Allmende 112 – Zeitschrift für Literatur -  - E-Book

Allmende 112 – Zeitschrift für Literatur E-Book

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Beschreibung

Traurig über den Tod von Martin Walser blicken wir zurück auf das Leben eines Mannes, der in vielen Zeitpunkten seines Lebens am Anfang stand und doch immer wieder Neues in sich fand. Anhand der Beiträge von Wegbegleitern versuchen wir nachzuvollziehen, was Martin Walser angetrieben hat. Wie fand er zu seiner Stimme in der Literatur? Welche Rolle spielten das Scheitern und das Rebellieren in seinem Leben? Welchen Einfluss haben die Werke des Schriftstellers, Redners und Hermann-Hesse-Literaturpreisträgers über seinen Tod hinaus? Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf all das, was Martin Walser aufgebaut hat – nicht zuletzt als einer der Begründer der „allmende“. Mit Beiträgen von Christoph Gellner, Jörg Magenau, Udo Reents, Arnold Stadler und anderen sowie Bildern von Barbara Klemm. Internet: www.allmende-online.de

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Aber ich bilde mir nicht ein, ich könnte noch irgendwas bewirken. Diese Illusion habe ich verabschiedet. Jetzt schreib ich halt, weil ich ohne zu schreiben nicht leben kann.

Martin Walser, 9. April 2022

Mit dem Hermann-Hesse-Preis hat alles begonnen. 1957 erhielt Martin Walser, er war dreißig Jahre alt, als erster den Preis für seinen Roman Ehen in Phlippsburg. Verbunden war die Ehrung mit einem hohen Preisgeld von 10.000 Mark. In seinen letzten Lebensjahren ist Walser immer wieder auf die Bedeutung des Preises für ihn zurückgekommen: Der junge zweifache Familienvater schenkt die gesamte Summe seiner Mutter, auch um ihr seine Unabhängigkeit zu demonstrieren. Finanzielle Unabhängigkeit, das war für Walser auch eine Bedingung seines Schreibens. In seiner Dankesrede betont Walser zugleich, dass der Schriftsteller ein ,Beobachter‘ sei, zugleich aber immer auch ein ,Mitleidender‘. Damit steht am Anfang der schriftstellerischen Laufbahn zugleich auch ein Programm und eine Lebenshaltung. „Walser war, und daraus hat er nie ein Geheimnis gemacht, ein empfindsamer, zutiefst verletzlicher Mensch“, schreibt Jörg Magenau und zitiert Martin Walser: „Meine Muse ist der Mangel“.

Diese Ausgabe der allmende soll ein Dokument unserer Wertschätzung für einen der großen Autoren der Bundesrepublik sein. Mit Martin Walser hat es viele Begegnungen in der Literarischen Gesellschaft gegeben und er fühlte sich uns verbunden – auch weil der Hermann-Hesse-Preis, mit dem für ihn seine Karriere begann, von der Literarischen Gesellschaft betreut wird. Die Literaturzeitschrift allmende hat er Anfang der achtziger Jahre mitbegründet und er war erfreut, dass wir das Fortbestehen bis heute sichern konnten. Seine Lesungen in den letzten 20 Jahren in Karlsruhe gehörten zum festen Bestand unseres Programms. Daran möchten wir erinnern, auch indem wir entscheidende Phasen seines langen schriftstellerischen Lebens reflektieren: die Anfänge, sein literarisches Programm, seine positive Aufwertung des ,Heimatbegriffs‘, sein Versuch Auschwitz zur Sprache zu bringen, seine Sehnsucht nach Glauben und sein spätes Werk als die dauernde Verschriftlichung des zerrinnenden Lebens.

Vielen ist zu danken, allen Beiträgern und Beiträgerinnen, dem Mitteldeutschen Verlag, Alissa Walser für ihre Aquarelle und Barbara Klemm für die Bereitstellung ihrer Fotografien von Martin Walser.

Hansgeorg Schmidt-Bergmann

Matthias Walz

allmende Nr. 112

Dezember 2023 · 44. Jahr

Redaktion

Hansgeorg Schmidt-Bergmann

Matthias Walz

Herausgegeben von Hansgeorg Schmidt-Bergmann im Auftrag der Literarischen Gesellschaft, Karlsruhe

Literarische Gesellschaft

PrinzMaxPalais · Karlstr. 10

76133 Karlsruhe

Telefon: +49 (0) 721 133-4087

[email protected]

www.literaturmuseum.de

Verlag

mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH

Am Steintor 23

06112 Halle (Saale)

Telefon: +49 (0) 345 233 22-0

Telefax: +49 (0) 345 233 22-66

[email protected]

www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung

mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH

Bezug & Abo

mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH

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Telefax: +49 (0) 345 233 22-66

Eine Kündigung ist innerhalb eines Vierteljahres nach Lieferung des letzten Heftes möglich.

Preise

Einzelbezug 12,00 €/12,40 € (A)/16,80 sFr

Abobezug 10,00 €/10,80 € (A)/14,70 sFr

epub 9,49 € / 9,80 € (A) / 13,30 sFr

allmende erscheint 2 × jährlich

Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der Zustimmung des Verlages.

Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernehmen wir keine Gewähr.

ISSN 0720-3098

Einzelbezug: ISBN 978-3-96311-895-1

Abobezug: ISBN 978-3-96311-896-8

epub: ISBN 978-3-96311-897-5

Martin Walser: © ullstein bild - bpk/Digne M. Marcovicz

Hansgeorg Schmidt-Bergmann: © FotoFabry

Matthias Walz: © MLO

Alissa Walser: © A.Buxhoeveden

Barbara Klemm: © Frank Röth/F.A.Z.

Martin Walser Bei der Hermann-Hesse-Literaturpreisverleihung: © SWR Historisches Archiv, Stuttgart

Programm Hermann-Hesse-Literaturpreisverleihung: © MLO

Brief an die „Förderungsgemeinschaft“: © MLO

Cover Erstausgabe Ehen in Philippsburg: © MLO

Würdigung von Martin Walser an Prof. Peter Hoenselaers: © MLO

Grußwort von Martin Walser: © MLO

Anton Philipp Knittel: © Barbara Kimmerle, Stadtarchiv Heilbronn

Goethe-Matinee im Frankfurter Schauspielhaus: Martin Walser am 21. März 1982 bei seiner Lesung aus In Goethes Hand anlässlich der Feierlichkeiten zum 150. Todestag von Johann Wolfgang von Goethe: © Barbara Klemm

Martin Walser in seinem Arbeitszimmer in Nußdorf 1998: © Barbara Klemm

Jörg Magenau: © Patrick Gerstorfer

Martin Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede: © Barbara Klemm

Martin Walser in seinem Arbeitszimmer am 15. September 1998: © Barbara Klemm

Martin Walser 1983 in Überlingen-Nußdorf, direkt am Bodenseeufer: © Barbara Klemm

Edo Reents: © Frank Röth/F.A.Z.

Martin Walser Mitte September 1998 in Überlingen: © Barbara Klemm

Martin Walser in Überlingen-Nußdorf, 1998: © Barbara Klemm

Das „Malhaus“ in Wasserburg: © Andreas Schmid

Ausstellungsraum im „Malhaus“: © Andreas Schmid

Wörterbaum im „Malhaus“: © Andreas Schmid

Alissa und Martin Walser in der Galerie Vayhinger in Singen: © Alissa Walser

Aquarelle von Alissa Walser in Martin Walser: Sprachlaub oder: Wahr ist, was schön ist (2021): © Alissa Walser. Technik: Aquarell auf Papier.

Martin Walser in der Galerie Vayhinger in Singen: © Alissa Walser

Martin Walser in Überlingen am 15. September 1998: © Barbara Klemm

Christoph Gellner: © privat

Martin Walser 1982 im Goethejahr mit seiner Lesung im Frankfurter Schauspielhaus: © Barbara Klemm

Martin Walser in seinem Garten in Nußdorf bei Überlingen 1983. Bild: Barbara Klemm

Grab Martin Walser: © Turner

Iris Radisch: © Thorsten Wulff

Martin Walser im Museum für Literatur, Karlsruhe: © ONUK

Martin Walser bei seiner letzten Lesung in Karlsruhe im Konzerthaus am 12. April 2018: © MLO

Annette Pehnt: © Peter von Felbert

Mohamed Mbougar Sarr, Sabine Müller und Holger Fock: © Silke Briel/HKW

Marion Poschmann: © Heike Steinweg

Lutz Seiler: © Heike Steinweg

Karen Duve: © Imke Lass

Iris Wolff: © Maximilian Goedecke

Marica Bodrožic: © Peter von Felbert

Dank für die großzügige Unterstützung durch die Kulturstiftung der Sparkasse Karlsruhe und Prof. Dr. Matthias Siegmann

IN GEDENKEN AN MARTIN WALSER

Anton Philipp Knittel

Ehen in Philippsburg – „Das vielleicht beste Buch der jungen Bundesrepublik.“

„Für Historisches anfällig“

Jörg Magenau

„Wer mich nicht liebt, darf mich auch nicht beurteilen.“

Edo Reents

Nichts mehr zu sagen – Martin Walsers lebenslange Befassung mit Auschwitz

Martin Walser

Das Trotzdemschöne

Ulrike Schenk und Andreas Schmid

Martin Walser: Erinnerungen an die Kinder- und Jugendzeit

Alissa Walser

Aquarelle aus Martin Walsers "Sprachlaub oder: Wahr ist, was schön ist"

Christoph Gellner

„Gäbe es Gott, gäbe es kein Wort dafür“

Hansgeorg Schmidt-Bergmann

„Ich bin ein Apfelbaum, der Birnen trägt.“

Iris Radisch

Die Wand des Lebens und der Literatur

Martin Walser

Abschied

kurzform

Alissa Walser, geboren in Friedrichshafen, lebt in Frankfurt am Main. Sie ist Autorin, Malerin und Übersetzerin. Sie studierte von 1981 bis 1986 Malerei in Wien und New York. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem1992 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und 2010 mit dem Spycher Literaturpreis Leuk. Von ihr erschienen unter anderem der Roman Am Anfang war die Nacht Musik (2010), die Erzählung Immer ich (2011) und Von den Tieren im Notieren (2015) sowie der Prosaband Eindeutiger Versuch einer Verführung (2017).

Barbara Klemm wurde 1939 in Münster (Westfalen) geboren und wuchs in Karlsruhe auf. Nach abgeschlossener Fotografenlehre arbeitete sie ab 1959 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, ab 1970 als festangestellte Redaktionsfotografin. Sie ist eine der bekanntesten Chronistinnen der jüngeren deutschen Geschichte, ihre Bilder dokumentieren eindrucksvoll neben Aufnahmen bekannter Persönlichkeiten auch das (alltägliche) Leben in Ost- und Westdeutschland. Ihre Fotografien wurden unter anderem in Berlin und Frankfurt ausgestellt. 1989 erhielt sie den Dr.-Erich-Salomon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Fotografie, 2021 in Essen den Internationalen Folkwang-Preis. Sie lebt in Frankfurt am Main.

Für seinen Roman Ehen in Philippsburg nahm Martin Walser am 2. Juli 1957 den Hermann-Hesse-Literaturpreis entgegen, der damals noch in Baden-Baden verliehen wurde.

ANTON PHILIPP KNITTEL

Ehen in Philippsburg – „Das vielleicht beste Buch der jungen Bundesrepublik.“

Für sein Romandebüt erhielt Martin Walser 1957 den erstmals verliehenen Karlsruher Hermann-Hesse-Preis

Am Tag vor Heiligabend 1956 schickt der knapp 30-jährige Martin Walser „mit hochachtungsvollen Grüßen“ das Manuskript seines ersten Romans Ehen in Philippsburg „in dreifacher Ausfertigung“ an die „Förderungsgemeinschaft der deutschen Kunst Baden-Württemberg e.V.“ in Karlsruhe mit der Bitte, „dieses Manuskript der Jury, die den Hermann-Hesse-Preis vergibt, zu übergeben“.

Siegfried Unseld, so Jörg Magenau in seiner exzellenten Walser-Biografie, war wohl treibende Kraft, dass Martin Walser „das Manuskript in einer Rohfassung eingereicht“1 hat. Im Jahr zuvor hatte der junge Schriftsteller mit Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten im Frankfurter Suhrkamp Verlag seinen ersten Band mit Kurzgeschichten vorgelegt und für die Erzählung „Templones Ende“ den mit 1000 DM dotierten Preis der Gruppe 47 erhalten hatte, wie Walser am 11. Juni 1955 in seinem Tagebuch notiert. Dieser Tagebuchband ist im Jahr 2005 im Rowohlt Verlag als erster von zwei weiteren Bänden unter dem Gesamttitel Leben und Schreiben erschienen und vereinte die Tagebücher 1951–1962.2

Mehrere Anläufe für die Ehen in Philippsburg

Als er den Preis der Gruppe 47 erhält, ist Walser bereits seit einigen Monaten mit seinem Roman-Projekt beschäftigt. Ab Oktober 1954 finden sich hierzu Notizen im Tagebuch unter dem Titel „Ich reise zu Herrn Berry“. So notiert er beispielsweise am 10. Oktober, dass er ein Kapitel geschrieben habe und fragt sich „Wozu dient es?“3, um nur weitere zehn Tage später selbstkritisch zu konstatieren: „Am Romanversuch (Berry) zum zweiten Mal gescheitert. Das Ich lässt alles zu privat werden. Bemerkungen werden als solche gegeben, stehen in keinem Zusammenhang“.4 Offenbar gibt Walser dennoch bereits im Januar 1955 eine erste Fassung an Unseld „mit dem üblichen Understatement“, wenn er schreibt: „Mein Skript ergibt“, so Magenau in seiner Walser-Biografie, „gegen meinen Widerstand, einen konventionellen Roman, leider ohne Handlung. […] Aber ich schreibe weiter, was auch immer dabei herauskommen mag, ich muss einmal etwas zuendeschreiben.“5

Programm zur Verleihung des Hermann-Hesse-Literaturpreis am 2. Juli 1957 im Großen Kurhaussaal in Baden-Baden

Und im April 1955, als er offenbar nochmals an „Templone“ feilt, vermerkt Walser im Tagebuch erstmals den tatsächlichen Titel seines Romans: „In den letzten drei Wochen verschiedene Tage an Ehen in Philippsburg geschrieben. Einzelne Stränge, die noch nicht zusammengehören, aber zusammengebracht werden müssen. Vielleicht … Zeit fehlt. Immer fürs nächste arbeiten.“6

Immer wieder reflektiert Walser in den folgenden Wochen und Monaten, wenngleich er nie kontinuierlich am Roman-Projekt arbeiten kann, sein Schreiben – auch an den Ehen in Philippsburg. So beispielsweise vermerkt er im März 1956 „keine Sicherheit“ und:

„Seit Anfang März mehrere Tage für mich, zusammenhängend, in Portionen von drei, vier Tagen, Philippsburg ist dadurch zum ersten Mal in Fluss gekommen und rasch (zu rasch wahrscheinlich) angewachsen. Teil I auf 200 Seiten. Auch wenn es nichts taugt, so wird jetzt wenigstens geschrieben, die Hand wird freier.“7

Am 17. August 1956 hält Walser fest: „Jetzt ist auch der dritte Teil (Verlobung bei Regen) fertig. Der vierte Teil macht Schwierigkeiten, die zu überwinden ich zu träge bin. Ich umgehe sie bloß. Schwindle mich an ihnen vorbei.“8 Doch so träge scheint er nicht gewesen zu sein. Denn wiederum nur zehn Tage später heißt es: „Heute mit Ehen in Philippsburg fertig geworden. Im großen [sic] und ganzen [sic]. Das Ende ist geschrieben, der Schlusspunkt gesetzt. Jetzt muss natürlich nach rückwärts, nein nach vorne gearbeitet werden.“9

Tagebuchnotizen als Probebühnen fürs Schreiben

Überhaupt dienen die frühen Tagebuchnotizen, wie Jochen Hieber in seiner 2022 vorgelegten biografischen Darstellung Martin Walser – Der Romantiker vom Bodensee betont, „als eminente Probebühne fürs Romanschreiben.“10 So beispielsweise am 6. Februar 1955, als Walser notiert: „Auch das Erfundene hat einen Anspruch verstanden zu werden. Kinder einer ganzen Straße beugen sich nachts aus den Fenstern und schreien.“11 Eine Vorstellung, die sich denn auch in den Ehen wiederfindet, wenn es dort heißt:

„Das Kind schrie erbärmlich. […] Aber das Geschrei stieg immer noch an. Und ein zweiter Säugling nahm’s auf, antwortete und gab’s weiter. Ein dritter Schreihals öffnete sich und weckte fort und fort. Hans trat ans Fenster, beugte sich weit hinaus und versuchte zu zählen, aber die Stimmen zu vieler Kinder waren jetzt ineinander verstrickt, und links und rechts flammten erschreckt Lichter auf und warfen die Fenster grell auf die Straße […].“12

Hesse-Preisgeld für die Mutter

Nachdem der erste Entwurf des Romandebüts im August fertiggestellt ist, liest Walser im Oktober 1956 aus seinem Manuskript auf der Tagung der Gruppe 47 in Niederpöcking. Im November erhält er die Nachricht, dass der Suhrkamp Verlag seinen Text angenommen habe und kurz vor Weihnachten reicht er ihn dann als Vorschlag für den erstmals zu vergebenden Hermann-Hesse-Preis ein, den er im folgenden Juli in Baden-Baden entgegennimmt. So lesen wir unter dem 4. Juli 1957 in Walsers Tagebuch:

„Vorgestern in Baden-Baden. Hesse-Preis. 10.000 DM. Der Oberbürgermeister begrüßte routiniert in bekannter Melodie. Man sah, wie er das Finale mit Gewalt an den Haaren herbeizerrte. Der Dirigent bedrohte das Orchester mit heftigen Bewegungen. Er tat alles, um die Augen auf sich zu ziehen, denen folgten dann auch die Ohren, man hörte seine Bewegung förmlich, und Mozart und Beethoven waren nur noch eine Klangkulisse für seine Turnerei.“13

Was der 30-jährige Martin Walser, bereits zweifacher Familienvater, mit Blick auf die für ein Debüt zu damaliger Zeit doch recht hohe Preissumme so lakonisch-nüchtern und so ironisch-süffisant hinsichtlich der Feierstunde im Tagebuch festhält, war für ihn aller zum Ausdruck gebrachten Distanz zum Trotz erheblich bedeutsamer – sowohl in finanzieller Hinsicht als auch mit Blick auf sein Selbstverständnis als Schriftsteller und insbesondere seine soziale Reputation. Walser wäre mit einem Mal für einige Zeit finanzieller Sorgen ledig gewesen und hätte sich mit dem Geld einiges leisten können, wie Jörg Magenau in seiner Biografie betont. Er macht „sofort herrliche Pläne, was er von den 10.000 Mark alles kaufen würde: Bücherregale, einen Schreibtisch, einen Esstisch mit passenden Stühlen. Die Bedürfnisse vervielfältigten sich in der Vorfreude aufs Geldausgeben.“14 Doch soweit kommt es nicht. Walser schenkt das Preisgeld seiner Mutter, um ihr „die eigene Unabhängigkeit zu demonstrieren und vor ihren Augen durch Geldverdienen zu bestehen.“ Im Gesprächsband mit Michael Albus und Arnold Stadler, der 2022 im Patmos Verlag unter dem Titel Lieber träumen wir alles, als dass wir es sagen erschienen ist, sagt Walser zugespitzt:

„Ich habe meiner Mutter bewiesen: Da schau! Du denkst über mein Schreiben zwar so und so oder so, aber ich kann dir 10.000 Mark geben, einfach so (…). Ich wollte damit ja – Entschuldigung! – nichts anderes als angeben. Ich wollte einfach auch beweisen, dass das, was ich mache, in den Augen der Mutter, etwas Nützliches ist. Diese 10.000 Mark waren bei meiner Mutter eine bleibende Qualität.“15

Im Tagebuch notiert er jedoch nichts über seine Motive zur Schenkung des Preisgeldes – vielleicht auch dieses eine Form einer mindestens doppelten Buchführung. Doppelte Buchführung ist nämlich, so Susanne Klingenstein in ihrem Band Wege mit Martin Walser. Zauber und Wirklichkeit eines Schriftstellers, das Signum der Walser-Welt von Wasserburg und seinen materiellen und kaufmännischen Notwendigkeiten an:

„Er denkt von der Armut her und von dem, was Armut Menschen zufügen kann. Seine Priorität ist materielle Sicherheit. Ein Künstler, der bei null anfängt, muss auch Unternehmer sein. Wer Geld braucht, ist abhängig und muss sich biegen und beugen. Nur Geld gibt Sicherheit; Sicherheit macht frei. Frei wird, wer gut verkauft. Das ist für Martin Walser eine lebensbestimmende Einsicht.“16

Vierteiliger Roman spielt in der besseren Stadtgesellschaft

Lebensbestimmende Einsichten führt Walser – naturgemäß möchte man sagen – auch an den Hauptfiguren seines Romandebüts Ehen in Philippsburg vor. Dem Roman ist eine Notiz vorangestellt. Der Verfasser hoffe, „er sei Zeitgenosse genug, dass seine von der Wirklichkeit ermöglichten Erfindungen denen oder jenen wie eine eigene Erfahrung anmuten“, ein Hinweis, der, können wir Magenau folgen, auch als „Vor-Satz für sein ganzes Werk“ stehen könne.17

In vier weitgehend eigenständigen Teilen zeigt Walser seine Protagonisten auf der Suche nach dem privaten Glück zwischen Anpassung und Auflösung von Individualität oder Verweigerung und Kompromisslosigkeit innerhalb der Philippsburger Gesellschaft. Im ersten Teil steht Hans Beumann im Zentrum, in Teil 2 ist es der Gynäkologe Dr. Alf Benrath, seine Frau Birga und Cécile, Inhaberin eines Kunstgewerbegeschäfts und Benraths Geliebte. Im dritten Teil steht der Rechtsanwalt Dr. Alwin im Mittelpunkt, den Beumann wie auch Benrath auf einer Party im Hause des Fabrikanten Volkmann kennenlernt. Im vierten Teil wird die Geschichte Beumanns weitererzählt, wie auch die seines Wohnungsnachbarn Berthold Klaff, eines erfolg- weil kompromisslosen Schriftstellers.

Hans Beumann, unehelicher Sohn einer Kellnerin in der Provinz, kommt in Teil 1 mit dem Titel Bekanntschaften nach seinem zeitungswissenschaftlichen Studium ins fiktive Philippsburg und auf der Suche nach einer Anstellung über seine ehemalige Mitstudentin Anne Volkmann, eine Fabrikantentochter, in die „bessere Gesellschaft“ der Stadt. Anne, die unter der aufdringlich-freundinnenhaften Nähe ihrer Mutter leidet, die sich gerne als Künstlerin und Frau von Welt geriert, verschafft ihm einen Redakteursjob im Pressedienst „programm-press“ der väterlichen Firma und wird zugleich seine Mitarbeiterin. Nach einer rauschenden Party, bei der Hans die Benraths, die Alwins, Büsgens und Co kennenlernt, werden Hans und Anne, alkoholisiert, intim und beginnen schließlich ein Verhältnis, wobei die Initiative dazu von Anne ausgeht: „Von mir aus, dachte er, sie liebt mich wenigstens […] sie weiß, wer ich bin, ich muss nicht andauernd auf den Zehenspitzen herumtanzen, um mich ein bisschen größer zu machen, als ich bin, und schließlich ist eine Frau eine Frau, basta!“18

Anne wird schließlich schwanger: „Anne sagte was vom Heiraten. Hans erschrak wieder. Er hatte noch nie daran gedacht. Er redete auf Anne ein. Listig wand er ihr Sätze um den Kopf, als wären es Girlanden. Heiraten ja, aber doch nicht unter Zwang […].“19