Allokation im Gesundheitswesen - Thomas Stockhausen - E-Book

Allokation im Gesundheitswesen E-Book

Thomas Stockhausen

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  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Fachliteratur
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Knappe Mittel richtig verteilen Wie lassen sich Bedarf und Ressourcen miteinander in Einklang bringen und welche Grundsätze müssen bei der Allokation gelten? Thomas Stockhausen wendet sich genau diesen Fragen zu: Er geht auf die ökonomischen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen ein und skizziert, welche Grundsätze der Gerechtigkeit hier gelten. Vorhandene Allokationsprobleme diskutiert er und behandelt beispielsweise aktuelle Fragen der Triage und der Allokation in der Intensivmedizin. Das Buch richtet sich an Studierende der Gesundheits- und Pflegewissenschaften sowie der Medizin. Es ist ebenso für Praktiker:innen geeignet, die etwa in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen arbeiten oder sich mit gesundheitspolitischen Fragen beschäftigen.

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Seitenzahl: 250

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Thomas Stockhausen

Allokation im Gesundheitswesen

Lösungsstrategien für eine gerechte Verteilung

UVK Verlag · München

Umschlagabbildung: XXX

 

DOI: xxx

 

© UVK Verlag 2023— ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung

 

utb-Nr. 0000

ISBN 978-3-8252-6009-5 (Print)

ISBN 978-3-8364-6009-5 (ePub)

Inhalt

GeleitwortProlog1 Ökonomie1.1 Ethik und Moral1.2 Versprechen1.3 Philosophische Aspekte1.4 Ungleichheit1.5 Fürsorge1.6 Solidarität1.7 Verteilung1.8 Pandemie2 Gerechtigkeit2.1 Grenzsituationen2.2 Prinzipienethik2.3 Trolley-Phänomen3 Autonomie3.1 Toleranz3.2 Fake News3.3 Aufklärung3.4 Normen4 Allokationsproblem4.1 Knappheit4.2 Versicherung4.3 Gesundheitsmarkt4.4 Impfstoffentwicklung4.5 Effizienz4.6 Zweitmeinungsverfahren4.7 Rationierung4.8 Rationalisierung5 Priorisierung5.1 Erfolgsaussicht5.2 Rechtsfolge5.3 Scores5.4 Transplantation5.5 Impfung6 Triage6.1 Taktische Lage6.2 Triage6.3 Genfer Konvention7 Notfallmedizin7.1 Massenanfall von Verletzten7.2 Chancengleichheit7.3 Notstand7.4 Nutzen8 Intensivmedizin8.1 Kontextfaktoren8.2 Werte8.3 Dialog8.4 Konflikte8.5 Versorgungsstruktur9 Rehabilitation9.1 Sozialmedizinischer Kontext9.2 Voraussetzungen9.3 Gesundheitsökonomische Aspekte9.4 Gesellschaftliche Bedeutung10 Geriatrie10.1 Ausgangslage10.2 Alter10.3 Gebrechlichkeit10.4 Versorgungsstruktur10.5 Ageism11 Perspektiven11.1 Ressourcenverteilung11.2 Morbidität11.3 Resilienz11.4 AbwägungEpilogRegister

Geleitwort

In einer Welt begrenzter Ressourcen und unter dem Einfluss der COVID-19-Pandemie, die uns die knappen Ressourcen für Gesundheitsfürsorge drastisch verdeutlichte, erhebt sich die Frage nach gerechter Ressourcenverteilung mit zunehmender Dringlichkeit. Mein Kollege Prof. Dr. Thomas Stockhausen hat in seinem zweiten Fachbuch „Allokation im Gesundheitswesen – Lösungsstrategien für eine gerechte Verteilung“ dieses wichtige Thema auf beeindruckende Weise behandelt.

In diesem Buch nimmt uns der Autor mit auf eine Reise, auf der er einzelne Aspekte dieser komplexen Thematik einfühlsam reflektiert. Strukturierte Essays und begleitende Patientengeschichten verleihen dem Buch eine einzigartige Note. Wir tauchen ein in die Welt der Gesundheitsökonomie, einer fachübergreifenden Wissenschaft, die Gesundheitsversorgung unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Hier stoßen die individuellen Bedürfnisse auf die realistischen Möglichkeiten der Gesellschaft, und es entstehen Konflikte, deren Auswirkungen spürbar sind und anhalten werden.

Dieses Buch ist nicht nur ein Lehrbuch, sondern auch eine Inspirationsquelle. Es ermutigt uns, über den Tellerrand zu blicken und neue Wege zur Bewältigung der Herausforderungen im Gesundheitswesen zu suchen. Es fordert uns auf, aktiv an der gesellschaftlichen Debatte teilzunehmen und gerechte und nachhaltige Lösungen zu finden.

Mein Kollege hat mit „Allokation im Gesundheitswesen“ ein Werk geschaffen, das nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch zum Nachdenken anregt. Es zeigt uns, dass es in unserer Macht liegt, die Zukunft der Gesundheitsversorgung mitzugestalten und sicherzustellen, dass sie für alle gerecht und zugänglich ist.

Möge dieses Buch nicht nur in den Bücherregalen unserer Bibliotheken, sondern auch in den Köpfen und Herzen aller, die sich für eine gerechtere Gesundheitsversorgung einsetzen, seinen verdienten Platz finden.

 

Prof. Dr. med. habil. Dipl.-Kfm. Reinhard Strametz

Wiesbaden Institute for Healthcare Economics and Patient Safety (WiHelP)

Hochschule RheinMain

Prolog

Bei begrenzten Ressourcen stellt sich die Frage nach der gerechten Verteilung. Die COVID-19-Pandemie hat es für jeden und jede aber auch gesamtgesellschaftlich spüren lassen, was es bedeutet, wenn es nicht für alle reicht. Fragen über das, was richtig oder falsch, passend oder nicht passend ist, setzen sich zwangsläufig mit den Aspekten Ethik und Moral auseinander. Ökonomie als Wissenschaft untersucht den rationalen Umgang mit knappen, also nur begrenzt verfügbaren Ressourcen. Sie geht auch der Frage nach, wie Gerechtigkeit und Autonomie für die einzelne Person oder Gesellschaft im ökonomischen Kontext erzielt werden können. Medizinische Entwicklungen haben eine außerordentliche Rasanz. Was gestern undenkbar war, ist heute erfolgreich umsetzbar. Zugleich ist die medizinisch-wissenschaftliche Interpretation wechselhaft und weitgefächert sich darstellend, bis sich gesicherte Erkenntnisse entwickeln. Unerwartet sieht sich die Gesellschaft mit einer laufenden Diskussion um die richtige Betrachtung der wissenschaftlichen Ergebnisse konfrontiert. Diese Teilhabe am Diskurs ist ungewohnt und will gelernt sein.

Feuilletonartig werden einzelne Aspekte entsprechend ihrem jeweiligen Kernbegriff reflektiert, analysiert und geordnet. Das klassische Lehrtext wird durch strukturierte Essays abgelöst und erlaubt einen anderen Zugang zu Wissen und Erfahrung. Die einzelnen Passagen sind in sich abgeschlossen. Teils werden fiktionale Patientinnen und Patienten begleitet. Erforderliches Wissen wird ergänzend generiert und strukturiert eingepflegt. Zugleich soll es Unterhaltung sein.

Gesundheitsökonomie beschäftigt sich als fachübergreifende Wissenschaft mit den Fragen der Gesundheitsversorgung unter Beachtung der ökonomischen Rahmenbedingungen. Begrenzte Ressourcen und Fragen der gerechten Verteilung stellen eine Herausforderung dar. Individualmedizinische Aspekte und gesamtgesellschaftliche realisierbare Möglichkeiten treffen aufeinander und konkurrieren miteinander. Das damit verbundene Konfliktpotenzial hatte sich realisiert und war belastend, Auswirkungen sind heute noch spürbar und werden noch anhalten.

Dieses Lehrbuch ist eine Einführung in die Denkweise medizinischen Handelns im Kontext begrenzter Ressourcen und versucht den Konflikt einer Individualmedizin unter begrenzten Rahmenbedingungen gegenüber einer gesamtgesellschaftlichen Erwartungshaltung zu beschreiben, Gründe für eine Änderung der Individualmaxime darzulegen, Möglichkeiten der Rückführung zu einer individualmedizinischen Betrachtung und Lösungsansätze aufzuzeigen.

 

Idstein, im Sommer 2023

Prof. Dr. med. Thomas Stockhausen

1ÖkonomieÖkonomie

Beispiel | Stellen Sie sich vor, Sie haben eine bedeutende Entdeckung gemacht und Sie sind zu einem Meeting eingeladen. Dabei geht es um viel Geld und Ihr Beitrag ist wichtig, um die richtige Entscheidung treffen zu können. Sie bereiten sich vor, suchen die passende Kleidung aus. Alle Unterlagen und Utensilien haben Sie sorgfältig parat. Auf dem Weg zum Kongresszentrum gehen Sie an einem Teich vorbei. Dort bemerken Sie ein Kind im Wasser, dass um Hilfe schreit. Weit und breit ist niemand zu sehen und Sie entscheiden sich, in das Wasser zu springen und das Kind zu retten. Nass stehen Sie am Rand des Wassers und halten das glücklich gerettete Kind in Ihren Armen. Der Termin ist geplatzt, der Deal ist dahin.

Zuhause angekommen, sehen Sie einen Brief in Ihrem Kasten. Im Flyer wird auf eine Spende für Kinder in Malawi hingewiesen und Sie können mit einem monatlichen Beitrag die Schullaufbahn eines Kindes unterstützen, damit es Bildung erlangt und später einen Beruf ausüben kann. Ihre Freundin ruft Sie aus Nepal an. Ihr Kind hat sich schwer verletzt und die Behandlung im Krankenhaus muss im Voraus bezahlt werden. Die Kreditkarte Ihrer Freundin ging bei dem Unfall verloren und Sie werden gebeten eine Expressüberweisung mit einem gehörigen Betrag durchzuführen.

1.1Ethik und Moral

In einem plötzlichen Moment sind Sie mit wesentlichen Fragen von EthikEthik und MoralMoral konfrontiert und müssen sich entscheiden. Wenn ein Kind vor unseren Augen ertrinkt, würde jeder und jede von uns die moralische Pflicht haben, das Leben des Kindes zu retten. Gegenüber dem Leben eines Kindes ist der Deal unwichtig. Wenn es ein guter Deal wäre, dann werden die Beteiligten dies anerkennen und einen neuen Termin zur Entscheidung ausmachen, an dem Sie Ihren Beitrag leisten können. Wir müssen uns keine teuren Klamotten kaufen und können das Geld spenden. Zudem ist es ein Beitrag zur Gewährung fairer Arbeitsbedingungen in der Kleidungsbranche. Sie vermeiden Kinderarbeit im unsicheren Arbeitsumfeld mit niedrigen Löhnen. Möglicherweise ist es aber notwendig, dass die Kinder den Beitrag für die Familie leisten, damit sie überleben. Fehlt die Arbeit in den Fabriken, so verteilt sich dies mutmaßlich auf die Suche nach gewinnbringenden Ressourcen in Müllhalden, die Arbeit in Bergwerksminen oder es folgt die Kinderprostitution. Es ist fraglich, ob das gesellschaftlich und auch für einen selbst gewünscht ist. Auch die Überweisung nach Nepal ist mit der Gefahr verbunden, dass das Geld nicht ankommt oder ein großer Teil der Korruption zukommt.

Zügig und unvermittelt können ethische Grundsatzfragen auftauchen. Eine Antwort ist schwierig. Vielfach verbleibt Zweifel. Der Lebensalltag gibt eine ganze Anzahl an Fragestellungen, die uns prüfen, hierbei eine gute Antwort zu finden. Solche Fragen stellen sich in der Familie, insbesondere dann, wenn es um schwere Krankheit geht und wie man damit umzugehen habe. Antworten auf Fragen zu Lebensbeginn oder am Lebensende sind nicht einfach zu finden. Auch Unternehmen sind in einem gesellschaftlichen Kontext eingebunden. Fragen der Ethik beantworten zu können, erscheint als wichtig, wesentlich oder relevant. Andere bezeichnen die Frage danach, was richtig oder falsch, gut oder böse, ethisch oder unethisch ist, als unwichtig, trivial oder bedeutungslos. Zuweilen hat man den Eindruck, dass es auch als Luxus verstanden werden kann, sich hierüber Gedanken zu machen. Im Trubel des Alltagslebens mit all den anstehenden Aufgaben, der terminlichen Enge, dem Druck und dem Berg an Arbeit ist es nachvollziehbar, dass Fragen der Ethik in den Hintergrund treten.

Das Leben schickt immer wieder Situationen, an denen es sich lohnt, darüber nachzudenken. Es stellt sich die einfache Frage: Wie kann ich als Mensch einen Beitrag zur Ethik leisten? Die Ausgangslage ist dabei einfach zu beschreiben: Bedenken Sie, dass Sie den Rest des Lebens mit sich selbst zu tun haben. Andere Menschen kommen und gehen und ziehen an Ihnen und Ihrem Leben vorbei. Teils länger, teils kürzer. Sie sind jedoch immer mit sich selbst konfrontiert. Irgendwie haben alle den Wunsch, ein gelingendes Leben zu führen … allen voran mit sich selbst. Man ist sich selbst der lebenslange Begleiter. Als soziales Wesen ist uns die Gemeinschaft wichtig, denn wir leben in unterschiedlichen Gemeinschaften wie Familie, Arbeitsplatz, Vereine, Glaubensgemeinschaften, Freundeskreis und vielem mehr. Dort wollen wir eine gute Figur machen, anerkannt und angenommen sein. Es gibt Regeln, die auf Ethik und Moral beruhen. Diese Regeln sind spezifisch für die jeweilige Gesellschaft, in der sich das Ganze bewegt. Die jeweiligen Kulturkreise unterscheiden sich, wenngleich sich auch Schnittmengen aufzeigen. Im gesellschaftlichen Kontext haben sich Werte entwickelt, die Orientierung geben über das, was richtig oder falsch, gut oder böse sowie ethisch oder unethisch ist. Diesen gesellschaftlichen Werten stehen auf der anderen Seite Wirklichkeiten gegenüber, die wir mit dem jetzigen Zustand zu vergleichen, zu würdigen und erforderlichenfalls zu korrigieren haben.

Wie ein strukturierter Dialog im medizinischen Kontext zu gestalten ist, damit man zu einer Antwort in einer konkreten Situation kommt, findet sich in der PrinzipienethikPrinzipienethik nach Tom L. BeauchampBeauchamp, Tom L. (1939) und James F. ChildressChildress, James F. (1940).1 Es handelt sich dabei um eine in den 1970er-Jahren entwickelte Vorgehensweise, wie eine medizinethische Frage angegangen werden kann. Aspekte der Autonomie der Patientinnen und Patienten (respect for autonomy), der Schadensvermeidung (nonmalficience), der Führsorge (beneficience) sowie der Gerechtigkeit (justice) werden beachtet. Daraus entsteht ein strukturierter Dialog, in dem alle Aspekte Berücksichtigung finden, um zu einer gemeinsamen Antwort zu kommen. Dies kann in der Diskussion um eine Herzoperation bei einem schwer herzkranken, neugeborenen Kind oder in der Behandlung einer Krebserkrankung bei einem betagten und von vielen schweren Begleiterkrankungen gezeichneten Menschen bedeutsam sein. Ethik und Moral werden bedeutsam.

Wissen | MoralMoral und EthikEthik

 

Moral | Der Begriff der Moral entstammt dem Lateinischen „moralis“ und heißt übersetzt „die Sitten betreffend“. Als Moral werden die Werte und Regeln bezeichnet, die in einer Gesellschaft allgemein anerkannt sind. Wenn man sagt, jemand habe „moralisch“ gehandelt, ist damit gemeint, dass er sich so verhalten hat, wie es die Menschen richtig und gut finden.

Ethik | Der Begriff entstammt dem Griechischen „ethos“, was übersetzt den Begriffen „Sitte“ oder „Gewohnheit“ entspricht. Dabei ist „Ethik“ als die wissenschaftliche oder die gesellschaftlich vereinbarte Grundlage zu verstehen, die sich mit dem menschlichen Handeln beschäftigt, sich der Werteorientierung widmet; danach fragt, was gutes oder schlechtes Handeln bedeutet.

Stellt Ethik die normative Struktur dar, entspricht die Moral eher der praktischen Handlungsanweisung, wie ethische Grundsätze umgesetzt werden können. Dabei ist Ethik im gesellschaftlichen Kontext zu verstehen. Hieraus können sich teils diametral entgegenwirkende moralische Handlungsweisen in unterschiedlichen Kulturen und gesellschaftlichen Kontexten entwickeln.

1.2Versprechen

Verallgemeinert treten im gesellschaftlichen Kontext, insbesondere im unternehmerischen Kontext unterschiedliche Akteure in Kontakt. Mit einer wie auch immer gearteten Vereinbarung kooperieren die Parteien miteinander. Dies setzt voraus, sich einander zu vertrauen und die jeweilig zugedachte Verantwortung zu übernehmen. Eine Kundin vereinbart mit dem Küchenstudio den Einbau einer neuen Küche. Dafür vereinbaren beide einen Termin und einen Preis, der bei Lieferung zu entrichten ist. Beide Partner geben sich ein gegenseitiges Versprechen. Sie erwarten, dass es von beiden Seiten eingehalten wird. Wird dieses VersprechenVersprechen nicht eingehalten, dann ist das VertrauenVertrauen gebrochen. Streng genommen ist es ein Verrat.

Im Medizinischen Kontext wird erwartet, dass ausgehend von den Symptomen und Anamnese eine strukturierte Diagnostik eingeleitet wird. Unter Beachtung der Differentialdiagnosen soll die korrekte Diagnose gestellt und die geeignete Therapie eingeleitet werden. Dies hat nach dem aktuellen medizinischen Wissen zu erfolgen. Der Erfolg der Behandlung ist dabei nicht zwingend. Es können und dürfen auch Komplikationen eintreten, denn der Mensch ist ein biologisches Wesen, bei dem eben nicht alle Vorgänge voraussehbar sind. Erwartet wird eine GewissenhaftigkeitGewissenhaftigkeit in diesem Prozess und dies zu jedem Zeitpunkt. Dann ist das Versprechen gehalten.

Und solche Versprechen wurden gebrochen. Im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin-Mitte wurden 2006/2007 Endoprothesen am Kniegelenk implantiert. Bei einer schweren Arthrose des Kniegelenkes, meist auf dem Boden eines Gelenkverschleißes, werden bei dieser Operation sowohl die Gelenkrolle des Oberschenkels als auch die Gelenkfacette des Schienbeinkopfes entfernt und durch Metallimplantate ersetzt. Teils werden diese „einzementiert“ und teils „zementfrei eingesetzt“. Dies hat unterschiedliche medizinische Gründe. Erwünscht ist eine „zementfreie“ Versorgung, da bei einem möglichen Wechsel nach vielen Jahren, der Defekt deutlich geringer ausfällt als bei der „zementierten“ Variante. Ist jedoch der Knochen durch eine Osteoporose geschwächt, dann kann eine „zementierte“ Implantation für die Patienten von einem größeren Vorteil sein. Eine ganze Anzahl von Patienten klagte über fortbestehende oder schlimmere Beschwerden. Bei der Aufarbeitung war nachzuweisen, dass zementpflichtige Komponenten zementfrei implantiert worden waren. Es zeigte sich aber auch, dass der Krankenhausplan keine Endoprothetik in diesem Krankenhaus vorsah. Zudem waren die Operateure keine Orthopäden, sondern Chirurgen und es gab einen Sondervertrag der gesetzlichen Krankenversicherung, obgleich sie diesen Vertrag nicht hätten schließen dürfen.1 Dieses Beispiel zeigt, dass mehrere Versprechen nicht eingehalten wurden, was – ethisch betrachtet – einen Verrat darstellt.

Die renommierte Zeitschrift The Lancet veröffentlichte 2005 ein Artikel. Sie gehört zu den führenden Fachblättern aktueller Literatur mit hohem internationalem Ansehen. Sie setzt nach eigenem Bekunden extrem hohe Maßstäbe und wählen nur die besten Forschungsarbeiten aus. In dieser Studie wurde untersucht, welchen positiven Einfluss nonsteroidale Antiphlogistika auf die Entwicklung von Krebserkrankungen im Mundbereich haben. Es handelt sich um Medikamente mit den generischen Bezeichnungen Ibuprofen, Paracatemol oder Diclofenac, die zur Schmerzbehandlung auch frei verkäuflich sind. Es wurde das Ergebnis berichtet, dass eine Langzeitanwendung mit diesen Medikamenten mit einer niedrigeren Inzidenz für eine Krebserkrankung im Mundbereich auch bei Rauchern einherginge. Zusätzlich zeige sich eine verminderte Rate an Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems. Die Datenanalyse brachte hervor, dass es eine hohe Anzahl der untersuchten Patientinnen und Patienten nicht gab und Daten aus Registern verwendet wurden, welche zum Zeitpunkt der Studie nicht existierten. Drei Gutachter wurden mit der Beurteilung beauftragt, die die Studie noch vor Veröffentlichung vorgelegt bekamen. Ihnen fielen die Fehler nicht auf.2 Auch hier wurde das Versprechen, eine korrekte Studie vorzustellen, sowohl seitens der Autorengruppe aber auch vom Verlag nicht eingehalten. Nach Kenntnis dieses Betruges wurde die Studie zurückgezogen. Es führte aber zum Verlust des Renommees für alle Beteiligten.

Beim Zahnersatz zeigte sich 2002, dass die Firma Globudent aus Mühlheim ZahnersatzZahnersatz aus Ländern zu kostengünstigen Preisen erhalten und auf dem deutschen Markt mit marktentsprechenden Preisen verkauften. Es konnte nicht geklärt werden, ob eine vernünftige Legierung oder ein normaler Haustürschlüssel zur Herstellung verwendet wurde. Kassen und Ärzte waren an dem Deal beteiligt. Es kam zu einem erheblichen Vermögensschaden einschließlich einer damit verbundenen Steuerhinterziehung.3

Beim Contergan-SkandalContergan-Skandal (1957–1961) wurde der Wirkstoff ThalidomidThalidomid als Beruhigungsmittel von der Firma Grünenthal vermarktet und eingesetzt. Das Medikament war in den Tierversuchen ungiftig und es wurden keine Nebenwirkungen beobachtet. Infolge der Anwendung bei Schwangeren entwickelten sich DysmelienDysmelien (Fehlbildungen der Extremitäten) oder andere angeborene Fehlbildungen bei 5000 Kindern.4 Dieses Ereignis muss vor dem Kontext der Historie betrachtet werden. Das Gesundheitsministerium wurde erst nach diesen Vorkommnissen gegründet. Eine Zulassung von Medikamenten unterlag nicht den Qualitätskriterien, wie sie heute angewendet werden. Es war auch die Zeit des Kalten Krieges und man vermutete zunächst einen Zusammenhang mit Atombombenversuchen. Geburtsregister wurden bis 1915 zurückverfolgt und es wurde kein statistischer Zusammenhang entdeckt. Erst die Analyse und die Befragung der Eltern von 20 erkrankten Kindern durch den Kinderarzt Dr. med. Widukind LenzLenz, Widukind führte zum Medikament Thalidomid, als Ursache. Der biologische Vorgang, dass durch das Medikament wichtige Steuerungsgene für andere Gene in ihrer Funktion gestört werden, wurde erst etwa 60 Jahre später erkannt.5

1.3Philosophische Aspektephilosophische Aspekte

In all diesen Fragen geht es immer wieder darum, ein Versprechen zu halten und Verrat zu vermeiden. Das ist der Kerngedanke jeder authentischen Unternehmertätigkeit. Und wenn es um die Frage geht, wie kann der Einzelne oder eine Gruppierung ethisch handeln, dann gibt es eine einfache Strategie: Leben Sie so, dass Sie nichts zu bereuen haben. Im Christlichen Kontext gibt es die einfache Formel: „Liebe Deinen Nächsten, wie dich selbst.“ Damit ist ein enormer und hoher Anspruch verbunden. Führungsseminare beschreiben diesen Aspekt mit der Terminologie, des sich selbst Führens, um andere führen zu können. Eine solche Sichtweise ist verbunden mit einer hohen Tugendhaftigkeit, um es realisieren zu können. Im interpersonellen Kontext ist es verbunden mit einer Wahrhaftigkeit, einem Einfühlungsvermögen und dem Aufbau und Erhalt von Vertrauen. Im Kategorischen Imperativ nach Immanuel Kant (1724–1804) ist dies schärfer formuliert: „Handle so, dass die Maxime (subjektive Verhaltensregel) deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Aber auch hier gibt es Konfliktpotenziale, wenn sich das PflichtenprinzipPflichtenprinzip im Einzelfall als moralisch fragwürdig erscheint. Möglicherweise gibt es doch Gründe, ein Versprechen zu brechen. Insbesondere in Notfallsituationen kann dies wichtig sein, um moralisch richtig zu handeln.

Individuell ausgerichtete Lebensaspekte mit dem Streben nach Lust und der Vermeidung von Schmerz zeichnete Jeremy BenthamBentham, Jeremy (1748–1832) als Maxime für menschliches Handeln aus. Soziale und politische Entscheidungen orientieren sich an dem größten GlückGlück für die größte Zahl. Je näher gesellschaftliche Normen und Regeln der weitestmöglichen Verbreitung von Zufriedenheit und Glück dienen, erscheint dies als moralisch angestrebt. Ergeben sich Zweifel am Handeln, so richtet sich dies nach dem Besten für die Masse. In ähnlicher Weise, jedoch durch die romantischen Einflüsse des Empirismus geprägt, war John Stuart MillMill, John Stuart (1806–1873) weniger dogmatisch. Gerechtigkeit kann nur gewährleistet sein, wenn Staat und Gesellschaft sich in ihrem Handeln an dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Anzahl von Menschen orientieren. Die Nützlichkeit einer Handlung zeige sich, wenn sie die Gesamtmenge an Glück der Betroffenen maximiert.1

1.4UngleichheitUngleichheit

Es zeigen sich jedoch soziale Ungleichheiten, die sich auch gerade in einer Pandemie aufzeigten. Sozioökonomische Unterschiede und Ungleichheiten bezüglich des Risikos auf einen schweren Verlauf einer COVID-19-ErkrankungCOVID-19-Erkrankung waren zuvor bereits in den Vereinigten Staaten nachzuweisen und traten auch in Deutschland auf. Langzeitarbeitslosigkeit und Niedrigverdiener waren hiervon besonders betroffen und die Gefährdung lag teils doppelt so hoch, wie in der Normalbevölkerung.1 Oft besteht nicht die Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten, die Wohnverhältnisse sind beengt. Zusätzlich sind sie vermehrt auf Bus und Bahn angewiesen. Die Soziale Mobilitätsoziale Mobilität hat sich verschärft, Aufstiegschancen haben sich weiter verschlechtert. Der Reichtum hat sich zugunsten der Reichen verschoben. Die soziale Ungleichheitsoziale Ungleichheit hat sich in der Pandemie wie unter einem Brennglas verschärft. Wäre die COVID-19-Pandemie als Krise und zugleich als Chance einer multilateralen und multisektoralen Gesundheitspolitik zu verstehen gewesen, zeigte sich im globalen Handeln, dass reiche Länder Exklusivverträge mit Pharmaunternehmen vereinbarten. Während die Europäische Union eher als Käufer an den Tresen gingen, haben sich die Vereinigten Staaten wie Unternehmer benommen und gleich ganze Produktionsstätten aufgekauft. Afrikanische Staaten hatten und haben keine Chance, sich an der Verteilung des Impfstoffes zu beteiligen, waren und sind auf Almosen der Industrienationen angewiesen.

Wissen | UngleichheitenUngleichheiten

 

Es zeigt sich eine empirische Evidenz für Ungleichheiten bei COVID-19. Es erscheint hilfreich, drei mögliche Erklärungsmuster zu unterscheiden.2

Ungleichheiten in der ExpositionExposition | Sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen arbeiten häufiger in Berufen, in denen die Wahrscheinlichkeit, mit dem Virus in Kontakt zu kommen, erhöht ist. Personen mit höherem Einkommen haben häufiger die Möglichkeit des Home-Office. Beengte Wohnverhältnisse und mögliche Exposition im Personennahverkehr unterstützen dieses Phänomen.

Ungleichheiten in der VulnerabilitätVulnerabilität | Sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind häufiger von Vorerkrankungen und chronischen Krankheitsleiden betroffen. Es ergibt sich eine höhere Anfälligkeit für zu erleidende Infektionen und auch für schwere Krankheitsverläufe. Studienlagen weisen auch auf die Folgen einer erhöhten Schadstoffbelastung hin.

Ungleichheiten der VersorgungVersorgung | Sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen, insbesondere Menschen in prekären Lebenssituationen haben einen geringeren Zugang zu medizinischer Versorgung oder nehmen diese im Falle einer Erkrankung verspätet in Anspruch.

Gedankenexperiment (Schleier des NichtwissensSchleier des Nichtwissens) | Eine Anzahl von Menschen eines Kreuzfahrtschiffes werden auf eine Insel angespült, nachdem das Schiff gesunken war. Die Insel ist reich an Nährstoffen und Materialien vom Schiff strömen mehr als genug an Land, so dass man mit ein wenig gutem Erfindergeist und Wissen ein gutes Lebensumfeld schaffen kann. Rettung ist nicht in Sicht. Sie geben mit der Zeit die Hoffnung auf, gerettet zu werden und beschließen, eine neue Gesellschaft zu gründen. In dieser neuen Gesellschaft verfolgt jeder und jede die eigenen Interessen. Das führt zu Unruhe und Streitigkeiten. Bald merken alle, dass es dem Wohle am besten gedient ist, wenn sie zusammenarbeiten. Es ergeben sich Fragen danach, welche Prinzipien der Gerechtigkeit gelten sollen und unter welchem Regelwerk dies geschieht. Die kleinen Kinder fragten nicht nach der Herkunft, der Religion, der sozialen Schicht oder nach dem Vermögen der Eltern. Die einzige Frage war, ob du mitspielen willst oder eben nicht.

John Rawls (1921–2002) verstand GerechtigkeitGerechtigkeit als Ausdruck der FairnessFairness der Mitglieder einer Gesellschaft. Die Prinzipien der Gerechtigkeit begründen sich in der Unparteilichkeit: der Schleier des NichtwissensSchleier des Nichtwissens mit dem der Platz in der Gesellschaft unbekannt bleibt.3 Es ist unklar, ob man dann eine Leitungsfunktion bekommt oder nur für einfache Aufgaben eingeteilt wird. Unter diesem Aspekt ist anzunehmen, dass faire Bedingungen geschaffen werden. Im betrachteten Kontext entwickelt sich keine Sklaverei, denn keiner will in einem Sklavenverhältnis leben. Für Rawls ist ein solches Verfahren gerecht und ermöglicht die größtmögliche Freiheit für alle. In diesem Gedankenexperiment haben alle den Losentscheid erfahren und können sich entsprechend ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten einsetzen. Es entwickelt sich eine Vielzahl von Persönlichkeiten, die sich der gemeinsamen Idee widmen und das Beste erstreben.

In einer solchen, sich weiterwachsend darstellenden Gesellschaft passt es dann wieder, wenn einerseits der reiche Unternehmer eine Yacht bekommt, währenddessen der einfache Arbeitnehmer statt eines Drahtesels ein E-Bike erhält. Den Benefit erfahren alle in der Gesellschaft. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind in einer Gesellschaft so zu gestalten, als dass diese zum Vorteil für alle sind. Ein solches DifferenzierungsprinzipDifferenzierungsprinzip, führt zu einer Verbesserung für jedes Mitglied, wobei die Ärmsten am meisten haben sollten. Zugleich erscheint der Losentscheid ungerecht, weil er persönliche Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht berücksichtigt. Kompetenzen, die – wenn sie ‚gerecht‘ verteilt sind – zu einer höheren Effizienz des gesellschaftlichen Systems führen.

Das Gleichnis vom barmherzigen SamariterBarmherziger Samariter (Lk 10,25-37) kann in diesem Kontext verstanden werden, sich den menschlichen Herausforderungen zu stellen, auch Dogmen zu verlassen und individuelle Lösungen zu suchen, wenn die bestehenden Kataloge des Handelns nicht zu einer befriedenden Lösung führen, Gutes zu tun. Der Mann aus Samarien sieht das, was abseits seiner Sinnrichtung passiert. Er kann situativ reagieren, vielleicht nicht immer, jedoch an diesem Tag macht er das. Dabei ist er verbindlich, baut Vertrauen auf und übernimmt Verantwortung, ohne das eigene Ziel und die eigene Sinngebung zu verlassen. In existentiellen Begegnungen wird sich die Tragfähigkeit und die Brüchigkeit von Idealen, Überzeugungen und Haltungen zeigen. Ethik ist dann kein Luxus, sondern wird zur Bedingung eines gelingenden Miteinanders.

Im gesellschaftlichen Kontext hat es sich bewährt, ein Regelwerk aufzustellen, an dem sich die beteiligenden Mitglieder zu orientieren haben. In den westlichen Kulturen sind sie vornehmlich entstanden aus dem vorwiegenden vernünftigen und guten Menschenbild, wobei einzelne Personen auch verdorben sein können. Dem Grunde nach sind alle in einem friedlichen Miteinander, wenngleich Auseinandersetzungen oder Ungleichheiten entstehen können. Es gibt Vertreterinnen und Vertreter, die gewählt oder auch bestimmt sind, für die jeweiligen Situationen Regeln festzulegen. Dabei können diese recht rigide und fest und an anderen Stellen des gesellschaftlichen Seins lockerer sein. Auch im medizinischen Bereich hat es sich bewährt, Regeln aufzustellen, insbesondere dann, wenn es eng oder knapp wird; eben dann, wenn es eben nicht für alle reicht.

1.5FürsorgeFürsorge

Fallbeispiel | Nehmen wir an, dass ein Bombenanschlag verübt worden ist. Menschen sind verletzt oder getötet worden, möglicherweise sind Gebäudeteile eingestürzt. In diese Gefahrenzone dürfen nur bestimmte und besonders ausgebildete Personen hinein, um Menschenleben zu retten. Dies kann bedeuten, dass bei einem Massenanfall von Verletzten eine Triage durchgeführt werden muss und bei diesen dann, nach Lebenszeichen orientiert, nur Blutstillungen durchgeführt werden können. Möglicherweise muss aber erst das Gebäude abgestützt werden, bevor man an die Verletzten kommen kann. Diesem unsicheren Gefahrenbereich folgt schrittweise die sichere Zone, in dem die höher professionalisierten Rettungsdienste und das zivile medizinische Versorgungssystem übernehmen können.

Zu Beginn der ImpfkampagneImpfkampagne stand fest, dass es nicht für alle reicht. Insofern war es erforderlich einen Verteilungsplan zu erarbeiten und eine Priorisierungsliste zu erstellen. Im Positionspapier der gemeinsamen Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Ständigen Impfkommission, des Deutschen Ethikrates und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina entwickelte sich ein Vorschlag, der sich an der Verhinderung schwerer COVID-19-Verläufe und Todesfälle, an dem Expositionsrisiko, dem Transmissionsrisiko und der Aufrechterhaltung staatlicher Funktionen und des öffentlichen Lebens orientierte. Eine Rangfolge in Priorisierungsgruppen wurde erstellt. Eine hohe Priorisierung erfuhren Menschen in einem Alter von über 80 Jahren.1 Erscheinen nun ein 82-jähriger Mann im Beisein seiner 78-jährigen Gattin, die an einer schweren Demenz leidet und rollstuhlpflichtig ist, da sie nicht allein sein kann und eine Verhinderungspflege nicht zu organisieren war, im Impfzentrum, so erscheint es absurd, dass für die Gattin ein neuer Termin zu vereinbaren ist.

Bei der Zuweisung von IntensivkapazitätenIntensivkapazitäten wurde auf die Zielgröße des Überlebens abgestellt. In einem interprofessionellen Team wird die intensivmedizinische Behandlungsnotwendigkeit, die klinische Erfolgsaussicht und auch die Einwilligung zur Behandlung überprüft. Es folgt die Überprüfung der Kriterien für den Therapieerfolg, die aktuelle Erkrankungen und Begleiterkrankungen berücksichtigt.2 Ein solches Vorgehen benachteiligt möglicherweise diejenigen, die an schweren Begleiterkrankungen leiden. Sie haben das größere Risiko, zu versterben. Es berücksichtigt jene, die vermutlich am meisten von der Behandlung profitieren. Zielgröße ist die Minimierung der Todesfälle.

Medizinischer Fortschritt und der demographische Wandel führen zu einer erhöhten Nachfrage. Durch reduzierte Einnahmen begrenzt sich die Finanzierung des Angebotes und ein Ungleichgewicht entsteht, es kommt zur MittelknappheitMittelknappheit im Gesundheitswesen. Eine Erhöhung der Mittel erscheint nicht möglich, da bereits 12 bis 15 % des Bruttoinlanddsproduktes für die Fragen der Gesundheit aufgewendet werden. Es verbleiben RationalisierungsmaßnahmenRationalisierungsmaßnahmen zur Effizienzsteigerung und RationierungenRationierungen von Leistungen.

Aus der Sicht der Patientinnen und Patienten bedeuten Krankheit persönliches Leid und Angst um die eigene Zukunft. In diesem Kontext machen sie Erfahrung von Hilfe und Zuwendung. Sie sind aber auch Gefühlen von Gleichgültigkeit und Ignoranz ausgesetzt. Sie spüren den Konflikt.

Wissen | FürsorgeFürsorge

 

Es besteht also eine fragile Beziehung der Akteure untereinander. Zum einen ist es die staatliche Gewalt, der eine Fürsorgepflicht für die Bürgerinnen und Bürger zukommt. Dem Staat ist es zugeordnet, gesundheitlichen Schaden abzuwenden. Zugleich unterliegen die Behandlungen von Krankheiten und die Pflege einem Marktmechanismus, in dem es um Kapital und Rendite geht. Medizin zeigt Möglichkeiten und Grenzen des Machbaren auf. Politisches Handeln spannt seinen Spannungsbogen zwischen dem Bestreben des größtmöglichen Nutzens für die Gemeinschaft und ihrer Mitglieder, wie es Aristoteles zu verstehen wusste, und einem Machtbestreben nach Machiavelli, bei der die Summe der Mittel dazu dienen, Macht zu erhalten.

1.6SolidaritätSolidarität

Soziale Unterschiedesoziale Unterschiede sind indes größer geworden. Bildung, Einkommen und beruflicher Status haben einen Einfluss auf die Lebenserwartung: je höher der sozioökonomische Status, desto niedriger die Sterblichkeit.1 Adipositas, das Übergewicht als eine bedeutsame Folge einer Fehlernährung, geht mit einer hohen Inzidenz an Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck, koronare Herzerkrankung und Diabetes mellitus einher. Das betrifft auch die dazugehörigen Früh- und Spätkomplikationen. Neben einer deutlich erhöhten Sterblichkeit zeigt sich eine deutliche Reduktion der Lebensqualität.2 Feinstaubbelastungen bergen ein Sterberisiko. Lärm ist ein wahrnehmbares Umwelt- und Gesundheitsproblem. Es kann nicht nur das Wohlbefinden stören. Lärm kann zu Schlafstörungen, Herzinfarkt und hohen Blutdruck führen. Sommerliche Hitze hat ein hohes Schädigungspotenzial für den Menschen und kann gesundheitliche Risiken für bereits erkrankte Personengruppen erhöhen.3 Im Umgang mit radioaktiven Stoffen sind hohe Sicherheitsanforderungen zu stellen. Die Folgen der Reaktorunfälle von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 sind heute noch weltweit messbar und haben zu Regionen geführt, die unbewohnbar bleiben. Politik hat Rahmenbedingungen zu schaffen, Gesundheit zu erhalten und Krankheit zu begegnen.

Politik ist verantwortlich für den Bildungsgrad und eine hohe Bildung ist einer der entscheidenden Faktoren, die sich positiv auf ein Gesundheitserleben auswirken. Kontrolle der Nahrungsmittel, Vermeidung von physikalischen und chemischen Umweltbedingungen, Sicherheit im Umgang mit Gefahrenstoffen und im sozialen Miteinander sind Beiträge, um dem Aspekt der Gesundheitsversorgung zu begegnen.

Wissen | SolidaritätsprinzipSolidaritätsprinzip

 

Ein wesentliches Kennzeichen der Versorgung zeigt sich im Solidaritätsprinzip. Es hilft denen, die in Not sind, insbesondere in Krankheit. Aber auch Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit und altersbedingte Einschränkungen sind gesetzlich im Umlageverfahren abgesichert. Dennoch finden sich Unterschiede im Empfang dieser Leistungen. Es ist staatliche Aufgabe, Vorsorge zu treffen und dies zu regulieren. In einer der reichsten Volkswirtschaften ist dies ein Gemengelage von Umlageverfahren und steuerlichen Regelungen. Die Gewährleistung von Freiheit ist dabei ein hohes Gut. Einerseits darf das Individuum nicht in seiner Entwicklung behindert werden, zusätzlich muss der Staat aber auch die Rahmenbedingungen schaffen, in Freiheit agieren zu können.