit ordentlichem Zeitpuffer aufbrechen lässt.
Mitten im Grünen: Schickes Ein-Zimmer-Apartement im Hinterhaus am Kölner Stadtrand. Die Headline der Wohnungsannonce ist ein schlechter Scherz. Der Bus hat auf meinem Weg hierher wortwörtlich das Ortsausgangsschild passiert. Vom Hinterhaus ist nichts zu sehen, der Zustand des Gartens spricht mehr für ein Leben Mitten im Braunen und das Schickste weit und breit ist meine durchsichtige Bibliothekshandtasche.
Na ja. Vielleicht verurteile ich das hier alles zu schnell. Vielleicht entpuppt sich das Ein-Zimmer-Apartement doch noch als Präsidentensuite. Ich drücke beherzt auf die Klingel am Gartentor, das so ausschaut, als würde es den nächsten Windhauch nicht überleben. Einbruchsicher ist das nicht. Aber da kein Einbrecher eine halbe Stunde durch die Gegend trotten wird, um diesen Ort zu finden, muss ich mir darum wohl keine allzu großen Sorgen machen.
Die Wohnung wird von einer Privatperson vermietet, die sich mir in unserem kurzen E-Mail-Kontakt als Herr Schmitt vorgestellt hat. Plötzlich überkommt mich bei dem Namen ein Schauer. Was, wenn es das einfallsloseste Alias der Welt ist und ich gerade in einen Hinterhalt tappe? Zwar wollte ich Sabine Rückert schon immer mal meinen Namen sagen hören, aber sicher nicht als Mordopfer in einer neuen Folge des ZEIT-Verbrechen-Podcasts.
Jemand öffnet die Milchglastür des Bungalows, hinter dem sich angeblich noch ein zweites Haus befindet. Heraus tritt ein Mann um die fünfzig – Herr Schmitt, wie ich annehme –, der aussieht wie ein Physiklehrer, der niemals bei seiner Mami ausgezogen ist. Angegilbtes Kurzarmhemd, dazu eine beige Bundfaltenhose und Slipper, die irgendwann einmal cognacfarben gewesen sein müssen.
»Sie sind die Studentin?«, fragt er, noch bevor ich das Gartentor hinter mir geschlossen habe. Wen hat er denn noch zur exakt gleichen Uhrzeit einbestellt, dass daran Zweifel bestehen?
»Ja?«, antworte ich zögerlich.
»Gut. Kommen Sie.« Er winkt mich zur Haustür und tritt ein. Ich nutze die Gelegenheit und werfe ein digitales Sicherheitsnetz aus.
PollyFalls ich mich innerhalb der nächsten Stunde nicht bei euch melde, leitet der Polizei diesen Standort weiter. Sie findet dort dann vermutlich meine Leiche.
Ehe Anna oder Anouk antworten können, stecke ich das Handy weg und traue mich hinter Herrn Schmitt ins Haus.
»Ihre Tasche können Sie …« Ohne den Satz zu Ende zu führen, deutet er auf eine Garderobe neben der Eingangstür. Im Haus riecht es nach Muff und alten Menschen. Eine Vliestapete verkleidet die Wände, die bis auf ein einziges Schwarz-Weiß-Foto vollkommen kahl sind. Das Bild zeigt ein Paar bei der Eheschließung, die, der Mode und der Fotoqualität nach zu urteilen, irgendwann in den Sechzigern stattgefunden haben muss. Fangen so Horrorfilme an oder fangen so Horrorfilme an? Anouk könnte aus dem Stegreif mindestens fünf Titel nennen, die dasselbe Intro haben.
»Ach, kein Problem, ich nehme sie einfach mit.« Ich klammere mich an meine Tasche, als befände sich darin ein Revolver, mit dem ich mich zur Not selbst verteidigen könnte. Aber ich habe keinen Revolver. Und eine Tasche aus Klarsichtmaterial wäre auch kein besonders cleverer Aufbewahrungsort für einen solchen.
»Kommen Sie …?«
Sätze zu beenden, scheint nicht zu den Stärken des Physiklehrers zu gehören. Ebenso wenig wie Inneneinrichtung. Denn als er mich in den Wohnraum führt, offenbaren sich mir noch mehr gähnende Leere und noch mehr Vliestapeten. Und, wie ich mit einem erschrockenen Zucken feststelle, eine sehr alte Frau, die mittig auf einem Sessel sitzt und sich an einer Kaffeetasse festhält. Sie sieht so verloren aus in dem nur spärlich möblierten und gänzlich schmucklosen Raum, dass sie mich an eine Kunstinstallation erinnert.
»Ähm. Guten Abend«, wünsche ich.
Die Oma guckt auf und lächelt mich an. Wenigstens etwas. Der kalte Schauer auf meinem Rücken wärmt sich ein kleines bisschen auf. Doch dann sieht mich Herr Schmitt an, als hätte er vergessen, wieso ich hier bin. Ich möchte ihn gerade an die bereits jetzt recht offensichtlich erlogene Annonce auf dem Immobilienportal hinweisen, da tippt er sich an die Stirn und erinnert sich.
»Ah, der Raum …«
Etwas, das als Ein-Zimmer-Apartment deklariert war, einen Raum zu nennen, zerstört das klitzekleine Gefühl von Wärme, das das Lächeln der Oma in mir ausgelöst hat.
»Mutti, bleib sitzen«, weist er die alte Frau im Vorbeigehen an, bevor er noch einmal an mich gerichtet sagt: »Kommen Sie.« Irgendwie werde ich das ungute Gefühl nicht los, dass er sich gleich in eine Schlange verwandelt. Oder in einen bösen Clown. Oder … na ja, falls ich überlebe, kann ich Anouk fragen, welche Horrorgestalt in so einem Fall zuständig ist.
Wir gehen an seiner Mutter vorbei, die uns stumm mit den Pupillen verfolgt, und treten auf die Verandatür zu. Herr Schmitt schiebt sie auf. Das irritiert mich zunächst nicht, schließlich befindet sich das Apartment – der Raum? – laut Anzeige in einem Hinterhaus. Doch als ich ihm in den Garten folge, reiße ich meine Lider schockiert so weit auf, dass ich mich schon blind auf dem vertrockneten Gras nach meinen herausgefallenen Augäpfeln tasten sehe. Denn auf dem struppigen kleinen Grundstück befindet sich kein Hinterhaus, dort ist nur …
EIN HERRENGEDECK
KÖLN, 11. OKTOBERBAR ZUM PONY
»Ein Schuppen?«
Mel kringelt sich vor Lachen. Sie hatte schon die Fassung verloren, als ich mit meiner Geschichte bei dem alten Hochzeitsfoto angekommen war, aber jetzt schüttet sie sich regelrecht aus.
»Ja!«, brülle ich. »Ein Holzschuppen!! So einer, wie man ihn für ein paar Hundert Euro im Baumarkt kaufen kann!«
»Ein Schuppen«, wiederholt sie noch immer kichernd und trinkt dabei von ihrem etwas zu voll geratenen Kölsch ab.
Ein Gutes hat es, dass ich bei Herrn Schmitt und seinem Fertigbauholzschuppen von Hornbach einem Betrug aufgesessen bin: Ich musste mich nicht einmal beeilen, um mich meiner Einführungsgruppe wenigstens für eine Stunde anschließen zu können. In der Bar angekommen habe ich mir direkt drei Tequila-Shots bestellt und begonnen, Mel, die sich gefreut hat, mich wiederzusehen, mein Leid zu klagen. Eigentlich gebe ich Anouk und Anna immer das Vorrecht auf alle Anekdoten aus meinem Leben, aber die beiden sind nicht da. Und manche Geschichten taugen einfach nicht für eine WhatsApp-Nachricht. Meine Fassungslosigkeit darüber, dass Herr Schmitt mir allen Ernstes eine Gartenlaube mit Strom- und Wasseranschluss für zweihundert Euro im Monat vermieten wollte, lässt sich nicht mal in einer Voice Message ausdrücken. Man muss dieses Erlebnis live vorführen.
»Das kann echt nur mir passieren.« Ich halte mir nervös die Stirn, unter der seit einer Stunde ein Nerv schmerzhaft zuckt. »Die Uni hat angefangen und ich bin immer noch obdachlos. Das war die zwanzigste Wohnung, die ich mir angesehen habe. Die ZWAN-ZIGS-TE.«
»Na ja.« Mel nimmt ein wenig weißen Schaum von ihrer schmalen Bierkrone mit dem Finger auf und steckt ihn sich in den Mund. »Streng genommen war es der erste Gartenschuppen, den du dir angesehen hast.«
Ich sehe sie verzweifelt an, aber dann kann auch ich nicht mehr an mich halten und breche in Gelächter aus. Als ich wieder zu Atem komme, begieße ich mein Leid mit dem dritten und letzten Tequila.
»Kopf hoch! Du findest etwas.« Mel klopft mir auf den Rücken.
Die Kneipe, in die wir uns gestopft haben, ist klein und urig. Sie heißt Zum Pony, was an der lebensgroßen Pferdefigur liegen muss, die mitten in dem begrenzten Raum steht. Justus und Konrad genießen es sichtlich, dass sie – im Gegensatz zu den meisten anderen nicht-kölschen Erstis – die Gepflogenheiten hier kennen, und bestellen erst einmal für jeden ihrer fünfundzwanzig Schützlinge ein Herrengedeck. Wie sich herausstellt, ist das eine Kombi aus einem Kölsch und einem Schnaps. Das bedeutet wohl, dass ich gleich einen vierten Kurzen trinken werde, den ich dann auch noch mit einem Bier hinunterspülen muss. Zum Glück bin ich einigermaßen trinkfest, denke ich und erinnere mich an Jonas’ Einweihungsfeier mit dem sturzbesoffenen Adem zurück. Es war ein ziemlich cooler Abend – nicht nur wegen des Trinkspiels. Jonas hat eine neiderregend schöne Wohnung im Belgischen Viertel, in der wir zu Machine Gun Kelly Discofox getanzt haben.
»Wo war eigentlich das Klo?«, fragt Mel in meine Gedanken hinein.
»Was?«
»Na, das Klo! Sag bloß, da stand einfach ’ne Schüssel in der Ecke? Oder gab es im Garten ein kleines Häuschen mit herzförmigem Loch in der Tür?«
Ich lache wahnwitzig auf. »Halt dich fest: Ich hätte das Badezimmer seiner Mutter mitbenutzen sollen! Was ich, by the way, zweimal die Woche hätte sauber machen dürfen. Ich wäre also deren Putzfrau geworden und hätte dafür auch noch zweihundert Euro im Monat gezahlt. Der Deal meines Lebens!«
»Die wollten zweihundert Euro für einen Schuppen?«
»Nein. Für ein Ein-Zimmer-Apartment im Grünen. Prost, sag ich da nur.« Mit diesen Worten werfe ich den Kopf in den Nacken und genehmige mir den Shot.
Eine halbe Stunde später kennt die halbe Gruppe meine Leidensgeschichte. Es sieht mir nicht ähnlich, Trübsal zu blasen, also schaffe ich es irgendwie, dabei ein heiteres Gesicht zu bewahren. Nach vier Schnäpsen und einem kleinen Bier finde ich Herrn Schmitt und seinen Gartenschuppen zugegeben auch ganz amüsant. Aber die näher rückende Abfahrtszeit des Zuges, der mich zurück ins Haus meiner Mutter bringen wird, erinnert mich daran, dass es eigentlich nicht zum Lachen ist.
Ich will schon immer zu Hause raus. Lange bevor meine Mutter anfing, Dildos zu verticken, bevor ich morgens dem ersten fünfundzwanzigjährigen Liebhaber in die Arme lief. Ja, selbst bevor sie mir immer häufiger diskrete Ohrfeigen in Bezug auf mein Gewicht verpasste. Sie und ich – wir haben noch nie harmoniert. Weil sie allen um jeden Preis gefallen will und dennoch so umstrittene Lebensentscheidungen wie eine Karriere als Sexy Hexy fällt. Weil sie die Steuererklärung von halb Lansberg macht, um den Lebensstandard zu halten, an den sie sich in ihrer lange zurückliegenden, kurzen Ehe gewöhnt hat, das Geld dann aber für Partynächte und glitzernde Schuhe ausgibt. Weil sie beim Blick auf Speisekarten nicht darüber nachdenkt, welches Gericht ihr am besten schmecken könnte, sondern mit welchem sie ihren Kalorien-Intake am besten im Griff hat.
In meinem Nacken räuspert sich auf einmal jemand. »Du bist Apolonia-nennt-mich-nur-meine-Mutter, hab ich recht?« Konrad ist zwischen uns aufgetaucht, in jeder Hand einen Klaren. Seinen Schal hat er abgelegt und das blaue Hemd ein wenig aufgeknöpft. Damit wirkt er nun deutlich jünger – und deutlich attraktiver. Mit seinem breiten, kantigen Kiefer und den schönen braunen Augen sieht er aus wie ein konservativer Teddybär aus gutem Hause.
»Genau die bin ich.«
»Gefällt es euch hier?«
»Auf jeden Fall. Ich bin ein besonders großer Fan von … dem Pferd«, antwortet Mel.
»Das ist schön.« Keine besonders originelle Antwort – das muss ich zugeben, aber irgendwie schmeichelt es mir, dass Konrad ausgerechnet mit uns sprechen will. Ich habe keine Probleme mit meinem Selbstwertgefühl – und Mel ganz sicher auch nicht –, aber dass sich der Vorzeigejurist zu uns gesellt, statt zu den Mädchen mit den Louis-Vuitton-Täschchen, kommt mir nicht wie eine Selbstverständlichkeit vor.
Manchmal verabscheue ich mich für solche Gedanken. Sie sind ein klassischer Silke und sollten somit niemals Einzug in meinen Kopf halten. Aber mein Kopf ist nun mal auch mit den Medien des einundzwanzigsten Jahrhunderts aufgewachsen. Ich habe keine Vorbilder für heterosexuelle Anzugmänner, die sich das Mädchen mit dem zu engen Blazer oder das Rock Chick mit dem tätowierten Schädel raussuchen. Dabei dürfte sich Konrad glücklich schätzen, eine von uns beiden abzukriegen.
Er reicht uns je einen der Shots, die er mitgebracht hat, und nach einem vorsichtigen Nippen erkenne ich, dass es sich um Tequila handelt. Uff. Kein Abend, der mit fünf Tequila vor einundzwanzig Uhr begonnen hat, hat jemals ein gutes Ende genommen.
»Ladys and gentlemen, this is Tequila No. 5«, proste ich den beiden zu – in Anlehnung an diesen uralten Neunzigerjahre-Chartstürmer.
»Na dann … in welche Richtung wollt ihr Ladys später mal gehen?« Mir entgeht weder, dass er meinen durchaus passablen Witz einfach ignoriert, noch dass er sich zwar meinen Namen, nicht aber den letzten Teil meiner Vorstellung heute Vormittag gemerkt hat.
»Wirtschaftsrecht«, wiederhole ich also und sehe mich nach einer Abstellmöglichkeit für mein Gläschen um.
»Strafrecht«, ist Mels Antwort.
»Also willst du den bösen Jungs helfen«, er deutet auf Mel, »und du den richtig bösen Jungs.« Er lacht laut auf und auch Mel und ich können uns ein Schmunzeln über diesen etwas klischeehaften Spruch nicht verkneifen. »Irgendwelche tiefgründigen Erklärungen für eure Wahl?«
»Zu tiefgründig für ein Gespräch am ersten Abend. In diesem Sinne: Cheers.« Mel leert ihr Schnapsglas.
»Ich will Karriere machen und niemals finanziell von einem Mann abhängig sein.« Als mich beide ein wenig fragend ansehen, ergänze ich: »Ja, ich weiß, Frauen sollten nicht laut aussprechen, dass sie auf Geld und Titel aus sind, aber let’s face it: Wir sind es doch alle.«
»Darf ich dich vielleicht küssen?«, fragt Mel.
»Uh, darf ich da vielleicht zusehen?« Konrad spitzt die Lippen zu einer erwartungsvollen Schnute.
»Nicht mal in deinen Träumen.« Ich mache eine Husch-husch-Geste mit den Fingern, die sich gleich im Anschluss wieder um das warme Schnapsglas schließen.
»Ihr habt keine Macht über meine Träume.« Konrad zwinkert. Mhm. Ich mache mir eine gedankliche Notiz: Bei Gelegenheit mal darüber nachdenken, ob ich Konrad mag. Ja, er hat einen Scheitel, als wäre er der Leadsänger einer K-Pop-Band, und eine Schwäche für Altherrenwitze. Aber er hat auch irgendetwas, das mich anspricht. Er ist nicht vor meiner Ehrlichkeit zurückgeschreckt. Er wirkt ebenfalls zielstrebig. Und da liegt zweifellos etwas Flirtendes in seinem Blick, das mir gefällt.
Moment … Ich wollte mir doch keine Gedanken über Männer im Allgemeinen oder Beziehungen im Besonderen machen. Wohnungssuche, Nebenjob, Uni. Das sind die Sieger, die auf dem Treppchen meiner Prioritäten stehen. Kein Platz für die Konrads dieser Welt.
»Hey, Polly? Ist das da vorne nicht dein spezieller Freund?«
Ich hebe den Blick von dem leeren Schnapsglas, in dem ich erfolglos versucht habe, meine abwegigen Gedanken zu ertränken, und sehe erst Mel an und dann in die Richtung, in die sie zeigt. Die Rückfrage »Mein spezieller Freund?« erübrigt sich, als ich neben der Theke Jonas Jagoda sehe.
Wie seltsam … Obwohl Jonas der Bruder meiner besten Freundin ist, habe ich ihn in der vergangenen Woche häufiger gesehen als in den letzten fünf Jahren zusammen. Er ist in Begleitung eines großen, stämmigen Kerls, der ähnlich viele Tattoos hat wie Mel. Nur stechen die Motive auf seiner dunklen Haut weniger deutlich heraus als auf ihrer hellen. Ich erkenne Adem sofort wieder.
Ich überlege noch, ob ich ihn und Jonas irgendwie auf mich aufmerksam machen oder sie lieber in Ruhe lassen soll, da kreuzt Jonas plötzlich meinen Blick und nimmt mir die Entscheidung ab. Mit ausgebreiteten Armen und einem glasklaren Das-gibt-es-doch-nicht!-Gesichtsausdruck kommt er auf mich zu und legt vertraut einen Arm um mich. Konrad tritt einen Schritt nach hinten, um ihm Platz zu machen, und schaut dabei auffallend pikiert.
»Pollyschmolly!«, begrüßt mich Jonas lautstark. Ob er in einer anderen Kneipe schon ein wenig vorgetankt hat? Oder gehört auch diese überschwängliche Begrüßung nur zum Charme der Jagodas? »Adem? Hey, Adem! Schau mal, dein Endboss!« Jonas wedelt durch die Luft und deutet auf mich.
Ich merke erst jetzt, dass ich übertrieben doll grinse, weil meine Wangen sich anfühlen, als hätten sie eben ein anstrengendes Pamela-Reif-Workout absolviert. Adem folgt dem Wink und verbeugt sich mit großen Gesten vor mir. Dann stellt er sich Mel vor, die ihm allem Anschein nach auf den ersten Blick gefällt. Obwohl ich glaube, Adem ist so ein Typ, dem fast jede Frau erst einmal gefällt.
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr ins Pony gehen würdet. Mega! Wie geht es dir?« Viel zu charmant. Gott, diese Jagodas.
»Gut, ja, mir geht’s gut.«
»Sie hat sich eine Gartenhütte angesehen.« Mels Kopf schiebt sich wie eine kahl geschorene, eichhörnchenbemalte Schranke zwischen uns.
»Du hast was?« Jonas schält sich aus seiner Lederjacke und rollt die Pulloverärmel über seine glatten, gut trainierten Unterarme. Kann man auch am Unterarm einen Bizeps haben? Weil ich glaube, auf Jonas trifft das zu.
Ich verdrehe die Augen und winke ab. »Nur ein neuer Tiefpunkt bei der Wohnungssuche.«
»So tief, dass du in eine Gartenhütte ziehen willst?«
»Wollen ist das falsche Wort. Aber wenn es so weitergeht, bleibt mir vermutlich nichts anderes übrig.« Ich erzähle Jonas in Stichworten mein Erlebnis vom frühen Abend nach. Er lacht genau an den richtigen Stellen. Und zwar mit einem positiven, offenen HAHAHA. Sein Lachen könnte einer Comicsprechblase entstammen und ist genauso perfekt wie seine Zähne, seine Unterarme und das Muttermal über seinem Schlüsselbein.
Adem, der ebenfalls zugehört hat, fragt: »Und als Klo gab es ein Scheißhaus im Garten, oder was?«
»Das habe ich auch gesagt!« Mel hebt den Zeigefinger.
»Wunderbar, ihr tickt gleich.« Ich bugsiere die beiden aufeinander zu und übernehme die Vorstellung. »Mel – Adem, Adem – Mel. Ich weiß nichts über ihn, außer dass er nicht besonders viel verträgt. Und sie kenne ich erst seit heute Vormittag, aber ich liebe sie schon jetzt. So. Unterhaltet euch.« Und genau das tun die beiden dann auch prompt.
»Du hast also immer noch kein Glück auf dem Kölner Wohnungsmarkt?« Wieder ist da Jonas’ Hand auf meinem Oberarm, die mich sanft zur Seite dreht, damit wir uns etwas leiser unterhalten können. »Ich würde dir Martins Zimmer anbieten.« Stimmt ja. Jonas hat ein Zimmer seiner Wohnung an einen Kumpel untervermietet, der zum Zeitpunkt der Einweihungsfeier noch im Ausland studiert hat. »Aber er kommt am Wochenende von seinem Erasmusjahr zurück und schaut bestimmt ziemlich doof, wenn da jemand in seinem WG-Zimmer sitzt und Paragrafen reitet.«
Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass Konrad sich nun doch zu den Louis-Vuitton-Mädels gesellt hat, was sich ein kleines bisschen enttäuschend und doch gleichzeitig wie ein Ins-Lot-Bringen des Universums anfühlt.
»Ich möchte eh nicht in einer WG wohnen«, sage ich dann wieder an Jonas gewandt. »Ich bin eher der Typ Singlehaushalt.«
»Oh.« Er wirkt überrascht. »Ich habe dich immer für einen geselligen Menschen gehalten.«
»Das bin ich auch. Aber ich will in meinem Zuhause mit niemandem mehr streiten. Du weißt schon: Ich möchte keine Witze darüber hören, dass ich nicht mal Wasser kochen kann, ohne dass es anbrennt. Ich möchte nicht diskutieren, ob man Klopapier vorne oder hinten abrollt. Niemand soll mein Outfit kommentieren, wenn ich das Haus verlasse, und schon gar nicht die Menge an Sriracha-Sauce, die ich auf alles draufhaue, was keine Süßspeise ist.« Genervt und überspitzt lasse ich die Augenlider flattern.
»Die Antwort ist ganz klar hinten.« Jonas nimmt einen entschlossenen Schluck aus seinem Glas, das dem Anschein nach Cola oder eine zuckerfreie Variante derselben enthält.
»Hinten was?«, frage ich verwirrt nach.
»Klopapier rollt man entgegen der Mehrheitsmeinung eindeutig hinten ab.«
Ich spule gedanklich noch einmal meinen Monolog zurück, um die Puzzleteile zusammenzusetzen, als es mit einem Mal Klick macht. »Danke!«, pflichte ich ihm schließlich bei. »Das sehe ich auch so. Aber bring das mal diesen militanten Vorne-Abrollern bei.«
Jonas hält mir mit einem verschmitzten Grinsen den Boden seines Glases hin, an den ich in Ermangelung eines vollen Getränks mein leeres Shotglas klirren lasse.
»So«, mache ich mit finalem Unterton in der Stimme und einem dramatischen Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk.
»Du willst doch nicht ernsthaft um kurz vor neun schon gehen?« Jonas wirkt ehrlich enttäuscht darüber.
»Bist du so lange raus aus Lansberg, dass du vergessen hast, wann unter der Woche der letzte Zug fährt?«
»Aber das geht nicht. Wir haben keinen miteinander getrunken.« Jonas trinkt demonstrativ die Cola leer und verschränkt dann die Arme vor der Brust.
»Jonas. Hier sind ungefähr fünf Dutzend Frauen in der Bar. Irgendeine wird sich schon erbarmen und sich von dir auf einen Drink einladen lassen. Immerhin bist du einigermaßen tageslichttauglich.« Um zu untermalen, wie ernst es mir ist, ziehe ich die Jacke an, die ich bis eben über dem Ellbogen getragen habe, und schwinge die durchsichtige Tasche über die Schulter.
»Aber ich will nur dich!« Jonas faltet nun inbrünstig die Hände vor seinem V-Ausschnitt, wobei er das Glas umständlich zwischen den Fingern einklemmt.