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Funkenstille ist SPIEGEL-Bestseller! Sie will sich nicht verlieben. Bis er um sie kämpft. Amelie hat keine Zeit für Ablenkung. Sie opfert alles, um ihrer kleinen Schwester die Kindheit zu ermöglichen, die ihr selbst verwehrt geblieben ist – sogar ihre große Liebe. Sechs Jahre ist es her, dass Joscha ohne sie nach England gegangen ist, um seine Fußballkarriere voranzutreiben. Als der Torwart jetzt zu seinem Heimatverein zurückkehrt, hat er nicht nur sportliche Ziele. Er will Amelie zurückerobern. Doch kaum glaubt auch sie an eine gemeinsame Zukunft, beginnt die Presse, in ihrer Vergangenheit zu wühlen. »Joscha und Amelie sind Sehnsucht und Hoffnungsfunken und eine ganze zerrissene Welt von Gefühlen. Ein absolutes Herzschlagfinale der Sweet Lemon Agency inmitten des schillernden Profifußballkosmos.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Marina Neumeier Eine Sports Romance zwischen Regeln und Strukturen: Im abschließenden Band ihrer New-Adult-Reihe in der Sweet Lemon Agency lässt SPIEGEL-Bestsellerautorin Kyra Groh Projektmanagerin Amelie in einer berührenden Second Chance Romance auf ihre erste große Liebe treffen – Fußballstar Joscha.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 535
Veröffentlichungsjahr: 2025
Für Keno.
Inhalt
Playlist
Triggerwarnung
1StammtorfrauAMELIE
2BaumhausbrüderJOSCHA
3NeukundeAMELIE
4MeinungsbildungJOSCHA
5FreundebuchAMELIE
6RegenspurJOSCHA
7VergangenheitsnackenAMELIE
8StoffwechselJOSCHA
9VorurteilsstolzAMELIE
10GrundsatzsacheJOSCHA
11HerzvorsprungAMELIE
12WunschenkelinJOSCHA
13SchlangendateAMELIE
14ElfmeterJOSCHA
15TeenagertrennungAMELIE
16VaterfrageJOSCHA
17SchokoladengesprächAMELIE
18LiebeswärmeJOSCHA
19IdealvorstellungAMELIE
20LichtschalterJOSCHA
21PfefferminzgiftAMELIE
22WaschsalonAMELIE
23KindheitstraumJOSCHA
24WaschmaschinenkussAMELIE
25SituationskomikJOSCHA
26BalkonkaffeeAMELIE
27BlumenlieferungAMELIE
28JedermannsDarlingJOSCHA
29ZeitverlustAMELIE
30CourtsideJOSCHA
31RückspiegelAMELIE
32IstzustandJOSCHA
33LebensliebeAMELIE
34WannenrandJOSCHA
35Nicht-SexAMELIE
36VideobeweisJOSCHA
37ÜbersturzAMELIE
38MiteinanderlachenJOSCHA
39MutterinstinktAMELIE
40MannschaftsbusAMELIE
41KontrollverlustJOSCHA
42SonntagszeitungJOSCHA
43PrivatlebenAMELIE
44SpielfeldrandJOSCHA
45GlücklosAMELIE
46LebenslügeAMELIE
47TurteltaubentitelJOSCHA
48FunkenstilleAMELIE
EpilogJOSCHA
Danksagung
Triggerwarnung
Play
list
I Can Do It With a Broken Heart – Taylor Swift
Oft gefragt – AnnenMayKantereit
Cough Syrup – Young the Giant
Ghost – Josiah and the Bonnevilles
You’re On Your Own, Kid – Taylor Swift
Verschwende mich – OK KID
Elastic Heart – Piano Version – Sia
Interlude: I’m Not Angry Anymore – Paramore
Wrecking Ball X Nothing Compares 2 U – Miley Cyrus
Primadonna – Marina and the Diamonds
GOSSIP (feat. Tom Morello) – Måneskin
Reach Out I’ll Be There – The Jades Hearts Club, Nic Cester
CHRONICALLY CAUTIOUS – Braden Bales
the grudge – Olivia Rodrigo
It’s All Coming Back to Me Now – Céline Dion
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte! Wir wünschen euch das bestmögliche Lesevergnügen.
1
Stamm
torfrau
AMELIE
»Oh nein, was willst du denn schon wieder?!«
Der Mann auf meinem Screen lacht der Person zu, die das Handy zum Filmen auf ihn gerichtet hat. Es ist eindeutig zu erkennen, dass er die Frage scherzhaft meint und es ihn überhaupt nicht stört, ein Interview geben zu müssen. All seine Teamkollegen, die vor ihm auf dem Weg zum Trainingsplatz an der Social-Media-Managerin vorbeigelaufen sind, haben sich ähnlich verhalten. Sie führen einstudierte Handschläge oder Posen vor, bevor sie die Fan-Fragen der Woche beantworten. Manche tun so, als wollten sie sich zieren oder davonlaufen, andere genießen sichtlich ihren Promistatus.
Aber keiner – wirklich keiner – strahlt dabei so offen und ehrlich wie Joscha Rittberger.
Sechs Jahre lang habe ich es geschafft, alles zu meiden, was mit ihm zu tun hat. Wenn im Radio die Ergebnisse aus der Premier League durchgesagt wurden, habe ich den Sender gewechselt. Wenn ein Song von diesem britischen Indie-Sternchen Tiffy Echo lief, habe ich Lolas Hörspiel gestartet. Wenn meine Arbeitskollegen am Montagmorgen in der Kaffeeküche das Wort Fußball in den Mund genommen haben, musste ich plötzlich ganz dringend in die entgegengesetzte Richtung. Und das alles nur, weil sein Name hätte folgen können. Und jetzt? Jetzt ist er seit einem halben Jahr wieder in der Stadt, in der alles mit uns angefangen hat. Sein Name steht jede Woche in der Zeitung und im Kollegium fällt er ununterbrochen – entweder weil er einen Ball besonders geschickt abgewehrt oder besonders trottelig reingelassen oder weil er neuen Gerüchten zufolge doch wieder mit seiner Ex angebandelt hat.
Dann ist auch noch Lolas Interesse an Fußball aufgekommen und irgendein Mitspieler aus ihrem Kinderteam hat ihr verraten, dass auf den Social-Media-Kanälen seines Vereins exklusives Behind-the-Scenes-Material gezeigt wird.
Jetzt denkt mein Algorithmus, dass ich mir die Zusammenschnitte vom Fan-Fragen-Freitag jede Woche ansehen will. Nicht Lola. Was ich ihm gerne verübeln würde, wenn nicht etwas dran wäre. Denn immerhin bin ich diejenige, die sich gerade am Freitagmorgen um kurz vor halb sieben zum zweiten Mal den Clip reinzieht. Keine Lola weit und breit. Nur ich, allein auf der Ausziehcouch im Wohnzimmer, und sein Gesicht, das mir vorgaukelt, ich würde ihn kennen. Dabei habe ich keine Ahnung, wer dieser Mann ist. Nicht mehr.
Ein scharfer Schnitt unterbricht das Video. Das Intro zum Fan-Fragen-Freitag taucht auf und die erste Frage wird eingeblendet. Schnitt zurück auf Joschas Gesicht. Es ist reine Freude. Pures Glück. Wenn er lacht, reißt der Himmel auf. Das war schon immer so. Er war meine erste Sonne. Hell, warm und der Mittelpunkt meines Planetensystems. Bis ich gelernt habe, dass es nicht guttut, der Sonne zu nahe zu kommen.
»Welche Musik ich im Kraftraum höre?« Er schaut schräg nach oben, als müsse er überlegen, und klopft sich ein paar Mal mit den Torwarthandschuhen auf die ausgestreckte Handfläche. »Ähmmm, viel Hip-Hop. Old School meistens.« Er nickt bekräftigend, lacht dann jedoch schallend auf und erhebt gespielt drohend den Zeigefinger Richtung Kamera: »War Zach schon hier? Wenn der was anderes behauptet, glaub ihm kein Wort!«
Joscha Rittberger zwinkert ein letztes Mal seinen Fans zu, dann streckt er der Social-Media-Managerin, deren Arm am unteren Bildrand auftaucht, freundschaftlich die Faust entgegen und verschwindet mit einem Winken.
Du alter Lügner, denke ich, Old School Hip-Hop? Ernsthaft?
Wenn Joscha Rittberger – Stammtorwart des Frankfurter Bundesligateams, Fanliebling und Dauergast in den Promispalten der Nation – im Kraftraum auch nur ein einziges Mal Tupac auf seinen überteuerten Kopfhörern laufen hatte, dann fresse ich einen seiner Torpfosten.
Ich schlucke etwas herunter, von dem ich nicht so genau weiß, was es ist. Es kommt mir gleichzeitig schwer und leicht vor. Alt und neu. Verboten und so absolut, grundlegend richtig.
Am liebsten würde ich mir die Decke über den Kopf ziehen und noch eine halbe Stunde schlafen. Oder ein halbes Jahr. Keine Ahnung, wann ich zuletzt ausgeschlafen habe. Es muss zu einer Zeit gewesen sein, als der Mann aus dem Handyvideo mir noch anvertraut hat, dass er zum Training ausschließlich Musicalnummern, Céline-Dion-Balladen und Disney-Soundtracks hört. Anders gesagt: Es ist ein ganzes Leben her.
Die Zeiger meines altmodischen Weckers bewegen sich unablässig auf halb sieben zu. Dann wird er klingeln. Mit diesem ohrenbetäubenden scheppernden Geräusch, das mich selbst dann aufwecken würde, wenn ich über Nacht mumifiziert werden würde. Doch ich habe das Geräusch schon seit Monaten nicht mehr gehört. Ich bin immer vor ihm wach. Entweder weckt mich die Urangst, ich könnte verschlafen, zu spät kommen und aller Welt beweisen, wie eindeutig ich mit meinem Leben überfordert bin. Oder Lola schmeißt mich aus dem Bett, bevor das Klingeln auch nur eine Chance hat.
»Ammi?«
Ein Lichtspalt auf dem Boden wird größer und größer, bis er die Schlafcouch trifft und mich blendet.
»Mh?«, mache ich und blicke blinzelnd hoch.
Lola steht in der Wohnzimmertür. Sie trägt ihren zu kurzen Schlafanzug, die abgegriffenen Torwarthandschuhe ihres Vereins und Schienbeinschoner, die ich ihr groß genug kaufen wollte, damit sie nächstes Jahr noch passen. Aber sie sind so riesig, dass sie darin kaum ihre Knie beugen kann.
»Wenn Frankfurt gegen Cristiano Ronaldo spielt, wer glaubst du gewinnt?«
Ich setze mich auf. »Cristiano Ronaldo alleine oder mit seinem Team?«
»Allein.«
»Hm, ich glaube nicht, dass er allein gegen zwölf andere gewinnt.«
»In einer Fußballmannschaft sind nur elf, du Löwenzahnbirne.«
Mit einem Lächeln greife ich nach dem Haargummi auf dem Couchtisch und binde mir einen Knoten. Ich fürchte mich vor dem Zeitpunkt, an dem ihr klar wird, dass ich diese kleinen Fehler mit Absicht mache, damit sie mich korrigieren kann. Und noch mehr vor dem, an dem sie es nicht mehr witzig finden wird, ausgedachte Schimpfworte zu benutzen, sondern mich geradeheraus Arschloch nennt.
»Weiß ich doch, du Vollkorntoastrandstück.«
Lola kommt entschlossen auf mich zu, setzt sich ans Fußende der ausziehbaren Couch und schaltet selbst den Wecker aus. Und so beginnt unser Tag.
»Hasan glaubt übrigens, Ronaldo würde gewinnen.« Lola beugt sich, so weit es ihr Anschnallgurt erlaubt, in ihrem Kindersitz nach vorne. Die Wolldecke, in die ich sie jeden Morgen einwickle, seit die Heizung in meinem alten Opel Agila ohne Hoffnung auf Wiederbelebungsmaßnahmen das Zeitliche gesegnet hat, rutscht von ihren Knien. »Aber er ist da nicht ganz objektiv, weil er trägt ja auch immer ein Ronaldo-Trikot.«
»Verstehe.« Wieso eine Fünfjährige Worte wie objektiv benutzen kann, während sie sich gleichzeitig darum sorgt, wer in einem Match eins gegen elf gewinnen würde, ist mir ein absolutes Rätsel. »Ich glaube auch, Hasan ist befangen.« Den Blick starr auf die Straße mit dem dichten Frankfurter Berufsverkehr gerichtet, versuche ich, nach der Decke zu tasten. Es ist Ende Februar und besonders um halb acht morgens noch immer verdammt kalt. Ich will nicht, dass Lola friert, und ich will nicht, dass sie schlotternd in der Kita ankommt. Wie stünde ich denn dann da? Die Eltern der anderen Kinder schauen mich bei der Übergabe sowieso schon so komisch an, weil nicht wenige von ihnen zwanzig Jahre älter sind als ich.
»Hasan hat gesagt, ich werde nie Stammtorwart bei uns.«
Ah. Da liegt das Problem. »Das hatten wir doch geklärt: Du wirst nicht Stammtorwart. Du wirst Stammtorfrau.« Lola geht seit etwa sechs Monaten zu den Minikickern unseres Stadtteilvereins und ist dort eines von nur zwei Mädchen. Seitdem bin ich regelmäßig überrascht, wie unfassbar sexistisch bereits Fünfjährige sein können.
»Hasan sagt, das geht nicht.«
»Dann zeigst du es Hasan einfach.«
Ich suche im Rückspiegel ihren Blick. Lola guckt allerdings verträumt aus dem Seitenfester. »Ammi? Weißt du, was richtig cool wäre?«
»Was denn?«
»Wenn Joscha Rittberger mein Freund wäre. Dann könnte er in mein Training kommen und Hasan sagen, dass Mädchen auch Torwart sein können!« Unsere Blicke begegnen sich nun doch im Rückspiegel. »Torfrau, meine ich.«
»Mhm«, mache ich bestätigend, in Gedanken wieder bei dem Video. Und bei seinem Lachen, das noch immer durch jede Wolkendecke dringt. »Du hast recht, das wäre richtig cool.«
»Hast du dir gemerkt, welches Joscha-Rittberger-Torwart-Torfrau-Trikot ich zum Geburtstag haben will?«
»Ist abgespeichert, ja.« Egal, wie oft ich seinen Namen in den Medien höre – sei es im sportlichen Kontext oder in Bezug auf sein Privatleben, das während seiner On-Off-Beziehung mit der Indie-Sängerin Tiffie Echo ständig thematisiert wurde –, es tut immer ein kleines bisschen weh. Aber wenn ich seinen Namen in Lolas süßer, kräftiger Stimme höre, bricht es mir das Herz.
Was irgendwie beruhigend ist. Weil ich mir manchmal gar nicht sicher bin, ob ich noch so etwas wie ein Herz besitze. Zumindest eines, das brechen kann. Das Wehmut empfindet. Und Eifersucht beim Gedanken an eine ätherische Hippie-Schönheit, die am laufenden Band virale TikTok-Sounds über ihre angeblich beendete Beziehung zu einem deutschen Profikicker produziert.
»Das blaue Trikot, nicht das rosane. Nicht verwechseln, du Mähdrescher! Und neue Schuhe brauche ich auch.«
Mein Geldbeutel weint ein wenig bei dem Gedanken an die Kosten, die dieser Sport mir bereits verursacht hat. Aber Lola soll Fußball spielen. Und wenn ich mich dafür finanziell auf den Kopf stellen muss. Sie soll ihren Hobbys nachgehen. Hunderten, wenn sie mag. Sie soll Instrumente lernen und Sportarten ausprobieren und Freunde haben. Sie soll jedes Jahr einen Kindergeburtstag austragen und Geschenke in buntem Papier bekommen – jedes Päckchen in einer anderen Farbe. Sie soll nach der Schule Besuch mit nach Hause bringen können und immer eine warme, selbst gekochte Mahlzeit auf dem Tisch vorfinden. Sie soll sauer auf mich sein, wenn sie möchte, soll mich anbrüllen, ohne je Angst haben zu müssen, dass ich sie danach nicht mehr lieb habe. Lola soll einfach wissen, dass ich immer da sein werde. Morgens, wenn sie aufwacht, mittags, wenn der Kindergarten schließt, und abends, wenn sie einschläft.
Ich bin vielleicht mit achtzehn zu nah an der Sonne namens Joscha Rittberger geflogen. Aber dass ich mich dabei verbrannt habe, wird niemals umsonst gewesen sein.
2
Baumhaus
brüder
JOSCHA
»Ist das dein Ernst, Mann?« Ich deute an meinem Bruder hinab, der noch immer im Bademantel an der Frühstückstheke hockt und in einer Seelenruhe eine Schale Cornflakes in sich reinschaufelt. Unter seiner Robe aus weißem Frottee ist Elias wahrscheinlich genau so, wie Gott ihn schuf. Zumindest wenn man die viel zu hoch gezogenen Socken einmal ausklammert, die er definitiv aus meinem Schrank geklaut hat. Seit mindestens zehn Jahren bedient die kleine Ratte sich an meiner Sockenschublade – und wenn ich auch sonst alles wirklich liebend gern mit ihm teile, da hört der Spaß auf.
»Wassspfh?« Elias wischt sich mit dem Handrücken über die milchnassen Lippen.
»Tanisha kommt in fünf Minuten. Oder eher in zwei, wie ich sie kenne.« Die Gründungsberaterin, die ich vor einigen Monaten für Operation Treehouse Brothers – wie Elias und ich unser kleines Projekt nennen – angeheuert habe, ist immer ein wenig überpünktlich. Gerade so, dass es nicht als unhöflich gilt, aber dennoch ein klares Zeichen setzt.
»Und?« Völlig tiefenentspannt steigt Elias von seinem Barhocker, gewährt mir breitbeinig einen Anblick, der meine Theorie bestätigt, und schüttet sich dann aus drei verschiedenen Schachteln mit Frühstücksflakes eine zweite Portion ein. Seit er bei mir wohnt, lebt Elias unseren Kindheitstraum von unendlichen Kombinationen verschiedener Kelloggs-Flocken. Unsere Mutter bekäme einen Anfall, wenn sie die vielen angebrochenen Tüten im Vorratsschrank sehen würde. Der Ernährungsberater meiner Mannschaft wahrscheinlich auch. Die zwei kleinen Jungs jedoch, die trotz ihrer dreieinhalb Jahre Altersunterschied immer ein Herz und eine Seele waren, wären stolz auf uns, wenn sie wüssten, dass wir es so weit geschafft haben. Aus Sonntagen mit Smacks und Frosties in dem Baumhaus in unserem Garten wurde das hier: ein Leben mit allem, was man sich wünschen kann. In einer Zweihundert-Quadratmeter-Altbauwohnung in der obersten Etage einer Westend-Stadtvilla. Seit ich zwölf war, habe ich Elias gesagt, dass ich ihn mitnehmen werde. Dass er bei mir wohnen wird, wenn ich es als Profi geschafft habe. Doch dann kamen sechs Jahre Premier League und ich habe das Versprechen gebrochen.
»Was und?«, blaffe ich ihn schließlich an. »Willst du dir hier die Eier schaukeln, während wir übers Geschäft reden? Zieh dir was an, Junge!«
»Der Erfolg hat dich verändert«, schmatzt Elias mit einem Feixen, macht sich aber immerhin daran, die Küche zu verlassen.
»Mein Erfolg hat deinen Wohnsitz und deinen fahrbaren Untersatz geändert, also sei schön lieb.«
Elias geht keckernd mit seiner Cornflakes-Schale aus dem Raum und biegt in sein Schlafzimmer ab. Dabei lässt er demonstrativ den Bademantel fallen und zeigt mir über die Schulter den Finger. Ich schmunzele. Alles ist so, wie ich es mir mit zwölf ausgemalt habe. Es hat zwar ein wenig länger gedauert, aber jetzt haben wir es geschafft. Ich bin seit etwa einem halben Jahr wieder in Frankfurt – ausgeliehen an den Verein, in dem meine Karriere begann. Der Verein, dessen Poster mein Kinderzimmer geschmückt haben, dessen Logo ich mir auf meiner Brust ausgemalt habe, wann immer ein Trainer in der E-, der D- oder der C-Jugend bemerkte, dass mehr in mir steckt als ein passabler Vorstadttorwart. Und mein Bruder war an meiner Seite. Schon immer mein größter Fan, schon immer mein größter Ansporn, egal wie viele dumme Sprüche er dafür kassiert hat, dass wir beide ein so ungleiches Geschwisterpaar abgeben. Dabei sind wir das gar nicht. Wir sind eine Einheit. Vorder- und Rückseite derselben fucking Packung Cornflakes.
Als Elias endlich vollständig bekleidet und eine Spur zu sehr nach Parfüm duftend in die Küche zurückkehrt, ist Tanisha bereits eingetroffen. Sie hat ihr iPad, ihr Handy und einige Unterlagen vor sich ausgebreitet, im exakt gleichen Abstand zueinander und in tadellos rechten Winkeln. Alles an dieser Frau ist makellos und perfekt strukturiert. Auf ihrem Bleistiftrock klebt kein einziger Flusen und nicht ein Haar löst sich jemals aus ihrem straffen Haarknoten mit Seitenscheitel.
»Tanny-Baby«, flirtet Elias ein wenig zu enthusiastisch, beugt sich zu ihr herunter und begrüßt sie mit einem Wangenkuss. Wie so viele elegante Businessmenschen zieht Tanisha diese Geste einem lockeren Handschlag vor, was ich nie begreifen werde. Ich bin ein Umarmungs- und Schulterklopftyp durch und durch.
»Herr Rittberger 2.0, schön, dass Sie auch mal auftauchen.« Ihr Blick entspricht dem einer strengen Bibliothekarin, die dich gerade zum fünften Mal ermahnt, in der Biologieabteilung nicht über die Anatomiezeichnungen von Geschlechtsorganen zu kichern.
»Das Beste kommt zum Schluss, hab ich gehört.« Er zwinkert ihr zu und schwingt sich wieder auf den Barhocker an der Frühstückstheke, der unter seinem Gewicht ein wenig einsackt.
»Das Beste hat sich eben in einem Planschbecken voll Yves Saint Laurent gewälzt, wie mir scheint.« Tanisha wedelt sich vor der Nase herum.
»Frauen können meinem natürlichen Duft nicht widerstehen. Ich muss ihn übertünchen, damit andere Kerle auch ’ne reelle Chance haben.«
»Soso.« Tanisha nickt und faltet geschäftstüchtig die Hände vor sich. Auch wenn sie immer für Elias und seine Sprüche zu haben ist, kommt auch bei ihr irgendwann der Punkt, an dem sein Dauergeflirte nur noch nervt. Elias baggert alles und jeden an. Nicht nur Frauen.
»Wir müssen uns langsam entscheiden. Das heißt: Ihr müsst euch entscheiden.« Das letzte bisschen Nonchalance ist aus Tanishas Tonfall verschwunden. Wir reden jetzt Business. Genau dafür haben wir sie engagiert, denn alleine würden Elias und ich es vermutlich nie schaffen, ein eigenes Unternehmen aufzuziehen. Wir würden schneller mit einer Schale Fruit Loops auf der Couch hocken und einander in Fifa abzocken, als man gucken könnte. Jeder für sich genommen sind wir disziplinierte, hart arbeitende Kerle. Aber wenn man uns miteinander allein lässt, kommen die Teenager unweigerlich durch. »Ihr könnt Treehouse Brothers zu einer eigenständigen Marke machen. Oder ihr geht auf eines der Angebote für eine Kooperation ein. Nächste Woche habe ich einen sehr vielversprechenden Termin mit Zalando.«
Ich schüttele den Kopf. »Zalando? Aber dann … dann kriegt man unsere Sachen nur bei denen auf der Seite?«
»Natürlich.« Tanisha nickt und beginnt, auf ihrem iPad herumzuklicken. Sie ruft eine Präsentation auf und beginnt, Zahlen herunterzurattern, die ich sofort wieder vergesse. »Ihr bekommt maximales Exposure, bei praktisch nicht existentem Risiko. Wenn wir gut verhandeln, springt eine enorme Kooperationssumme heraus und um eine vernünftige Beteiligung kümmern wir uns ebenfalls.«
»Dann ist es ja gar nicht mehr unser Ding?« Elias stützt den Ellbogen auf und legt seinen Kopf in die Hand.
»Dafür geht euer Kapital nicht flöten.« Unsere Beraterin blinzelt zweimal. Sie ist wirklich Furcht erregend. Man merkt Tanisha ihren Hintergrund in Rechtswissenschaften deutlich an. »Natürlich könnt ihr auch mit einer Vielzahl von Investoren zusammenarbeiten. Euer Name steht drauf, der von anderen mit im Impressum.«
»Also irgendwie«, fange ich an. Es fällt mir nie besonders leicht, mich opportunistisch zu geben. Aber das Bild, das Tanisha hier zeichnet, entspricht überhaupt nicht dem, das Elias und ich uns für unser Modelabel ausgemalt haben. »Irgendwie klingt das alles seelenlos. Das sind doch nicht wir.«
Tanisha lehnt sich zurück und überschlägt die durchtrainierten Beine. Ihre Wadenmuskulatur ist beeindruckend. Ich kenne Stürmer mit dünneren Waden als die von Tanisha Magsfield.
»So läuft die Businesswelt. Wollt ihr Kohle machen oder wollt ihr fünf T-Shirts im Jahr aus eurer Garage verkaufen?«
»Ich brauche keine Kohle.« Ich zucke mit den Schultern. Seit ich mit siebzehn meinen ersten Profivertrag unterschrieben habe, habe ich mehr Geld verdient, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben anhäufen werden. »Das hier ist kein Investment. Ich will nicht nur noch reicher werden. Das soll unser Ding sein.« Mit einer Geste zeige ich zwischen Elias und mir hin und her.
»Das ist nobel von euch.« Tanisha betont nobel wie eine eiskalte Beleidigung. »Zur Risikominimierung würde ich euch trotzdem einen Investor im Hintergrund empfehlen. Ihr könntet ein hübsches kleines Unterlabel einer großen Marke werden. Dann braucht ihr euch um Logistik und Co. keine Gedanken machen und das Mitspracherecht beim Design kriegen wir schon irgendwie vertraglich durch. Oder wollt ihr wirklich alles selbst machen? Eure Website? Euren Kundenservice? Euer Lager?«
»Ja«, sagen Elias und ich wie aus einem Mund.
Tanisha stöhnt, obwohl genau das die Bedingungen waren, die wir ihr von Anfang an vermittelt haben. Kaum ein großes Fashionlabel wird unsere Vision teilen, die wir von Anfang an gehegt haben. Die Vision, die vor zig Jahren im Baumhaus geboren wurde, als Elias und ich etwa dreizehn und sechzehn waren und nicht mehr dieselben Hoodies, T-Shirts und Jeans kaufen konnten. Ich war plötzlich ein eins neunzig großer Spargeltarzan und Elias ein kräftiger Teenie, der für gängige Streetware absolut ungeeignete Proportionen hatte.
»Gut. Wenn ihr wisst, worauf ihr euch da einlasst. Ihr seid die Bosses.« Sie öffnet ein neues Dokument auf dem iPad und zückt den magnetischen Stift an der Seite. »Dann lasst uns das durchkalkulieren. Design, Vertrieb, Produktion, Marketing, alles.«
»Oh, ich«, ich klopfe meine Jeans nach meinem Kartenetui ab, ehe mir auffällt, dass ich es neben der Kaffeemaschine liegen gelassen habe. »Ich habe jemanden fürs Marketing.« Ich ziehe die Visitenkarte hinter meiner Visa hervor, die bereits seit Oktober auf ihren Einsatz wartet. Mit ausgestrecktem Zeigefinger schiebe ich sie Tanisha über den Tresen zu. Diese mustert das Kärtchen einen Moment mit gerunzelter Stirn.
»Eine Werbeagentur?«, fragt sie schließlich skeptisch. »Ich dachte eher an einen einundzwanzigjährigen Freelancer, der sechzig Euro die Stunde nimmt.«
»Eine Freundin von mir arbeitet da«, erkläre ich.
»Okay.« Tanishas Stimme bricht ein wenig, als hätte ich etwas unfassbar Dummes gesagt. »Hört zu: Ich weiß, ihr seid treue Familienmenschen und so. Allerdings lässt sich nicht alles mit Vetternwirtschaft regeln. Bei einer Unternehmensgründung wird nicht jede Freundin etwas vom Kuchen abbekommen können, wenn ihr das Beste für eure Marke wollt.«
Ich nicke, um ihr zu zeigen, dass ich diese Meinung akzeptiere. Ich bin ja auch nicht blöd. Das ist nicht das erste Projekt, das ich starte, und nicht das erste Investment, das ich tätige. Meine Finanzberater drängen mich seit Jahren dazu, mein Geld sinnvoll anzulegen. Aber bei Treehouse Brothers geht es um etwas anderes. Es ist ein Herzensprojekt.
»Ich werde Felix trotzdem eine E-Mail schreiben und um einen Termin bitten.« Ich tippe auf die Visitenkarte, auf der Felix Mattuschek über dem Agenturnamen Sweet Lemon Agency steht. Er hat mir die Karte im Oktober überreicht und gebeten, ihn zu kontaktieren, falls Elias und ich mit unserer Idee ernst machen. Und egal, was Tanisha sagt, ich arbeite nun mal lieber mit Menschen, denen ich vertraue. »Er ist der Creative Director der Agentur, in der auch meine Freundin Franka arbeitet.«
Seit ich sie durch einen großen Zufall in einer Frankfurter Pizzeria kennengelernt habe, ist Franka eine gute Freundin von mir. Sie ist einer der wenigen Menschen, die wissen, wie es mir seit der Trennung von Tiffie geht. Und ich war einmal der einzige Mensch, der wusste, dass sie – gegen ihren Willen – unfassbar in ihren Chef Felix verschossen ist. Die Sache mit den beiden ist mittlerweile offiziell, Tiffie und ich hingegen werden nie wieder irgendetwas sein. Was okay ist. Weil wir überhaupt niemals etwas hätten sein sollen. Ich habe die letzten sechseinhalb Jahre seit meinem Wechsel zu Knightsbridge United sowieso nur an eine Frau gedacht. Und das war nie Tiffie.
3
Neu
kunde
AMELIE
Ich bin abgehetzt. Natürlich. Keine Ahnung, wann ich zuletzt nicht abgehetzt gewesen bin. Der heutige Montagmorgen hat mich an meine Grenzen gebracht. Mal wieder. Aber ich habe mir nichts anmerken lassen. Mal wieder.
In der Früh habe ich mit Lola beim Zurechtmachen gekämpft, weil sie plötzlich all ihre Klamotten schrecklich und den Kindergarten noch viel schrecklicher fand. Weil ich sie jedoch genötigt habe, Erstere trotzdem anzuziehen, um Zweiten besuchen zu können, war ich das Schrecklichste von allem. Sie hat mich angebrüllt, dass sie mich hasst, und ich habe währenddessen stillschweigend ihre Füße, die übers Wochenende explodiert zu sein scheinen, in die zu kleinen Gummistiefel gestopft. Ich musste Lola ignorieren. Wäre ich auf sie eingegangen, hätte ich vielleicht zurückgeschrien. Weißt du, was ich alles hasse??? Weißt du, wie beschissen ich das alles finde? Weißt du, wie gerne ich morgens ausschlafen würde? Weißt du, wie gerne ich mir selbst neue Schuhe kaufen würde statt dir ein Paar neuer Gummistiefel? Und Fußballschuhe. Und Stutzen. Und Trikots.
Ich lege meine Stirn für einen Moment auf das Lenkrad, das ich noch immer umklammert halte, und atme tief durch. Sicher wird Lola den Streit schon vergessen haben, wenn ich sie heute Mittag um kurz nach drei im Kindergarten einsammele. Sie wird sich nicht mehr daran erinnern, dass ich ihre kleinen Füße gepackt und in die Schuhe gesteckt habe. Wird nicht mehr wissen, dass ich dabei keinen Augenkontakt herstellen konnte und meine Lippen zu einem Strich zusammenpressen musste, um nicht loszuheulen. Ich werde mich dennoch entschuldigen. Ihr sagen, dass heute Montag ist und Montage für Erwachsene manchmal der absolute Horror sind.
Montage sind nicht beschissen, heißt es, du hasst bloß deinen Job. Keine Ahnung, wer das gesagt hat, aber ganz sicher musste diese Person noch nie ein Kind gegen seinen Willen anziehen, nur um sich dann auf der Arbeit einem Kunden zu stellen, der schwer enttäuscht ist, dass sein Feedback von Freitagabend nicht bis Montagmorgen um acht eingearbeitet ist. Die E-Mail meines Ansprechpartners aus dem Marketingteam des Investmenthauses BKInvest habe ich auf meinem Handy eingehen sehen, kurz nachdem ich die plärrende Lola unter den Blicken eines argwöhnischen Nachbarn in ihrem Kindersitz angeschnallt habe. Der Gesichtsausdruck des vorbeitrottenden älteren Mannes war eindeutig: »Das kommt davon, dass du als Teenager zu doof warst, ein Kondom zu benutzen.« Ich kenne diesen Blick und habe es schon lange aufgegeben, die Menschen, die mich vorverurteilen, vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Wichtig ist nur, was Lola von mir denkt. Das heißt … was Lola von mir denkt, wenn sie mich nicht gerade als blöder Bunsenbrenner beschimpft.
Im Autoradio, aus dem die letzten Minuten unverfängliche Popmusik gedudelt ist, meldet sich auf einmal der viel zu gut gelaunte Moderator der Morningshow zu Wort: »›Glück im Spiel, Pech in der Liebe‹ heißt es und ich könnte mir vorstellen, dass sich auch ein gewisser Fußballtorwart am zurückliegenden Wochenende an diese Redensart erinnert hat. Auf dem Platz lief es für Joscha Rittberger ja richtig fantastisch beim 2:0 gegen die Nachbarn aus Mainz. Aber in der Liebe – da sieht es düster aus.«
Als ich meine Stirn vom Lenkrad hebe, kommt sie mir wie festgeklebt vor, so schwer und widerwillig ist mein Kopf. Ich starre auf das Radio, dessen Sender sich nicht mehr vernünftig wechseln lassen, und hoffe für einen Augenblick, dass die bloße Kraft meiner Gedanken ausreicht, um den schwatzenden Moderator zum Schweigen zu bringen. Doch er fährt erbarmungslos in seiner Mischung aus jugendlicher Leichtigkeit und krampfhaft guter Laune fort: »Nach jahrelangem On-Off verkündete der Frankfurter Keeper letzten Oktober seine endgültige Trennung von der britischen Indie-Sängerin Tiffie Echo. Und was hat die gemacht? Na klar! Wie jede gute Singer-Songwriterin hat sie den Liebeskummer in ein brandneues Album gesteckt. Seit Freitag kennen wir die erste Single daraus. Und Fans sind sich sicher, in Betray Me eindeutige Hinweise darauf gefunden zu haben, dass die Trennung zwischen dem Schnuggelsche und Tiffie Echo nicht so einvernehmlich war, wie …«
Endlich finden meine Finger den Volume-Regler und plötzlich ist es so leise im Auto, dass ich meinen eigenen Herzschlag zu hören glaube. Wieso halte ich auf einmal die Luft an? Wieso denke ich erneut an sein Lachen? Und wieso ärgert es mich noch immer so sehr, dass er in diesem dämlichen TikTok über seine Workout-Playlist gelogen hat?
Es war doch okay. Oder etwa nicht? Habe ich es nicht sechseinhalb Jahre lang geschafft, das Tosen in meiner Brust zu kontrollieren, wenn es um ihn ging? Ich habe das erste Jahr überstanden. Und dann das zweite. Und dann sogar das dritte, obwohl im dritten Jahr auf einmal überall Fotos von ihm aufgetaucht sind. Fotos, auf denen er seine Hände um die Taille einer elfenhaften Frau mit zuckerwatterosa Haaren geschlungen hatte. Fotos von ihm bei ihrem Coachella-Auftritt. Fotos von ihr, wie sie sich über die Bande am Spielfeldrand beugt, um ihn nach einem Sieg zu küssen. Fotos mit seinem Bruder im Sommerurlaub, unterschrieben mit ketzerischen Spekulationen, dass es wieder einmal aus sei mit der Frau, die jetzt Songs über ihn schreibt.
Entschlossen drehe ich die Erinnerungen ab wie eben das Autoradio. Ich kann das nicht gebrauchen. Joscha Rittberger hat keinen Platz mehr in meinem Kopf.
»Ich verspreche Ihnen, Herr Gupta, Ihr Feedback ist unsere oberste Priorität.« Den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt scrolle ich nebenbei durch die Termine, die heute anstehen, und lasse Herrn Guptas Anschiss durch mich hindurchfließen.
»Das ist wirklich ärgerlich, Herr Gupta.« Plötzlich bemerke ich in der Reflexion meines Bildschirms, dass ich vergessen habe, Lippenstift aufzutragen. Wann ist mir das zuletzt passiert? Ohne roten Lippenstift rauszugehen, fühlt sich für mich seltsamer an, als ohne Unterhose draußen herumzulaufen. Ich hebe meine Handtasche vom Boden und beginne, darin zu wühlen. »Am Freitagabend, als sie mir um neunzehn Uhr Ihr Feedback geschrieben haben, war leider niemand mehr im Haus.«
Meine Finger pflügen durch rosafarbene Zopfgummis, Handdesinfektionsmittel und Pflaster mit Dinos. Alles, bloß kein Lippenstift. »Ja, ich weiß, Herr Gupta, wir sind eine Full-Service-Agentur, aber wir haben keinen Vertrag über Wochenendbereitschaft mit Ihnen.«
Das war zu viel. Herr Gupta braust auf und ich bereue sofort, ihm nicht zugestimmt zu haben, dass wir rund um die Uhr für ihn bereitstehen und ihm am besten gleich noch die Fußnägel schneiden sollten. Ich bin einfach nicht ich ohne Lippenstift. Wahrscheinlich hätten auch Lolas Gummistiefel heute früh noch gepasst, wenn ich im Badezimmer an eine Schicht Chanel Rouge Allure gedacht hätte.
»Bis heute Mittag haben Sie alles«, verspreche ich, befördere ein Freundebuch, das Lola von einem Jungen aus dem Fußballteam bekommen hat, aus der Handtasche und finde darunter endlich die glänzende schwarze Hülle mit dem Chanel-Logo.
Während mein Kunde mich gerade daran erinnert, dass wir nicht die einzige Agentur seien, mit der sie zusammenarbeiten, höre ich den Summer der Tür, gefolgt von aufgeregtem Klackern auf dem Holzfußboden der ansonsten noch ausgestorbenen Agentur. Kurz darauf taucht ein hechelnder rotbrauner Hund im Foyer auf, bei dem nur ein Ohr spitz aufragt. Das andere hängt abgeknickt herunter, was ihn noch niedlicher macht. Pablos Herrchen, Felix, ist ihm dicht auf den Fersen. Er pfeift gut gelaunt und hebt zur Begrüßung die Hand, in der noch seine Schlüsselkarte klemmt.
Zur Erklärung für mein Schweigen zeige ich auf den Hörer, aus dem mir Herr Gupta gerade erklärt, dass alle anderen Agenturen der Welt liebend gern auch am Wochenende für ihn arbeiten würden. Dann rufen Sie doch eine andere Agentur an, will ich ihn anpflaumen. Aber weil ich begonnen habe, die rote Lippenfarbe aufzutragen, habe ich mich wieder im Griff. Ich heuchle Verständnis und nicke Felix dankbar zu, der mir mit Gesten anbietet, einen Kaffee zuzubereiten.
»Das wirkte ja eben wie ein hervorragender Start in den Tag«, begrüßt er mich, nachdem ich das Telefonat beendet und mich zu ihm auf den Agenturbalkon gesellt habe.
»Ja, wirklich erheiternd.« Ich nehme das Latte-Macchiato-Glas an, das Felix mir reicht, lehne mich neben ihn an die Balkonbrüstung und starre auf die unruhige Flussoberfläche im Hafenbecken. Die Sweet Lemon Agency sitzt in einem alten Hafengebäude im Frankfurter Ostend. Außen dominieren roter Backstein, im Inneren der typische Werbeagentur-Look aus Glas, Stahl und überteuerten USM-Haller-Sideboards. Mir ist ein wenig kalt in meinem Chiffonkleid, auch wenn ich einen Pullover darüber trage und mir vor dem Rausgehen meinen Trenchcoat übergeworfen habe. Ich kann es nicht erwarten, dass es endlich wärmer wird.
Felix trägt lediglich einen Hoodie mit hochgerollten Ärmeln, die seine chaotische Sammlung an Tattoos offenbaren. Man kann recht deutlich erkennen, dass Felix viel zu früh angefangen hat, sich unter die Nadel zu legen, und bei dem ein oder anderen Motiv nicht nüchtern war. Seine ältesten Tätowierungen auf dem rechten Unterarm sind mittlerweile unter einem Blackout verborgen – einem komplett schwarzen Sleeve, der sich von seinem Handgelenk bis zum Ellbogen erstreckt.
Unwillkürlich kommt mir der ganzseitige Boulevardbeitrag in den Sinn, in dem letzten August darüber berichtet wurde, dass Joscha zurück in Frankfurt ist. Zurück bei dem Verein, bei dem er unter Vertrag stand, als wir … Ich schlucke. Schlucke die Erinnerung an damals und an das Foto in diesem Artikel herunter, den ich ohne Vorwarnung hier in der Agentur auf einem Schreibtisch habe liegen sehen. Das verschwitzte hellbraune Haar. Die leicht abstehenden Ohren. Und das japanisch inspirierte Sleeve-Tattoo an seinem linken Arm, das ich im Gegensatz zu den anderen beiden Merkmalen nie berührt habe.
»Was hat dir den Montag versaut? Lola, Männer oder die Kundschaft?«
»Etwa in dieser Reihenfolge, ja«, sage ich knapp und setze den Latte Macchiato an.
Felix lacht trocken. »Hattest du ein schlimmes Date? Hat der Kerl mal wieder die Paprika falsch geschnitten oder ein zu gutes Verhältnis zu seiner Mutter gehabt?«
»So gehst du also mit Informationen um, die ich dir im Vertrauen erzähle?«
»Das war nicht im Vertrauen. Jesse und Franka waren dabei. Du weißt, dass bei denen nichts sicher ist.« Bei der Erwähnung von Frankas Namen heben sich seine Mundwinkel ein kleines bisschen nach oben. In der Agentur versucht Felix meist, den beherrschten Creative Director zu geben – auch wenn er längst nicht mehr so verbohrt und streng ist wie noch vor einem Jahr. Aber er schafft es einfach nicht, mit oder über Franka zu reden, ohne eindeutige Signale darüber auszusenden, wie sehr er dieser Frau verfallen ist. Keine Ahnung, wie lange ich schon wusste, dass die beiden trotz ihres ständigen Gezankes rettungslos ineinander verliebt sind. Letztes Jahr im Herbst haben sie es jedenfalls selbst gemerkt. Seitdem balancieren sie ihre Beziehung am Arbeitsplatz recht geschickt aus. Auch wenn sie noch immer ungehalten werden, wenn man ihre Beziehung eine Beziehung nennt.
»Kein Date«, sage ich schließlich. »Hatte diesen Monat noch keins.«
»Dann musst du dich ranhalten.« Felix tut so, als würde er auf die Uhr schauen. »Februar ist fast um.«
»Ich weiß, ich habe gesagt, ich lasse mich auf ein Date im Monat ein, aber du musst es nicht derart wörtlich nehmen.« Ich schüttele den Kopf. »Noch dazu ist der Februar echt verdammt kurz.«
»Ja, genau wie das Leben.«
»Uff, Felix, woher diese plötzliche Theatralik?«
Er gluckst und sieht ebenfalls schulterzuckend hinaus aufs Wasser. Schon bei meinem ersten Arbeitstag hier wusste ich, dass Felix und mich irgendetwas verbindet. Nichts Romantisches, nicht einmal Freundschaft – zu diesem Zeitpunkt unserer Bekanntschaft war es dafür noch viel zu früh. Doch da war von Anfang an eine nicht genau definierbare Schwingung. Etwas, das mir sofort klargemacht hat, dass wir einander verstehen würden. Nach drei oder vier Monaten habe ich ihm erklärt, wieso ich jeden Nachmittag um drei gehe, aber meist abends noch weiterarbeite, um auf die Fünfunddreißig-Stunden-Woche zu kommen, die uns das Leben finanziert. Neben unseren Chefs und der Personalerin ist Felix damit der einzige meiner Kollegen, der weiß, wer Lola ist.
Ich verschweige es nicht, weil ich mich für sie schäme. Im Gegenteil, sie ist mein Ein und Alles. Ich schäme mich einzig und allein für meine Vergangenheit. Für das Leben, das ich mit Lola verlassen habe. Und zu dem ich nie mehr zurückkehren möchte. Lola soll es niemals kennenlernen. Das ist mein Ansporn. Jeden Tag – selbst an denen mit zu engen Gummistiefeln.
»Wenn du auf zwei Dates im Monat erhöhen würdest, dann … Ich weiß auch nicht.« Felix druckst herum, was mich sofort argwöhnisch macht. Er ist ein sehr direkter Typ und vor allem bei diesen morgendlichen Gesprächen auf dem Balkon nimmt er kein Blatt vor den Mund. »Wir könnten ja mal auf Lola aufpassen.«
Mit schockiert aufgerissenem Mund drehe ich mich zu ihm. »Wir – wie in Franka und du? Wollt ihr … Familie spielen?«
»Nein, Quatsch.« Felix’ Körper geht sofort in die Defensive, sein Grinsen scheint das Memo jedoch nicht bekommen zu haben. »Ich dachte nur, dass …«
»Dass?«
»Du das vielleicht brauchst.«
»Entschuldige mal, Mattuschek?« Ich boxe ihm spielerisch gegen die Schulter. »Willst du mir gerade sagen, ich sollte öfter flachgelegt werden?«
Statt sich zu verteidigen, versteht er, dass ich nur scherze, und fängt schallend an zu lachen. »Ich will bloß, dass du öfter vierundzwanzig sein kannst. Und wenn du dabei noch flachgelegt wirst …« Er reckt vielsagend eine Augenbraue in die Höhe.
Sosehr ich Felix als Menschen auch schätze und froh bin, ihn als Vertrauensperson in mein Leben gelassen zu haben, ich erwarte nicht, dass er die Intentionen hinter der Ein-Date-im-Monat-Abmachung, die ich mit mir selbst geschlossen habe, wirklich versteht. Ich habe ihm gesagt, dass ich gerne jemanden kennenlernen würde – was stimmt – und es mir nicht erlauben kann, Lola häufiger abends bei unserer Nachbarin allein zu lassen – was zumindest so halb stimmt. Darüber hinaus habe ich behauptet, dass ich hohe Ansprüche habe, weil ich jemanden für immer suche. Den Einen. Jemanden, der mich mit Lola nimmt, um uns dann eines Tages beide vor den Traualtar zu schleppen. Und das stimmt definitiv nicht. Ich glaube schon lange nicht mehr daran, dass da draußen irgendjemand existiert, der mich so will, wie ich bin. Und den ich will, so wie ich bin. Mit allem Drum und Dran.
»Glaub mir, ich bekomme schon ein Date im Monat logistisch und zeitlich kaum unter.«
»Deswegen ja mein Angebot.«
»Es geht nicht um einen Babysitter für Lola.« Es geht natürlich auch um einen Babysitter für Lola. Aber das ist ganz allein meine Angelegenheit. »Ich wüsste gar nicht, wo ich die Zeit hernehmen sollte, um Bumble und Tinder und wie die ganzen blöden Apps noch mal heißen nach geeigneten Kandidaten zu durchsuchen.«
»Das brauchst du nur einmal drüben in der Kreation zu sagen.« Er nickt in Richtung der Hausseite, an der sich das Büro der Kreativabteilung befindet. »Jesse, Franka und Klara werden liebend gern den ganzen Tag ihre Arbeit niederlegen, um diese Aufgabe für dich zu übernehmen. Die alten Tratschtanten.«
»Ein ganzes Team aus persönlichen Assistenten, um ein Date zu finden. Auch ein netter Weg, mir zu sagen, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin.« Mit einem Augenrollen trinke ich einen tiefen Schluck Kaffee und zwinge mich, nicht an meine letzten Datingerfahrungen zu denken. An den neunundzwanzigjährigen Kerl, der sich von seiner Mutter zum Restaurant hat fahren lassen. Den Typen, der mit mir kochen wollte und einen Nervenzusammenbruch bekommen hat, weil ich die Paprika in die falsche geometrische Form zerteilt habe. All diejenigen, mit denen überhaupt gar kein Treffen zustande gekommen ist, weil sie schon in den kurzen Chats sämtliche Alarmsirenen in mir zum Schrillen gebracht haben. Der letzte herbe Dämpfer wurde mir vor zwei Wochen verpasst. Er hat dazu geführt, dass mein Februar bisher Date-frei war und wohl auch bleiben wird: ein dreißigjähriger Mann, der in seinem Profil vermerkt hatte, etwas Festes zu bevorzugen – dann aber in erster Linie eines wollte: Nacktfotos. Und als ich ihn daraufhin höflich gebeten habe, mich nicht zu belästigen, hat er geschrieben, was Männer wie er nun mal schreiben, wenn sie sich in ihrem Stolz verletzt fühlen: Du warst mir eh zu fett. Erst verlangen sie deinen Körper und dann beleidigen sie ihn. So läuft das, wenn du in deinem Profil ein Ganzkörperfoto hinterlegt hast.
»Du bist heute Morgen erstaunlich pessimistisch«, sagt Felix mit einem unpassenden Grinsen. »So kenne ich dich gar nicht.«
»Du hingegen bist erstaunlich gut gelaunt.«
Sein Grinsen wird noch breiter und seine eisgrauen Augen beginnen zu blitzen. »Es war ein gutes Wochenende.«
»Aha«, brumme ich. »Lass mich raten: Männer in rot-weiß gestreiften Trikots haben auf zufriedenstellende Weise gegen Bälle getreten?«
»Das auch.« Felix nippt süffisant an seiner Kaffeetasse. »Aber vor allem habe ich eine ziemlich interessante E-Mail bekommen.«
Ich ziehe fragend die Augenbrauen hoch. »Ja? Was war es? Der BKInvest-Newsletter schon mal nicht. Den haben wir in den Augen von Herrn Gupta katastrophal in den Sand gesetzt.«
»Das behalte ich vorerst für mich.« Felix klopft mit den Fingerknöcheln gegen das metallene Balkongeländer, was die gesamte Balustrade zum Schwingen bringt.
»Entschuldigung? Lässt du mich jetzt wirklich so hängen?«
»Jap.« Er grinst diebisch und stößt sich vom Geländer ab.
»Ist es was Geschäftliches?«
»Jap.« Felix geht durch den Hintereingang in sein Büro und ich folge ihm aufgeregt. Pablos spitzes Ohr zuckt, als wir eintreten, ansonsten bleibt der Hund jedoch tiefenentspannt in seinem Körbchen liegen.
»Steht irgendetwas an? Eine neue Ausschreibung?«
»Nope.«
»Haben wir irgendwelche Awards gewonnen?« Letzten Herbst ist Felix über seine Bemühungen, preisverdächtige Kampagnen bei Award-Verleihungen einzureihen, halb wahnsinnig geworden.
Der Schreibtischstuhl quietscht unter Felix’ Gewicht, der sich setzt und seinen Laptop startet, als wäre ich gar nicht im Raum.
»Dann … ein neuer Kunde?«
»Vielleicht. Ein guter Geschäftskontakt auf jeden Fall.«
»Seit wann lässt du dir von mir alles aus der Nase ziehen?«
»Seit ich einen wirklich geheimen potenziellen Kunden an der Angel habe.«
Ich verenge die Augen. »Bitte sag mir nicht, dass du versuchst, KrasseKola zurückzugewinnen oder etwas Derartiges.« Der Limonadenhersteller war bis Ende letzten Jahres einer unserer größten Kunden, für den wir einige unserer kreativsten Kampagnen auf die Beine gestellt haben. Vergangenen Herbst wurde KrasseKola jedoch ausgerechnet von der Agentur abgeworben, in der Felix’ Halbbruder arbeitet.
»Ach, Quatsch. KrasseKola kann mich mal. Wenn das hier klappt«, er zeigt symbolhaft auf seinen Laptop, auf dem sich das E-Mail-Programm öffnet, »dann springe ich über meinen Schatten und fange sogar wieder an, die Plörre zu trinken.« Wie ein überzeichneter Bösewicht in einem Comicfilm reibt Felix sich verschwörerisch die Hände.
»Na gut. Mach, was du willst. Brauchst du für irgendetwas meine Hilfe oder darf ich mich weiter von Herrn Gupta anschreien lassen?«
»Sag ihm, wenn er dich noch mal zur Schnecke macht, ruf ich ihn an.«
»Okay.« Ich pruste, weil Felix seine komische Chefstimme ausgepackt hat. Mit der kann er vielleicht die Kreation einschüchtern und Franka rollig machen, auf mich hat sie allerdings keinen Effekt.
»Oh, ich sehe grade, Ümet hat den Konfi den ganzen Nachmittag geblockt. Kannst du ihn für mich ab drei Uhr rausschmeißen? Ich brauche den Raum.«
»Ähm, ich denke schon … Wofür?«
Das selbstgefällige Feixen kehrt zurück, kombiniert mit einem schelmischen Lippenlecken. »Weil mein potenzieller neuer Kunde kommt.«
»Felix, jetzt sag mir bitte, um wen es geht!«
Wie ein schlechter Magier spreizt er die Finger vor dem Gesicht und macht eine mysteriöse Handbewegung, die wohl andeuten soll, dass er sich in Schweigen hüllt. Ich schnalze nur tadelnd mit der Zunge.
»Nee, wirklich«, lenkt er ein. »Wenn sich das rumspricht, arbeitet hier heute vor Nervosität keiner mehr.«
Ich zucke zurück. »Wen zum Teufel hast du da an der Angel?« Er verhält sich geradezu, als würde heute Mittag ein internationaler Popstar in die Agentur marschieren. Hat wieder irgendein Rapper einen Eistee auf den Markt gebracht, für den Sweet Lemon werben soll?
»Der Konfi, bitte«, sagt Felix lediglich und blinzelt mir ein paarmal mit falschem Lächeln zu.
4
Meinungs
bildung
JOSCHA
Unser Trainer Hendrik de Vries ist eine absolute Legende. Jeder kennt seinen Namen. Und die Körperhaltung, mit der er am Spielfeldrand steht und seine Spieler beobachtet. Eine Hand in der Hosentasche, die andere hinter dem Rücken, den Blick unlesbar auf das Feld oder die Trainingsfläche gerichtet.
In der letzten Saison hat Frankfurt es durch ihn aus dem hinteren Mittelfeld der Tabelle nach Europa geschafft. Ich habe von England aus jedes Spiel meines alten Teams genau verfolgt, während durch meinen Berater im Hintergrund die ersten Gespräche über einen Wechsel angestoßen wurden. Doch solange Luca Babic – der alte Keeper, bereits seit zehn Jahren unter Vertrag und aus der Dynamik der Mannschaft kaum wegzudenken – noch fit war, machte es wenig Sinn für mich zurückzukehren. Ich hätte auch hier nur auf der Bank gesessen. Ich habe dem alten Herrn wirklich keinen Kreuzbandriss gewünscht. Aber ich war ehrlicherweise noch nie so glücklich über die Verletzung eines Spielers wie in dem Moment, als Hendrik de Vries mich persönlich angerufen und exakt drei Worte in seinem deutsch-holländischen Singsang gesagt hat: »Wir holen dich.«
Wieder hier zu spielen, fühlt sich auch sieben Monate später noch immer nicht selbstverständlich an. Obwohl der Campus, die Trainingsplätze und das Stadion wie mein Zuhause sind. Obwohl mir die Startelf jede Woche sicher ist. Und obwohl ich mich in das Team eingefügt habe, als hätte ich nie mit einem anderen gespielt. Solange es sich jedoch bloß um eine Ausleihe von Knightsbridge handelt, fühlt sich die Sache hier an, als hätte sie ein Ablaufdatum. Damit der Deal jedoch vollzogen werden kann, müssen wir europäisch spielen, nur dann greift meine Transferklausel.
Mit einem Prusten wecke ich mich selbst aus der Trance, in die ich mich hineingedacht habe, hole Schwung und springe aus dem Stand auf die ein Meter vierzig hohe Plyobox. Natürlich muss Hendrik uns ausgerechnet heute dazu verdonnern, Explosivität zu trainieren. Davon bekomme ich nach all den Jahren immer noch Muskelkater und werde müde wie Sau. Das unverbindliche Meeting zum Erstgespräch in der Sweet Lemon Agency, das ich am Wochenende mit Felix vereinbart habe, wird also unter erschwerten Bedingungen stattfinden. Als Hendrik uns nach drei Stunden und etwa achttausend Box Jumps entlässt, bin ich ein Wrack. Mein Haar klitschnass, der Bart vollgesogen mit Schweiß, meine Muskeln bis zum Rand gefüllt mit Milchsäure. Alles brennt. Aber beim Verlassen des Trainingsraums nickt er mir kurz einmal zu – für Hendrik ist das in etwa so herzlich wie für andere ein individuell einstudierter Handschlag samt Umarmung und Klaps auf den Arsch. Die Legende ist zufrieden und das versetzt mir einen Endorphinstoß. Ich habe endlich wieder ein Ziel vor Augen. Endlich habe ich nicht mehr das Gefühl, bloß noch erdulden zu müssen. Ich muss nicht länger vorgaukeln, dass meine Entscheidung, nach London zu gehen, die richtige war, dass mein Leben dort ideal und die Premier League ein wahr gewordener Traum sei. Ich werde alles geben, um nach dieser Saison hierbleiben zu können. Bei meiner Familie. Wo ich hingehöre.
Nach dem Duschen finde ich Elias in der Kantine vor, wo er sich einen Espresso geschnorrt hat und gerade damit beschäftigt ist, unsere Social-Media-Beauftragte Sunny zuzutexten. Elias lehnt gegen einen Stehtisch, die Beine überkreuzt, auf dem Gesicht sein übliches Feixen. Dafür, dass wir uns seit jeher anhören müssen, wie verschieden wir seien, sehen mein Bruder und ich uns eigentlich recht ähnlich. Er ist wie eine kräftigere Version von mir, nur mit einem runderen Gesicht, ohne Bart und etwas besser anliegenden Ohren. Sein Haar ist ein wenig länger als meins, wellt sich aber auf dieselbe Weise, wenn man es nicht zähmt, und hat ziemlich genau dieselbe Farbe. Ein helles Braun, das im Licht der Nachmittagssonne kupfern schimmert.
»Da bist du ja endlich«, ruft er aus, als er mich an der Theke mit den Snacks bemerkt. Ich greife nach einer Banane und einer Packung Nüsse, die ich mir in die hintere Tasche meiner Jeans stecke. Die Banane öffne ich sofort und beiße hinein.
»Wir müssen los«, erinnere ich ihn.
»Hab ich getrödelt oder du?« Elias gestikuliert mit einem Zwinkern zu Sunny. Immer dieser Kerl, scheint er suggerieren zu wollen.
»Beweg dich, wir brauchen sonst ewig durch die Stadt.«
»Ist ja gut, ist ja gut.« Elias zeigt mit dem zu einer Pistole geformten Finger auf Sunny und sagt im Gehen: »Diese Woche will ich beim Fan-Fragen-Freitag dabei sein, abgemacht?«
»Du bist ein Arschloch.« Die Beleidigung hallt in den Weiten der Tiefgarage nach, während ich an meinen Audi trete und den Stecker aus der Ladestation ziehe.
»Pardon?« Elias greift sich gespielt beleidigt ans Herz.
»Dir ist klar, dass Sunny dich beim Wort nehmen wird?«
»Wieso auch nicht? Ich will unbedingt beim nächsten Fan-Fragen-Freitag dabei sein.« Elias steigt auf der Beifahrerseite ein.
»Du weißt genau, was ich meine«, ermahne ich ihn, sobald ich hinter dem Steuer sitze. »Mach mir einfach keinen Stress, nur weil du alles anflirten musst, was sich nicht rechtzeitig vor dir in Sicherheit bringt.«
»Lass mich doch«, nörgelt er. »Ist ja nicht so, als würd ich irgendwas mit ihr anfangen.«
»Eben«, knurre ich. »Du hast immer nur Bock, ein bisschen zu spielen, und dann lässt du sie fallen. Aber bitte nicht hier. Man scheißt nicht da, wo man frisst.«
»Gibst du mir jetzt Dating-Tipps, oder was?«
Ich lenke den Audi vom Parkplatz und steuere den Ausgang der Tiefgarage an. »Ich will bloß nicht die Tränen unserer zwanzigjährigen TikTok-Managerin trocknen müssen.«
»Soso. Da fällt mir ein … haste schon Tiffies neuen Song gehört?«
Elias fängt an, die eingängige Bridge anzusingen, die seit ein paar Tagen überall zu hören ist und einen wenig subtilen Seitenhieb gegen meine Fähigkeiten im Bett und zwischen den Torpfosten beinhaltet. War klar, dass Tiffie ausgerechnet dann ihren gehauchten Indie-Folk gegen radiotauglichen Dance-Pop tauscht, wenn sie einen Disstrack über mich rausbringt.
Als Elias meine angepisste Miene bemerkt, schlägt er sich auf den Oberschenkel und lacht schallend.
»Sagte ich schon, dass du ein Arschloch bist?«
Felix wartet auf dem Bürgersteig neben den Parkplätzen auf uns, an denen kleine Schilder die Zugehörigkeit zur Sweet Lemon Agency verkünden. Nur ein Einziger ist besetzt, mit einem gebrechlich aussehenden Opel Agila in scheußlichem Grün, dessen Rückbank mit einem Kindersitz und Spielsachen vollgestopft ist.
Der Creative Director sieht hoch, als ich das Auto abstelle, steckt das Smartphone, in das er bis eben vertieft war, in die Hosentasche und grinst verhalten. Obwohl wir uns schon zwei-, dreimal in privatem Rahmen begegnet sind, wirkt er in meiner Gegenwart nicht so locker, wie ich ihn aus Frankas Erzählungen eigentlich einschätze. Das ist kein seltenes Phänomen. Es ist grundsätzlich schwierig, neutral behandelt zu werden, wenn du Profisportler bist. Wenn die Presse allerdings auch noch regelmäßig darüber spekuliert, mit wem du gerade schläfst, ist es praktisch unmöglich. Selbst Leute, die kein Interesse an Fußball oder an Promi-Gossip haben, stellen mich in einem Gespräch gerne auf den Prüfstand. Entweder bin ich netter und bodenständiger, als sie dachten, weil sie sich grundlos eine negative Meinung von mir gebildet haben. Oder sie sind enttäuscht von dem Kerl, der den Kosenamen Schnuggelsche – verliehen vom Sportteil einer Frankfurter Boulevardzeitung – seit seinem ersten Profispiel nicht mehr loswird. Keine Begegnung ist jemals wertfrei.
Aber ich will und kann mich nicht beschweren. Es ist meine eigene Schuld, dass ich in dieser Position bin. Meinem Kollegen Zach zum Beispiel geht es nicht so. Gallagher kann samstags in den Supermarkt marschieren, und wenn er eine Schirmkappe trägt und das Glück hat, niemandem zu begegnen, der die Frankfurter Startaufstellung kennt, dann ist er dort einfach ein normaler Mensch. Ein normaler Mensch mit sechsstelligem Jahresgehalt und hundertachtzigtausend Instagram-Followern. Manchmal will ich Tiffie den schwarzen Peter dafür zuschieben, dass mein Bekanntheitsgrad derart explodiert ist. Ihr und der englischen Yellow Press, die seit unserem ersten Date einen Narren an uns gefressen hatte. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie viele Erlebnisse mit Tiffie sich rückblickend anfühlen wie ein sehr fragwürdiger Dreier – nur sie, ich und der Kerl mit dem Teleobjektiv.
»Hey, Mann.« Felix tritt mit ausgestrecktem Arm auf mich zu, sobald ich die Autotür hinter mir schließe. Er ist fast so groß wie ich und vom Hals bis zu den Fingerknöcheln tätowiert.
»Danke, dass das so schnell geklappt hat«, sage ich, während ich seine Hand schüttele.
»Klar, immer.« Felix schwenkt zu Elias über und gibt auch ihm zur Begrüßung die Hand.
Zu dritt betreten wir schließlich das rote Backsteingebäude, das der feuchte Traum eines jeden Start-ups sein muss. Fehlen nur noch der Tischkicker und die Gin-Bar und fertig ist das Klischee eines Büros, in dem alle vorgeben, eine große Familie zu sein. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, in einem solchen Job zu arbeiten. Ein voller Arbeitstag an einem Schreibtisch kommt mir jedoch einengend und langweilig vor.
»Nicht wundern: Mein Team ist ein Haufen aufgescheuchter, gackernder Hühner«, beginnt Felix, als sich die Lifttüren hinter uns schließen. »Du kennst Franka«, sagt er an mich gewandt, mit einem leichten Funkeln in den sonst eher skeptischen Augen. »Denk dir Franka mal fünf – und dann exponenzielles Wachstum, sobald einer von ihnen aufgeregt ist.«
»Ich wusste nicht, dass heute höhere Mathematik abgefragt wird«, scherzt Elias, woraufhin Felix gluckst. In diesen Momenten bin ich immer froh, meinen Bruder an meiner Seite zu haben. Niemand ist ihm je böse, egal, wie billig seine Jokes sind. Elias kann jede Situation auflockern, als besäße er die Superkraft, Spannungen zu regulieren.
»Ich will damit nur sagen, dass ich für nichts garantiere, was passiert, wenn wir oben einmarschieren.« Felix klatscht in die Hände. »Ich habe absichtlich niemandem erzählt, mit wem ich gleich ein Meeting habe, damit sie sich nicht ins Höschen machen. Da wären nämlich unser Chef Ümet – riesiger Fußballfan«, er beginnt, an den Fingern abzuzählen, »Designer Riccardo – riesiger Fußballfan und noch dazu ein Kindskopf ohne Taktgefühl. Dagmar, unsere Reinzeichnerin – riesiger Fan von dir persönlich und nie um einen Spruch über Sex mit Männern Mitte zwanzig verlegen.«
Ich lache auf. Derartige Situationen habe ich schon tausende Male erlebt, aber man gewöhnt sich nie daran. »Okay, erachte mich als vorgewarnt.«
»Ich verkaufe uns gerade nicht unbedingt gut, oder?« Felix greift sich ins kurze blonde Haar, während er uns mit einem Schritt zur Seite den Vortritt aus dem Aufzug gewährt.
»Kein Thema«, sagt Elias. »Auch ich bin ein riesiger Fan von Joschi und ebenfalls nie um einen Spruch über Sex mit Männern Mitte zwanzig verlegen.«
Und so einfach bricht das Eis. Felix führt uns durch den Agenturflur, bleibt kurz an einem geräumigen Büro mit verglasten Wänden stehen und winkt hinein, was von einem stattlichen, glatzköpfigen Mann mit einem verdutzten Gesichtsausdruck erwidert wird.
»Hier sitzen die Geschäftsführer. Das ist Ümet«, erklärt Felix. »Eins weiter ist die Kreation. Du hast die meisten ja letztes Jahr auf Klaras Geburtstag kennengelernt.«
Ich nicke. Die Party, auf die mich Franka im Oktober eingeladen hat. Und auf die ich gegangen bin, weil ich die Bande unserer frischen Freundschaft stärken wollte. Was gut war, weil wir den Shitstorm der Presse, der kurz danach über uns hereingebrochen ist, sonst wohl nicht überlebt hätten. Es tut mir noch immer leid, dass ausgerechnet sie das Pech haben musste, in einer innigen – aber rein platonischen – Umarmung mit mir abgelichtet worden zu sein, bevor ich die Chance hatte, die finale Trennung von Tiffie öffentlich zu machen. Wochenlang sah sich Franka der Hetze von Fans und Boulevard-Seiten gegenüber, die ihr unterstellten, meine Beziehung ruiniert zu haben. Und das ausgerechnet in der Phase, in der sie selbst gerade mit Felix anbandelte. Vielleicht hat aber auch genau das dazu geführt, dass wir uns jetzt so gut verstehen. Kein Spieltag vergeht, ohne dass Franka – vermutlich von Felix’ Sofa aus – sehr unvorteilhafte Fotos von mir im Fernsehen macht und sie mir mit äußerst unqualifizierten Kommentaren zuschickt: Wieso hassen dich die Trikot-Designer eigentlich so? Lachsrosa passt null zu deinem Teint. Oder: Den hätte selbst ich gehalten und ich hatte zuletzt 2009 einen Ball in der Hand.
Doch als wir an dem sogenannten Kreationsbüro, in dem das Kreativteam sitzt, vorbeikommen, finden wir nur fünf leere Schreibtische und eine offene Balkontür vor.
»Ich wette, die machen schon wieder Kaffeepause. Ah, apropos – Kaffee?«
Elias sagt zu, ich lehne dankend ab. Koffein nach fünfzehn Uhr hat einen schrecklichen Einfluss auf meine nächtliche Erholung und meine nächtliche Erholung hat einen unmittelbaren Effekt darauf, ob ich Bälle schlechter halte als Franka im Jahr 2009.
Bevor Felix in die Küche abbiegen kann, kommt ihm daraus ein zierlicher Kerl mit dunklen Locken entgegen, der in beiden Händen eiswürfelgefüllte Gläser trägt. Ich erkenne in ihm Frankas Mitbewohner Jesse, der ebenfalls hier arbeitet. Seit der Party im Oktober hat er seinen Augenbrauen ein paar raffinierte neue Cuts hinzugefügt, die den jungen David Beckham vor Neid erblassen lassen würden.
»Wo sind alle?«, fragt Felix ein wenig genervt. Ich will ihm sagen, dass er sich unseretwegen keine Sorgen machen muss, dass dies hier nur ein entspanntes Erstgespräch werden soll und es nicht nötig ist, die ganze Crew aufzuscheuchen.
»Amy-Lee ist in diesem Moment gegangen, habt ihr sie nicht noch im Gang gesehen? Wir anderen sind auf dem Balkon«, antwortet Jesse unbeeindruckt. »Wir läuten die Iced-Coffee-Saison ein.«
»Es ist Februar, Jesse.«
»Ich versteh das Problem nicht.« Jesse shakert mit den Gläsern und geht an uns vorbei. Erst im Passieren scheint er mich zu erkennen. »Oh«, macht er, während er erst mich, dann meinen Bruder mustert. »OH.« Er bleibt stehen und verengt die Augen. »Hab ich was verpasst?«
»Hi«, sagt Elias und will ihm die Hand hinstrecken, was Jesse mit einem erklärenden Heben der zwei Gläser jedoch abblockt.
»Wir haben ein Meeting«, sagt Felix knapp.
»Wir wie in wir oder wir wie in ihr?« Jesse nickt zu Felix und zu uns. Ich beobachte Elias aus dem Augenwinkel, der die ganze Situation ein wenig zu sehr zu genießen scheint.
»Joscha, Elias und ich.«
»Na dann viel Spaß an Joscha, Elias und dich.« Jesse hebt ein weiteres Mal die Gläser und geht durch das Büro auf den Balkon, auf dem – kaum dass er einen Fuß ins Freie gesetzt hat – wildes Geschnatter losbricht. Kurz darauf schauen fünf neugierige Gesichter durch das gläserne Büro zu uns herüber.
»Wie war das mit dem Sex mit Männern Mitte zwanzig?« Elias schaut Jesse hinterher und rammt mir dabei seinen Ellbogen in die Seite. Als ich ihn tadelnd anfunkele, ergänzt er: »Jaja, ich weiß schon: nicht da scheißen, wo man frisst.«
5
Freunde
buch
AMELIE
Sieben Stunden an einem Montag in einer Werbeagentur fühlen sich an, als müsste man einer ganzen Horde widerspenstiger Fünfjähriger zu klein geratene Gummistiefel anziehen. Als ich – wie immer – um zwanzig nach drei am Kindergarten eintreffe, bin ich völlig erledigt. In einem anderen Universum würde ich jetzt nach Hause fahren, sämtliche Vorhänge zuziehen, umständlich meine Arme durch die BH-Träger pfriemeln und das Teil in die Ecke pfeffern, während ich Netflix starte und ein paar California Rolls beim Japaner um die Ecke ordere. Ich würde keine Gehirnkapazität für Gummistiefel aufwenden. Oder dafür, wie zum Teufel ich die defekte Klimaanlage im Auto bezahlen soll. Oder wie ich es in diesem Zustand über den nächsten TÜV kriege.
In diesem anderen Universum bräuchte ich nicht mal ein Auto.
In diesem anderen Universum wäre ich vor sechseinhalb Jahren nach London gezogen.
Ich streiche mir entschlossen das Haar glatt und verscheuche all diese Überlegungen. Ich will sie nicht. Es ist alles gut so, wie es ist. Ich liebe Lola. Wir sind glücklich. Alles ist richtig so. Alles ist gekommen, wie es kommen sollte.
Kopf hoch, Lippenstift nachlegen, nichts anmerken lassen.
»Hast du meine Fußballsachen?« Lola zerrt an der verriegelten Autotür.
»Im Kofferraum.«
»Hast du meine Stutzen?«
»Im Kof-fer-raum.«
»Oka-hay.« Sie äfft mich nach. Diesen Ton hat sie schon drauf, seit sie dreieinhalb ist. Ich schließe das Auto auf und lasse ihr ihren Willen, selbst auf den Kindersitz zu klettern. Erst dann darf ich sie anschnallen.
»Hast du das Foto ausgedruckt?«
»Ich …« Rasend schnell geht mein Gehirn alle Deutungsmöglichkeiten dieser Frage durch. Was meint sie? Nicht selten plappert Lola aus dem Nichts von irgendetwas, das bereits vor Wochen passiert ist oder lediglich Handlung in einem Buch war, das wir schon vor Monaten in der Bücherei zurückgegeben haben. »Welches Foto genau?«
»Das, was ich gestern an deinem Handy ausgesucht ha-hab.« Sie verdreht die Augen, als wäre sie fünfzehn Jahre statt niedlicher fünf.
»Oh nein.« Es fällt mir schlagartig wieder ein. Das Foto von Lola in den viel zu großen Fußballstutzen und einem alten T-Shirt von mir, auf das sie selbst die Ziffer 1 gemalt hat. Vorne klein auf die Brust, hinten riesengroß. Das Foto, das sie in das Freundebuch einkleben wollte. Das Freundebuch, das noch auf meinem Schreibtisch liegt. Mein Magen fühlt sich an, als hätte man ihn in Säure getunkt. Und ausgepresst. Scheiße … ich kann so etwas doch nicht einfach vergessen?
»Lola, es tut mir leid, ich …«
Der Ausdruck auf ihrem kleinen Gesicht gefriert, als ich mich über sie beuge, um den Sicherheitsgurt einzustecken.
»Ich muss das aber doch in das Buch einkleben und es Theo zurückgeben.«
»Wir müssen Theo das Freundebuch beim nächsten Training zurückgeben, Süße. Es tut mir leid.« Ihre Enttäuschung trifft mich härter als der Sturzbach aus Tränen und das wütende Getrete, die kurz danach ihren Körper erschüttern. Es ist okay, wenn Lola sauer auf mich ist. Es ist nicht okay, wenn sie glaubt, ich hätte sie im Stich gelassen.
»Ich erkläre es ihm, okay? Ich sag Theo, dass ich es im Büro vergessen habe. Dann ist er auf mich sauer und nicht auf dich.«
»NEIN!«, brüllt sie mich an und haut ihre Fußsohlen mit voller Wucht gegen die Hinterseite des Beifahrersitzes. »DAS GEHT NICHT! DUBISTGEMEINDUBISTGEMEINDUBISTGEMEIN.«
»Ich habe einen kleinen Fehler gemacht, ich bin nicht gemein«, erkläre ich und spüre, wie nun auch meine Stimme zu zittern beginnt. Am liebsten würde ich auch irgendwo dagegentreten. Am liebsten wäre ich auf der Couch mit dem Sushi und würde mich von allem abschotten. Von der Verantwortung, den Verpflichtungen, von all diesen Dingen, für die ich mich nie aktiv selbst entschieden und die ich doch frei gewählt habe.