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Bei dieser Fake Dating-Romance knistern nicht nur die Wunderkerzen: Bestsellerautorin Kyra Grohs neuer Roman Becca und Nils sind beste Freunde – die jedes Jahr an Silvester miteinander im Bett landen. Zum zehnten Jubiläum ihres jährlichen One-Night-Stands kratzt Erzieherin Becca ihr gesamtes Erspartes zusammen, um Nils in einem romantischen Alpenchalet endlich ihre Liebe zu gestehen. Doch alles kommt anders: Erst trifft Becca dort ausgerechnet Raphael, den unausstehlichen Onkel eines ihrer Kita-Kinder. Und dann reist Nils auch noch mit seiner Verlobten an, die er nie zuvor erwähnt hat. Um die Situation irgendwie aufzulösen, bittet Becca ausgerechnet Raphael, ihren Fake-Boyfriend zu spielen. Dumm nur, dass die beiden bisher immer aneinandergeraten sind. Und dass das Knistern zwischen ihnen plötzlich alles andere als gespielt wirkt … Du liebst die Trope Fake Dating? Und Enemies to lovers? Viel Spaß mit Becca und Raphael!
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Seitenzahl: 474
Veröffentlichungsjahr: 2024
Fake Dates and Fireworks
KYRA GROH wurde 1990 in Seligenstadt am Main geboren. Sie schreibt Geschichten direkt aus dem Leben – immer mit Humor, Tiefgang und authentischen Figuren. Mit ihrer Familie wohnt sie in Frankfurt, liebt Bücher, Serien und Live-Konzerte und gibt zu viel Geld für Kaffee aus.Auf Instagram bloggt sie unter @kyraschreibt über die Liebe, das Leben und Bücher.
Scheiße, WENN ES SO IST, VON IHM FAKE-GEKÜSST ZU WERDEN – WIE FÜHLT SICH DANN ERST ein Kuss AN, DEN ER ERNST MEINT?
Kyra Groh
Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Umschlaggestaltung: favoritbuero, München Titelabbildung: © Marinan / Shutterstock; © Oliver Hoffmann/ Shutterstock; © People, Holidays / Shutterstock; © Successful girl / Shutterstock; © Oksana Tkachova / Shutterstock ; © nellirom / ShutterstockAlle Rechte vorbehaltenDie automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.Autorenfoto: © Kyra GrohE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-95818-847-1
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Playlist
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Danksagung
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Playlist
Ihr wart nie das Problem.
love is embarrassing – Olivia Rodrigo
The New Year – Death Cab for Cutie
vampire – Olivia Rodrigo
Dear John – Taylor Swift
enough for you – Olivia Rodrigo
Stick Season – Noah Kahan
Not In That Way – Sam Smith
The Smallest Man Who Ever Lived – Taylor Swift
No Diggity – Blackstreet feat. Dr. Dre & Queen Pen
No Control – One Direction
New Year’s Day – Taylor Swift
Midnight Memories – One Direction
Silvester vor 10 Jahren
Am letzten Tag des Jahres abserviert zu werden fühlte sich an, als würde man kurz vor dem Zieleinlauf eines Marathons umknicken und sich sämtliche Kreuzbänder dermaßen unglücklich reißen, dass man nicht einmal mehr über die Finish Line kriechen kann.
Ich war völlig am Boden und bis auf die Knochen blamiert, weil mir alles Zurückliegende – vorher noch so rosarot und herrlich – plötzlich wie Zeitverschwendung vorkam. Steffen war mein erster richtiger Freund gewesen. Mein erster Kuss, mein erstes Mal, mein erstes alles. Wie sich herausstellen sollte, wurde er auch meine erste Trennung. Und das ausgerechnet an Silvester. Das muss man erst mal hinkriegen.
Ich stand frierend in den verbleibenden fünfzig Prozent unseres Pärchenkostüms auf der Haustürschwelle meiner besten Freundin Lena und starrte auf meine bestrumpfhosten Unterschenkel. Im Inneren des Hauses spielte laute Musik, und noch lautere Stimmen sangen dazu mit. Bestimmt waren alle richtig gut gelaunt. Und wieso auch nicht? Silvester verlangte nach Party und Optimismus. Ich fragte mich, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, herzukommen, um einen auf starke, frisch verlassene Frau zu machen. Ich wollte überhaupt nicht feiern. Ich wollte keine starke Frau sein – eine frisch verlassene schon gar nicht. Nicht mal mehr mein Kostüm kam mir besonders originell vor, jetzt, wo der Partner an meiner Seite fehlte, um den Witz dahinter aufzulösen. Gestern noch hatten wir die Verkleidungen für die »Deine Kindheitshelden«-Mottoparty gemeinsam anprobiert. Steffen fand es irre witzig, dass er den weiblichen Part übernehmen würde. Ausgestattet mit einem grünen T-Shirt, weißen Radlerhosen und einer Schleife in seinem langen, blonden Haar war er die ideale Bibi Blocksberg. Wir hatten uns kaputtgelacht.
Und dann kam er heute bei uns zu Hause vorbei, um mir zu sagen, dass es aus war. Er wolle nicht mit einer Lüge ins neue Jahr starten. Er liebe mich nicht mehr. Die letzten drei Monate an der Uni hätten ihm bewiesen, dass er mittlerweile etwas anderes brauche. Keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Vielleicht hatte er bemerkt, dass ihm eine angehende Erzieherin mit Fachabitur nicht mehr genügte – jetzt, wo er von Bachelorstudentinnen umgeben war. Vielleicht wollte er einfach single sein. Vielleicht hatten wir uns ja in mehr als nur einem Sinne kaputtgelacht.
Ich hätte zu Hause bleiben sollen. Weinend. Eis essend. Mich in meinem Elend suhlend und dabei romantische Komödien schauend. Ich hätte in diesem Augenblick Rotz und Wasser über Julia Stiles’ Monolog in 10 Dinge, die ich an dir hasse vergießen können, oder mit Kate Hudson versuchen, Matthew McConaughey in zehn Tagen abzuservieren. Aber bei uns zu Hause machten mein Zwillingsbruder David und sein neuer Freund, Gio, einen auf glückliches Pärchen, und außerdem hätte ich Lena nie im Stich lassen können. Es war das erste Mal, dass sie eine Party ausrichtete. Nach achtzehn langen Jahren, die ihre Eltern nach Lenas Adoption im Helikopter-Modus verbracht hatten. Dieses Silvester sollte mein erstes mit Steffen und gleichzeitig Lenas Befreiungsschlag werden. Ersteres hatte sich nun erledigt. Da wollte ich nicht auch noch dafür verantwortlich sein, dass Letzteres in die Hose ging.
Apropos Hose. Ich wünschte wirklich, ich hätte eine getragen. Und nicht bloß diesen … diesen Pappkarton! Besonders in dem Moment, in dem die Tür des schicken Hauses der Familie Martin plötzlich aufgerissen wurde und mir ein fremder Kerl wortwörtlich vor die Füße fiel.
Er war über die Matte vor dem Eingang gestolpert und mit dem Gesicht voran gestürzt. Obwohl es erst acht war, musste er bereits ziemlich betrunken sein, denn seine Reflexe hatten den Fall kaum abgebremst. Wie in Zeitlupe drehte er sich mit einem schmerzverzerrten Stöhnen auf den Rücken und sah zu mir hoch. Ich kannte ihn nicht. Er war definitiv nicht mit mir und Lena zur Schule gegangen, und er konnte auch nicht aus unserer Kleinstadt stammen. Das verriet schon sein stylischer Haarschnitt mit den blonden Spitzen.
Ich beugte mich besorgt zu ihm runter, wobei ich mir Mühe gab, ihm keinen Blick in meinen Schritt zu gewähren.
»Hallo?«, fragte ich, dann wiederholte ich es etwas lauter, und als er immer noch nicht reagierte, begann ich, seine Wange zu tätscheln. Erst als die Berührungen Ausmaße einer Ohrfeige annahmen, regte er sich und schlug die Augen auf. Ein Paar dunkelbrauner, wunderschöner Augen sahen mir entgegen und machten eins absolut klar: Ich würde den ganzen Abend nicht mehr an Steffen denken. Sondern nur noch an diese Augen.
Noch 12 Tage bis zum 10. Silvester
»Becca, dein Popo ist echt groß.«
Ich atme tief ein. Und dann noch ein bisschen tiefer. Bestimmt stecke ich mit meinem Lungenvolumen jeden Triathleten in die Tasche. Was sind ein bisschen Schwimmen, Radfahren und Laufen schon gegen die Atemübungen, die ich in meinem Job ständig machen muss, um nicht durchzudrehen?
»Ich weiß, Henry«, sage ich über die Schulter zu dem Vierjährigen und befülle ihm einen Becher mit dem Wasser, das er eben eingefordert hat. »Aber es gibt nun mal alle Arten von Popos. Meiner ist groß, deiner ist klein.« Und der von deinem werten Onkel ist mal wieder nicht anwesend, denke ich. Nach einem weiteren meditativen Atemzug besinne ich mich darauf, dass Henry nichts dafürkann, dass ich so angespannt bin. Auch wenn er Bodyshaming betreibt. Seine Eltern haben sich vor nicht allzu langer Zeit getrennt, und seine Mutter scheint es nicht gut zu verkraften. Jeden Morgen, wenn sie ihn in der Kita Blumenwiese absetzt, sieht sie ein bisschen unvollständiger aus. Die Trennung der beiden kam für niemanden in der Gänseblümchen-Gruppe überraschend. Wir Erzieherinnen wissen immer, wenn sich etwas in einer Familie verändert. Wir merken es an der Art, wie die Kinder spielen. Wie sie essen. Wie sie erzählen.
Natürlich wurde es auch dadurch deutlich, dass Henry plötzlich mehrmals die Woche von Raphael Geisler abgeholt wurde. Einem zugeknöpften Anzugträger Anfang dreißig, der sich tatsächlich in einer Kindertagesstätte mit Vor- und Nachnamen vorgestellt hat. Ja, selbst bei den Kindern. Raphael Geisler ist die Art Mann, die glaubt, er könne alle Menschen in seinem Umfeld wie einen eingetrockneten Kaugummi an der Sohle seiner Penny Loafer behandeln. Und das nur, weil er ein Auto fährt, das auf dem Hockenheimring besser aufgehoben wäre. Und weil er Penny Loafer trägt. Tragischerweise ist Raphael Geisler offenbar die einzige Person, die Henrys Mutter ein wenig entlasten kann. Dass er sich – obwohl er allem Anschein nach ein äußerst wichtiger Geschäftsmann ist – regelmäßig Zeit für seinen Neffen nimmt, könnte ihn sympathisch machen. Wenn er imstande wäre, sich an Abmachungen zu halten.
»Ist er immer noch nicht da?« Meine Kollegin Magda hat den Kopf in den Essensraum gesteckt. Mit ihr dringt die Lautstärke aus dem angrenzenden Spielzimmer herein, wo alle anderen Kinder gerade mit mindestens einem Elternteil an unserem Weihnachtskaffee teilnehmen. Nur Henry ist allein. Dabei habe ich seine Mutter heute Morgen noch einmal an das Fest erinnert, und sie hat mir zugesichert, Raphael Geisler habe sich den Termin rot im Kalender angestrichen. Zugegeben: Sie hat ihn nicht Raphael Geisler genannt. Immerhin ist er ihr Bruder. Aber auch der von ihr angekündigte Rapha ist selbst eine Stunde nach dem angesetzten Beginn noch nicht hier.
»Nein«, sage ich kopfschüttelnd.
Magda stimmt in meine Gestik mit ein. »Der Kleine hat es doch echt schon schwer genug«, rutscht es ihr heraus, ehe sie sich selbst maßregelt. Wir sprechen vor den Kindern nicht über solche Themen. Doch es ist zu spät.
»Wann kommt meine Mama?«, fragt Henry. Seine bebende Stimme versetzt mir einen Stich ins Herz. Ich rücke den Haarreif mit aufgeklebtem Rentiergeweih auf meinem Kopf gerade, setze ein euphorisches Lachen auf und gehe klatschend in die Knie. »Deine Mama wartet zu Hause auf dich! Und gleich kommt bestimmt auch Onkel Rapha, ja?« Er streckt die Hände nach mir aus. An den kleinen Fingern kleben noch Reste von dem Glitzer, den wir eben beim Eltern-Kind-Basteln auf ausgeschnittenen Schneeflocken verteilt haben. Obwohl wir bei der Ankündigung des heutigen Nachmittags deutlich dazugesagt haben, dass die Eltern ab drei Uhr die Verantwortung über ihre Kinder selbst tragen müssen, war ich es, die Henry mit der Schere geholfen hat. Die ihn gefragt hat, welche Farbe sein Tonkarton haben soll. Die ihn ermuntert hat, noch ein bisschen mehr Glitzer zu verwenden. Oder ein Paar Wackelaugen. Oder Sternenaufkleber. Aber der kleine Kerl konnte kaum Enthusiasmus aufbringen.
»Na, komm schon«, sage ich aufheiternd. Ich nehme seine Hand und führe ihn in den belebten Raum, in dem Rolf Zuckowski gerade zum abertausendsten Mal fragt, wo das Rezept für die geliebten Plätzchen geblieben ist.
Die nächste Stunde verbringe ich mit Singen, Klatschen und Kekskrümel-aus-Mundwinkeln-Wischen. Henry weicht mir dabei nicht von der Seite. Unerschütterlich halte ich seine Fingerchen und versuche, ihn davon abzulenken, dass er als einziges Kind ohne Begleitung hier ist. In meinem Hinterkopf arbeitet es jedoch.
Ich werde mich mit meinen Kolleginnen darüber beraten müssen, wie wir mit den ständigen Verspätungen bei seiner Abholzeit umgehen sollen. In den letzten Wochen bin ich mehrfach bis fünf Uhr in der Kita geblieben, obwohl wir eigentlich um halb schließen. Doch Raphael Geisler trägt seine Breitling anscheinend nur zu dekorativen Zwecken. Wenn er Henry schließlich doch abholt, ist er griesgrämig und kurz angebunden. Keine Spur von Dankbarkeit, dass ich meine wenige Freizeit für seine Unzuverlässigkeit aufopfere.
Ich arbeite wirklich gern als Erzieherin in der Kita. Die Kinder sind meine Berufung, das weiß ich. Aber in den letzten Monaten ist mir einfach alles zu viel geworden. Das frühe Aufstehen, die Lautstärke, die Eltern, die denken, ihre Kinder seien hochbegabt, weil sie sich mit fünf allein die Klettverschlüsse zumachen können. Dazu mein Pädagogik-Studium an der Abendschule, zu dem Nils mir geraten hat. Wahrscheinlich hat er recht mit seiner Aussage, ich könne diesen Job nicht bis zur Rente durchziehen. Er hat mir deshalb schon vor Jahren nahegelegt, für einen Plan B zu sorgen. Die Lärmbelastung, die körperliche Anstrengung und, nicht zu vergessen, die mangelnde intellektuelle Auslastung. Du kannst doch so viel mehr, Becca. Ich seufze bei der Erinnerung an Nils’ Worte. Und ich bekomme Herzklopfen bei dem Gedanken an ihn. Wie immer. Seit zehn Jahren – seit er mir an jenem Silvesterabend sturzbetrunken und kreuzunglücklich vor die Füße gestolpert ist – löst sein Name in meinem Gehirn eine Glitzerexplosion aus, die die Schneeflocken auf unserem Basteltisch erbleichen lässt.
In zwölf Tagen sehe ich ihn wieder. Und dann wird hoffentlich alles anders. Dann hat dieses Spiel, das wir seit zehn Jahren spielen, ein Ende.
Ich brauche ganz dringend diese Zeit mit ihm. Und diesen Urlaub. Nicht nur, weil ich seit Wochen in Vorbereitung auf unseren gemeinsamen Trip auf Diät bin und es kaum erwarten kann, beim Hotelfrühstück mit Nils endlich wieder zu essen wie eine normale Person. Sondern weil ich weiß, dass dieses, unser zehntes gemeinsames Silvester, das alles entscheidende sein wird.
»Du, Becca?« Eine Mutter in einem wallenden Kleid, das ihren Schwangerschaftsbauch umhüllt, zupft mich am Ärmel. Das Hemd, das ich meinem Bruder geklaut habe, rutscht dabei über meine Schulter und offenbart das Schmetterlingstattoo, das ich mir mit neunzehn habe stechen lassen. Ich denke daran, wie Nils es gestreichelt hat, als er es an unserem zweiten gemeinsamen Silvester entdeckt hat. Wie überrascht er von mir war, weil er mir so was gar nicht zugetraut hätte. Und wie ich dabei dachte, wie unfair das Leben ist. Weil wir perfekt füreinander sind, aber nicht zusammen sein können.
Ich sehe mich zu der hochschwangeren Frau um und lächle sie wohlwollend an, obwohl sie eine der Klettverschluss-Mütter ist.
»Die Mafalda müsste mal ganz dringend auf Toilette.«
»Ähm, okay«, sage ich. »Die Klos auf dem Flur sind offen.« Ich gestikuliere zur Tür.
»Könntest du vielleicht ganz schnell …?«
»Äh …« Eigentlich sollte die Verantwortung für die Kinder doch heute bei den Eltern liegen. Mafaldas Mama beginnt, sich wie zur Erklärung den Bauch zu streicheln, während sie eine Hand in ihr Kreuz stemmt.
»Okay«, gebe ich mich geschlagen. Ich möchte Henry an Magda abgeben, damit ich das Mädchen zur Toilette begleiten kann, doch der fängt sofort an zu weinen. Und weil Henry weint, öffnet auch Emil die Schotten. Wir nennen ihn nicht umsonst den Empathischen Emil. Seine Augen bleiben nie trocken, wenn irgendwo Tränen fließen.
Das Gebrüll verfolgt mich bis nach draußen auf den Flur. Fünf Eltern trösten Emil, zehn wollen wissen, was passiert ist, sieben lästern darüber, dass der Junge seine Emotionen nicht im Griff hat und dass das für eine schlechte Bindung spräche. Ich will einfach nur ins Bett. Nein. Ich will ins Private Boutique Hotel Seeblick, dessen Website mich nicht nur mit Fotografien von der namensstiftenden Aussicht überzeugt hat, sondern vor allem mit dem Hinweis, der wie ein Newsticker quer über die gesamte Seite eingeblendet wurde: Adults only!
Nur noch ein paar Tage, sage ich mir wie ein Mantra vor, während ich Henry an der rechten, Mafalda an der linken Hand über den Flur Richtung Toilette schleppe. In wenigen Tagen bin ich in dem Urlaub, für den ich seit Monaten Geld und Kalorien einspare. In wenigen Tagen sehe ich Nils wieder. Nach einem Jahr. Weil dann endlich wieder Silvester ist.
Wummmmms.
Mit einem Geräusch, das mir durch Mark und Bein fährt, stoße ich mit jemandem zusammen. Ein Kind fällt hin, das andere beginnt zu weinen, mein Hemd verabschiedet sich vollständig von meiner Schulter, und mein Haarreif wird so unglücklich von meinem Kopf gerissen, dass ich mir damit beinahe ein Auge aussteche. Das würde gerade noch fehlen, dass ich zwar fünf Kilo leichter zu meinem Wiedersehen mit Nils antrete, dafür aber mit Augenklappe.
»Was zum …« Taumelnd und verdattert schaue ich auf und verkneife mir eben noch so den gigantischen Fluch, der mir auf der Zunge liegt. Ich befinde mich auf Augenhöhe mit einem perfekten mittelbraunen Kaschmirmantel, fleckenfrei und wie frisch aus dem Steamer, der sich über eine breite Brust spannt. Erst als ich den Kopf in den Nacken lege – sehr weit in den Nacken, um genau zu sein –, erspähe ich den Inhaber von Brust und Mantel.
Raphael Geisler.
Und er schaut mich an, als hätte ich gerade seine Motorhaube für eine Partie Curling verwendet und anschließend Mafalda auf seiner Rückbank ihr Geschäft verrichten lassen.
»Sind Sie schon mit einem Bein in den Winterferien, Becca?« Er betont meinen Namen derart spitz, dass man damit Panzerglas zerschneiden könnte. Und er siezt mich schon wieder. Die ersten sieben- oder achtmal habe ich ihn noch darauf hingewiesen, dass wir uns hier alle duzen, doch als er dies einfach ignoriert hat, habe ich es aufgegeben.
»Ernsthaft jetzt?«, blaffe ich zurück und schleudere meinen Arm empor, um demonstrativ auf die Uhr zu sehen. Dummerweise hängt Mafalda noch an diesem Arm. Das Mädchen dreht eine Pirouette und knallt dann lachend auf den Po. »Es ist kurz vor fünf«, zische ich, wobei ich mich bestmöglich von den Kinderohren wegdrehe.
Erst jetzt scheint Raphael den Tumult in der Kita zu bemerken. Zwar ist die Musik verstummt, dafür hat sich Aufbruchstimmung breitgemacht. Die Eltern wünschen sich gegenseitig »Frohe Weihnachten, falls wir uns nicht mehr sehen« und suchen in dem Wirrwarr nach ihrem Nachwuchs und den mitgebrachten Plätzchendosen.
Raphaels Blick wandert von der Gruppe zurück zu mir, bleibt kurz an meiner tätowierten Schulter hängen und begutachtet schließlich missbilligend den schief sitzenden Haarreif. Seine Augen sind fast schwarz. Ich fühle mich, als wäre ich ins Visier eines Panthers geraten. Oder das einer doppelläufigen Schrotflinte. Gänsehaut überzieht meine Arme und ganz offensichtlich auch meinen Magen. Denn dieser wird auf einmal von einem beinahe schmerzhaften Kribbeln heimgesucht. Ich brauche ein Plätzchen. Oder zwölf.
Mit sturer Entschlossenheit zerre ich mein Hemd über meine Schulter, rücke mein Rentiergeweih zurecht und ziehe die Kinder wieder auf die Füße.
»Mafalda, geh schon mal vor, ja? Gehst du mit ihr, Henry?«
Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe ein weiteres Mal zu dem Mann in dem Kaschmirmantel auf. Himmel! Es wäre echt leichter, ihn zur Rede zu stellen, wenn er ein klein wenig … vernünftiger gebaut wäre. Wie läuft das eigentlich ab? Können Typen wie er es sich wegen ihrer Statur und ihres Status erlauben, absolute Arschlöcher zu sein, oder wird man zu einem Arschloch, wenn man seine Statur und seinen Status hat?
Henry zögert, hinter seiner Freundin her zu den Klos zu rennen. Er winkt seinem Onkel mit einem schüchternen Lächeln zu, als wolle er erst sein Einverständnis einholen. Für einen kleinen Moment verrutscht die starre Maske auf Raphaels Gesicht. Sein rabenschwarzes Haar ist schräg nach hinten gekämmt. Vermutlich hätte er Locken, wenn er sie nicht mit einer halben Tube Pomade bezwingen würde. Eine Strähne hat sich freigekämpft und auf seiner Stirn zu einem kleinen Kringel geformt. Raphael streicht sie nach hinten, während er Henrys Lächeln erwidert. Dabei wirkt der kantige Kiefer plötzlich weich, die aufeinandergepressten Lippen werden ganz rosa, und seine Wangen offenbaren unter den kurzen Stoppeln seines Five o’Clock Shadow zwei niedliche Grübchen. Niedlich. Wow, dieses Wort habe ich auch noch nie in Bezug auf ihn gedacht.
Ich räuspere mich. Von zwei Grübchen lasse ich mich doch nicht aus der Fassung bringen.
»Henry war als einziges Kind allein auf der Weihnachtsfeier«, sage ich in betont sachlichem Ton.
»Weihnachtsfeier«, wiederholt er, ohne mich anzusehen.
»Die Ankündigung hing drei Wochen lang an der Tür.« Ich zeige auf den bunten Karton, der von innen gegen die gläserne Kindergartentür geklebt ist, damit man die Aufschrift von außen lesen kann. »Hat Verena es nicht ausgerichtet?«
»Doch, natürlich«, sagt Raphael hastig. Nur das kleinste Zucken in seinem Augenwinkel verrät, dass es ihm gerade erst wieder eingefallen ist. Er hat es einfach vergessen.
»Du hast vermutlich einen irre wichtigen Job«, schnauze ich ihn an und ignoriere das steife Sie, mit dem er mich eben begrüßt hat. »Aber für Kinder ist es wirklich schlimm, wenn ihre Bezugspersonen an einem solchen Nachmittag nicht da sind.«
»Ich werde es mir merken«, knurrt er mit tiefer Stimme und macht mich damit nur noch wütender.
»Es ist schon das siebte oder achte Mal, dass du viel zu spät kommst –«
»Ich – werde – es – mir – merken«, wiederholt er und betont dabei jedes einzelne Wort, als wäre ich schwer von Begriff.
»Wie oft muss es denn passieren, damit du es dir merkst?« Ich bin heute wirklich nicht für dieses Gespräch aufgelegt. »Verena meinte heute Morgen, du hast es dir rot im Kalender angestrichen.« Innerlich koche ich. Das hier ist einfach zu viel. Ich brauche Urlaub, ich habe Hunger, die Vanillekipferl rufen lauter meinen Namen als die zwanzig Kinder, und ich kann seit Tagen nicht schlafen. An Weihnachten soll das Wetter umschlagen, und ich habe Angst, bei meiner Fahrt in die Alpen mit den Ganzjahresreifen in einen Schneesturm zu geraten. Aber Winterreifen waren finanziell einfach nicht mehr drin. Das hätte ich mir vermutlich überlegen sollen, bevor ich Nils in ein Fünf-Sterne-Spa-Hotel eingeladen habe. Aber ich habe mich so emanzipiert dabei gefühlt. Und es wirkte irgendwie angemessen – im Angesicht der Tatsache, dass wir unser zehntes Jubiläum feiern und ich mir ganz nebenbei geschworen habe, ihm an Silvester endlich meine Liebe zu gestehen.
»Glauben Sie nicht, Sie übertreten gerade eine Grenze, Becca?«
Glaubst du nicht, dass du dir dein bescheuertes Hamburger Sie für die Klienten in deiner Bank oder deiner Anwaltskanzlei, oder wo auch immer du arbeitest, aufsparen solltest?
Die Hitze in mir erreicht endgültig ihren Siedepunkt. Doch bevor ich diesem schnöseligen Anzugträger eine Portion Lava ins Gesicht spucken kann, ruft eine kleine Kinderstimme aus den Toiletten, dass Mafalda ein Unglück passiert ist.
Hervorragend.
Jetzt werde ich der Mutter erklären müssen, dass ihr Kind sich eingenässt hat, nur weil ich mich von einer wandelnden Tube Haargel mit Grübchen zu einer Diskussion habe hinreißen lassen.
Na, fröhliche Weihnachten.
Silvester vor 10 Jahren
»Sicher, dass es dir gut geht?«, fragte ich den Kerl zum etwa fünfzehnten Mal.
Ich hatte ihn ins Innere des Hauses geschleppt, wo das Fest mittlerweile in vollem Gang war. Lena konnte ich nirgendwo finden, und die meisten Partygäste, denen ich begegnete, kamen wir fremd vor. Bestimmt hatte irgendwer die Einladung öffentlich auf Facebook geteilt. Anders konnte ich mir diesen Auflauf nicht erklären. Lena und ich waren nicht cool genug, um derart viele Menschen zu kennen. Schon gar keine älteren Kerle. Wir waren peinliche Achtzehnjährige, die absolut nichts mit der Musik von David Guetta anfangen konnten und heimlich Fanfiction über One Direction schrieben.
»Ich komm klar«, lallte der Typ. Es waren die ersten zusammenhängenden Worte, die er seit seiner Bruchlandung herausgebracht hatte. Den Wahrheitsgehalt dieser Aussage zog ich jedoch ernsthaft in Zweifel. Sein Blick war glasig, und beim Gehen stützte er sein komplettes Gewicht auf meine Seite. Dass er von einem völlig fremden Mädchen, das einen Pappkarton als Kostüm trug, in Richtung des Gästezimmers geschleppt wurde, schien ihn nicht zu stören. Oder er hatte die Fähigkeit, dies zu hinterfragen, einfach mit dem siebten oder achten Tequila heruntergeschluckt? Es war doch nur Alkohol, oder war er etwa zugedröhnt? Falls jemand auf Lenas Silvesterparty harte Drogen eingeschleust hätte, würden Herr und Frau Martin sie vierteilen und ihren Überresten anschließend lebenslangen Hausarrest erteilen.
Ich wuchtete den Kerl mit den schönen Augen auf das Gästebett, wo er fast augenblicklich in sich zusammensackte. Ob ich einen Arzt rufen sollte?
»Wie viele Finger zeige ich?« Ich hielt ihm drei vor die Nase, etwas Besseres fiel mir nicht ein.
»Ich glaub nicht, dass dieser Test verlässlich ist«, murrte er.
»Antworte einfach.«
»Drei, zufrieden? Wer bist du überhaupt?« Seine Augen verengten sich so, dass man nichts mehr von ihrem schönen Braun sehen konnte. »Und was hast du da an?«
»Ich bin …« Ich zeigte an dem großen Pappkarton herunter. »Kartoffelbrei.« Mein ausgestreckter Zeigefinger fuhr die Buchstaben des Motivs nach, das eine Google-Bildersuche bei dem Begriff »Instant-Kartoffelpüree« ausgespuckt hatte. Steffen hatte es hochauflösend ausgedruckt und auf die Pappe geklebt. Zusammen waren wir Bibi Blocksberg und ein guter Wortwitz über ihren fliegenden Besen. Allein war ich bloß eine Packung Tütenfraß.
»Das sehe ich.« Der Fremde bohrte sich die Fingerkuppen in die Schläfen und massierte sie.
»Wieso fragst du dann?«
»Weil ich dachte, das hier wäre eine Party mit dem Motto ›Kindheitshelden‹?«
»Lange Geschichte«, schmollte ich und versuchte, mich neben ihm aufs Bett zu setzen. Aber das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich heute wohl eine Stehparty feiern würde. Mein stocksteifes Kostüm ließ eine sitzende Position nicht zu.
»Na, dann will ich sie lieber nicht hören. Ich gehe eh gleich.« Mit den Ellenbogen auf den Knien verbarg er sein Gesicht in den Händen.
»Du kannst doch an Silvester nicht vor null Uhr abzischen!« Verlegen über meinen erbärmlichen Versuch, mich hinzusetzen, stützte ich mich schließlich mit einem Arm am Bücherregal ab. Es war fein säuberlich dekoriert mit weißen Porzellanvasen und silbernen Bilderrahmen, die Lenas Kindheit dokumentierten.
»Das Ziel ist es, vor null Uhr blau genug zu sein, dass ich um Mitternacht tief und fest pennen kann.«
Ich runzelte die Stirn. Was war los mit diesem Kerl? Hatte er ein Alkoholproblem? Oder ein Silvesterproblem? War er auch frisch getrennt und hatte nie eine andere Bewältigungsstrategie gelernt als Komasaufen? Ich beobachtete ihn genauer. Er musste ein ganzes Stück älter sein als ich. Dieser Ausdruck in seinen Augen und die Art, wie er seinen Körper hielt, sprachen für eine gewisse Reife, die ich von den Typen in meiner Jahrgangsstufe nicht kannte.
»Wer ist dein Kindheitsheld?« Ich nickte zu seinem Outfit, das auf den ersten Blick wie eine stinknormale Kombination aus hellbraunen Chinos und einem blauen Pullover aussah.
»Sehe ich aus, als würde ich ein Kostüm tragen?«
»Nein, du …«
Plötzlich hielt er sich auf eine Weise den Kopf, die mir Sorgen machte, er würde sich auf der Stelle übergeben. Ich habe eine leichte Emetophobie. Lena hatte mich deswegen schon eintausend Mal gefragt, ob mein Berufswunsch wirklich so eine kluge Idee sei. Wenn man Angst davor hat, sich selbst zu erbrechen oder anderen beim Speien zusehen zu müssen, sollte man sich wahrscheinlich nicht mit Kleinkindern umgeben. Aber offensichtlich war man auch vor griesgrämigen Partybesuchern Mitte zwanzig nicht gefeit.
»Ich gehe dir etwas Wasser und Aspirin holen.«
»Wohnst du hier oder so?«
»So ähnlich.« Ich war mindestens dreimal die Woche bei Lena. Sie fand es schrecklich, dass ihre Mutter Andrea uns auch nach Erreichen der Volljährigkeit noch immer gesunde Snackteller mit Orangenspalten und Reiswaffeln auf ihr Zimmer brachte. Ich fühlte mich dabei jedoch seltsam geliebt. Meine Mutter schien manchmal tagelang zu vergessen, dass sie Kinder hatte. Sie trieb sich bei ihren Jobs rum, bei ihren Kerlen oder wo auch immer. Da war keine Zeit, eine Orange zu schälen. Geschweige denn, das Fruchtfleisch aus der Haut rauszufiletieren und es sternenförmig auf einem Teller aus Meissener Porzellan anzurichten.
»Ich bin gleich zurück.«
»Ich brauche keine Hilfe.«
»Glaub mir: Wenn du Andrea Martin auf den Teppich kotzt, brauchst du definitiv Hilfe.«
In der Küche füllte ich ein Glas mit Wasser aus dem Hahn und durchsuchte verschiedene Schubladen nach Kopfschmerztabletten. Dabei war ich umgeben von rund zwanzig Menschen, die ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte. Alle tranken aus den roten Plastikbechern, auf deren Besorgung Lena so stolz gewesen war, und wogen sich im Takt eines Songs, den wir niemals freiwillig angehört hätten.
»Da bist du ja endlich!« Meine beste Freundin zerrte mich am Ärmel des Longsleeves, das ich unter meinem Karton trug. Sie war als Mulan in der Disney-Version verkleidet und trug ein bodenlanges blau-rosa Kleid, in dem sie aussah, als käme sie geradewegs von der chinesischen Heiratsvermittlerin. »Wo ist Steffen?«, fragte sie mit einem Fingerzeig auf das Kartoffelbrei-Kostüm.
»Ich … äh, lange Geschichte«, wiederholte ich. »Habt ihr irgendwo Aspirin?«
Ohne den Blick von mir zu wenden, öffnete sie einen Eckschrank und zauberte einen Blister mit Pillen daraus hervor. »Hast du schon einen Kater? Du bist doch grade erst gekommen.«
»Die sind nicht für mich. Mir ist eben ein Typ vor die Füße gefallen.«
»Wer?« Lena wirkte neugierig. »Wobei … wie dir vielleicht aufgefallen ist, kenne ich selbst nicht mal alle Menschen auf dieser Party.«
»Das ist mir aufgefallen. Was würde Andrea dazu sagen?«
»Was Andrea nicht weiß, verpasst Andrea auf ihrer Karibik-Kreuzfahrt keinen Herzinfarkt.« Lena verschränkte die Arme vor dem Bauch und scannte mich einmal von oben bis unten ab. »Ist alles okay bei dir?«
»Ja«, log ich. »Ich gehe nur schnell den Typen versorgen, der deiner Mutter gleich auf den Flokati reihert.«
»Welcher ist es?«
»Welcher Flokati?«
»Welcher Typ!«
»Weiß ich doch nicht!«, blaffte ich, während wir uns gemeinsam durch die Partygäste in Richtung Flur schoben. »Blonde Haare, braune Augen, Hilfiger-Pullover.«
»Ah, ich glaube, das ist Nils. Den hat mein Cousin angeschleppt. Sie machen zusammen ihren Master.«
Nils.
Der Name brannte sich in meinen Kopf ein wie der hartnäckigste Ohrwurm.
Nils. Nils. Immer wieder Nils.
Noch 12 Tage bis zum 10. Silvester
»Du bist ja schon da!« David erschrickt, als er mich vor dem Fernseher sitzen sieht, und bricht schlagartig das Pfeifkonzert ab, das er beim Aufschließen der Haustür gegeben hat.
»Keine Sorge, bin nur körperlich anwesend.« Ich sehe zu ihm rüber. Mein Bruder macht gerade einen zweiten Anlauf, seinen wild gemusterten Mantel an der Garderobe aufzuhängen. Die Haken haben sich in den letzten Jahren so weit nach vorn geneigt, dass sie kaum ein Kleidungsstück mehr halten können, ohne aus der Verankerung zu krachen. Das kleine Fachwerkhäuschen, das wir gemeinsam mit Gio bewohnen, ist an allen Ecken und Enden renovierungsbedürftig. Doch ich liebe den knarzenden Holzboden, die schiefen Wände und die Dachbalken – auch wenn dadurch nicht ein Regal gerade stehen kann, alle Tische wackeln und die Bilderrahmen manchmal ohne Vorankündigung herunterfallen.
»Findest du es ratsam, dir mit diesem Folterinstrument am Fuß rumzusäbeln, wenn du mental abgeschaltet hast?« David umkreist das offene Fachwerkgebälk, das den Eingangsbereich von unserer Wohnküche abtrennt.
»Irgendwie muss ich dieser Hornhaut noch vor Silvester Herr werden.« Ein weiteres Mal setze ich den elektrischen Hobel an meinem Fuß an und raspele drauflos.
David verzieht angewidert das Gesicht und lässt sich neben mir auf dem Sessel nieder. »Kannst du das nicht über dem Badewannenrand machen?«
»Wie soll ich dabei denn Liebe braucht keine Ferien gucken?«
»Geh einfach zur Pediküre. Ich kann dir das Geld auch leihen.« Wir wissen beide, dass leihen bedeutet, dass David mich einlädt.
»Nein danke«, sage ich mit Nachdruck und schalte das brummende Hornhaut-Gerät vorerst aus. »Ich bräuchte erst mal ’ne Pediküre, um mich zur Pediküre zu trauen.« Ich mustere das fragliche Körperteil, das ich nächste Woche unfreiwillig oft in Flipflops präsentieren muss.
»Du meinst, wie diese Leute, die aufräumen, bevor die Putzfrau kommt?« Er überschlägt elegant die Beine und legt beide Hände auf dem oberen Knie ab. Als die Gene für Anmut und Körperspannung zwischen uns aufgeteilt wurden, hat David definitiv den Großteil abbekommen. Ich lümmle hier mit vollgeschmierten Gammelklamotten und dem Rückgrat von Quasimodo herum, während er auf dem Ohrensessel thront wie ein englischer Royal bei der Krönung.
»Nils macht das«, sage ich betont beiläufig. Doch David weiß genau, dass ich Nils in den vergangenen zehn Jahren kein einziges Mal beiläufig erwähnt habe. Eine Nennung seines Namens bedeutet, dass ich über ihn sprechen möchte. Über ihn sprechen muss.
»Natürlich.« Das Seufzen in der Stimme meines Bruders ist deutlich vernehmbar, auch wenn es stumm bleibt. Er ist nicht besonders gut auf Nils zu sprechen. Nicht, weil Nils ihm je etwas angetan hätte, sondern weil David derjenige ist, der mich seit zehn Jahren am Neujahrstag auffangen muss. Wenn Nils wieder weg ist. Wenn ich mich frage, wieso wir nicht einfach zusammen sind. Und wieso wir jemals diesen Pakt geschlossen haben.
»Ich kann’s jetzt nicht haben, dass du auf ihm rumhackst.« Schmollend stelle ich den Hornhauthäcksler wieder an und vergehe mich damit an meiner Ferse.
»Ich habe überhaupt nichts gesagt.«
»Das, was du nicht gesagt hast, war sehr laut und sehr eindeutig.«
»Entschuldige, dass ich es nicht gutheiße, dass meine Schwester seit einem Jahrzehnt wegen eines bindungsgestörten Mannes Mitte dreißig Liebeskummer hat.« David stemmt sich aus dem Sessel hoch und holt eine Weinflasche aus dem Kühlschrank. »Kannst du hier mal wieder ein bisschen aussortieren?« Er deutet auf die Kinderzeichnungen, die an der Kühlschranktür befestigt sind und bei jedem Zuschlagen flattern. Mittlerweile ächzt jeder Magnet unter der Last eines halben Dutzends DIN-A4-Blätter.
»Du weißt, ich kann sie nicht wegschmeißen.«
»Du nicht, aber für mich ist das die leichteste Übung.« Er pflückt eine Kinderzeichnung unter einem unfassbar hässlichen Magneten – einem schielenden Royal Guard vor patriotischer Union-Jack-Flagge – hervor, den ich bei meinem letzten Besuch in London gekauft habe, und hält sie mir hin. »Wenn van Gogh das sehen würde, würde er sich auch noch das andere Ohr abschneiden.«
»David!«, zische ich. »Das ist von Henry. Das kann ich nicht einfach wegschmeißen.« Was, wenn niemand Henrys Bilder an einen Kühlschrank pinnt? Sein Onkel tut es garantiert nicht. Raphael Geisler hat bestimmt nicht mal einen Kühlschrank. Er isst ausschließlich außer Haus, zum Frühstück gibt es die Früchte seines Erfolgs, und mittags bestellt ihm eine seiner vierzehn Sekretärinnen Sashimi bei Steffen Henssler persönlich.
»Ist Henry der, der immer heult, oder der mit dem heißen Onkel?«
Ich wusste, es war ein Fehler, Raphael Geisler nach einer meiner zahlreichen Hasstiraden auf ihn zu googeln, sodass David ein Bild von ihm vor Augen haben konnte. Wieso muss der Kerl auch so ein modelmäßiges Profilfoto auf LinkedIn haben?
»Der mit dem heißen Onkel«, knurre ich, bevor mir mein Fehler auffällt. »Mit dem … mit dem widerwärtigen Onkel, meine ich.«
David gluckst im Gleichtakt mit dem Wein, den er aus der Flasche in zwei Gläser einschenkt.
»Erwartest du noch Besuch?«
»Nee, ich erwarte, dass du mittrinkst.« Er kommt zurück zum Sofa und tauscht das Fußfolterinstrument in meiner Hand gegen das großzügig gefüllte Glas ein.
»Aber …«
»Ich will keinen Ton über die Kalorien von Weißwein hören.« David wedelt mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herum. »Damit ist Schluss. Keine Pediküre auf dem Sofa mehr, keine Diät. Es ist Weihnachten, verdammt.«
»Aber ich …«, wage ich einen zweiten Versuch.
»Und auch keinen Ton über Nils. Was ist los mit dem Kerl? Lutscht er dir die Zehen?«
Ich verziehe angewidert das Gesicht. »Also selbst wenn die Antwort auf diese Frage Ja lauten würde, würde ich dir das garantiert nicht erzählen.«
»Doch, würdest du. Seit du es Lena nicht mehr sagen kannst, muss ich herhalten. Jeden verfluchten Neujahrstag. Jedes verfluchte Detail.« Mein Bruder setzt sich mit der Anmut von Kate Middleton zurück in den Ohrensessel. »Dabei sind die Details eures Liebeslebens nicht mal besonders spannend. Ein Fußfetisch hätte Nils wenigstens ein bisschen kantiger gemacht.«
Ich beobachte meinen Bruder dabei, wie er sein Weinglas ansetzt und wie ein Connaisseur daraus zu trinken beginnt. Es schmerzt mich, dass David nicht bedingungslos auf meiner Seite steht und kein bisschen darauf hinfiebert, Nils eines Tages zum Schwager zu haben. Der Kommentar über Lena, der ihm so mühelos über die Lippen geht … der schmerzt auch. Ich sollte mit ihr hier sitzen. Sie würde verstehen, dass ich die Pediküre und die Diät und all die anderen Vorbereitungen auf mich nehme, um mich wie die bestmögliche Version meiner selbst zu fühlen, ehe ich Nils treffe. Früher zumindest hätte Lena es verstanden. Ehe dieses Thema uns Stück für Stück ausgehöhlt hat, bis die Wände unserer Freundschaft so dünn waren, dass sie sie nicht mehr tragen konnten.
»Weißt du, was?«, schnauze ich David an. »Das will ich gerade echt nicht hören.«
»Du musst es aber hören.«
»Dass der wichtigste Mensch in meinem Leben den zweitwichtigsten nicht ausstehen kann?« Meine Stimme schwillt an, dabei schreien David und ich uns nie an. Es ist eines der wichtigsten Versprechen, das wir uns gegeben haben, obwohl wir es niemals aussprechen mussten. Unsere Mutter ist früher ständig laut geworden – und zu diesem Zustand wollen wir nie mehr zurück.
Im ersten Moment wirkt auch mein Bruder genervt und aufbrausend. Doch dann scheint er sich ebenfalls an das unausgesprochene Gebot zu erinnern. Also schaltet er das romantische Weihnachtsgeplänkel von Jude Law und Cameron Diaz stumm und sieht langsam zu mir. »Ich hasse Nils nicht. Wie sollte ich ihn hassen? Ich bin ihm noch nie persönlich begegnet.«
»Stimmt, du hast einfach entschieden, ihn zu hassen. Als ich von Lenas Silvesterparty damals nach Hause gekommen bin, waren deine ersten Worte: ›Nirgends kann man dich alleine hinlassen.‹«
David schüttelt affektiert den Kopf. »Kann man ja auch nicht. Es war das erste Mal, dass wir Silvester getrennt verbracht haben, und schon stürzt du dich kopfüber in eine zehn Jahre lange Affäre, die dir nichts als Unglück eingebracht hat.« Er nickt zu meinen Füßen. »Aber immerhin hast du dadurch einmal im Jahr einen schrundenfreien Hallux valgus.«
»Ich bin nicht unglücklich. Das zwischen uns ist auch keine Affäre. UND ICH HABE KEINEN HALLUX VALGUS, sag mal, spinnst du?« Frustriert stürze ich in einem Zug das halbe Weinglas herunter. Die staubtrockene Flüssigkeit brennt sich durch meine Kehle und sorgt dafür, dass ich mich am ganzen Leib schütteln muss.
»Den solltest du nicht trinken wie Fanta«, warnt David mich.
»Ist mir auch aufgefallen, herzlichen Dank. Aber ich habe wirklich keinen …« Meine Grammatik impliziert, dass ich noch einmal auf den Ballenzeh eingehen will. Aber wir wissen beide, was ich wirklich sagen will. Nils und ich haben keine Affäre.
Das mit uns war immer etwas anderes.
Viel weniger als eine Affäre.
Und gleichzeitig so viel mehr.
Was wir haben … ist alles. Und gleichzeitig nicht genug.
Aber wir haben einen Pakt, an den ich mich gehalten habe. Bis jetzt.
Silvester vor 10 Jahren
»Ihr wart ein Jahr zusammen, und er serviert dich ab? An einem Tag wie heute?« Nils schüttelte verständnislos den Kopf und setzte zum wiederholten Mal die Wasserflasche an, die ich ihm aus der Küche mitgebracht hatte. Die Musik von draußen wummerte gedämpft durch die geschlossene Tür des Gästezimmers. Irgendein Song von Kesha. Oder Pitbull. Oder beiden.
»So sieht es aus.« Ich betrachtete ihn von der Seite. Wir saßen auf dem plüschigen weißen Teppich, lehnten mit den Rücken an die Bettkante und vermieden es, uns allzu tief in die Augen zu schauen. Und das, obwohl wir uns mittlerweile seit fast drei Stunden unterhielten und Themen angeschnitten hatten, die man normalerweise nicht mit Fremden besprach. Aber vielleicht funktionierte es genau deshalb. Mit Nils zu reden war wie Tagebuchschreiben. Ich konnte alles herauslassen, schließlich kannte er mich nicht.
»Wer macht denn so etwas?«, fragte er schockiert. »Rennt er jetzt etwa allein als Packung Iglo-Rahmspinat herum?« Nils deutete auf meine Verkleidung aus Pappe, die ich abgestreift hatte, um mich besser hinsetzen zu können. Jetzt lehnte sie gegen die Tür wie ein Wahlplakat, auf dem der Kandidat abgebildet war, der bei der Auszählung am Tag zuvor vernichtend besiegt worden war.
»Rahmspinat?«
»Na ja … Kartoffelbrei, Rahmspinat? Gab’s das bei dir zu Hause nie zu essen?«
»Doch«, antwortete ich kleinlaut. »Gibt es immer noch. Meine Mutter arbeitet viel, und ich kann … nun ja.« Ich verkniff mir den Rest. Meine Lebensgeschichte musste ich ihm wirklich nicht aufzwingen. Ich dachte selbst ungern darüber nach, wie oft unsere Mutter David und mich allein ließ. Ihre Stelle als Kantinenkraft in einer Bank warf so wenig Geld ab, dass sie an den Abenden und am Wochenende zusätzlich in einer Bar aushalf. Das Zaratustra – ob es absichtlich falsch geschrieben war, wusste keiner so genau – war die Art von Kneipe, von der man hinter vorgehaltener Hand sprach, wenn man am Vorabend dort abgestürzt war. Meine Klassenkameraden empfanden sich als knallharte Kerle, wenn sie es schafften, sich dort samstags einen Jacky Cola zu bestellen. Ich empfand es als bodenlose Erniedrigung, wenn es meine Mutter war, die ihnen das Glas über die Theke reichte.
»Egal«, schloss ich. »Jedenfalls war er als Bibi Blocksberg verkleidet. Nicht als Spinat.« Ich klammerte mich an dem Kissen fest, das ich über meine Beine gelegt hatte, um nicht zu frieren. Und um neben Nils nicht so offen in meiner fragwürdigen Outfitkombination aus Perlonstrumpfhosen und Radlershorts zu sitzen. Man sah ihm deutlich an, dass er Sport trieb. Er hatte keine Berge von Muskeln, aber seine Oberschenkel wirkten trotzdem wohl definiert. Und auch seine Arme hatten mir, nachdem er vor gut einer Stunde seinen Pullover abgestreift hatte und ein eng anliegendes Shirt zum Vorschein gekommen war, ganz kurz Ehrfurcht eingejagt. Männer, über deren Bizeps eine Vene hervortrat, verbrachten für gewöhnlich nicht den Silvesterabend mit mir im Gästezimmer. Ich kam mir ein bisschen unförmig neben ihm vor. Vor allem im Sitzen.
»Ah, verstehe. Also ist irgendwo da draußen ein erwachsener Mann mit Schleife im Haar?«
»Er ist nicht hier. Und erwachsener Mann … na, ich weiß ja nicht.«
»Er ist offensichtlich kein erwachsener Mann, wenn er eine Frau wie dich an so einem Tag allein lässt.«
Ich spürte, wie meine Wangen, die seit dem Anblick seiner Bizepsvene schon ein wenig glühten, augenblicklich in Flammen aufgingen. So etwas hatte noch nie jemand zu mir gesagt. Nicht Frau, und schon gar nicht eine Frau wie dich. Eine Formulierung wie diese hatte Gewicht. Vor allem, wenn sie von einem Kerl kam, der schon fünfundzwanzig war, im Master studierte und Oberschenkel hatte, die mindestens 2. Bundesliga hätten spielen können.
Vielleicht war er immer noch betrunken. Oder er flirtete gern. Oder er hatte diese Worte einfach leichthin benutzt, ohne sie – wie ich – zu analysieren, wie es ein Deutschkurs mit einer Erzählung von Kafka tat.
Nils räusperte sich plötzlich und sah demonstrativ auf die Uhr an seinem Handgelenk.
»Ich sollte gehen«, sagte er bedeutungsschwer. »Sorry, dass ich dir den ganzen Abend geklaut habe, aber …«
»Hast du nicht, ich … ich brauchte die Ablenkung auch, also …«
Einen Augenblick lang schien er über etwas nachzudenken, das sehr viel wichtiger war als meine Trennung von Steffen oder ein doofes Pärchenkostüm. Er starrte weiterhin seine Uhr an. Betrachtete die Zeiger, als würden sie ihm etwas offenbaren.
»Ich brauchte die Ablenkung auch«, sagte er plötzlich. »Keine Ahnung, wann ich zuletzt an einem Silvesterabend so lange durchgehalten habe.«
Ich versuchte, einen Blick auf seine Uhr zu erhaschen, und griff dabei wie ferngesteuert nach seiner Hand. Er zeigte mir das Ziffernblatt. Noch zehn Minuten. In der Ferne hörte man ein paar verfrühte Raketen.
Nils betrachtete meine Hand auf seiner. Und ich wartete darauf, dass es mir unangenehm wurde. Dass ich sie zurückzog. Oder dass er die Berührung abbrach. Aber der Moment kam und kam nicht. Stattdessen breitete sich die Hitze meiner Wangen in meinem ganzen Körper aus. Sie strömte durch mich hindurch wie eine heiße Quelle und ließ keinen Punkt in mir unberührt. Keinen.
»Ich muss wirklich weg«, wiederholte er noch einmal, während er den Kopf anhob und seinen Blick auf meine Augen richtete.
»Wieso?«, fragte ich.
»Ich hasse es. Ich hasse diesen Tag. Das Spektakel. Die Raketen. Dass alle Welt einen Neuanfang feiert, statt ein … ein Ende.«
Ich verstand nicht, was er damit meinte. Aber ich verstand, dass es etwas Besonderes war, dass er mir davon erzählte. Mir war sofort klar, dass wir hiermit ein weiteres Thema streiften, für das wir uns eigentlich noch nicht gut genug kannten.
»Okay«, sagte ich also langsam. »Was kann ich tun? Brauchst du noch etwas aus der Küche? Soll ich dich weiter ablenken?«
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.« Sein Unterarm glitt plötzlich durch meine Umklammerung hindurch, bis seine Handfläche auf meiner ruhte. Bis unsere Finger sich ineinanderflochten. Bis seine Augen dunkel und sanft und vielsagend wurden.
»Wieso nicht?« Meine Stimme war mit einem Mal ganz brüchig. So hatte mich noch nie jemand angeschaut. Ich konnte an gar nichts anderes mehr denken als an diese Augen, die Wärme unserer Haut und die Verheißung, die zwischen uns zu knistern begonnen hatte.
Nils räusperte sich. »Weil ich mir ziemlich sicher bin, dass ich dann etwas Dummes tun werde.«
»Ich, ähm … ich könnte einfach reden?« Ich sprach zu laut. Viel zu laut, weil ich unbedingt meine aufkommende Unsicherheit übertönen wollte. Doch zugleich konnte ich meinen Blick nicht von unseren verschränkten Händen nehmen. Nils war nicht unbedingt ein Riese, aber sein Griff fühlte sich stark und sicher an. Ich mochte es, wie fest er mich gepackt hatte. Und dass ich es war, die hier mit ihm saß und ihm auf eine Art Trost spendete, die ich nicht ergründen konnte. »Hab ich dir schon von meinem Zwillingsbruder erzählt? Letzten Sommer hatte er ein Stipendium für einen Auslandsaufenthalt in Michigan, und seine Gastfamilie hatte vier Hunde, die einfach in der Wohnung auf Handtücher pinkelten, weil niemand mit ihnen Gassi gehen wollte. Und dann haben sie einen Roadtrip nach Tijuana gemacht, um dort günstige Medikamente zu kaufen. Sie sind mit einem Toyota gefahren. Es hat siebenunddreißig Stunden gedauert, und alle vier Hunde waren mit meinem Bruder auf der Rückbank!« Nils hatte garantiert keinen Bock darauf, dass ich aus Davids Memoiren zitierte. Aber hier waren wir nun. Und ich war nicht zu stoppen. »Im Auto wurde es irre heiß, weil es Hochsommer in Mexiko war, also hat David – das ist mein Bruder – ein Handtuch auf seinem Sitz ausgebreitet. Nur dummerweise waren es die Hunde ja gewöhnt, einfach so auf die Handtücher …«
Mir wurde das Wort abgeschnitten, bevor ich zu der fragwürdigen Pointe meiner Anekdote kommen konnte. Denn Nils zog mich mit einem einzigen Ruck zu sich, und ehe ich michs versah, landeten meine Lippen auf seinen. Er küsste mich. Einfach so. Und auf eine Weise, die ich noch nie erlebt hatte. Eine Hand in meinem Nacken, die andere suchend an meiner Seite. Seine Lippen weit geöffnet, die Zunge wild und fordernd. Er küsste mich verzweifelt und gleichzeitig siegessicher. Und als ich nur ganz kurz zurückzuckte, um ihn zu fragen, was wir da taten, wies er mich mit einem lang gezogenen »Schhhh« dazu an, leise zu sein. Es war das Erotischste, was mir jemals passiert war. Ein Typ, der nichts lieber wollte, als mich zu küssen.
Der mehr wollte, als mich nur zu küssen.
Denn sobald Nils’ Hand an meinem Oberschenkel Halt gefunden hatte, rollten wir zur Seite, ich auf dem Rücken, er über mir.
»Alles okay?«, fragte er gehetzt, und ich wusste, was er meinte. Wusste, was er eigentlich fragen wollte. Ich brachte kein Wort heraus, nickte nur stumm.
Und als vom Vorgarten der laut skandierte Countdown der anderen Partygäste zu uns herüberschallte, schlief ich zum ersten Mal mit Nils. Wir waren vereint, bevor sie bei null angekommen waren. Begannen das neue Jahr gemeinsam. Ohne zu ahnen, dass es die nächsten zehn Jahre genau so bleiben würde.
Noch 7 Tage bis zum 10. Silvester
Rückblickend betrachtet war es nicht die beste Entscheidung meines Lebens, mir an Heiligabend zum ersten Mal die Bikinizone wachsen zu lassen. Streng genommen kann es wohl nie eine gute Entscheidung sein, sich vierzig Grad heiße Pampe genau dorthin zu schmieren, wo sonst nicht einmal die Sonne hinscheint. Aber in meinem Fall erscheint es mir besonders hirnrissig.
Ich war die letzte Kundin vor der Weihnachtspause und werde den Gedanken nicht los, dass mich die Kosmetikerin dies spüren lassen wollte. Anders kann ich mir die Wucht, mit der sie das Wachs von meinem Körper heruntergerissen hat, nicht erklären. Soll das etwa normal sein? Gibt es tatsächlich Frauen, die sich regelmäßig dieser Tortur unterziehen, obwohl ein Rasierer dasselbe Ergebnis völlig schmerzfrei erzielen kann? Ich will das nicht glauben. Shannon, die Depiladora – wie ihre Berufsbezeichnung laut Namensschild offiziell lautete –, muss es auf mich abgesehen haben. Auf mich und jeden meiner Haarfollikel.
Als ich aus dem Kosmetikstudio strauchle, fühle ich mich wie ein Cowboy, der gerade einmal quer durch den Mittleren Westen geritten ist. Ohne Sattel, ohne Rast und auf einem besonders bockigen Pferd. Meine Leistengegend brennt wie Feuer – obwohl Shannon mir versichert hat, dass ihre Methode, die frisch gerupfte Stelle augenblicklich mit dem Druck ihrer flachen Hand zu belasten, den Schmerz so gut wie verschwinden lassen würde. Dabei ist das Einzige, was verschwunden ist, die oberste Schicht meiner Epidermis. Und natürlich meine Würde. Denn spätestens, als Shannon mich gebeten hat, auf dem Bauch Platz zu nehmen, damit wir das Waxing in der Pofalte beenden könnten, wollte ich lieber haarig wie Cousin Itt aus der Addams Family im Boden versinken, als die Prozedur fortzusetzen.
Auch mein Portemonnaie hat unter dieser Aktion gelitten. Als ich Professionelle Haarentfernung auf meine To-do-Liste gesetzt habe, hatte ich keine Ahnung, wie teuer eine solche werden würde. Geschweige denn, dass es mehr kostet, ein paar Haare stehen zu lassen, als direkt einen kompletten Kahlschlag durchzuführen. Vermutlich macht das Sinn. Beim Frisör ist eine Glatze sicher auch kostengünstiger als ein französischer Bob. Aber es ist ja nicht so, als hätte Shannon mir einen frechen Stufenschnitt verpasst. Oder ein paar Strähnchen gefärbt. Im Gegenteil, sie hat ihren Job gemacht und mir danach noch zehn Euro zusätzlich für ein Peeling abgeschwatzt, weil sie mich mit ihren Erzählungen von eingewachsenen Haaren ganz kirre gemacht hat.
Ich schüttele mich beim Gedanken an diese Erniedrigung. Das ist niemand wert. Nicht einmal Nils.
Dabei hat sich Nils noch nicht mal ausdrücklich gewünscht, dass ich bei unseren Treffen haarlos erscheine. Ich bin diejenige, die entschieden hat, dass zum zehnjährigen Jubiläum unseres Pakts alles ein bisschen extra sein muss. Extra besonders. Extra romantisch. Extra … glatt.
Anfangs war er gar nicht begeistert von meiner Idee, dieses Jahr über Silvester in die Alpen zu fahren. Unsere gemeinsamen Tage mit einem Urlaub zu kombinieren stand schon unzählige Male im Raum. Doch Nils hat es immer abgeschmettert. Er mag die hohen Erwartungen nicht, die man automatisch entwickelt, wenn man gemeinsam wegfährt. Er hat Angst, dass es nicht perfekt werden würde. Dass ich dann enttäuscht wäre und ihn nicht mehr wiedersehen will.
Ich weiß das. Schließlich kenne ich ihn. Ich kenne ihn so gut wie niemand sonst. Nils hasst Veränderung, und er hasst Erwartungsdruck. Vor allem am letzten Tag des Jahres, der für ihn mit so vielen schmerzhaften Erinnerungen verbunden ist. Dass sein großer Bruder Fabian mit vierzehn an Silvester ertrunken ist, hat Nils mir erst nach einer ganzen Weile erzählt. Nicht bei einem unserer persönlichen Treffen, sondern am Telefon. Mitten in der Nacht. Seine Stimme nur noch ein Flüstern und mein Geist schon halb im Traum. In diesen Momenten fühle ich mich ihm am nächsten. Wenn er sich verletzlich, roh und unverfälscht zeigt und sich somit angreifbar macht. Er ist wie eine störrische Katze, die nur mir ihren Bauch zum Krauen hinhält.
Vielleicht war es unsensibel von mir, ihm diesen Urlaub zu schenken. Wenn ihm schon Silvesterraketen und Wunderkerzen wie ein zynischer Kommentar auf den tragischen Tod seines Bruders vorkommen, in welche Abwärtsspirale könnte ihn dann ein Abend ganz im Zeichen der Romantik stürzen?
Egal.
Ich werde für ihn da sein.
Immer.
Mit einem Seufzen schließe ich den Reißverschluss meiner Daunenjacke und zupfe ein letztes Mal meinen Hosenboden von meiner gepeinigten Intimzone. Ein paar Meter weiter den Gehweg hinunter bemerke ich eine Frau, deren Kind definitiv in unsere Kita geht. Ob sie mich gesehen hat? Und sich gerade fragt, ob die tollpatschige Becca unter ihren Latzhosen einen Brazilian Hollywood Cut zur Schau trägt?
Schnell stülpe ich mir meine riesige Bommelmütze über und schließe mit gesenktem Kopf mein Fahrrad auf, das ich vor dem Studio an einem Laternenmast befestigt habe. Erst als ich Davids alten Drahtesel auf die Straße befördert und mich routiniert über die Herrenstange geschwungen habe, bemerke ich meinen Fehler. Meinen astronomischen, Waxing-unerprobten Fehler.
»Auaaaaaa«, stoße ich aus. Ich muss mich mit einer Hand an der Laterne abstützen, während meine Füße versuchen, auf den Pedalen Halt zu finden, ohne dabei mein ganzes Gewicht auf den Sattel herunterzulassen. »Shitshitshitshitshit. Mann, Shannon, du hast gesagt, es tut nicht weh!«
Auch den Mann, der an mir vorbeiläuft und mit einem teuer klingenden Klacken den Sportwagen zu meiner Linken entriegelt, bemerke ich viel zu spät. Nämlich erst dann, als er bereits die Wagentür öffnet, sich in einer fließenden Bewegung auf den Fahrersitz gleiten lässt und mir dabei mit einer schmucklosen Grußgeste »Frohe Weihnachten« wünscht.
Der Wagen, der nur Sekunden später die Einkaufsstraße unserer Kleinstadt herunterbrettert, gehört Raphael Geisler.
»Du meinst, Raphael Geisler weiß jetzt, dass du eine frisch gewachste …«
»Wenn du diesen Satz zu Ende führst, ersteche ich dich mit der Fonduegabel!«
David stellt keckernd den Fonduetopf in die Mitte des Esstisches und stützt sich anschließend an der Schulter seines Partners Giovanni ab.
»War das nicht der Kita-Papa, den du nicht leiden kannst?«
Ich richte die Fonduegabeln, die ich eigentlich gerade ringsherum an unserer Weihnachtstafel verteilen wollte, auf meinen Schwager in spe und drohe ihm damit wie mit einer Lanze beim Tjostieren. »Onkel!«
»Ruhig Blut, Sir Lancelot.« David schiebt die Gabeln nach unten. »Bitte sag mir, dass du heute Abend nicht nur Salat isst. Ich ertrag deine Launen nicht mehr.« Er löst den Knoten seiner Kochschürze, während er an die Küchenzeile zurückkehrt, um dort die Herdplatte mit den Pellkartoffeln herunterzudrehen. Durch unseren Wohnbereich wabert der Duft von geschmolzenem Käse und gedünstetem Gemüse, vermischt mit dem holzigen Aroma des Tannenbaums, den David und Gio heute Morgen aufgestellt und mit unzähligen Kugeln aus Muranoglas geschmückt haben. Gio liebt Dekadenz, was sich auch an seinem Kleidungsstil bemerkbar macht. Er trägt ein Jackett aus Samt mit einem seidenen Einstecktuch, was ihn ein klein wenig aussehen lässt wie eine jüngere Version von Santa Claus. Den Vollbart und das angehende Bäuchlein hat er jedenfalls schon vorzuweisen.
»Ich habe mir die Haare mit Heißwachs rausrupfen lassen und mich danach vor meinem Erzfeind zum Affen gemacht. Da darf man wohl ein bisschen schlecht gelaunt sein!«
»Vor deinem Erzfeind?« Ohne zu mir aufzusehen, fährt Gio völlig ungerührt fort, eine Stoffserviette vor sich auf dem Tisch zu einem ausgefallenen kronenförmigen Gebilde zu falten. »Wer bist du? Super Mario?«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie unfassbar arrogant dieser Kerl ist. Er siezt mich beim Vornamen!«
»Wie unfassbar arrogant von ihm!«
»Er trägt Schuhe, die immer geputzt sind!«
»Anmaßend!«
»Seine Uhr kostet mehr, als ich im Jahr verdiene!«
»Der hat Nerven!«
»Und das Schlimmste …« Ich hole tief Luft, bevor ich das Argument auspacke, das nicht mal Gio mit seinem Sarkasmus abschmettern kann. »Er vernachlässigt seinen Neffen.«
Gio hält, wie erwartet, inne und legt die halb beendete Serviette auf dem kitschigen Villeroy-und-Boch-Weihnachtsservice ab. Das mit Mistelzweigen und Rentieren verzierte Porzellan macht mich nervös. Wenn ich eine der Servierschalen und ein Milchkännchen fallen lasse, stehe ich bei Gio mit hundertfünfzig Euro in der Kreide. Also etwa so viel, wie die Paarmassage kostet, die ich für Nils und mich am 30. Dezember im Hotel Seeblick gebucht habe. Die würde ich wirklich ungern stornieren, um eine zerbrochene Zuckerdose nachkaufen zu können. Schließlich muss mir irgendwer die ganzen Stressknoten wegkneten, die mir die Vorbereitungen auf diesen Urlaub beschert haben.
Im Schnelldurchlauf fasse ich für meinen Bruder und seinen Freund zusammen, wie Raphael Geisler nicht mal am Tag der Weihnachtsfeier Zeit für seinen Neffen hatte.
»Wie geht man in einem solchen Fall vor?«, fragt Gio, während er das fertige Serviettenkrönchen auf den Teller neben sich setzt.
»Ach, es ist alles schwierig«, stöhne ich. »Ich weiß ja, dass die Familie gerade eine harte Zeit durchmacht. Da muss irgendwas Unschönes mit Henrys Vater vorgefallen sein. Vielleicht hat er seine Frau betrogen oder so.« Ich beginne, die Fonduegabeln auf die vier Plätze zu verteilen. Vor dem Teller, der für meine Mutter bestimmt ist, verharre ich ein wenig länger. Keine Ahnung, ob sie kommt oder ob sie – wie die letzten zehn Jahre – die Nachtschicht im Zaratustra schiebt und vergisst, abzusagen. »Eine Woche nachdem die uns von der Trennung erzählt hat, stand jedenfalls auf einmal dieser Raphael auf dem Plan.«
»Muss man nicht das Jugendamt benachrichtigen oder so, wenn Kinder wiederholt nicht aus der Betreuung abgeholt werden?« Mein Bruder hebt eines der Rotweingläser an und wischt mit seinem Hemdsaum einen Fettfleck weg. Die Gläser sind der einzige Bestandteil der Tischdeko, der aus meinem Besitz stammt. Aber auch nur, weil Gio sie mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat. Dabei hatte ich insgeheim gehofft, er habe mitgekriegt, wie ich bei einem gemeinsamen Shoppingtrip sehr verliebt auf das Lego-Bauset einer babyblauen Vespa geschielt hatte. Aber wenn man auf die dreißig zugeht, bekommt man kein Lego mehr geschenkt. So spielt das Leben. Immerhin komme ich in meinem Beruf dazu, diese Leidenschaft auszuleben.
»Ich kann doch einer frisch getrennten Mutter nicht das Jugendamt auf den Hals jagen, nur weil ihr Bruder die Uhr nicht lesen kann.«