Alles, was wir jemals waren (Alles-Trilogie, Band 3) - Kyra Groh - E-Book
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Alles, was wir jemals waren (Alles-Trilogie, Band 3) E-Book

Kyra Groh

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Beschreibung

Sie waren ALLES füreinander. Doch NICHTS ist wie zuvor. Anouk steckt fest. Ihre Freundinnen haben die Zukunft genau geplant, nur sie wird von ihren familiären Pflichten zurückgehalten – oder hemmt sie etwa die Angst, in ihrem Traum vom Kunststudium zu scheitern? Etwas muss sich ändern, also trennt sich Anouk von ihrer Jugendliebe Kaya. Kurz darauf lernt sie Valentin kennen und in ihrem Leben scheint sich endlich etwas zu bewegen. Doch wieso fühlt sie sich immer noch so leer? Und warum kann sie nicht aufhören, an Kaya zu denken? Als dieser plötzlich wieder Kontakt zu ihr aufnimmt, wird Anouk klar, dass es nicht der Beziehungsstatus ist, den sie ändern muss … Erlebe den berührenden Abschluss von Kyra Grohs Alles-Trilogie Was, wenn die Angst vor dem nächsten Schritt hemmt? Im letzten Band ihrer gleichermaßen humorvollen wie berührenden New Adult-Reihe zeigt Kyra Groh, dass es vollkommen in Ordnung ist, sich zu verlieren, bevor man sich findet – ob nach dem Abitur, im Studium oder in der Liebe.

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Seitenzahl: 516

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INHALT

Playlist

Ein Ende von allemLansberg an der Wupper, 18. JuniAbiball des Konrad-Adenauer-Gymnasiums

Eine Kiste und ein schöner DichterLansberg an der Wupper, 3. MärzVogelhof

Ein bisschen TeeKöln 3. MärzWohnung von Polly und Jonas

Ein Blick zurückLansberg an der Wupper, 3. MärzVogelhof

Es bleibt dein Ziel. Auch wenn du gerade nicht versuchst, es zu erreichen.

Ein gebührend geliebtes BuchLansberg an der Wupper, 10. MärzValentins Wohnung

Eine Anfrage, die man nicht ausschlagen kannLansberg an der Wupper, 10. MärzVogelhof

Ein selbstlöschendes FotoLansberg an der Wupper, 13. MärzHaus der Jagodas

Ein Punkt, ein Punkt, ein PunktLansberg an der Wupper, 13. MärzHaus der Jagodas

Ein Netz aus Fantasie und WirklichkeitLansberg an der Wupper, 14. MärzHofladen »Feines von Vogels«

Eine Soziopathin auf TikTokLansberg an der Wupper, 17. MärzVogelhof

Eine 300k-Likes-IdeeKöln, 19. MärzAmirs Grill

Glücklich sein bedeutet nicht automatisch, dass du ein einer Beziehung sein musst.

Eine AntwortKöln, 19. MärzAmirs Grill

Eine langweilige PartyKöln, 20. MärzWohnung von Polly und Jonas

Ein Kälteeinbruch und eine HitzewelleKöln, 24. MärzWohnung von Valentin

Eine alte AusgabeLansberg, 24. bis 26. MärzWohnung von Valentin

Ein CardigankokonLansberg an der Wupper, 26. MärzVogelhof

Eine Brummifahrer-BlockadeLansberg an der Wupper, 26. MärzVogelhof

Know your worth. Then add tax.

Ein Kinderzimmer und ein MarathonLansberg an der Wupper, 31. MärzVogelhof

Ein GefühlsmischwesenLansberg an der Wupper, 31. März bis 2. AprilVogelhof

Eine unpassende Pulli-Jacken-KombinationLansberg an der Wupper, 2. AprilFrühlingsmarkt

Eine Wiese hinterm HausLansberg an der Wupper, 2. AprilFrühlingsmarkt

Ein neues MalLansberg, 2. AprilVogelhof

Eine treffsichere WahrheitLansberg, 2. AprilVogelhof

Ein Geständnis und ein HorrorfilmLansberg, 2. AprilVogelhof

Wo sucht man, wenn man sich verloren hat?

Ein Teebeutel mit SchleudertraumaLansberg an der Wupper, 3. AprilHaus der Jagodas

Ein Crashtest-HerzKöln, 6. AprilWohnung von Polly und Jonas

Ein Geruch nach BlauKöln, 6. AprilFakultät für Wirtschaftswissenschaften

Ein physikalisches ParadoxonKöln, 6. AprilFakultät für Wirtschaftswissenschaften

Eine Lüge ohne NamenLansberg, 9. AprilVogelhof

Eine Lüge namens LauraLansberg an der Wupper, 9. AprilVogelhof

Eine Frage der ZeitKöln, 10. AprilWohnung von Polly und Jonas

Ein teurer DatentransferKöln, 11. AprilInnenstadt

Ein Weg hinaus

Für Leonie

PLAYLIST

vaultboy – everything sucks

Olivia Rodrigo – good 4 u

Maisie Peters, JP Saxe – Maybe Don’t – Acoustic

renforshort, glaive – fall apart

Taylor Swift – cardigan

Bow Anderson – Everybody Wants To Rule The World

Royal & the Serpent – fuck u

LØLØ – die without u

Julia Michaels – All Your Exes

TRAMP STAMPS – 1-800-miss-ur-guts

renforshort – i drive me mad

Paramore – For A Pessimist, I’m Pretty Optimistic

Leyla Blue – What A Shame

Ashe – Save Myself

Leah Kate – F U Anthem

Paramore – Still into You

EIN ENDE VON ALLEM

LANSBERG AN DER WUPPER, 18.JUNI ABIBALL DES KONRAD-ADENAUER-GYMNASIUMS

Ich bin über den Punkt hinweg, an dem es mir peinlich wäre, in einem Auto durch die Stadt zu fahren, auf dessen Tür Werbung für Sexspielzeug aufgedruckt ist. Wenn ich es mir recht überlege, bin ich über diesen Punkt nicht hinweg – ich habe ihn nie erreicht. Es ist mir einfach vollkommen egal.

Der heutige Tag ist mir egal. Das Dildomobil, in dem Pollys Mutter uns zum Abiball bringt, mein weißes Sommerkleid, der Ball, das Abi. Egal. Egal. Egal. Das Einzige, worauf ich mich nach dem heutigen Tag freue, ist die neue Staffel Stranger Things, die endlich angekündigt wurde. Darüber hinaus kann ich für diesen Einschnitt in meinem Leben wenig Begeisterung aufbringen.

Wieso auch? Alle um mich herum wissen genau, was sie als Nächstes tun werden. Polly will Juristin werden, Anna macht eine Reise ins Ausland und mein Freund kann es praktisch kaum erwarten, von mir wegzukommen, um in München Film zu studieren. Nur ich … ich habe keinen blassen Schimmer. Beinahe wünschte ich, ich könnte in sechs Wochen einfach weiter zur Schule gehen, das Abi noch mal machen. Die schwierigste Lebensentscheidung, die ich dann treffen müsste, wäre die Frage, ob ich Mathe schriftlich oder mündlich machen will. Das würde ich hinkriegen. Aber so?

Ich seufze auf der Rückbank und werfe einen Blick aus dem Fenster. Wir sind gleich da. Alles in mir sträubt sich dagegen. Denn dieser Abend fühlt sich nicht an wie ein Anfang von etwas Neuem. Dieser Abend fühlt sich an wie … ein Ende.

»Du kannst uns hier rauslassen!« Polly deutet auf die Seitenstraße, in der das Lansberger Sängerheim liegt. Die Location unseres Abiballs könnte spießiger nicht sein. Das Sängerheim ist alles, was ich an Lansberg satthabe – nur eben als brutalistisches Gebäude. Und trotzdem habe ich bisher nichts unternommen, um von hier wegzukommen.

»Ach was, ich fahre euch vor die Tür. Dann müsst ihr in diesen Schuhen nicht so weit laufen. Ich kenne das Problem doch, Mädels.« Pollys Mutter ist die Art Frau, die Mädels sagt und dabei unironisch zwinkert.

Polly verdreht so heftig die Augen darüber, dass wir nun mit dem Geschäftswagen ihrer Mum bis vors Loch gefahren werden, dass ich förmlich eine Druckwelle vom Platz neben mir ausgehend spüre. Vielleicht ärgert sie sich aber auch, dass ihre Mutter nicht gemerkt zu haben scheint, dass keine von uns beiden für diesen Anlass hohe Schuhe gewählt hat.

Ich habe in meinem Leben noch nie High Heels getragen und fand es unsinnig, heute Abend damit anzufangen. Immerhin verbringe ich ihn mit denselben Pappnasen, die mich an jedem Tag meiner Schulzeit in ausgetretenen Converse gesehen haben. Auch Polly hat sich für flaches Schuhwerk entschieden, was gut ist, weil uns sowieso schon rund zwanzig Zentimeter trennen und ich morgen nicht auch noch eine Nackenstarre haben will, weil meine beste Freundin auf Absätzen zwei Meter groß ist.

Silke Mühlford lenkt den Wagen nach rechts und der hässliche Betonklotz kommt in Sicht, vor dem sich der gesamte Jahrgang schon eingefunden hat. Mir schießt der alte Prachtbau in den Sinn, in dem Kayas Uni untergebracht ist. In München wird er bestimmt grundlegend andere Architektur zu Gesicht bekommen. Wer weiß, in welche WG es ihn verschlägt. Vielleicht in eine Jugendstilvilla mit zwölf Meter hohen Decken, Stuckverzierung und Kronleuchtern. Na gut. Vielleicht nicht ganz. Die Semestergebühren fressen Kayas Budget schon dermaßen auf, dass er froh sein kann, wenn er im teuren München eine Besenkammer mit Feldbett ergattert. Dafür wird er zwischen Säulen im römischen Stil die Kunst des Films lernen und umgeben sein von Studierenden, die – genau wie er – ihre Leidenschaft gefunden haben.

Nun fällt mein Blick auf meine Mitschülerinnen und Mitschüler, die vor dem Sängerheim darauf warten, dass der Ball beginnt. Wie viele von ihnen kennen wohl ihre Leidenschaft? Und viel entscheidender: Wie viele von ihnen kennen ihre Leidenschaft und trauen sich, sie zu verfolgen? Ich schon mal nicht, so viel ist klar. Kaya schon. Der Glückliche.

Ich bin unfair, ich weiß. Aber seit er sich mit einem seiner Kurzfilme an der Uni beworben hat und sofort angenommen wurde, wächst mein unterschwelliger Neid auf ihn so rapide, dass von unterschwellig bald keine Rede mehr sein kann. Ich liebe Kaya. Ich liebe ihn, seit sein schwarzer Lockenkopf in der fünften Klasse auf dem Stuhl vor mir aufgetaucht ist. Und als er fünf Jahre später mein fester Freund wurde, war ich der glücklichste Mensch der Welt. Aber … ich werde das Gefühl nicht los, dass seine Immatrikulation alles verändert hat. Nicht nur die Umstände. Sondern auch uns.

»MAMA!? Willst du uns vielleicht direkt IN den Raum fahren?« Polly fuchtelt so ausladend zwischen den beiden Vordersitzen, dass sie Silke um ein Haar eine Ohrfeige verpasst.

»Apolonia! Ich laufe seit einundfünfzig Jahren auf Pumps, glaub mir, du willst in solchen Teilen nicht einen Meter zu viel gehen. Und bedenke, dass ich immer ein bisschen weniger Gewicht auf den Knöcheln hatte.« Ihre letzten Worte verklingen, als Silke Mühlford das Auto direkt neben dem Bordstein parkt, auf dem sich unsere gesamte Jahrgangsstufe aufgereiht hat. Mein halbes Leben lang bin ich mit Polly befreundet, aber ich werde mich niemals daran gewöhnen, wie schamlos ihre Mutter über ihre Figur spricht. Es tut schon mir so weh, dass ich mir kaum vorstellen kann, wie Polly sich dabei fühlen muss. Nach außen hin gibt sie jedoch immer die Toughe. Auch jetzt.

»Ist klar, Mutter, du bist schon auf Stilettos durch den Kreißsaal marschiert. Außerdem behalte ich die an.« Zur Erklärung streckt sie ihre in Zehensandalen steckenden Füße vor.

»Wie? Du behältst die an?«

»Ja!«

»Aber das ist doch ein Ball!«

»Na und?«

»Sie sind flach!«

»Ja, Mama, wie du gesagt hast: Auf hohen Schuhen will man keinen Meter gehen.« Polly öffnet die Schiebetür des Autos, damit wir aussteigen können. »Und du musst auch bedenken, wie unfassbar viel Gewicht ich auf den Knöcheln habe.«

Als Polly einen Fuß auf die Straße setzt, geht das Gezeter der Mühlford-Frauen in dem Johlen einer Jungsgruppe unter. Eine Karre, auf der seitlich Sexy Hexy! Für magische Momente im Schlafzimmer! steht, ist wahrscheinlich für jede Männerclique ein gefundenes Fressen. Doch ich wünschte, die Typen aus unserem Jahrgang würden einfach still sein. Mir ist es egal – aber für Polly tut es mir leid. Erst dieses Gerede ihrer Mutter und jetzt das.

Doch meine Freundin zeigt sich unantastbar. Sie springt aus dem Auto und zieht mich zu sich auf den Bürgersteig. Silke startet den Motor, beugt sich über den freien Sitz zum Beifahrerfenster und winkt uns im Abfahren. Ich sehe ihr kurz hinterher und frage mich, ob es hart für Polly ist, dass ihre Mutter nicht auf ihrem Abiball sein wird. Vor allem, wenn der Grund dafür rosafarbene Sextoys sind. Meine Eltern kommen auch etwas später, aber bei ihnen ist die Kartoffelernte schuld. Kartoffeln ist es egal, ob die Tochter des Hauses einen wichtigen Schultermin hat. Meine Eltern zeigen ihr Commitment auf andere Weise. Zum Beispiel damit, dass Papa einen Anzug trägt. Dabei kennt ihn ganz Lansberg nur in grünen Latzhosen, die er nicht mal dann auszieht, wenn er auf dem Marktplatz Wahlkampf für die lokale SPD macht.

Wir werden von Bennet Meiers schneidender Stimme begrüßt. Er grölt Polly irgendetwas darüber hinterher, ob ihre Mum die Produkte eigentlich an sich selbst teste, und gebärdet sich dabei, als sei dies der originellste Spruch aller Zeiten.

»Nein, Bennet«, kontert Polly. Sie ist etwas außer Atem und dennoch das gebündelte Selbstbewusstsein. »Sie nimmt Jungs wie dich als Versuchskaninchen. Wenn du dich dafür melden möchtest, gebe ich ihr sehr gerne deine Nummer.«

Ich muss laut lachen, was sich bei all den wirren Gedanken in meinem Kopf wie Balsam anfühlt. Ich entdecke Anna in der Menge, winke und mache mich auf den Weg zu ihr. Sie wirkt, als würde ihr ein kleiner Lachanfall ebenfalls guttun: angespannt, mit einem Strahlen, das nicht zu ihren Augen vordringt. Typisch Anna. Sie sieht bezaubernd aus in ihrem engen neonorangefarbenen Kleid, für das es sicher eine modisch korrekte Bezeichnung gibt, die ich allerdings nicht kenne. Ich kann alle Stephen-King-Romane aufzählen und nach Erscheinungsjahr sortieren, aber die Fremdsprache Mode beherrsche ich schlicht und ergreifend nicht.

Anna gibt mir eine Umarmung und haucht dabei einen Kuss auf mein kurzes hellbraunes Haar, das ich ein wenig zur Seite gekämmt habe – ein weiteres Zugeständnis an diesen feierlichen Abend. Ich versuche, Kaya ausfindig zu machen, aber meine Mitschüler und Mitschülerinnen scheinen seinen schwarzen Lockenkopf komplett verschluckt zu haben. Ein flattriges Gefühl macht sich in mir breit. Schmetterlinge … Ich bekomme sie immer noch, wenn ich an meinen Freund denke. Nur haben sie neuerdings zerknickte Flügel.

»Wollen wir?« Polly hat Bennet fertig zerlegt und bietet uns nun ihre angewinkelten Arme zum Einhaken an.

Ob ich will? Ich weiß nicht. Bin ich bereit, alles hinter mir zu lassen, was mir je Sicherheit gegeben hat? Heute Abend bin ich noch Anouk, die neunzehnjährige Schülerin, die in einer festen Beziehung ist, jeden Tag mit ihren besten Freundinnen verbringt und davon träumt, ihr Hobby zum Beruf zu machen.

Doch schon morgen bin ich Anouk, die orientierungslose Versagerin, die unentgeltlich auf dem Biobauernhof ihrer Eltern jobbt, keinen Plan für die Zukunft und keine Bewerbung bei einer Kunstuni eingereicht hat, die eine Fernbeziehung führt und ihren Freundinnen dabei zusehen muss, wie sie ihre Ziele erreichen.

Also … Nein. Ich weiß wirklich nicht, ob ich das will.

EINE KISTE UND EIN SCHÖNER DICHTER

LANSBERG AN DER WUPPER, 3.MÄRZ VOGELHOF

Wie beschissen kann es eigentlich werden?

Ich blicke auf den Liter frische Milch, der sich soeben über meine Sneaker, meine Jeans und meine Socken ergossen hat. Fuck … Ich versuche, meinen Atem kontrolliert ein- und ausströmen zu lassen, aber meine nassen Füße machen es mir nicht gerade leicht, Ruhe zu bewahren.

Als ich die Steige untersuche, in der sich bis eben noch die Milchflasche befunden hat, die nun in Scherben auf dem Boden neben mir liegt, entdecke ich den Übeltäter: Einer der Plastikriemen, die die Flaschen eigentlich im Sechserpack zusammenhalten, muss gerissen sein, wodurch sich die Flasche gelöst haben und mir beim Öffnen des Kofferraums entgegengekommen sein muss. Na bravo. Bio-Gütesiegel hin oder her, manchmal würde ich echt gern Milch im Tetrapak verhökern.

Ich wuchte die letzte Vogelkiste des Tages von der Ladefläche des Kleintransporters und stelle sie auf dem Bürgersteig ab. Für diese Abonnentin von Vogels frischer Biokiste gibt es diese Woche dann wohl keine Milch. Und das, obwohl ich sie zum ersten Mal beliefere. Was für ein grandioser Start. Bei meinem Glück wird sie darüber so erbost sein, dass sie den Lieferservice direkt wieder kündigt und mir die Schuld an allem gibt. Die Antwort auf die Frage Wie beschissen kann es eigentlich werden? lautet bei mir nämlich schon seit einigen Wochen Immer noch ein bisschen mehr. Meine Eltern fanden den Einfall genial, die Erzeugnisse unseres Hofs in einer wöchentlichen Abo-Kiste zu verkaufen. Und da es nicht nur meine Idee war, sondern ich auch seit dem Abi ohne Beschäftigung bin, lag es nahe, dass ich die Auslieferung übernehme. Einerseits ist das gut, weil es mich von dem Scherbenhaufen ablenkt, zu dem sich nicht nur die Milchflasche zu meinen Füßen, sondern auch mein Leben verwandelt hat. Andererseits gibt es mir einen weiteren Grund, den Traum vom Kunststudium aufzuschieben. Ich kann meine Eltern schließlich nicht im Stich lassen, wo es doch meine Idee war.

Genervt sammle ich die groben Scherben auf und entsorge sie mit spitzen Fingern in einem Mülleimer ein paar Schritte weiter. Zurück am Wagen ziehe ich das Klemmbrett mit den Lieferadressen von einem Stapel leerer Kisten aus der Vorwoche, die ich beim Überbringen der neuen einsammle. Mit dem etwas klebrigen Zeigefinger fahre ich die Liste ab. Vielleicht erkenne ich anhand des Namens der Abonnentin, ob sie jung oder alt ist. Mein Gefühl sagt mir, dass eine junge Person mir eher verzeihen wird, heute keine Frischmilch mehr in ihren Kaffee schütten zu können. Doch leider kann ich den Namen Dilara Ceylan nicht einmal einem groben Jahrgang zuordnen. Kayas Cousine heißt Dilara, schießt es mir durch den Kopf. Sie muss so um die dreißig gewesen sein. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass Dilara in den Neunzigern die Charts der türkischen Frauennamen angeführt hat. Diese Dilara könnte genauso gut achtzehn oder achtundneunzig sein.

Gott … Kaya hatte so unfassbar viele Cousinen. Ich würde das selbst für ein Vorurteil gegenüber türkischstämmigen Großfamilien werten, aber er hatte wirklich viele Verwandte. Wenn ich mich recht erinnere, gab es sogar noch eine Tante Dilara auf der Seite seiner Mutter. Tja … um ein Haar hätte ich sie alle wiedergetroffen. Auf Meleks Hochzeit im Juni. Aber ich bin nicht mehr auf der Hochzeit von Kayas Schwester eingeladen. Kaya ist nur noch in meinem Kopf. Und das viel zu oft.

Du hast Schluss gemacht, Anouk, erinnerst du dich? Du. Kaya wollte die Trennung nicht. Du wolltest sie.

Das stimmt. Kaya wollte nicht. Kaya hätte für immer weiter so getan, als hätte uns sein Wegzug nach München nicht verändert. Als wäre es nicht schon davor schwierig gewesen. Als hätten meine dumme Eifersucht und meine noch dümmere Orientierungslosigkeit nicht alles kaputt gemacht. Als wären wir noch immer perfekt, Anouk und Kaya-Maus, ich noch immer seine große Liebe, noch immer sein EGOT.

Ein lautes Schnauben verlässt meinen Körper, doch die Erinnerung an Kaya bleibt. Es ist schwer, jemanden zu vergessen, der dich mit der höchsten Auszeichnung der Filmszene verglichen hat – dem Gewinn der vier größten Preise Emmy, Grammy, Oscar und Tony. Ich versuche es seit vierundsiebzig Tagen und fuck … ist es echt schon vierundsiebzig Tage her, dass ich die schwersten Worte meines Lebens ausgesprochen habe?

Kaya, ich glaube, das geht so nicht mehr weiter …

Ich presse meine Augen so fest zusammen, dass ich Sternchen sehe, dann schnappe ich mir die Kiste und klingle an der Tür der achtzehn- oder achtundneunzigjährigen Dilara, um ihr zu beichten, dass sie ihren Kaffee schwarz trinken muss. Und dass ich vermutlich Milchfußstapfen in ihrem gesamten Treppenhaus hinterlasse.

Der Summer der Tür wird fast augenblicklich betätigt. Ich schaffe es gerade noch, sie mit der Hüfte aufzudrücken und mich mit dem Hintern voran in den Hausflur zu schieben. Dilara Ceylan hat die Non-Veggie-Basic-Kiste bestellt, in der diese Woche Kartoffeln, Würstchen, ein Schraubglas mit Honig und – in ihrem Fall keine – Milch drin sind. Ich stelle mir vor, wie sie ihren Freunden erzählt, dass sie Fleisch nur von einem Biobauernhof aus der Region bezieht, bei dem die Tiere ein gutes Leben haben und das Fleisch einfach besser schmeckt. Da mag etwas Wahres dran sein, schließlich reißen meine Eltern sich die Beine aus, um einen Hof mit würdigen Lebensumständen für die Tiere führen zu können, aber es verwandelt die Mettwürste auch nicht in süße Schweinchen zurück. Mein Vater hat mich gebeten, derlei Sprüche nicht unbedingt vor den zahlenden Kunden abzulassen, und ich halte mich natürlich daran. Er akzeptiert meine Meinung, würde es als Landwirt aber dennoch bevorzugen, wenn seine mittlere Tochter nicht bereits mit vier Jahren Vegetarierin geworden wäre.

»Hallo?« Eine Männerstimme dringt durch das Treppenhaus. Ich schätze die Entfernung etwa auf zwei Stockwerke.

»Äh, hi«, sage ich verlegen. Seit August fahre ich nun schon jede Woche die Kisten aus und schaffe es immer noch nicht, zwanglos mit fremden Menschen zu reden. Nicht mal mit denen, die ich jeden Donnerstag beliefere. »Ich bringe die Vogelkiste.«

»Ah! Diese Bauernhofgeschichte?«, fragt die Stimme.

»Jap, die Bauernhofgeschichte.«

Ich hoffe, dass mir der – seiner Stimme nach zu urteilen – junge Kerl auf der Treppe entgegenkommt und die knapp acht Kilo schwere Box selbst hochschleppt. Aber nichts dergleichen passiert.

»Sorry, ich kann dir nicht helfen, ich muss auf die Katze aufpassen.« Auf die Katze aufpassen? Was für eine Katze hat er denn? Einen bengalischen Tiger?

»Kein Problem«, ächze ich und trage die grüne Pfandkiste in die dritte Etage. Dort werde ich lediglich von einer angelehnten Tür begrüßt. Skeptisch sehe ich mich um, entdecke aber weder Mann noch Raubkatze. Ich wuchte die Kiste auf die Fußmatte mit Blümchenmuster, die vor dem Zuhause von Frau Ceylan liegt, und würde am liebsten direkt wieder die Biege machen. Aber ich muss die Sache mit der Milch erklären. Großartig. Nichts kommt meiner social awkwardness mehr gelegen, als wildfremden Personen mein Versagen beichten zu müssen.

Nach einem tiefen Atemzug klopfe ich gegen die offen stehende Tür, die daraufhin ein wenig aufschwingt. Ein Flur kommt zum Vorschein, der eindeutig WG schreit. Dazu passt, dass auf dem Klingelschild drei Nachnamen stehen. Dilara ist also mit großer Wahrscheinlichkeit keine Oma.

»Hallo?« Selbst ein Hamster hat eine kräftigere Stimme als ich, wenn ich so nervös bin wie jetzt.

»Oh, eine Sekunde … du … altes … Mist…stück.«

Die letzten Silben hallen abgehackt aus dem Inneren der Wohnung und bringen mich dazu, meinen Kopf neugierig zu verdrehen. Doch bevor ich herausfinden kann, ob diese Worte vielleicht mir gelten könnten, steht jemand in der Tür. Und was für ein Jemand. Ich muss fast den Kopf in den Nacken legen, um in das Gesicht des Typen sehen zu können. Und was für ein Gesicht! Hohe Wangenknochen, gescheiteltes dunkelblondes Haar, eine braun melierte, runde Hornbrille, dahinter tief liegende, ein wenig umschattete Augen. Und was für Augen! Sie sind von einem so hellen einnehmenden Olivgrün, dass sie mich für einen Augenblick von dem Rest des Mannes abgelenkt haben. Und was für ein – okay gut, Anouk. Das reicht jetzt.

Shit … bin ich wirklich derart auf Romantikentzug, dass mir in Gegenwart eines hochgewachsenen Typen mit der Ästhetik eines gequälten Dichters sofort die Spucke wegbleibt? Und nicht nur das. Ich habe bei meiner Gafferei komplett übersehen, dass er eine grau getigerte Katze in den Armen hält, die dort definitiv nicht sein will. Sie wehrt sich heftig gegen den Klammergriff und schmeißt sich ins Hohlkreuz, bis ihr Körper wie ein umgedrehtes C aussieht. Als Bauernhofkind hat man – um es freundlich auszudrücken – zu Katzen ein recht pragmatisches Verhältnis. Doch mit diesem Exemplar würde ich gerade am liebsten tauschen. Wäre ich an der Stelle des Stubentigers, würde ich mich in die sehnigen Arme des schönen Poeten schmiegen und mich schnurrend an die Kante seines Kiefers pressen.

Oh Gott … so etwas ist mir noch nie passiert. Ich wollte mich noch nie an … an irgendjemandes Kiefer pressen! Was stimmt nicht mit mir?

»Ist alles okay?«, fragt er und lenkt meine Gedanken damit wieder auf die Sache mit der Milch. Und auf meine nassen Chucks und die milchigen Fußstapfen, die ich auf jeder Treppenstufe hinterlassen habe. In ein paar Minuten werden die wunderbar klebrig sein.

Mein Puls beschleunigt. Wie funktioniert Reden gleich noch mal?

»Leider … leider ist die Milch … kaputt.« Leider ist die Milch kaputt?? Wieso klinge ich, als bestünde mein Vokabular aus nur zweihundert Wörtern? Doch den Typen – der Mitbewohner von Dilara Ceylan vielleicht? – scheint meine Einsilbigkeit nicht zu stören. Er grinst süffisant und lehnt sich gegen den Türrahmen.

»Die Milch? Kaputt?«

»Ja, also … sie … es gibt heute keine. In der Kiste. Für Dilara Ceylan.«

»Verstehe«, sagt er mit einem anzüglichen Nicken und sieht dabei original aus wie einer dieser TikTok-Boys, die für Tausende begeisterte Fans zu sexy Musik in die Kamera zwinkern. Auf Social Media finde ich diesen pseudoerotischen Blick jedes Mal komplett abturnend. Lasziv aus halb geöffneten Lidern aufblicken funktioniert vielleicht in der Verfilmung eines Wattpad-Romans, aber ich bin dafür nicht empfänglich. Gar nicht. Üüüberhaupt nicht. Bis auf die kleine Nebensache, dass sich meine Knie anfühlen wie die Pampe, mit der Mama unsere hausgemachten Würstchen stopft. Was geschieht hier? Ist das Liebe auf den ersten Blick oder so ein Scheiß? Ich kenne mich da nicht aus. Es gibt keinen Stephen-King-Roman über die Liebe auf den ersten Blick. Und in den ganzen Art-House-Filmen, die ich mit Kaya gesehen habe, endet solche bestenfalls damit, dass das Objekt der Begierde nach hundertzwanzig qualvollen Minuten tot umfällt. Kaya …

Kaya!

Ich bin erst seit vierundsiebzig Tagen von Kaya getrennt. Ich war dreieinhalb Jahre mit ihm zusammen. Er ist meine große Liebe. War meine große Liebe. Ich kann hier nicht stehen und mich in einen mittelgescheitelten Brillenträger verknallen.

Apropos: Was hat er zuletzt gesagt? Muss ich reagieren? Panisch blicke ich ihn an. Fuck! Diese halb geöffneten olivgrünen Augen. Meine Wurstbeine kribbeln von den Zehenspitzen bis in die Hüftknochen und von denen geradewegs bis in meine …

»…zeichnen?«

Ach du Scheiße, jetzt habe ich schon wieder vollkommen verpennt, was er gesagt hat. Will er wissen, ob ich gerne zeichne? Woher weiß er das? Sieht man mir das an? Dabei habe ich seit Jahren keine verräterischen Spuren mehr von Filzstift an meinen Fingern kleben, die immer dann entstehen, wenn ich bei dem Versuch, die Kappe draufzusetzen, den Stift verfehle. Ich male inzwischen beinahe ausschließlich digital. Meine Hand führt den Apple Pencil wie einen elften Finger, mein Gehirn denkt beim Illustrieren in Farbcodes, Strichstärken und Procreate Brushes.

Wenn ich ihm nicht stammelnd von meinem iPad erzählen will, muss ich wohl nachfragen, was er gerade gesagt hat. »Mhm?«

Er lächelt schief. Ein hochgezogener Mundwinkel und ein Quadrant strahlend weißer Zähne. Garantiert werden die jede Nacht mit einer losen Schiene in Form gehalten, ganz so, wie es der Kieferorthopäde empfiehlt. Der Mitbewohner von Dilara würde nicht nur auf TikTok durchstarten, ihm stünde auch eine Karriere als Zahnmodell offen. Ich interessiere mich weder für Influencer noch für Modepüppchen, aber das Gefühl in meinem Bauch spricht eine andere Sprache. Eine, die ich nicht verstehe. Es ist jedenfalls keine von diesem Planeten, eher ein ausgestorbener Dialekt von Marsmenschen, der nur aus Stammeln und Hecheln und aufgerissenen Augen besteht.

Doch mein Gegenüber findet es scheinbar ganz entzückend. In einer Seelenruhe und mit vielsagendem Zwinkern wiederholt er: »Muss ich noch etwas unterzeichnen?«

»Ah!«, mache ich. »Ja. Hier.« Ich ziehe das Klemmbrett von Dilaras Vogelkiste und halte es ihm hin. Er greift nach dem Kugelschreiber, der an einer Kordel daran befestigt ist, und quittiert die Auslieferung im dafür vorgesehenen Feld. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, er möge seinen Namen gut leserlich in Druckbuchstaben eintragen. Oder direkt sein Instagram-Handle, sodass ich es mir sparen kann, meine Sherlock-Kappe aufzusetzen und im Netz nach ihm zu fahnden. Doch er krakelt nur eine dicht gedrängte, unleserliche Schreibschrift aufs Blatt, die meine Hausärztin neidisch machen würde.

»Kannst du mir mal bitte erklären, wie ich dich so jemals investigativ ausfindig machen soll?«, will ich fragen. Tu ich aber nicht. Stattdessen sage ich: »Danke.« Wow, was für ein Auftritt. Ich habe in seiner Gegenwart zehn unzusammenhängende Worte herausgebracht, schwer geatmet und mit Mettwürstchenbeinen in einer Lache aus umgekippter Milch sein Treppenhaus eingesaut. Und das alles, während ich ein viel zu großes altes Poloshirt mit dem Logo unseres Hofs trage. Wenn er sich da nicht schockverliebt hat, weiß ich auch nicht.

Ich wende mich von dem schönen Mann mit der Leidender-Künstler-Aura ab und schlenkere ein wenig mit dem Klemmbrett, was Introvertiertensprache für Ich geh dann mal sein soll.

»Kommst du jetzt jede Woche?«, fragt er hinter mir. Meine Magensäure scheint durch Ahoj-Brause ersetzt worden zu sein, denn in meinem Bauch sprudelt es plötzlich gewaltig.

»Ich … also … wenn die Kiste wöchentlich abonniert wurde, dann ja.«

»Cool.« Er nickt zu einem Rhythmus, den ich nicht höre, und grinst über einen Witz, den er nicht mit mir teilt. »Dann vielleicht bis nächste Woche!«

»Äh … okay.« Mein Magen schäumt über.

Er hebt seinen Arm zu dieser Art Gruß, die nur bei großen, schönen Männern gechillt und unverkrampft aussieht. Das hätte ich wissen müssen, bevor ich versuche, ihn nachzumachen. Denn ich fühle mich dabei wie eine Ertrinkende, die ein Beiboot zur Rettung heranwinkt.

Also wende ich mich nun ganz ab und drehe mich lieber nicht noch einmal um. Mit angehaltenem Atem stolpere ich die Treppen herunter und hole erst wieder Luft, als ich in dem dunkelgrünen Kleintransporter sitze – mit bebender Brust und kribbelnder Haut.

Was zur Hölle ist da gerade geschehen?

EIN BISSCHEN TEE

KÖLN 3.MÄRZ WOHNUNG VON POLLY UND JONAS

Mein erster Impuls ist, es zu vergessen.

Mein zweiter Gedanke gilt den tief liegenden Augen und der Art und Weise, wie er mir daraus zugezwinkert hat.

Shit.

Ich pfriemle mein Handy aus der Navi-Halterung an der Windschutzscheibe, gehe auf WhatsApp, öffne den Chat, der sowieso immer ganz oben gelistet ist, und halte den Aufnahmebutton für eine Sprachnachricht gedrückt.

»Leute … ich glaub, ich hab den Verstand verloren. Ich … also … eben … Ich war eben die beschissenen Vogelkisten ausliefern und da hat ein Typ die Tür aufgemacht und … und ich hab nur einmal kurz an Kaya gedacht und er … er hat gefragt, ob ich jetzt jede Woche komme und ich glaube … ich glaube, es bedeutet was, aber ich weiß nicht? Fuck … also wisst ihr? Scheiße, was geht hier ab?«

Meine beste Freundin Anna antwortet in Sekundenschnelle. Sie muss ihre Antwort schon abgeschickt haben, bevor sie meine Nachricht zu Ende gehört hat.

Anna Scheiße. Anouk? Bist du verknallt? Hglkvbhölrgkjöälqekwjrhqev

Polly Hattest du grade ’nen Schlaganfall auf der Tastatur?

Anna Ich bin fassungslos.

Polly Same. Tja. Da kann man wohl nichts machen – wir müssen uns treffen.

Anouk Müssen wir? Ich wollte eigentlich, dass ihr sagt, ich übertreibe.

Polly Nein, das wolltest du nicht. Dann hättest du es für dich behalten. So wie die normale Anouk es tun würde.

Anna I LIKE UNNORMALE ANOUK.

Anouk Äh … Ich bereue alles, was ich gesagt habe. Ist es zu spät, es zurückzunehmen?

Das einstimmige Ja der beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben trifft in derselben Sekunde ein. Doch Annas wird zuerst angezeigt.

Anna Ha! Erste! Was machen wir jetzt? Kommen wir zu dir oder du zu uns?

Ein kurzer Stich fährt mir in den Brausepulvermagen, als ich die Trennung zwischen unseren jetzigen Leben so schwarz auf weiß vor mir sehe. Zwar wohnt nur Polly seit letztem Wintersemester offiziell in Köln, doch da Anna fast jede freie Minute bei ihrem Freund Fynn verbringt, lebt sie praktisch ebenfalls dort. Und dadurch, dass beide – im Gegensatz zu mir – ihr Traumstudium angefangen haben, sind auch unsere Realitäten strikt voneinander getrennt. Sie, die Studentinnen, ich, die antriebslose Möchtegernkünstlerin, die noch immer bei Mama und Papa jobbt. Annas Zu dir oder Zu uns manifestiert, was wir alle drei sowieso bereits wissen: Sie haben sich weiterentwickelt, ich trete auf der Stelle.

Anouk Ich bin eh schon auf halber Strecke nach Köln und denke nicht, dass meine Eltern das Auto noch brauchen. Ich komme zu euch.

Sie sollen meinetwegen keinen Schritt zurückgehen müssen, ich werde zu ihnen fahren.

Polly ist letzten Oktober nach einer nicht enden wollenden Wohnungssuche bei Annas Bruder Jonas eingezogen. Er hatte ein freies Zimmer und – wie sich ein paar Monate später herausstellte – eine Schwäche für Polly. Sie selbst hat wahrscheinlich am längsten gebraucht, um das zu erkennen. Mir war es schon recht früh klar. Jedes Mal, wenn ich Polly und Jonas zusammen gesehen habe, juckte es mich in den Fingern, kitschige Aquarellzeichnungen der beiden anzufertigen. Und was das angeht, kann ich meinen Fingern echt vertrauen. Nun sind die beiden seit Anfang Januar offiziell zusammen und die ehemals freundschaftliche WG somit eine frische Pärchenwohnung.

Anna – die einzige Person, die noch länger als Polly gebraucht hat, um zu checken, dass ihr Bruder und ihre beste Freundin aufeinander stehen – hat sich mittlerweile an die Beziehung der beiden gewöhnt. Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass sie dabei Startschwierigkeiten hatte. Wenn ich mir ausmale, dass etwa Anna mit meinem Bruder Bela angebandelt hätte … Oh Gott! Aber das ist eine absurde Vorstellung, da mein Bruder der unglamouröseste Mensch der Welt ist, am liebsten vor der Spielekonsole hockt und Metal aus Noise-Cancelling-Headphones hört. Anna hingegen ist Style in Person. Sie hat einen Kleiderschrank, der groß genug ist, um einer dreiköpfigen Familie Obdach zu gewähren, und eine Frisur, die immer aussieht wie frisch aus der Pantene-Pro-V-Werbung. Mit so einer Außenwelle im Pony, die auch dann nicht an Eleganz verliert, wenn sie sich das blonde Haar hinter die Ohren klemmt. Etwas, wofür ich sie vermutlich beneiden würde, würde ich nicht seit meinem zehnten Geburtstag einen Kurzhaarschnitt tragen. Ich schneide mir selbst die Haare, weil ich keinen Bock habe, alle vier Wochen jemanden dafür zu bezahlen. Ich kriege den fransigen Pixie-Cut mittlerweile ziemlich gut hin – was ich daran messe, dass Anna mich schon drei Jahre nicht mehr gefragt hat, ob sie mich mal zu ihrem Friseur mitnehmen soll. Doch Anna ist keineswegs oberflächlich. Überhaupt nicht. Sonst wäre sie wahrscheinlich nicht mit mir, dem Bauernhofkind, befreundet, das nur einmal im Jahr Make-up benutzt und grundsätzlich zu große Shirts und Hoodies trägt. Und auch Polly entspricht wohl eher nicht dem klassischen Beuteschema oberflächlicher Menschen. Sie ist sehr groß für eine Frau und kräftig gebaut und trägt fast immer Kleidung, die sie ein wenig älter und sehr professionell wirken lässt. Röcke, Blazer und solche Sachen. Wir drei teilen eine Menge, doch da unsere Geschmäcker so verschieden sind, gehören unsere Kleiderschränke nicht dazu.

In den letzten Monaten ist es mir oft schwergefallen, mich mit Polly und Anna zu treffen. Erst, weil sie so entschlossen waren, was ihre Zukunft betrifft, und – ebenso wie Kaya – ohne einen Funken Zweifel Lansberg den Rücken gekehrt haben, dann, weil sie mich nach meiner Trennung wie ein rohes Ei behandelt haben. Und inzwischen verpasst es mir einen Stich, wie überglücklich verliebt sie sind. Polly in Jonas und Anna in ihren Freund Fynn. Vielleicht war ich deswegen so erpicht darauf, ihnen sofort von meiner Begegnung bei Dilara Ceylan zu erzählen. Denn wie Polly schon festgestellt hat, ist derartige Offenheit eigentlich nicht mein Ding. Aber irgendwie … Allein der Gedanke daran, etwas Aufregendes erzählen zu können, lenkt mich davon ab, wie eintönig mein Leben ist. Wie unerfüllt. Der Inbegriff von Das Glas ist halb leer. Wobei ich mir an vielen Tagen nicht mal mehr sicher bin, ob mein Glas überhaupt noch gefüllt ist.

Wir treffen uns in der WG von Polly und Jonas, die wir nur aus Gewohnheit noch WG nennen. Liebesnest klingt als Treffpunkt eher unpassend. Ich bin schon ein paarmal hier gewesen, also kenne ich die Gegend und die Wohnung recht gut. Doch bei jedem Besuch bewundere ich die exklusive Drei-Zimmer-Wohnung, als wäre ich zum ersten Mal dort. Schon allein ihre Lage im Belgischen Viertel, der Altbaucharme und die Stuckdecken wären eindrucksvoll, aber die Bude ist noch dazu überragend schön eingerichtet. Stil kann man nicht kaufen, heißt es, aber Jonas Jagoda scheint die perfekte Fusion aus ausreichend Geld und exklusivem Interior-Geschmack zu sein.

Polly öffnet mir die Tür und sofort kommt ein beigefarbenes Fellbündel auf mich zugeschossen. Also ist auch Anna schon da und hat Eule mitgebracht. Die dreibeinige Hündin schnuppert aufgeregt an meinen Knöcheln, nimmt eine Fährte auf und folgt dieser zum Stoff meiner Converse, in dem sich der süßliche Geruch von Kuhmilch festgesetzt hat. Ich kraule Eule die spitzen Ohren, die so typisch für südeuropäische Straßenhunde sind, und schiebe mich mit ihr zusammen in die Wohnung.

»Hast du deine Schuhsohlen mit Vogels feinster Leberwurst eingerieben?« Polly deutet auf meine Chucks, an denen Eule inzwischen wie besessen herumschleckt.

»Fast«, brumme ich. »Ich habe einen Liter Vogels feinste Vollfettmilch darüber gegossen.«

»Wieso das denn?«, fragt Anna, nachdem sie den Raum durchschritten und ihren Hund eingefangen hat. Sie drückt mich an sich und haucht mir einen Kuss aufs Haar.

»Ja? Wieso? Sollte das so ’ne Art Cleopatra-Experience werden?«

Ich hebe die Augenbraue. »Klar, Polly. Ich habe mir mitten auf der Straße ein ägyptisches Fußbad gegönnt.«

Sie zuckt die Schultern. »Es hat dich wenigstens schön genug gemacht, dass sich ein unbekannter Fremder in dich verliebt hat – halloohooo?«

Wieso müssen dich deine besten Freundinnen immer in den Wahnsinn treiben, während sie gleichzeitig die einzigen Menschen sind, die dich vor all dem Wahnsinn retten können?

Ich lasse mich auf das graue Designersofa fallen und strecke alle vier Extremitäten erschöpft von mir. »Niemand hat sich in mich verliebt.« Mein Kopf sinkt auf die Rückenlehne und starrt an die faszinierende Stuckdekoration an der Decke.

Die Sitzfläche neben mir gibt nach, als Eule mit einem Satz darauf springt.

»Hey!«, mahnt Anna sie, doch die Hündin hat sich bereits eingekringelt und die Schnauze auf meinem Oberschenkel platziert. Ich nehme das Angebot an und streichle ihr die Ohren. Mein Verhältnis zu Hunden ist um ein Vielfaches herzlicher als das zu Katzen, aber immer noch deutlich distanzierter als das der meisten Hundebesitzer. Im Gegensatz zu den sich rasend schnell vermehrenden Miezen, die auf dem Hof als Schädlinge wahrgenommen werden, sind Hunde zwar gern gesehen, aber sie bleiben Nutztiere. Unser Riesenschnauzer Selleck lebt in einem Zwinger vor dem Haus. Tagsüber begleitet er meine Eltern und die Arbeiter, nachts schläft er dort in einer Hütte und meldet jeden, der sich dem Hof nähert, mit einem donnernden Bellen. Ins Wohnhaus kommt er nur, wenn die Temperaturen unter null Grad fallen oder wenn er krank ist. Auf unser Sofa würde Papa ihn wahrscheinlich nur lassen, wenn er im Sterben läge.

»Na ja, vielleicht hat Eule sich in mich verliebt.« Ich lächle sie dankbar an. »Krieg ich einen Tee?«, frage ich Polly, die sich in der Küche zu schaffen macht.

»Tee ist in diesem Haushalt so etwas wie eine Todsünde«, erklärt sie mir, während sie den Hebel einer Hightech-Kaffeemaschine betätigt. Das verchromte Siebträgerungetüm gibt ein Brummen von sich, als wolle es in die Erdumlaufbahn abheben. Ich habe Kaffee noch nie leiden können und deshalb auch wenig Verständnis dafür, dass Jonas eine Maschine besitzt, die so viel kostet wie ein Gebrauchtwagen. Aber er scheint regelrecht süchtig nach edlen Bohnen und der perfekten Crema zu sein und steckt Polly jede Woche mehr mit dieser Obsession an.

»Für Anouk mache ich gern eine Ausnahme«, tönt es auf einmal neben mir. Die Tür zu Jonas’ Zimmer ist aufgegangen und selbiger tritt nun ins Wohnzimmer.

»Ey!« Anna deutet mit der flachen Hand auf ihren Bruder und dann in die Runde. »Du kannst hier jetzt nicht rumhängen!«

Jonas zieht eine Augenbraue hoch. »Entschuldige? Ich wohne hier! Und wieso ist dein Hund auf meiner Couch?«

»Ja, du wohnst hier, aber wir müssen jetzt Mädchenkram bereden.« Anna wippt ungeduldig auf den Fußballen.

»Aha«, macht Jonas skeptisch, durchquert den Wohn-Ess-Bereich und geht Polly an der Kaffeemaschine zur Hand. »Geht es wieder um multiple Orgasmen?«

Anna kreischt auf. »NEIN!!! Ich hatte es gerade vergessen!« Sie rettet sich neben mir aufs Sofa und vergräbt ihr Gesicht in einem der schwarz-weißen Kissen.

Jonas lacht gehässig auf, umarmt Polly von hinten und küsst ihren Hals.

»Freundchen«, Polly droht ihm mit einem silbernen Milchkännchen. »Ich habe dir im Vertrauen erzählt, dass ich es ihnen im Vertrauen erzählt habe.« Bei der zweiten Satzhälfte wird das Kännchen in unsere Richtung geschwenkt. Ich muss schmunzeln. Der Nachmittag, an dem Polly uns in genau dieser Wohnung von dem Sex ihres Lebens erzählt hat, ist mir noch bestens im Gedächtnis. Da ich zwei und zwei zusammenzählen konnte, wusste ich genau, welcher Mann sie am Vortag halb um den Verstand gevögelt hat. Für Anna war es – gelinde gesagt – eine Überraschung.

»Wenn du willst, dass ich bescheiden bleibe, solltest du nicht solche Sachen über mich sagen.« Jonas zuckt selbstgefällig die Schultern und schnappt Polly den Espresso weg, mit dem sie sich einen Cappuccino zubereiten wollte.

Anna bedeckt nun zur Sicherheit beide Ohren mit Kissen und singt darüber ein schrilles »LALALALA«.

»Na gut. Dann lasse ich euch mal in Frieden euren Mädchenkram besprechen.« Mit dem unfertigen Cappuccino in der einen und einem großen Stück von Pollys Pobacke in der anderen Hand gibt Jonas seiner Liebsten einen Kuss und geht dann mit einem Winken zurück in sein Zimmer.

Mädchenkram – ich weiß schon, wieso ich es sonst meide, mein Innerstes nach außen zu stülpen. Es war alles so viel einfacher, als ich noch mit Kaya zusammen war. Da war ich fein raus, was Mädchenkram betraf. Anna und Polly wollten immer nur ein offenes Ohr von mir, keine Tipps, wie man Kerle aufreißen oder Liebeskummer überleben kann. Denn beides ist mangels Erfahrung nie zu meiner Spezialität geworden.

Ich bin mit fünfzehn mit Kaya zusammengekommen, nachdem ich gut fünf Jahre exklusiv in ihn verknallt war. Andere Jungs haben nie auch nur einen Funken in mir ausgelöst. Na ja. Außer Bill Skårsgard vielleicht oder Timothée Chalamet in seiner Rolle in Beautiful Boy. Aber das ist natürlich etwas anderes. Kaya war nicht eifersüchtig, wenn ich für Timmy Chalamet geschwärmt habe, weil er ihn mindestens genauso hot und talentiert findet wie ich. Anna und Polly konnten von meiner Verknalltheit in einen fiktiven Charakter nichts lernen, weil er … nun ja … fiktiv ist.

Ich stocke plötzlich und Eule, deren Ohr noch immer in meiner Hand liegt, blickt vorwurfsvoll hoch. Es ist die Erinnerung an Kaya … Sie fühlt sich in meinem Kopf auf einmal unorganisch, fast unangemessen an. Das ist eine Premiere, denn im letzten Jahrzehnt war er dort praktisch 24/7 der Stargast. Erst, weil ich verschossen in ihn war, dann, weil er mein Freund war, seit letztem Sommer, weil wir räumlich getrennt waren, und in den vergangenen drei Monaten, weil er nicht mehr mein Freund war. Doch heute will mein Gehirn ihn verdrängen. Es muss Platz schaffen, um einer anderen Person die Hauptrolle in meinem Kopfkino geben zu können. Eine Sehnsucht wird in mir wach, die ich für tot gehalten habe – oder wenigstens für schwer beschädigt.

»Es war schon schlimm genug zu wissen, wie mein Bruder im Bett ist«, brummelt es aus den Kissen. »Aber zu wissen, dass er weiß, dass ich es weiß, ist next level.«

»Ist ja gut«, beruhigt Polly sie. »Ich habe seitdem nie wieder über multiple Orgasmen geredet!«

»Hattest du denn welche?«, frage ich.

»NEIN! DARÜBER REDEN WIR NICHT!« Anna taucht aus den Kissen auf und schüttelt sich demonstrativ wie ein nasser Hund. Ihre Haare sind das Ebenbild ihrer Laune, sie stehen statisch aufgeladen in alle Richtungen ab. Polly lässt sich mit einem zweiten, dieses Mal fertigen Cappuccino samt Milchschaum, auf dem Sessel nieder und schaut in die Runde. Kurz bricht Stille ein und mir fällt auf, dass Polly nicht an meinen Tee gedacht hat. Den Anlass für meinen Besuch scheinen wir über das Multiple-Orgasmen-Debakel ebenfalls vergessen zu haben.

Wenn ich die Sache rational angehe, weiß ich, dass das nichts zu bedeuten hat. Wie oft passiert es mir selbst, dass ich in die Küche gehe mit dem Vorhaben, einen Tee zu kochen, nur um dann gedankenverloren die Kühlschranktür zu öffnen und darüber den Tee zu vergessen. Und in einem Gespräch unter Freundinnen ist es nun mal üblich, dass man beim Quatschen alte Themen fallen lässt und neue aufgreift, bis sich das Gespräch verselbstständigt.

Aber … Ich hätte mir mehr Begeisterung gewünscht. Wenn ich im schlimmsten Liebeskummer meines Lebens plötzlich Schmetterlinge im Bauch bekomme, hätte ich zumindest für fünf Minuten das Spotlight verdient. Oder? Klar, ich könnte mir Gehör verschaffen, Zurück zu mir sagen und dann detailreich meine Begegnung ausschmücken. Allerdings: Es geht hier um mich! Ich habe nie Schmetterlinge im Bauch. Mein Liebesleben ist sterbenslangweilig, mein Leben ist sterbenslangweilig. Etwas in mir hat sich darauf gefreut – hat es sogar erwartet –, dass sich meine Freundinnen mal auf eine Anekdote von mir stürzen.

Wortlos stehe ich auf, was nur Eule, die lieber weiter gekrault werden würde, negativ aufzufallen scheint, und gehe in die Küche. Dort stelle ich einen Wasserkocher mit Schwanenhalsausguss an, der meiner Mutter Lachtränen in die Augen treiben würde. Unpraktisch würde sie das Teil nennen, das kaum einen halben Liter Fassungsvermögen hat.

»Oh Shit, Nounou, ich hab deinen Tee vergessen!« Polly springt auf.

Doch ich beschwichtige. »Kein Problem, ich mach schon.« Ich öffne die Schranktür, die ich mir von früheren Besuchen gemerkt habe, ziehe eine Tasse daraus hervor und finde in einem Fach unter der Kaffeemaschine zwei verschiedene Sorten Tee. Schwarz und Pfefferminze. Ich nehme einen Beutel aus Letzterem.

»Anouk, würdest du wissen wollen, wie Bela im Bett ist? Oder Linnea?«

Ich verziehe den Mund. »Linnea ist elf!« Meine kleine Schwester hat noch nicht mal ihre Tage. Über ihr Sexualleben möchte ich mir da bestimmt keine Gedanken machen. Und Bela … Wenn es nach mir ginge, wäre er natürlich asexuell. Geschwister sind grundsätzlich sexuell inaktive Wesen. Keine Ahnung, wie manche Menschen es ertragen, Onkel oder Tante zu werden.

»Ich glaube, Anouk interessiert sich nur noch dafür, wie Biokistenboy im Bett ist.« Ich sehe Polly förmlich mit den Augenbrauen zucken, obwohl ich ihr den Rücken zugewandt habe. Na gut. Jetzt habe ich meinen Tee UND das Gespräch ist wieder bei meiner Begegnung mit dem Dichter. Erwartungsgemäß überfordert mich die Aufmerksamkeit nun allerdings. Meine Ohren werden heiß, ein Nerv an meinem Hals beginnt, heftig zu pochen.

Anna legt eine 180-Grad-Wende hin und ist nun wieder ihre quirlige Sonnenscheinpersönlichkeit. Sie setzt sich auf dem Sofa auf, führt die Handballen zusammen und tippelt aufgeregt die Fingerspitzen aneinander. »Wir haben noch NIE diese Art Gespräch mit dir geführt, Anouk! Geil! Wie aufregend ist das denn?«

»Ach, da ist doch gar nichts.« Mit der heißen Teetasse zwischen den Händen geselle ich mich wieder zu den beiden an den Couchtisch. Ich schäme mich ein bisschen dafür, dass ich ihnen eben mangelndes Interesse unterstellt habe. Denn offensichtlich sind sie interessiert, und wenn ich es mir recht überlege, habe ich keine wirklich gute Story zu bieten.

»Du bist wegen nichts nach Köln gefahren? Mit milchgefluteten Schuhen?« Pollys Augenbrauen verschwinden unter ihrem Pony.

Anna nickt heftig. »Ja, ich rieche Bullshit. Erzähl bitte jedes Detail von diesem Nichts.«

Beim Hinsetzen schiebe ich beide Beine unter meinen Hintern und puste in meine dampfende Tasse. Wie fängt man so einen Erlebnisbericht an? Mit einem märchenhaften Es war einmal … oder mit einem bescheidenen Das hat garantiert nichts zu bedeuten, aber … Mir fehlt das Vokabular, um erste Begegnungen zu schildern. Mir fehlt die Erfahrung, mir fehlt … mir fehlt so viel! Aber war das nicht mein heimlicher Grund, wieso ich es letztendlich durchgezogen habe, mich von Kaya zu trennen? Wollte ich nicht genau das? Neues erleben? Bin ich nicht grün vor Neid geworden, weil nicht nur Polly und Anna eine neue Richtung eingeschlagen haben, sondern vor allem Kaya? Jedes Foto, das er auf Instagram geteilt hat, jeder Snippet neuer Kurzfilme überzeugte mich mehr davon, dass er sich veränderte, während ich immer gleich blieb.

Das hier ist, was ich wollte. Ein Abenteuer. Etwas, worüber ich sprechen, ja, was ich in Illustrationen verarbeiten kann. Wie soll ich je Künstlerin werden, wenn mein Horizont an der Stadtgrenze Lansbergs endet?

Ehe ich mir einen geeigneten Einstieg überlegen kann, habe ich bereits zu reden begonnen. Von der Milch, die vor meinen Füßen zerschellt ist, von den drei Namen auf dem Klingelschild, von der Non-Veggie-Basic-Kiste.

»Also hat nicht er das Abo abgeschlossen?«

Ich wende mich Polly zu. »Nein. Eine Dilara Ceylan.«

»Und wer ist das? Seine Freundin?!« Vor Annas Frage bin ich nicht mal auf die Idee gekommen, dass das der Fall sein könnte. Doch jetzt fühle ich mich, als würde man dem frisch geschlüpften Hoffnungsvögelchen in meinem Inneren die Flügel ausreißen. Und das, bevor ich mir überhaupt klar geworden bin, worauf ich mir eigentlich Hoffnungen mache.

»Nee«, sagt Polly. »Wer wohnt denn bitte mit seiner Freundin und noch einer anderen Person zusammen? Das ist weird!« Guter Punkt. Ich bin erleichtert. Sie hat mir offenbar so aufmerksam zugehört, dass ihr nicht mal die drei Namen an der Klingel entgangen sind.

»Tja.« Anna verschränkt die Arme. »Vielleicht war es anfangs nur eine WG, aber dann hat einer der Mitbewohner beschlossen, Dilara Ceylan multiple Orgasmen zu bescheren?«

Polly rümpft die Nase, als hätte man ihr den verrotteten Kuhmist, mit dem wir unsere Kartoffeln düngen, darunter geschmiert. »Für jemanden, der nichts mehr über diese Sache hören will, bringst du sie ziemlich oft auf den Tisch!«

Bevor die beiden sich kabbeln und wieder über Pollys Sexleben reden können, fahre ich betont unbeeindruckt fort: »Ich musste ihm das mit der zerbrochenen Milch erklären und habe dabei bloß doof gestammelt.«

»Ach Quatsch, das kam dir bestimmt nur so vor!« Klar! Eine Frau wie Anna kann sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass man in Gegenwart wunderschöner Männer unsouverän auftritt. Ich hingegen …

»Wirklich! Wir können festhalten, es war nicht meine intellektuelle Sternstunde. Aber …« Ein Grinsen erobert meine Mundwinkel und mein Nervensystem schickt ein Kribbeln in jeden Millimeter meiner Haut. Es ist, als wäre ein Mentos in meinen Brausepulvermagen geworfen worden, so sehr sprudelt es in mir. Ich verstecke mein Gesicht hinter einer Hand, weil mir das unkontrollierbare Strahlen fast etwas peinlich ist.

»Aber was?« Anna fallen fast die Augen raus.

»Aber er hat gefragt, ob ich jetzt jede Woche komme, und als ich Ja gesagt habe, meinte er so …« Ich recke das Kinn vor, verenge die Lider und nicke: Cool. Kaum habe ich meine Darbietung beendet, schlage ich nun beide Hände vors Gesicht und breche beschämt auf der Couch zusammen. Für diese Schauspieleinlage hätte ich die Goldene Himbeere verdient!

Doch die beiden sind begeistert. Anna klatscht und quiekt, Polly formt ihren Mund zu einem O und hustet ein gedehntes »Hohohoho« heraus.

Keine Ahnung, wieso mir die Geschichte auf einmal so peinlich ist. Wahrscheinlich bin ich einfach auf dem Stand einer Fünfzehnjährigen, was meine amourösen Ambitionen angeht. Als ich zum ersten Mal ein Date mit Kaya hatte – wir haben uns den Film Get out im Kino angesehen –, war es noch angemessen, rot wie eine Tomate zu werden und sich fast in die Hose zu pieseln, weil jemand den Gedanken, mich wiederzusehen, cool fand. Meine Freundinnen hatten in den letzten Jahren bedeutungslose One-Night-Stands oder Friends mit Benefits, während ich hier sitze und über eine höfliche Floskel kichere. Eine weitere Sache also, in der ich auf der Stelle trete …

EIN BLICK ZURÜCK

LANSBERG AN DER WUPPER, 3.MÄRZ VOGELHOF

In meinem Bett zu liegen, ist nicht mehr dasselbe. Seit dem Wochenende vor Weihnachten fühlt es sich nicht mehr wie der Rückzugsort an, der es mein ganzes Leben lang gewesen ist. Das schmale, kaum einen Meter breite Möbelstück begleitet mich schon seit über zehn Jahren. Es steht unter der mit Holz verkleideten Dachschräge im obersten Stockwerk unseres Hauses, direkt unter dem runden Fenster, das in die Seitenwand eingelassen ist. Der Ausblick auf die Rasenfläche hinter dem Haus ist unverändert. Wir nennen sie noch immer Spielwiese, obwohl keins der Vogelkinder mehr darauf spielt. Auch das ist unverändert. Denn hier verändert sich nie etwas. Außer eben … in meinem Bett.

Zuletzt kam es mir so fremd vor, als ich darin zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen habe. Kaya und ich, beide sechzehn, beide noch Jungfrau, beide so scheißaufgeregt und in der heimlichen Erwartung, dass es schrecklich und peinlich und schnell vorbei sein würde. Doch dann wurde es ganz okay. Und ein erstes Mal, das ganz okay ist, ist weitaus mehr, als ich mir je ausgemalt hatte. Wir waren vorsichtig und respektvoll, haben leise geredet und selbst die stummen Fragen mit einem sachten Nicken beantwortet. Wir hatten beide keine Ahnung, was wir taten, aber immerhin taten wir es zusammen. So sind wir das Leben angegangen – zusammen.

Bis ich unsere kleine Einheit auf ebenjenem Bett entzweigerissen habe. Am neunzehnten Dezember letzten Jahres, es war der vierte Advent. Kaya und seine Familie sind keine Christen, trotzdem verbringen sie traditionell die Zeit an Weihnachten gemeinsam. Er war aus München angereist. Das erste Mal seit Wochen. Ich weiß nicht mehr, wie oft er in den Monaten zuvor kurzfristig abgesagt hat, wie oft ich ihn gebeten habe, doch nicht zu kommen. Ich weiß nur, dass ich es leid war. Ihn nicht zu sehen, war hart, aber mir vorzustellen, was er in der Zeit ohne mich tat, wieso es ihm wichtiger war, in München zu bleiben, statt mich zu sehen – das war härter. Die Eifersucht hatte die Sehnsucht längst ausgestochen. Zumindest, was mich betraf. Kaya schien sich nicht einmal Gedanken darüber zu machen, wie ich meine Wochenenden ohne ihn verbrachte. Ich arbeitete auf dem Hof, war doch klar – da gab es nichts zu verpassen. Es ist nicht besonders spannend, Milch in Kisten und Kisten auf Steigen und Steigen ins Auto zu verfrachten. Und schon gar nicht besorgniserregend.

Ich habe Kaya nie gefragt, ob er sich Sorgen um mich macht oder Angst hat, dass wir es nicht schaffen – ich konnte spüren, dass es nicht der Fall war. Er hätte wahrscheinlich ewig so weitermachen können. Das sagte er auch, als ich ihn an diesem vierten Advent fragte, wie es mit uns weitergehen sollte.

Samstags hatte er bei mir übernachtet und mehrere Anläufe gemacht, mit mir zu schlafen. Aber ich konnte nicht. Ich konnte seine Hände nicht auf mir spüren, ohne mich zu wundern, ob er in meiner Abwesenheit mit ihnen andere Frauen erkundete. Ihn anzusehen, fiel mir schon schwer, wie hätte ich da mit ihm schlafen sollen?

Er saß neben mir auf dem Bett und war noch immer Kaya, klang wie Kaya, lachte wie Kaya, wollte mich wie Kaya. Aber gleichzeitig saß da ein neuer Mensch. Einer, der seine Haare plötzlich länger trug, was seine Locken zur Geltung brachte. Ich habe diese Locken geliebt und ihn immer gefragt, wieso er sie nicht wachsen lässt. Es würde ihm nicht gefallen, hat er ein ums andere Mal entgegnet. Doch jetzt auf einmal gingen sie bis über die Ohren und umspielten Wangen, die hohler waren als zu Schulzeiten und mit einem kräftigen Bart bewachsen. Ich habe mich nicht getraut, ihn auf den Wandel in seinem Look anzusprechen. Aber in meinem Kopf lebt seit seinem Studienbeginn ein Ungeheuer, dass die Puzzleteile zusammensetzt. Und für dieses Ungeheuer war klar, dass es darum ging, bei anderen Frauen gut anzukommen. Anderen Filmstudentinnen. Solche, die es geschafft hatten, zu Hause rauszukommen. Die eine Leidenschaft hatten. Die agierten, statt alles zu zerdenken. Frauen mit aufregenden Kunstportfolios, edgy Outfits und sichtbaren Tattoos. Frauen wie Laura, mit der er neuerdings lustige Tanzvideos auf TikTok aufnahm. Ironisch natürlich.

Auch sein Kleidungsstil hatte sich in gerade einmal drei Monaten verändert. Die braune Cordhose und der schwarze Rollkragenpullover waren praktisch die Berufsbekleidung eines Filmregisseurs. Dieser Thrift-Shop-Look stand ihm … aber ich bekam ihn einfach nicht mit dem Jungen zusammen, mit dem ich dreieinhalb Jahre zuvor Get out im Kino angesehen hatte.

»Ich kann das nicht mehr«, flüsterte ich. Ein Teil von mir flehte stumm, Kaya würde einfach auf meinen Umzug nach München bestehen. Damit ich bei ihm war. Damit wir es hinkriegen könnten. Ich hoffte, er würde mir die Entscheidung abnehmen. Sich mit mir hinsetzen und Bewerbungen schreiben oder mir offenbaren, dass er schon vor Wochen heimlich meine Illustrationen an eine Uni geschickt hatte. Aber diese Fantasien waren natürlich Humbug.

Kaya fragte nur: »Was?«

»Das alles.«

»Du meinst uns?«

»Ja.« Das war eine Lüge. Ich glaubte noch immer an uns, aber ich glaubte nicht mehr an mich. Das Mädchen, das am Wochenende einer fremden Frau digital hinterherstieg, um sich die Videos anzusehen, die sie mit seinem Freund aufnahm – das wollte ich nicht sein. Ich war es leid, wie manisch die Kommentare unter Lauras TikToks durchzusehen, weil ich fürchtete, dort einen Hinweis auf eine Affäre mit Kaya zu entdecken. Ja, ich fürchtete es – und tat es trotzdem. Ich wollte nicht so sein – und tat es trotzdem.

Je mehr ich mich in die Vorstellung steigerte, dass nicht nur Polly und Anna, sondern auch Kaya sehr gut ohne mich klarkämen, desto antriebsloser wurde ich. Also quälte ich mich selbst, um mich in meiner Tatenlosigkeit zu suhlen und sie gleichzeitig irgendwie rechtfertigen zu können. Natürlich kann ich nicht zeichnen, ich habe schließlich Liebeskummer. Wenn ich den Pencil auf das iPad setzte, floss nichts mehr aus mir heraus, meine Finger standen still.

Und das konnte so nicht weitergehen.

Etwas musste sich ändern.

Ich musste mich ändern. Und ich wusste keinen anderen Ausweg als diesen: die Trennung.

»Ich weiß, dass ich oft abgesagt habe in den letzten Wochen.« Kaya redete von hohen Zugpreisen und der Miete, den vielen Abgaben in seinen theoretischen Kursen und die Auslebung seiner Kreativität in den praktischen. Mit jeder Silbe bohrte sich eine Klinge tiefer in meinen Bauch und die Sicherheit, dass ich das Richtige tat, wuchs.

»Das ist es nicht«, sagte ich, was nur eine halbe Lüge war.

Ich sah Kaya an und bemerkte etwas in seinen runden braunen Teddyaugen, was mich vollends überzeugte, die Trennung durchzuziehen. Er rechnete nicht damit. Er vermisste mich nicht genug, um mich anzuflehen, nach München zu ziehen, aber ich war ihm auch nicht egal genug, dass er es kommen sah. Kaya war sich meiner sicher. Während ich jeden Tag ein bisschen mehr an mir zweifelte …

Ich rolle mich auf den Bauch und streiche über die Bettwäsche. Wie wird es wohl sein, wenn ich zum ersten Mal mit jemand anderem in diesem Bett liege? Geht das überhaupt? Will ich das überhaupt?

Das Bild von Biokistenboy flackert vor meinem inneren Auge auf. Die Art, wie er sich verabschiedet hat. Dieses Cool. Mit verschwörerisch gesenkten Lidern. Trotz mangelnder Erfahrung bin ich natürlich nicht dumm. Ich weiß, dass er und ich einander jetzt nicht versprochen sind, nur weil er einmal gezwinkert hat. Aber da war etwas in seinem Blick. Etwas, das er der Postbotin oder dem Kerl vom Lieferservice bestimmt nicht schenkt. Da war ein … Flirt. Mein Herz nimmt Fahrt auf, als ich an seine tief liegenden Augen denke. Die langen, schlanken Finger, mit denen er die Katze umklammert hat, die kleine Falte an seinem Mundwinkel, als er mir zum Abschied zugelächelt hat. Mit der Hand fahre ich wie ferngesteuert in meine Tasche, die ich neben dem mir fremd gewordenen Bett abgelegt habe. Finde das kühle iPad. Ziehe es heraus. Schlage das lederne Cover zurück. Löse den magnetischen Pencil von der Seite. Setze ihn auf das Glasdisplay und habe nach drei Klicks eine neue weiße Fläche vor mir. Pinselstrich um Pinselstrich erschaffen meine Finger etwas, das vorher nicht da war. Auf diese unerklärliche Weise, auf die Ideen und Kunst nun mal funktionieren, fügen sich Kreise, Kanten und Linien zu einem Kopf und einem Körper zusammen. Hände erscheinen auf der digitalen Leinwand vor mir. Wie im Schlaf wechsle ich zwischen Brushes und Strichstärken, bis mein eigener Stil bedingungslos aus der Zeichnung heraus- und mein Herz vollends in sie hineinsickert. Im Alltag bin ich jemand, der Schwarz mit Schwarz kombiniert und formlose T-Shirts mit nerdigen Aufdrucken mag. In Procreate bin ich nichts als Farbe. Pastellrosa, Babyblau, Tannengrün.

Der Mann von heute Mittag wird auf dem Bildschirm vor mir lebendig. Genau so, wie er mir die Tür geöffnet hat. Mit verstrubbeltem Haar und umschatteten Augen. Ich zoome zu ihnen heran, öffne das Farbspektrum und ziehe den Pencil zu einem dunklen Grauviolett. Mit leichter Schraffur trage ich Farbe unter seinen Augen auf, bis sie düster und mysteriös wirken und ihm unendliche Tiefe verleihen.

Ich führe Daumen und Zeigefinger auf dem Screen zusammen, verkleinere die Zeichnung, bis das Porträt bildschirmfüllend zu sehen ist. Dann wähle ich einen Kalligrafie-Brush aus und versehe die fertige Skizze mit einem Lettering: Nächste Woche …

Während ich den letzten der drei Punkte setze, wache ich aus dem Rausch auf, in den ich mich gezeichnet habe. Manchmal ist das Illustrieren für mich wirklich wie Schlaf. Ähnlich unkontrollierbar, ebenso erholend und essenziell. Und dann gibt es natürlich noch die unbestreitbare Ähnlichkeit, dass ich beides oft im Bett mache.

Das Bett!

In diesem Bett zu liegen, in dem ich Hunderte Male mit Kaya geschlafen habe, und einen fremden Mann zu zeichnen, ist der Gipfel der Befremdung. Ich springe reflexartig von der Matratze auf und krache mit einem ohrenbetäubenden Lärm gegen die Dachschräge. Ein rasender Schmerz schießt durch meinen Schädel und Tränen fluten meine Augen.

Fuuuck. Eine La-Ola-Welle aus Sternen tanzt hinter meinen Lidern auf und ab. Ich gehe vor diesem Verräter von einem Bett in die Knie und sinke auf den Hintern. Gott, ey! Das ist mir bestimmt mit dreizehn zuletzt passiert. Ich reibe über die pulsierende Stelle an meinem Hinterkopf und spüre mehr denn je, dass dieses Bett wegmuss. Ich wollte schon immer ein Futonbett aus Europaletten, auch wenn Futons auf Paletten der ausgelutschteste Pinterest-Scheiß aller Zeiten sind. Aber ich bin lieber ein unoriginelles Klischee, als jede Nacht in diesem Bett an mein erstes Mal mit Kaya und mein letztes Gespräch mit ihm erinnert zu werden.

Ich ziehe das iPad zu mir heran, schließe Procreate ohne einen weiteren Blick auf das schöne Gesicht und öffne den Browser.

Eine halbe Stunde später habe ich mir von dem Geld, das ich in den letzten Monaten angespart habe, eine neue, erinnerungsfreie, ein Meter vierzig breite Matratze bestellt.

EIN GEBÜHREND GELIEBTES BUCH

LANSBERG AN DER WUPPER, 10.MÄRZ VALENTINS WOHNUNG

Mit einem Gefühl, als würde flüssiger Strom durch meine Adern fließen, stelle ich die leere Vogelkiste, die ich eben bei einem betagten Ehepaar abgeholt habe, auf die Ladefläche des Transporters und schiele wie elektrisiert auf das Klemmbrett. Lauter kleine Häkchen am Ende der Reihen. Nur in der letzten Zeile, neben Dilaras Adresse, ein leeres Kästchen. Wie in der Vorwoche fahre ich ihre Kiste zum Schluss aus. Es ist sowieso die praktischste Route, doch heute hätte ich es selbst dann gemacht, wenn ich dafür dreißig Kilometer Umweg hätte fahren müssen. Ich will unsere Begegnung herauszögern. Will die Vorfreude in möglichst viele kleine Scheibchen schneiden. Wie eine Süßigkeit, die ich heute vielleicht zum letzten Mal genießen werde.