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Der Alltag ist mehr als ein alltäglicher Tag. Er schreibt die Geschichten unseres Lebens - Geschichten voller Schmerz, Verwirrung, aber auch voller Freude und Hoffnung. Dabei hält der Alltag ein großes Potenzial für persönliche Weiterentwicklung bereit. Die Autorin nimmt die Leser/-innen mit auf eine Reise von A bis Z, und geht existenziellen Fragen wie Glück, Zufriedenheit, Neid, Liebe, Erfolg, Vergebung u. v. m. nach. Das Buch versteht sich eher als Denk- denn als Ratgeber. Es bietet die Gelegenheit, an eigene Erfahrungen anzuknüpfen, den Blick auf den Alltag zu verändern, Neues zu entdecken und vielleicht eine ganz individuelle Antwort auf die Frage zu finden, warum es so ist, wie es ist und wie es sein könnte.
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Seitenzahl: 513
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ALLTAG
oder
Leben zwischen Tragödie und Komödie
Erika Kuhn
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© 2020 Erika Kuhn
Satz & Layout: Gabi Schmid · www.buechermacherei.de
Lektorat: Ursula Hahnenberg · www.buechermacherei.de
Covergestaltung: Gabi Schmid · www.buechermacherei.de
Gemälde: Uta Wunsch · www.utart.de
Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
www.tredition.de
1. Auflage
978-3-347-01555-5 (Paperback)
978-3-347-01556-2 (e-Book)
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Alltag oderein Tag ist mehr als nur ein Tag
Alter oderich werde nicht alt, ich reife
Angst oderdie Angst vor der Angst
Autoritäten oderUngehorsam kann Leben retten
Beziehungen oderNarren streiten, Freunde besprechen ihre Meinungsverschiedenheiten
Chancen oderwas man alles verpassen kann
Erfolg oderdie eigene Bestimmung leben
Erwartungenoder ich bin nicht auf der Welt, um die Erwartungen anderer zu erfüllen
Freiheit oderkann ich wirklich machen, was ich will
Geben oderNehmen macht nicht so glücklich
Gedanken oderFreiheit beginnt im Kopf
Geduld oderdas Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht
Gefühle oderder Verstand ist ein guter Diener aber ein schlechter Herrscher
Glauben oderÜberzeugungen schaffen Wirklichkeit
Glück oderWirklichkeit minus Erwartungen
Irrtümer oderVorstellungen und Wirklichkeit stimmen nicht immer überein
Kommunikation oderich weiß nie, was ich sage
Leben oderder Tanz zwischen Tragödie und Komödie
Lernen odernicht für das Leben,für die Schule lernen wir
Liebe oderrote Rosen regnet es nicht immer
Loslassen oderdie schönen Erinnerungen bleiben
Meinungen oderauch das Gegenteil kann wahr sein
Mitgefühl oderwir wollen alle glücklich sein
Mut odernicht perfekt sein zu wollen, erfordert mehr Mut
Neid oderauf der anderen Seite ist das Gras auch nicht grüner
Opferrolle oderdie anderen sind nicht immer schuld
Probleme oderdas Problem mit dem Problem
Selbsterkenntnis oderim Leben stehen immer Leitern bereit, auf denen du hochklettern kannst
Spiritualität oderein gesundes Misstrauen gegenüber letzten Wahrheiten
Tod oderwo es Leben gibt, da folgt der Tod als sein Schatten
Urteile oderSchubladen im Kopf
Vergebung oderRache ist nicht immer süß
Wahlmöglichkeiten oderkeine Entscheidung ist auch eine Entscheidung
Wünsche oderdie Jagd nach Bedürfnisbefriedigung
Zeit oderwas nicht hinter uns liegt, liegt vor uns
Zufall oderwas einem so alles zufallen kann
Zufriedenheit oderwas fehlt uns wirklich
Zum Schluss oderweiter geht es immer
Danksagung
Anmerkung
Inspirationsquellen
Die Autorin
Suchet in euch, so werdet ihr alles finden.
Und freuet euch, wenn da draußen eine Natur liegt, die Ja sagt zu allem, was ihr in euch selbst gefunden habt.
(Johann Wolfgang von Goethe)
Vorwort
„Das Leben ist eine Baustelle.“ Dieser Ausspruch wird seit der Erscheinung des gleichnamigen Films vor über zwanzig Jahre gerne verwendet, wenn es darum geht, den Alltag zu beschreiben. Einen Alltag, der sich für manche von uns gelegentlich – oder auch häufig – wie eine Wanderung zwischen Tragödie und Komödie anfühlt. Vor allem dann, wenn uns der Alltag wieder einmal als tägliches Einerlei, mühsam, chaotisch oder stressig erscheint. Auch wenn es so ist, bietet uns der Alltag dennoch vielerlei Gelegenheit, mehr über uns selbst zu erfahren. Warum uns etwas umtreibt, uns immer wieder ins gleiche Loch fallen lässt oder uns Stress verursacht. Vergessen wird dabei häufig, dass wir die Architekten unseres Lebens sind und dass wir selbst entscheiden, wo und wie wir leben wollen und wer oder was wir sind.
Ich mag in vielen Dingen eine ausreichende Kompetenz besitzen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, doch was den Alltag betrifft, habe ich so viel Ahnung wie der Leser. Was ich anbieten kann, sind Ideen.
Ich habe keine Antwort auf die Fragen des Lebens, sondern mir nur ein paar Gedanken zu den Bereichen gemacht, von denen ich glaube, dass sie sich, auch wenn wir uns alle in unterschiedlichen Lebenssituationen befinden, wie ein roter Faden durch unser aller Leben ziehen.
Ich schreibe häufig in der Wir-Form, was nicht heißen soll, dass sich jeder Leser gleichermaßen davon betroffen fühlen muss. Wir, betrifft eine Auswahl dessen, was verschiedene Disziplinen zur Erkenntnis des Menschseins bis heute herausgefunden haben. Ein jeder möge selbst entscheiden, was für ihn zutrifft, teilweise zutrifft oder auch gar nicht, und was er für wahr oder richtig hält.
Ich verstehe dieses Buch eher als Denk- denn als Ratgeber. Es sind Ideen, Angebote oder vielleicht eine Inspiration, über die Geschehnisse des Alltags einmal anders zu denken, gängige Interpretationen zu hinterfragen, sich selbst zu erforschen und vielleicht eine Antwort auf die Frage zu finden, warum wir so reagieren wie wir reagieren. Denn „Kühner als das Unbekannte zu erforschen, kann es sein, das Bekannte zu bezweifeln“, meinte Alexander von Humboldt. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass unser gegenwärtiger Bewusstseinszustand das Ergebnis von Einstellungen, Erinnerungen und Konzepten ist. Auf diesem Gedanken aufbauend kann man also den Bewusstseinszustand ändern, wenn man Einstellungen, Erinnerungen und Konzepte ändert.
Ich habe meine Erfahrungen in Worte gefasst, wohl wissend, dass aus Worten keine Erfahrung werden kann. Erforschen Sie sich selbst, machen Sie Ihre eigenen Erfahrungen und kommen Sie zu Ihren eigenen Erkenntnissen über das Alltagsleben. Sie haben Ihre eigene Weisheit bereits in sich, andere und vielleicht auch dieses Buch können Ihnen nur bei der Entdeckung helfen. Letzten Endes bleibt es immer Ihnen überlassen, Ihren eigenen Weg zu gehen, Ihren Alltag zu leben und das zu finden, was Sie glücklich und zufrieden macht und vielleicht – so ganz nebenbei – entdecken Sie hinter der Kulisse des Alltags das Wunder des Lebens.
Für den Text wurde die geschlechtsneutrale Personenbeschreibung gewählt, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Selbstverständlich richten sich die Texte gleichermaßen an alle Geschlechter.
Alltag oderein Tag ist mehr als nur ein Tag
Es gibt Tage, da plätschert alles einfach so dahin. Alles gelingt nach Plan, es gibt keine unvorhergesehenen Ereignisse, mit anderen Worten: Es ist harmonisch. Dann gibt es Tage, an denen die Welt Kopf zu stehen scheint und es sich mehr nach Sturm als nach einem stillen Gewässer anfühlt.
Morgens verschlafe ich, das kleinere Kind legt schon beim Aufwecken einen lautstarken Wutanfall hin. Das andere weigert sich, überhaupt aufzustehen, aus welch unerfindlichen Gründen auch immer. Nach längeren Diskussionen, der Kaffee ist inzwischen kalt geworden, gebe ich resigniert auf. Also Schule anrufen, eine Krankheit erfinden, die erste Notlüge an diesem Tag. Kaum habe ich den Hörer aufgelegt, ruft einer meiner Auftraggeber an und wünscht eine Stellungnahme zu einer Prüfung, da ein Teilnehmer mit seinem Prüfungsergebnis nicht einverstanden ist. Am besten gleich und wenn nicht sofort, dann wenigstens im Laufe des Tages. Meine Erklärungen, wie viel ich an diesem Tag erst noch Wichtiges zu erledigen hätte, werden großzügig ignoriert.
Doch erst einmal die Wäsche in die Waschmaschine, die plötzlich beschließt, das Wasser nicht bei sich zu behalten, sondern in Bächen auf den Fliesen zu verteilen. Inzwischen hat der Hund Brechdurchfall, aber er entscheidet sich nicht für die Fliesen, sondern den Teppich. Ich habe am Vormittag einen Termin, zu dem ich letztlich zu spät komme. Wieder zu Hause – das Chaos wird ja nicht so weitergehen – lege ich mich, inzwischen total erschöpft, erst einmal für ein paar Minuten auf die Couch. Der dreijährige Sohn wird mit Dschungelbuch vor den Fernseher gesetzt, mit der strikten Anweisung, wenn jemand anruft, zu sagen, die Mama wäre nicht da. Dies, weil er gewöhnlich schneller am Telefon ist als ich. Es klingelt und noch bevor ich meine Augen öffnen kann, höre ich, wie er mit seinem zarten Stimmchen ins Telefon ruft: Die Mama schläft. Das Lügen hat er wohl noch nicht gelernt. Es war die Person vom Morgen, der ich vor ein paar Stunden erklärt hatte, wie beschäftigt ich sei …
Der Nachmittag ist noch lang und ich beschließe, den Auftrag nun doch als nächstes zu erledigen, als wiederum das Telefon klingelt. Dieses Mal ist es das Altenheim, um mir mitzuteilen, dass meine Mutter aus dem Bett gefallen sei, den Oberschenkelhals gebrochen habe, sich bereits im Krankenhaus befände und ich doch bitte umgehend dorthin kommen möchte. Meine Laune befindet sich im freien Fall. Also, ab ins Auto und zügig ins Krankenhaus. Nachdem alle Papiere ausgefüllt, unterschrieben, mit den Ärzten die notwendige Vorgehensweise nebst allen möglichen Komplikationen besprochen ist und die Mutter gut versorgt in ihrem Krankenhausbett liegt, fahre ich nach Hause. Zum Glück ist mir kein Gute-Laune-Mensch über den Weg gelaufen, mit der für mich am heutigen Tag unerträglichen Aussage, dass all die kleinen Katastrophen gewiss für etwas gut seien. Der Tag ist gelaufen und ich schließe ihn mit dem Gedanken ab, dass eben nicht immer alles wie geplant läuft, dass es chaotische und friedvolle Tage gibt, und dass alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Was manchmal tatsächlich so ist.
Wenn wir von Alltag sprechen, denken wir an routinemäßigen Ablauf und das tägliche Einerlei. Häufig wird der Begriff mit Alltagstrott, Tretmühle in Verbindung gebracht. Gemeinsam ist allen Bezeichnungen, dass sie in gewisser Weise abwertend sind oder etwas Abwertendes assoziieren. Wir vergessen dabei, dass es genau diese Tage sind, in denen wir unsere Erfahrungen machen und uns selbst erleben. So ist es letztlich das Alltägliche, was unser Leben ausmacht, denn wir haben nichts anderes. Und vielleicht geht es einfach nur darum, die Magie des Alltags immer wieder neu zu entdecken.
Der Alltag ist für jeden anders und wird größtenteils durch die Lebenssituation bestimmt, in der wir uns gerade befinden. Der Alltag ist ein Tag unseres Lebens, ob wir nun Straßenbahnschaffner, Handwerker, Friseurin, Hausfrau, Managerin und vieles mehr sind. Jeder hat seinen eigenen Alltag, gemäß der Rolle, die er gerade spielt. Mitunter sind wir in unseren Rollen in einer Tragödie oder Komödie so gefangen, dass wir darüber vergessen, dass wir sowohl die Schauspieler als auch die Regisseure sind. Auch wenn der Alltag jedem anders erscheint und wir meinen, dass der Ablauf unseres Lebens mit dem anderer Menschen nicht verglichen werden kann, so haben wir doch, wenn wir hinter die Kulissen blicken, viele Gemeinsamkeiten. Gemeinsamkeiten, die uns den Alltag verderben oder versüßen.
Eine grundlegende Gemeinsamkeit ist, dass sich unsere Gefühle, Gedanken, Sorgen und Ängste und alles, was es sonst noch gibt, sich an diesem Tag treffen. Der Alltag ist ein Tag unseres Lebens, egal, wo wir uns gerade befinden, und täglich wirft uns das Leben Anlässe in den Weg, die einen ein bisschen verstimmen, aber auch ein bisschen glücklich machen können.
Jeden Tag die gleiche Routine. Aufstehen, Körperpflege, Kaffeetrinken, Anziehen, in die Arbeit gehen, Einkaufen, Heimkommen, Haushalt, Waschen, Putzen, Freizeit, Schlafen und den Rest können Sie sich anhand Ihres eigenen Alltags selbst zusammenstellen. Gemeinsam ist dem Ganzen, dass es wiederholende Muster und gewohnheitsmäßige Abläufe sind, wenn auch von Mensch zu Mensch verschieden.
Sicherlich empfinden wir den Alltag mitunter als langweilig, anstrengend, chaotisch und stressig. Wir fragen uns, wo ist das Besondere, das Glück, was soll das Ganze, wozu lebe ich, weshalb passiert das gerade mir. Wo ist das Glück, das scheinbar immer nur da ist, wo kein Alltag ist.
Täglich werden wir von den Medien und der Werbung damit konfrontiert, dass der Alltag etwas sei, dem wir entfliehen müssten. Reiseveranstalter werben mit der Aussage „nix-wie-weg“, andere damit, dass mit bestimmten Produkten, bestimmten Handlungen die Flucht aus dem Alltag möglich sei. Ein paar Wochen Urlaub, dann hat uns der Alltag wieder. Ziehen wir uns auf eine einsame Insel, in den Wald oder in ein Kloster zurück, ob wir nun auf der Flucht oder auf Sinnsuche sind, der Alltag verfolgt uns bis dorthin. Sicherlich verändert ein Umgebungswechsel den täglichen Ablauf, doch nach einer gewissen Zeit zieht in gleicher Weise, Routine und Gleichförmigkeit ein, wenn auch anders.
Wieso wird von vielen der Alltag als das graue Etwas betrachtet, dem es zu entfliehen gilt? So erscheint manchen der Alltag als etwas, in dem zwar Leben stattfindet, wobei das Außergewöhnliche, das wahre Leben und das Glück aber irgendwo außerhalb liegen. Vielleicht liegt es aber genauso in der vollkommenen Schlichtheit des Alltäglichen.
Viele Fragen lassen sich von Religionen und Weltanschauungen beantworten und doch bleiben wir im Alltag oft ratlos zurück. Wie kann ich im Alltag zufrieden sein, ohne auf eine übernatürliche Macht zu hoffen, die meine Wünsche erhört? Die einfachste Antwort wäre: Das Leben ist einfach so, wie es ist, und wir haben darin bestimmte Aufgaben zu erledigen. Was uns die Erledigung der Aufgaben häufig erschwert, ist die Bewertung hinsichtlich Bedeutung, Sinnhaftigkeit, Wertigkeit und Akzeptanz. Dabei orientieren wir uns häufig an dem, was von außen kommt, seien es nun andere Menschen, die Medien und im Besonderen Facebook & Co. Da wird uns dann eingeredet, wie der Alltag, das Leben, auszusehen hat und was sinnvoll, bedeutungsvoll und anerkannt ist. Jeder Tag, an dem wir morgens die Augen öffnen, ist ein Tag, an dem wir unser Leben spüren und erfahren. Der Ort, an dem wir lernen können, zufrieden und glücklich zu sein, denn „Die Entdeckung des Wunderbaren im Alltäglichen bedarf der Fähigkeit, mit den Augen des Herzens sehen zu können“, wie Ernst Ferstl, ein österreichischer Schriftsteller, es ausdrückte.
Wie oft rennen wir morgens zur Arbeit, abends nach Hause, sind beschäftigt mit unseren Plänen, unseren Sorgen, Ängsten, Erwartungen und allem, was uns sonst noch so beschäftigen kann. Vorbei an der Schönheit der Bäume, den blühenden Blumen und den Menschen, die uns begegnen. Wir sehen sie und sehen sie doch nicht. Wir sehen nicht das Wunder ihrer und auch unserer Existenz.
Alles was es gibt, ist vollkommen und vollständig. Schöpfung bewegt sich nicht von Unvollkommenheit zu Vollkommenheit, wie das Ego es wahrnimmt, sondern schreitet stattdessen von Vollkommenheit zu Vollkommenheit fort. Die Illusion einer Bewegung von Unvollkommenheit zu Vollkommenheit ist ein Gedankengerüst. So ist zum Beispiel eine Rosenknospe keine unvollkommene Rose, sondern vielmehr eine vollkommene Rosenknospe. Wenn sie halb geöffnet ist, ist sie eine vollkommene, sich entfaltende Blüte und wenn sie ganz offen ist, ist es eine vollkommene, offene Rose. Wenn sie verwelkt ist, ist es eine vollkommene, verwelkte Blume und schließlich wird sie zu einer vollkommenen, verdorrten Pflanze, die dann als vollkommene in Schlaf sinkt. Alles ist vollkommen, nur unsere Interpretationen sind es nicht.
Bei der Betrachtung menschlicher Erfahrungen und Ereignisse sehen wir, dass Ereignisse die eine Sache sind, doch wie wir wählen, damit umzugehen, ist etwas völlig anderes. Es kann sein, dass wir nicht fähig sind oder es uns aufgrund der vorherrschenden Lebensumstände nicht möglich ist, die in unserem Leben auftauchenden Ereignisse zu bestimmen, zu kontrollieren oder zu wählen. Wir können jedoch mitunter unsere Interpretationen und Einstellungen hinterfragen und unseren Blickwinkel auf die alltäglichen Geschehnisse ändern.
Häufig haben wir die Illusion, dass alles ganz anders sein müsse und jagen auf unserer Reise durch den Alltag diversen Idealen hinterher. Das Leben findet aber im Hier und Jetzt, in diesem Alltag mit allen seinen Höhen und Tiefen, statt. Nicht immer läuft alles glatt und dann stelle ich mir vor, eine Möwe zu sein. Sie schwimmt entspannt im Meer, nie weit vom sicheren Ufer entfernt, lässt sich vom Wasser tragen und kommt eine Welle, gleitet sie sanft darüber hinweg, um dann auf der glatten Wasseroberfläche weiter zu schwimmen. Kommt eine stürmische Welle, erhebt sie sich in die Luft, wartet, bis das Meer sich beruhigt hat und landet dann wieder sicher auf dem Wasser. Sie kämpft nicht gegen die Wellen an, denn instinktiv weiß sie, dass sie dann ertrinken würde.
Wir können, müssen aber nicht kämpfen. Es genügt schon, sich ab und an zu fragen, wie kann ich ein Leben leben, in dem ich mit mir im Einklang bin und meine eigene Macht und Kraft nutze? Wie kann ich verändern, was mir nicht mehr gut tut und mich unzufrieden macht? Die Macht liegt in uns, egal woran wir glauben, woher diese Macht kommt. Wir sind die Schöpfer unserer Wirklichkeit und der Alltag ist die beste Plattform, um mehr über uns selbst zu erfahren und zu erkennen, warum wir so sind, wie wir sind.
Alter oderich werde nicht alt, ich reife
Gelegentlich besuche ich drei ältere Damen, die alle schon über achtzig Jahre alt sind. Sie kauften sich vor Jahren gemeinsam ein Haus, um in einer Wohngemeinschaft zu leben. Das Ziel war, dass sie, wenn sie älter und vielleicht auch gebrechlicher werden würden, sie sich gegenseitig unterstützen könnten. Zwei von ihnen sind Witwen, die Kinder in alle Winde verstreut, und eine war nie verheiratet. Obwohl die drei fast gleich alt sind, ist ihr körperliches und geistiges Befinden vollkommen unterschiedlich. Das Interessante dabei ist, dass die älteste, weit über neunzig, sowohl körperlich als auch geistig die fitteste und auch die fröhlichste ist. Kommt man vorbei, so sitzt sie häufig im Schneidersitz auf dem Bett, den Computer auf den Knien, ein Glas Sekt neben sich, in hellwacher und guter Stimmung. Sie interessiert sich für alles, was in der Welt um sie herum geschieht und hat meistens dazu sehr lebenserfahrene Kommentare übrig. Das Alter interessiert sie wenig, es ist halt einfach so. Sie ist zufrieden und dankbar für all das, was ihr in diesem Lebensabschnitt noch widerfährt. Sie, die einzige, die noch Auto fährt, kutschiert die anderen beiden zu deren Arztbesuchen und auf diverse Ämter. Dort hilft sie dann auch noch die nötigen Formulare auszufüllen.
Von den jüngeren Damen hat eine Schwierigkeiten mit dem Laufen, kann aufgrund einer Augenerkrankung nicht mehr Autofahren und ist auch häufig krank und bettlägerig. So, wie mich die älteste verblüfft, so sehr erstaunt mich die jüngste. Sie ist zwar körperlich noch fit, jedoch die meiste Zeit mehr oder weniger depressiv und die Lebensfreude ist ihr abhandengekommen. Sie ist der Überzeugung, dass es in ihrem Alter nichts mehr gibt, über das sie sich freuen könnte, dass Alter eine Strafe sei und dass früher alles besser war. Den Alltag durchlebt sie mit Jammern und Nörgelei und geht den anderen damit ziemlich auf die Nerven. Sie können sie nicht verstehen, denn alle haben in etwa die gleiche Lebensgeschichte mit alltäglichen Höhen und Tiefen und sind der Meinung, dass man damit ohne weiteres zufrieden sein könnte. Doch dies hilft nicht, sie von ihren schwermütigen Gedanken und ihrem Selbstmitleid abzubringen. Wenn es ganz schlimm wird, der nahende Tod das Hauptthema des Tages ist, ergreifen die beiden anderen schon mal die Flucht und machen sich woanders einen schönen Tag. Wenn ich mir eine von den dreien als Beispiel für meine Zukunft nehmen sollte, würde ich mir die älteste aussuchen. Natürlich hoffe ich, dass ich, wenn ich dieses Alter erreiche, so gesund bleibe, aber vor allem, dass meine Einstellung dazu auch positiv und lebensbejahend ist.
Bei Aussagen zum Thema Alter aus unserer Umgebung zucken wir jedes Mal zusammen wie die Auster, auf die man Zitrone träufelt. Es sind Sätze wie: In unserem Alter …; es ist doch normal, dass man sich nichts mehr merken kann; Gesundheit ist eher was für Jüngere; dicker wird man automatisch; man ist nicht mehr so beweglich.
Es lohnt sich zu hinterfragen, ob diese Annahmen wirklich stimmen oder ob unsere Einstellungen und unsere häufig ungeprüft übernommenen Überzeugungen letztendlich unseren Umgang mit dem Alter bestimmen.
Velma Wallis erzählt in ihrem Buch „Zwei Frauen“ vom Überleben zweier alter Frauen, die von ihrem Nomadenstamm zurückgelassen werden, als dieser weiterzieht. Eine Hungersnot zwingt diesen Stamm dazu und es ist Sitte, alte Menschen – also zwei überflüssige Esser – zurückzulassen. Die beiden alten Frauen, die sich damit begnügten zu nörgeln und unzufrieden zu sein, solange sie im Stammesverband lebten und deren Arbeit Jüngere übernahmen, blieben also alleine zurück. So mussten sie ihre ganzen Kräfte mobilisieren, um zu überleben und sich wieder sinnvollen Lebensaufgaben zuzuwenden. Durch die Besinnung auf altes Wissen gelang es den beiden Frauen zu überleben und anschließend damit sogar ihrem Stamm zu helfen.
Nicht nur in Nomadenstämmen, auch in unserer Gesellschaft werden Menschen alt. Doch bei uns rollt die Anti-Aging-Welle. Ob wir den Fernseher einschalten oder die Zeitung aufschlagen, die Zielgruppe der 55 plus oder Best-Ager ist entdeckt. Jeder, der etwas auf sich hält, versucht mittels der Angebote der Nahrungsmittel- und Kosmetikindustrie und anderer Ersatzteillieferanten seine Attraktivität und Aktivität auf hohem Niveau zu halten, mindestens jedoch dem Niveau von 30-Jährigen anzupassen. Vielleicht findet man ab einem gewissen Alter zwar keinen Job mehr, so bleibt man doch wenigstens als Konsumentenzielgruppe interessant. Es wird uns eingeredet, wenn wir dies oder jenes kaufen, bleiben wir jung und schön, bekommen vielleicht doch wieder einen Job, von dessen Einkommen wir uns dann die vielen Alterungsverhinderungsmittel kaufen können.
Das Alter ist in einer Gesellschaft, in der angenommen wird, dass der Prozess des Alterns mit geistigem Verfall, Krankheit und Siechtum verbunden ist, ein Gespenst. Auf die Idee, gesund zu sterben, kommen wenige und wir neigen dazu, dies einfach auf genetische Dispositionen zurückzuführen, die man möglicherweise aber selbst nicht hat.
Haben wir uns jemals gefragt, wie alt wir werden möchten, um unser ganzes schöpferisches Potenzial zum Ausdruck zu bringen? Und lässt sich durch eine Veränderung unserer Denk- und Verhaltensmuster möglicherweise auch unser Alterungsprozess verändern? Mit was verbinden wir Altwerden? Mit Gebrechlichkeit, Krankheit, abgeschoben werden, Einsamkeit, Demenz, Altersheim, eingeschränkter Freiheit und noch vielen anderen Glaubenssätzen. So bekommen wir im Grunde genommen, was wir erwarten. Viele Studien zeigen jedoch auf, dass unsere Einstellungen und unsere Glaubenssätze unseren Altersvorgang beeinflussen können und sogar körperliche Veränderungen möglich sind.
Sie kennen bestimmt den Spruch: „Du bist so alt, wie du dich fühlst.“ Mit Anfang 50 fühle ich mich geistig fit, leistungsfähig und offen für alles Neue. Da erzählt mir das Arbeitsamt, ich sei zu alt für diesen oder jenen Job, die Medien und andere Dienstleister, dass ich meinen Führerschein auffrischen soll, zu Vorsorgeuntersuchungen gehen, meine Sehfähigkeit überprüfen lassen und langsam darüber nachdenken soll, welches Altersheim einmal für mich in Frage käme. Eindrücklich wird erklärt, dass wir mit Sicherheit abbauen und ab einem gewissen Alter zu gewissen Dingen nicht mehr in der Lage sind. Es sei wichtig, über Inkontinenz, mangelnde Potenz, Pflegebedürftigkeit und beginnenden geistigen Verfall nachzudenken.
Jede Gesellschaft und jede Kultur teilt gewisse Überzeugungen, Glaubenssätze genannt. So kommen auch Vorstellungen über das Alter oder der Umgang mit diesem aufgrund kollektiver Überzeugungen zustande. Wenn Sie beispielsweise mit über 50 anfangen, Klavier zu spielen, den Motorradführerschein machen, oder etwas anderes, werden Sie möglicherweise die Erfahrung machen, dass Ihre Verwandten, Freunde und Bekannten die Augenbrauen hochziehen und mit der Bemerkung: „Was, in deinem Alter?“ reagieren. Ja, es gibt bewusste und viele unbewusste Überzeugungen, was in einem Lebensabschnitt angemessen ist und was nicht. Martin Buber meinte einmal: „Alt sein ist ja ein herrliches Ding, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt.“
Viele Überzeugungen schränken uns so ein, dass wir gewisse Dinge gar nicht mehr anfangen. Andererseits ist es natürlich auch so, dass es für bestimmte Sachen altersmäßige Zutrittsbarrieren gibt. Doch nicht allein bürokratische und physiologische Barrieren schränken unseren Aktionsrahmen ein, begrenzend wirken auch unsere eigenen bewussten und unbewussten Überzeugungen hinsichtlich des Alters.
Die Wissenschaft teilt das Alter in drei Kategorien ein:
• Das biografische oder chronologische Alter. Das Datum auf der Geburtsurkunde. Dies sagt allerdings wenig darüber aus, wie jung oder wie alt sich jemand wirklich fühlt. Es ist eher so, dass dies als Raster genommen wird, was man einem Menschen noch zutraut und was nicht oder was er noch machen kann und was nicht.
• Das biologische Alter. Hier werden Vergleichsgrößen von verschiedenen Altersgruppen herangezogen, sogenannte Biomarker wie Bluthochdruck, Fett, Sauerstoffkapazität und vieles mehr. Anhand dieser Werte kann das biologische Alter um Jahre vom biografischen abweichen.
• Das psychologische Alter. Dieses gibt an, wie man sich subjektiv fühlt. Es gibt wohl 30-Jährige, die sich wie 70-Jährige fühlen, verhalten und umgekehrt.
Studien zeigen inzwischen, dass unsere Beziehung zum Thema Alter auch von unserer ganz persönlichen Einstellung, unseren Gedanken und unserem Fühlen abhängt. Wie stark lassen wir uns von den Denk- und Verhaltensmustern der Gesellschaft beeinflussen, die den Glauben bestärken, dass Alter etwas äußerst Unangenehmes sei? Da unsere Wahrnehmung Wirklichkeit erzeugt, könnten wir durch eine Änderung unserer Wahrnehmung auch unser psychologisches und biologisches Alter beeinflussen. Unsere Überzeugungen prägen die Beschaffenheit unseres Körpers und die Interpretationen, die wir für wahr halten, führen uns genau in den Zustand hinein.
Die moderne Wissenschaft und auch alte Weisheitslehren sagen, dass unser Körper keine physische Maschine ist, die Gedanken und Gefühle erzeugt, sondern ein Beziehungsnetz aus Energie, Intelligenz, Umwandlungsprozessen und dynamischem Austausch. Wir wissen heute, dass sich unsere Haut innerhalb eines Monats erneuert, Leberzellen innerhalb von sechs Wochen und die Magenschleimhaut alle fünf Tage. Innerhalb eines Jahres sind so 98 % aller Atome des menschlichen Körpers ausgetauscht. So betrachtet sind wir stets neu. Was jedoch häufig nicht neu ist, sind unsere Gedanken und unsere Gefühle. Denken Sie einmal darüber nach, was in Ihrem Körper passiert, wenn Sie Ihren Zellen ständig die Information alt, alt, alt eingeben.
Über Hundertjährige danach gefragt, ob sie sich ein Leben lang gesund ernährt haben, Sport getrieben, Tabak und Alkohol gemieden, führt zu keiner befriedigenden Antwort. Eines ist aber allen gemeinsam, sie begründeten ihr langes Leben auf ihre Fähigkeit, loszulassen. Sie klammern sich nicht an Erfahrungen, die ihnen nichts mehr nützen, sie lassen los und schreiten voran.
Sie besitzen somit eine grenzenlose Flexibilität und auch Kreativität. Flexibilität erfordert nicht, dass wir unsere Ziele und Absichten aufgeben, sondern dass wir unsere fixierten Erwartungen auflösen. Die Tatsache, dass jedes Ereignis zusammen mit einer Interpretation gespeichert wird, gibt der Erinnerung eine heimtückische Macht. Das Ego fürchtet Verlust und Tod, dies nimmt der Körper als Stress wahr und dieser lässt ihn schneller altern.
Warum sterben so viele Menschen, kurz nachdem sie in Rente gegangen sind? Dieser Rentnertod kann eine Folge der Ansicht oder des Glaubenssatzes sein, dass die Nützlichkeit dahin ist. Viele Menschen definieren sich über ihre Arbeit und schaffen sich damit eine eigene Identität. Mit dem Rentneralter ereignet sich dann ein Identitätsverlust. Die auf das Rentenalter vertagten Hobbies bringen die wenigsten noch auf die Reihe, sie verfallen in den sogenannten Winterschlaf, der nur noch von den Mahlzeiten, dem Fernsehprogramm und Busreisen unterbrochen wird.
Dr. Alexander Leaf von der Harvard Medical School bereiste in den 70er Jahren die Welt. Er besuchte den Kaukasus, Nordpakistan und die Anden in Ecuador. Dort waren viele Menschen noch mit 80, 90 und mehr Jahren aktiv und führten ein dynamisches Leben. Er entdeckte einen Faktor, der allen Bewohnern dieser weit entfernten Regionen gemeinsam war – ihre Einstellung zum Altern. Hier war das Älterwerden gleichbedeutend mit Besserwerden. Vitale Hundertjährige wurden wegen ihres Wissens, ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit und ihrer persönlichen Ausstrahlung verehrt. Sie waren nicht nur weise und erfahren, sie besaßen auch einen jugendlicheren Körper.
Eine weitere interessante Studie zu diesem Thema führte die Psychologin Ellen Langer im Jahr 1981 in Harvard durch. Sie richtete ein altes Kloster in New Hampshire so ein, dass nichts darin jünger war als 22 Jahre. Möbel, Zeitungen, das Radio und dessen Sender, einschließlich das Essen, alles war wie im Jahre 1959. Sie lud eine Gruppe von Männern, die alle 75 Jahre oder älter waren, in das Kloster ein. Alle hatten vorher Tests durchlaufen, die ihre Beweglichkeit, ihr Seh- und Hörvermögen, ihre Denkfähigkeit und ihr Allgemeinbefinden maßen. Viele berichteten über Antriebs-, Lust- und Appetitlosigkeit. Sie wurden nun gebeten, sich so zu verhalten, als wäre das Jahr 1959. Im Kloster gab es keine Spiegel, niemand trug ihnen die Tasche oder brachte ihnen das Essen. Schon nach fünf Tagen zeigte sich bei ihnen eine Veränderung des Verhaltens. Sie servierten selbstständig ihr Essen, spülten ab, nahmen rege an den Diskussionen teil und spielten sogar Football. Die Tests ergaben, dass sie besser hörten und sahen, die Motorik und das Gedächtnis sich verbessert hatte, sie aufrechter gingen und mehr Punkte in einem Intelligenztest erzielten. Zudem sahen sie im Schnitt auch noch um zwei Jahre jünger aus. Diese Ergebnisse veränderten nicht nur Ellen Langers Vorstellungen vom Alter, sondern auch ihre Sicht auf Grenzen im Allgemeinen. Sie entdeckte den Einfluss des Denkens auf das körperliche Befinden, dass Biologie kein Schicksal ist, und dass es möglich ist, den Altersvorgang umzukehren. Nicht unser Körper setzt uns die Grenzen, sondern unser Denken über seine Grenzen.
Beide Untersuchungen sagen das Gleiche: Erwartungen haben einen Einfluss auf den Körper. Wir bekommen das, was wir erwarten, und das gilt nicht nur für das Alter, sondern auch für Gesundheit und vieles mehr.
Das Alter ließe sich auch als eine neue Entwicklungsphase im menschlichen Leben betrachten. Nicht als Verlust der Jugendlichkeit, sondern als eine Entwicklung mit offenem Ende und eigenen Gesetzen, die wir vielleicht selbst bestimmen. Wir könnten das Alter nicht als Begrenzung, sondern als Chance sehen. Als eine Chance, aus einem anderen Blickwinkel und vielleicht mit Weisheit, wie Konfuzius, zurückzublicken:
Mit 15 Jahren fasste ich den Entschluss, mich dem Lernen zu widmen.
Mit 30 Jahren stand ich fest auf dem Boden.
Mit 40 Jahren ließ ich mich nicht mehr von meinem Ziel abbringen.
Mit 50 Jahren erfuhr ich den Willen des Himmels.
Mit 60 Jahren schenkte ich den Geboten des Himmels ein gelehriges Ohr.
Mit 70 Jahren konnte ich nach Herzenslaune handeln, denn meine Absichten durchkreuzten nicht mehr den Willen des Himmels.
Angst oderdie Angst vor der Angst
Ein warmer Sommertag an der französischen Atlantikküste. Wir waren nach unserem Wocheneinkauf und einem gemütlichen Abendessen auf dem Rückweg zu unserem Feriendomizil. Entspannt genossen wir den unbeschwerten Tag. Auf dem Rücksitz war unser damals knapp vierjähriger Sohn gut in seinem Kindersitz verstaut. Auf der Linksabbiegerspur, die auf die Straße durch den Wald zu unserem Feriendomizil führte, mussten wir anhalten, um den Gegenverkehr vorbeizulassen. Auf einmal ein Ruck. Ein Auto war uns hinten aufgefahren. Wir stiegen aus und aus dem hinteren kleinen roten Auto taten drei Männer das Gleiche. Sie sahen alle ähnlich aus, militärisch kahlgeschorene Köpfe und sehr jung. Sie fragten, so viel verstanden wir noch, ob uns etwas passiert sei, und meinten, dass wir unbedingt das Kind aus dem Auto holen müssten, denn es könnte ja verletzt sein. Wir überzeugten uns davon, dass dem nicht so war. Sie wiederholten die Forderung mehrmals, sodass wir schließlich unseren Sohn doch aus dem Auto holten. Sie lockten uns an den Straßenrand zwecks Austausches der Formalitäten und als wir dastanden, rannten sie zu unserem Auto zurück, sprangen hinein und fuhren davon. Den Schlüssel hatten wir in der ganzen Aufregung dummerweise stecken lassen.
Da standen wir nun, am Rand des Waldes mit einem barfüßigen Sohn, da er im Auto immer als erstes seine Schuhe auszog. Was wir noch hatten, war die Bauchtasche meines Mannes mit seinen Papieren, meine Tasche war im Auto verblieben. Während wir überlegten, was nun zu tun sei, radelte ein Ehepaar vorbei. Wir hielten sie an und erzählten, was uns gerade so widerfahren war. Sie erwiesen sich als sehr hilfsbereit, brachten uns zur nächsten Polizeistelle und da sie sehr gut Französisch sprachen, dolmetschten sie auch. Wir saßen noch da, als ein Polizist den Raum betrat und erklärte, das Auto, das uns aufgefahren war, sei gefunden worden und wir wurden gebeten, es zu identifizieren. Wir erkannten das Auto wieder, neu war für uns allerdings, dass es einen Einschuss in der Frontscheibe hatte. Von der Polizei erfuhren wir, dass die drei jungen Männer an diesem Tag versucht hatten, drei Autos zu stehlen und dass es bei einem der Versuche zu einem Schusswechsel mit der Polizei gekommen war. Da wurde uns richtig schlecht. Wir grübelten längere Zeit darüber nach, was wohl geschehen wäre, hätten wir unseren Sohn nicht aus dem Auto genommen. Da stieg die Angst verstärkt in uns auf.
Unseren Urlaub setzten wir trotzdem fort. Nach drei Tagen erschien die Polizei und erklärte uns, dass das Auto wieder da sei, in einer Werkstatt stehen würde, und dass wir es dort abholen könnten. Wir fuhren hin, es war tatsächlich unser Auto. Die Scheiben waren mit einem Baseball-Schläger eingeschlagen worden, die Gurte durchschnitten, damit das Lenkrad fixiert und sie hatten das Auto einen Abhang hinunterrollen lassen. Totalschaden. Der uns nicht gehörende Baseballschläger war noch da, der Einkauf auch. Dieser war aufgrund der sommerlichen Temperaturen nicht mehr brauchbar. Alles andere, der Kindersitz, meine Handtasche und sonstiger Kleinkram waren weg. Nicht weg war meine Angst und die sollte mich noch geraume Zeit verfolgen.
Wieder zu Hause schafften wir ein neues Auto an. Lange Zeit verursachten mir Autos hinter mir, besetzt mit mehreren jungen Männern, Panikgefühle. Ich hätte in dieser Zeit auch immer Vollgas gegeben, wenn mir einer hinten drauf gefahren wäre. Unser Sohn stieg mit seinen auf Jahrmärkten erworbenen Spielzeugwaffen ins Auto und fragte ich ihn, warum, so erhielt ich die Antwort: „Falls Räuber kommen.“ Seinem Beispiel folgend wollte auch ich nicht mehr unbewaffnet ins Auto steigen und ich erinnerte mich an die Gaspistole, die mir ein Freund in Studienzeiten gegeben hatte. Der Grund war mein damaliger Wohnsitz in einer etwas unwirtlichen Gegend nebst diversen Vorkommnissen gewesen. Die Waffe fand sich nach längerem Suchen wieder, was sich nicht wiederfinden ließ, waren meine Kenntnisse darüber, wie das Teil funktionierte und wie man es mit der erforderlichen Munition bestückte.
Beim nächsten Besuch in meiner Heimatstadt begab ich mich also in ein Waffengeschäft, um mich diesbezüglich beraten zu lassen. Ich legte die Waffe auf den Tresen und erläuterte mein Problem. Der Verkäufer sah mich mehr als erstaunt an und fragte, ob ich denn einen Waffenschein besäße. Wieso denn nun einen Waffenschein, es ist doch nur eine Schreckschusspistole, war mein Argument, welches aber durch die Auskunft, dass man auch für dieses Modell nun einen Waffenschein benötigte, zunichte gemacht wurde. Na dann, meinte ich, lasse ich sie einfach hier und kaufe mir eine waffenscheinfreie Waffe, wie vielleicht ein Abwehrspray oder was es sonst noch gibt. Der Verkäufer meinte jedoch, dass ich das Teil wohl schön wieder mitnehmen solle und es ordnungsgemäß entsorgen müsse, wenn ich mir nicht eine Strafe für unerlaubten Waffenbesitz einhandeln wolle. So geschah es dann nach den dafür notwendigen Regeln mithilfe eines Rechtsbeistands.
Die Jahre zogen ins Land, die Erinnerungen an den Autoklau verblassten, waren meistens vergessen und ich fahre auch schon lange wieder ohne unangenehme Gefühle. Doch viele, viele Jahre später stand ich bei Dunkelheit wartend an einer Ampel, als plötzlich ein Mann an die Scheibe klopfte. Ich erschrak zutiefst und alle Gefühle der Angst, inklusive der körperlichen Reaktionen von damals kamen schlagartig wieder hoch. Ich öffnete das Fenster nicht, der Mann schrie durch die Scheibe, dass mein Rücklicht nicht ginge. Ich war so von meinen Gefühlen überwältigt, dass ich sogar vergaß, mich zu bedanken. Erst nach einigen Minuten, als ich mich wieder etwas beruhigt hatte, wurde mir bewusst, dass diese Reaktion mit dem damaligen Erlebnis zusammenhing. Ich dachte den weiteren Abend darüber nach, wie lange ein solches Erlebnis wirken kann.
Ich würde es eine begründete Angst aufgrund einer angsteinflößenden Situation nennen. Wir haben jedoch auch viele Ängste, die nicht durch ein bestimmtes Erlebnis ausgelöst wurden. Albert Camus, ein französischer Schriftsteller, nannte unsere Zeit das Jahrhundert der Angst. Doch es ist nicht die Angst, die beim Höhlenmenschen auftrat, wenn ein Tiger vor ihm stand, sondern es sind Ängste und Sorgen, die auf der Angst vor Ungewissheit, Versagen und anderem beruhen. Es soll hier nicht von den von der Psychologie als krankhaft definierten Ängsten gesprochen werden, sondern von jenen, die uns in unserem Alltag begleiten.
Wenn wir merken, dass die Winterreifen abgefahren sind, dann ist es sinnvoll, Furcht vor den möglichen Ergebnissen zu haben und sie zu wechseln. Das ist eine gesunde Art von Furcht. Ebenso wenig müssen Situationen provoziert werden, die möglicherweise gefährlich sind. Da ist eine natürliche Angst angebracht. Was uns häufig befällt, ist eher eine unbestimmte, unheimliche Angst, die nicht genau zu beschreiben ist.
Ängste sind so facettenreich wie die Menschen selbst. Ein Bergsteiger, der es wagt, ohne Sauerstoffmaske mehrere tausend Meter hohe Berge zu erklimmen, kann ohne Weiteres Angst vor Spinnen haben.
Manche Menschen suchen regelrecht die Gefahr und kommen dabei auf die ausgefallensten Ideen. So beschloss ein Brite, das unliebsame Bügeln unter freiem Himmel zu erledigen. Das leuchtet ja noch ein, frische Luft. Doch das genügte ihm wohl nicht, denn er beschloss, samt Bügelbrett und Bügeleisen auf einen Berg zu steigen oder sich andere Schauplätze wie Klippen, Seen oder belebte Straßenkreuzungen zu suchen. Solche Menschen scheinen entweder keine Angst vor dem Tod zu haben oder klammern diese Möglichkeit bei ihren manchmal lebensgefährlichen Aktionen einfach aus. Nicht alle, doch viele Menschen, danach befragt, haben Angst vor dem Tod, wobei sich die Frage stellt, ob ich, wenn ich tot bin, noch Angst haben kann.
Angst hat zum einen physiologische Aspekte und zum anderen psychologische. Angst ist eine sinnvolle Reaktion aller Lebewesen, um das Überleben zu sichern. Sie signalisiert Gefahr, aktiviert den Organismus und ermöglicht drei Reaktionen: Flucht, Kampf oder Totstellen.
Viele Ängste von uns Menschen entstehen jedoch im Kopf. Wenn ein Löwe vor uns steht, ist es angebracht, abzuhauen und nicht mehr viel zu überlegen. Dann denken wir nicht mehr darüber nach, was die Schwiegermutter, der Nachbar oder die Familie dazu sagen könnten.
Angst tritt in allen Variationen auf. Angst vor dem Leben, Angst vor Verlust, Angst, man könnte etwas falsch machen, Angst vor Krankheit, Angst vor Unfällen, Angst vor dem Tod. Angst in allem und vor allem. Dazu kommt eine ganze Flut von Schuldgefühlen. Ich kenne Teilnehmer in meinen Kursen, die aus Angst vor Prüfungen schon gar nicht zu dieser erscheinen, obwohl sie im Grunde bestens vorbereitet sind. Nicht jeder hat Angst vor Prüfungen, sondern nur jene, die die Prüfung als Bedrohung sehen. Diese ist nicht physischer, sondern psychischer Natur. Es erfolgen aber die gleichen physiologischen Reaktionen als ob ein Löwe vor uns stehen würde. Die Bedrohung ist psychischer Art, es geht um die ganze Person, um Selbstachtung und Selbstwertgefühl. Angst vor Versagen kann dazu führen, dass sich das Individuum der Entwicklung von sozialem Vertrauen widersetzt. Angst vor sozialer Abwertung führt zu Rückzug und Vorsicht oder emotionaler Bedürftigkeit.
Viele Ängste werden im Verlauf unserer Sozialisation vermittelt. Kindliche Konditionierungen durch die Eltern oder andere Bezugspersonen können zum Beispiel dazu führen, dass wir als Erwachsene Angst vor Spinnen, Schlangen und ähnlichem haben. Dies haben Untersuchungen ergeben, wenn Eltern ihrem Nachwuchs entsprechendes vorleben und irrationale Ängste unterstützen.
Neben den instinktiv und evolutionär bedingten Ängsten sind viele ein Konstrukt unseres Gehirns, die in der Realität so nicht existieren. Denn was kann einem tatsächlich passieren, abgesehen vom Verlust des Lebens, an dem wir so hängen. Wir entwickeln eine ungeheure Kreativität, wenn es darum geht, uns Situationen auszumalen, vor denen wir uns dann fürchten können.
Häufig sind es nicht die objektiven Gefahren, sondern die subjektiven. Ein schönes Beispiel hierfür ist die unter Schülern, Studenten und auch sich weiterbildenden Erwachsenen grassierende Prüfungsangst.
Auch Versicherungen spielen mit unseren Ängsten und dem, was so alles passieren kann. Da spielt sich vor unserem inneren Auge alles Mögliche ab. Wie wir unter der Brücke sitzen, finanziell ruiniert sind und überhaupt.
Zweifelsohne sind gewisse Versicherungen für den Alltag wichtig. Doch was man heute alles versichern kann, bedarf vielleicht einmal einer realistischen Überprüfung durch uns. Wenn ich mir die Versicherungswerbung ansehe, fühle ich mich urplötzlich nicht mehr wohl, bekomme Angst, weil ich den betreffenden Versicherungsschutz nicht habe. Soll ich jetzt eine Versicherung abschließen?
Wir können Angst immer dann ignorieren, wenn wir uns bewusst machen, dass sie gerade nicht real existiert. Wenn wir Schöpfer unserer Wirklichkeit sind, was von Philosophie und Psychologie postuliert wird, dann sind wir auch Schöpfer unserer Ängste.
Wir sind jedoch nicht die alleinigen Erfinder unser Ängste. Unterstützung bekommen wir von den Medien, sei es das Fernsehen, die sozialen Medien oder auch Zeitungen und Zeitschriften. Diese schüren mittels ihrer Berichterstattung alle möglichen und unmöglichen Ängste. Die Angst vor Finanzkrisen, Arbeitslosigkeit, Katastrophen, Anschlägen, Krankheiten, sinkendem Einkommen, Altersarmut, der Grippewelle und vielem mehr. Der Angstvirus befällt nicht nur einzelne, er verursacht kollektive Ängste. Wobei natürlich nicht unerwähnt bleiben darf, dass manche von uns gegen den Angstvirus immun sind.
Ängstliche Gedanken können Geist und Nervensystem infizieren, denn jeder Gedanke, den man hat, jede Vorstellung und so auch jede Angst, die einem in den Sinn kommt, schicken eine chemische Botschaft an den Kern des Zellbewusstseins. Mit anderen Worten, jeder Gedanke wird von einem Gefühl begleitet und jedem Gefühl folgt ein Gedanke oder auch eine Interpretation.
Dies könnte bedeuten, dass wir mentale Viren nicht ungeprüft auf uns wirken lassen und dass wir keine Statistik, sondern eine individuelle Persönlichkeit sind.
Nicht unerwähnt bleiben sollen jedoch auch Ängste, die aufgrund traumatischer Erlebnisse und Erfahrungen entstehen. Was von einem Menschen als traumatisch empfunden und zu Angstzuständen in seinem Alltag und seinem Leben führt, ist so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Noch ist die Forschung dabei, der Frage nachzugehen, warum manche Menschen nach angstvollen Erfahrungen, wie Folter, Konzentrationslager, Vergewaltigung, Überfällen und Wohnungseinbrüchen ein Trauma entwickeln und andere nicht.
„Rette dich, das Leben ruft“ die Autobiografie des französischen Resilienzforschers Boris Cyrulnik beschreibt, wie es gelingen kann, große seelische Qualen aus der Kindheit zu überwinden. Er verliert seine Eltern im Konzentrationslager, wächst in Heimen, Pflegefamilien und Internaten auf. Heute bezeichnet er sich als glücklich und ist ein erfolgreicher Wissenschaftler.
Neben ihm sind heute auch andere Experten der Meinung, dass die Einstellung, die ein Betroffener zu seinem Leid und seiner Angst hat, eine wichtige Rolle spielt. Menschen mit einer hohen Resilienz besitzen die Fähigkeit, sich auch bei schweren Schicksalsschlägen nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Erstmals entdeckt und erforscht wurde dies in den 50er-Jahren als Emmi Werner 700 Kinder einer Gemeinde auf Hawaii untersuchte. Sie wuchsen alle in schwierigen Lebensverhältnissen auf. Einige von ihnen wurden später beruflich erfolgreich und gründeten Familien, während andere die Schule abbrachen und straffällig wurden.
Inzwischen liegen zahlreiche Forschungsergebnisse zu diesem Thema vor. Allen Ergebnissen gemein ist, dass die Menschen, die eine Selbstwirksamkeitsüberzeugung besitzen und nicht so schicksalsgläubig sind, besser geschützt sind. Zu den weiteren Schutzfaktoren zählen eine intakte Familie, Menschen, auf die man sich verlassen kann, wie etwa Freunde, und auch Religiosität spielt eine Rolle. Auch jene Menschen, die fähig sind, Distanz und Humor zu entwickeln und Hilfe annehmen, zerbrechen seltener an einer traumatischen Erfahrung und der häufig damit verbundenen Angstentwicklung. Das Wissen um die eigene Selbstwirksamkeit lasse sich trainieren, so die Forscher, und wir müssten unseren Erlebnissen nicht hilflos ausgeliefert sein und uns von diesen nicht überwältigen lassen. Das Wissen um die eigene Selbstwirksamkeit rettete Boris Cyrulnik das Leben und machte ihn für die Zukunft seelisch widerstandsfähiger.
Glücklicherweise bleiben die meisten von uns von traumatischen Erfahrungen verschont. Nicht verschont bleibt der eine oder andere von uns von Ängsten, die, wie bereits erwähnt, ein gedankliches Konstrukt sind. Es erfordert Mut, seine Gedanken zu ändern und sie loszulassen.
In Indien wird zum Thema Angst die alte Fabel von einer Maus erzählt, die in ständiger Sorge lebte, weil sie Angst vor Katzen hatte. Ein Zauberer hatte Mitleid mit ihr und verwandelte sie in eine Katze. Als sie eine Katze war, hatte sie Angst vor dem Hund. Der Zauberer half ihr wieder und verwandelte sie in einen Hund. Da bekam sie plötzlich Angst vor dem Panther und so verwandelte sie der Zauberer in einen Panther. Da bekam sie Angst vor dem Jäger. Der Zauberer war verzweifelt und gab auf. Er verwandelte sie wieder in eine Maus und sagte: „Nichts, was ich für dich tun kann, wird dir helfen, denn du hast das Herz einer Maus.“
Autoritäten oderUngehorsam kann Leben retten
Im Jahr der Währungsreform 1948 stand ein kleines Dorf im Odenwald noch vollkommen unter dem Einfluss der katholischen Kirche, vertreten durch einen Pfarrer. Dieser setzte seinen Glauben und die Lehren der Kirche mit einer unnachgiebigen Konsequenz durch und achtete streng darauf, dass die Dorfbewohner diese auch durchgehend befolgten.
In jenem besagten Jahr bekamen alle Einwohner von Deutschland oder was davon übriggeblieben war, einheitlich 40 DM im Tausch gegen 40 Reichsmark. Ein Startgeld in eine bessere Zukunft. Den Bewohnern des kleinen Ortes sollte dies jedoch vorenthalten bleiben, denn der Pfarrer forderte diese 40 DM als Obolus für den Kauf neuer Kirchenglocken, die in den letzten Kriegsjahren konfisziert worden waren, um sie für weiteres Kriegsmaterial für den erhofften Endsieg einzuschmelzen. Dieser blieb zwar glücklicherweise aus, die Kirchenglocken aber waren weg. So marschierten viele Bürger demütig zum Pfarramt, um das frisch erhaltene Geld abzugeben. Was mit jenen geschah, die dies nicht taten, entzieht sich meiner Kenntnis. Der Glaube an Autoritäten war in diesem Ort ungebrochen und dies sollte auch noch viele Jahre so bleiben.
In der Welt wimmelt es von selbst ernannten Autoritäten und Experten. Es gibt die Autorität des Wissenschaftlers, des Arztes, des Fahrlehrers, der Eltern und noch vieler anderer, die wir als solche akzeptieren.
Sicherlich ist es gut, das Wissen von Experten zu nutzen, die auf einem bestimmten Gebiet sachkundiger sind als wir. Mitunter geben wir jedoch Menschen Macht aufgrund ihrer Rolle, eines bestimmten Status’ oder eines bestimmten Titels. Eine kritischere Einstellung gegenüber Expertenmeinungen könnte zu mehr Freiheit und zu mehr Zutrauen zu sich selbst führen.
Autoritäten entstehen auch dann, wenn wir Menschen Autorität zuschreiben, ohne dass sie eine fachliche Qualifikation aufweisen. Trendsetter, Stars werden häufig als Autoritäten anerkannt und wir geben ihnen die Macht, zu bestimmen, wie wir auftreten, sein, oder uns verhalten sollten. Das lässt uns mitunter vergessen, uns auf unsere eigene, innere Autorität zu besinnen und nicht die Macht an andere abzugeben.
Wenn ich von Autoritäten spreche, meine ich nicht, dass wir Menschen ablehnen sollen, die mehr Wissen und Informationen auf einem Gebiet haben als wir selbst. Wenn wir krank sind, suchen wir uns einen Arzt, wenn wir depressiv sind, einen guten Psychologen, wenn die Heizung leckt einen Installateur und bei Gelangelegenheiten einen Banker, der uns dann erzählt wie die wundersame Geldvermehrung funktioniert. Religionen, institutionalisiert in Kirchen, erzählen uns seit Jahrhunderten, wer Gott ist und was wir zu tun und zu lassen haben, um ein aus ihrer Sicht gottgefälliges Leben zu führen. Dies tat auch einst ein Mönch, der auf einer einsamen Insel lebte und täglich die gleichen Worte rezitierte. Eines Tages wurde dem Abt seines Klosters zugetragen, dass der Mönch unverständliche Worte murmele und sie dazu auch noch unstimmig betone. Daraufhin segelte der Abt mit einigen Gefolgsleuten auf die Insel, um den Mönch zu belehren, wie die Gebete nach den Lehren des Klosters, richtig auszusprechen seien. Nach einigen Tagen, als sie der Meinung waren, dass dem nun Genüge getan sei, segelten sie wieder davon. Wie erstaunt waren sie, als sie den Mönch auf dem Wasser dem Schiff nachlaufen sahen. Er wedelte mit den Armen und rief: „Verzeiht, könnt ihr mir bitte noch einmal den Wortlaut der Gebete wiederholen.“
Vielleicht besteht der Zweck des Lebens einfach darin, die Wirklichkeit durch eigene Erfahrung zu entdecken und nicht den Meinungen und Erkenntnissen von Autoritäten zu folgen.
Untersuchungen haben gezeigt, dass, wenn Computer die Entscheidungen in Firmen übernehmen, diese leichter akzeptiert werden, als wenn Vorgesetzte sie treffen. Einige Teilnehmer meiner Kurse googeln inzwischen, noch während meiner Erläuterungen, das, was ich sage. Die Kontrolle erfolgt sofort und die Autorität hat dann das Internet übernommen. Dies führt häufig zu endlosen Diskussionen wer denn nun recht hat.
In unseren alltäglichen Beziehungen besitzen Meinungsführer einen relativ großen Einfluss auf unsere Entscheidungen. Meinungsführer kann ein jeder von uns sein, der auf einem bestimmten Gebiet über größeres Wissen als die anderen verfügt. Meinungsführer geben Ratschläge und Informationen an jene weiter, die nicht so gut informiert sind und aus diesem Grund auch mehr oder weniger diese als Autorität auf einem Gebiet anerkennen.
Im Zeitalter der modernen Medien breiten sich Informationen zunehmend über die sozialen Medien aus, YouTube und Blogger oder die sogenannten Influencer, die jedoch im Grunde nichts anderes sind als die guten alten Meinungsführer. Für alle Bereiche des Lebens werden hier Ratschläge erteilt und es scheint, dass diese beginnen die alten Autoritäten abzulösen.
Dies ist sicherlich in vielen Bereichen eine wirksame Hilfe bei unzähligen Alltagsangelegenheiten, doch trotzdem macht es Sinn, innezuhalten, zu hinterfragen und unsere eigene Intuition im Auge zu behalten. Die meisten von uns besitzen nicht genügend mathematische und physikalische Kenntnisse, um die Umlaufbahnen der Planeten berechnen zu können. So müssen wir uns auf Menschen verlassen, die die nötigen Kenntnisse besitzen. Wir lassen uns aber auch dadurch einschüchtern, dass von Wissenschaft die Rede ist, und neigen vor unserer wissenschaftsgläubigen Gesellschaft das Haupt.
Vor einigen Jahren verbreiteten zwei Journalisten die Ergebnisse einer Studie mit dem Titel „Schokolade macht schlank“. Diese Studie wurde im renommierten britischen Wissenschaftsmagazin „International Archives of Medicine“ veröffentlicht und verbreitete sich durch Nachrichtenagenturen um die ganze Welt und viele Menschen ließen sich durch dieses seltsame Diätversprechen verführen. Das Kuriose daran war, dass es sich um eine Fake-Studie handelte, mit der die Autoren lediglich aufzeigen wollten, wie leicht es gelingen kann, Unsinn in der Welt zu verbreiten. Sie erstellten eine Homepage, nannten sie „Institute of Diet and Health“, das in Wahrheit nur aus ihnen bestand. Sie informierten sich bei Statistikern, um zu erfahren, welche Kriterien eine gute und aussagekräftige Studie erfüllen muss, um dann im Umkehrschluss eine Studie zu kreieren, die genau diese Kriterien nicht erfüllt. In einem Dokumentarfilm zeigten sie anschließend auf, wie leicht es gelingen kann, nicht nur die Bevölkerung, sondern auch Wissenschaftler und Journalisten hinters Licht zu führen, und dass allein die der Wissenschaft und auch den Medien unterstellte Autorität zu Glaubwürdigkeit verhelfen kann. Zuweilen neigen sogar Wissenschaftler dazu, vorschnell Kausalzusammenhänge herzustellen, ohne sie weiter zu hinterfragen. Und uns fehlt meist sowieso die kritische Analysekompetenz, um Studien zu hinterfragen und die Ergebnisse richtig zu interpretieren.
Selbst die Empfehlungen seriöser Fachleute haben sich hinsichtlich Ernährung und Diäten häufig schon als falsch herausgestellt. So wurden wir drangsaliert, täglich zwei Liter Wasser zu trinken und viele kleine Mahlzeiten zu uns zu nehmen, was unseren Alltag zu einem Kontroll- und Überwachungsmarathon mutieren hat lassen. Zu praktisch jedem Lebensmittel gibt es inzwischen eine Studie, die es entweder als Gift oder als Heilmittel einstuft. Profil- und profitsüchtige Gurus und selbsternannte Gesundheitsapostel beglücken uns mit den seltsamsten Theorien über Ernährung und Diäten.
Influencer können Leute sein, die eine fachliche Autorität besitzen, aber auch Prominente, die uns ihre Geschichte erzählen, mitunter ein Buch dazu schreiben, Seminare anbieten oder in den Medien erklären, wie sie sich mit Spargel und Rosenkohl oder mit Algen, Nüssen und Eiern zu ihrem Wunschgewicht bewegten. So wird ein Diätgeheimnis nach dem anderen gelüftet und der Glaube an die Autorität dieser Personen lässt es uns dann brav auch mal ausprobieren. So reiten wir mit auf der Welle, jagen weiter unserem Wunschgewicht nach, erreichen es vielleicht auch oder auch nicht, hinterfragen aber nie, was wir uns wirklich wünschen und was uns glücklich macht.
Worte können heilen oder töten, wie der in vielen Kulturen praktizierte Voodoo-Zauber zeigt. Die dem Zauberer unterstellte Kompetenz und Macht kann, wie Gary B. Schmid an vielen Beispielen in seinem Buch „Tod durch Vorstellungskraft“ aufzeigt, tatsächlich dazu führen, dass jemand stirbt, obwohl er vollkommen gesund ist. Ein Schamane kann uns davon überzeugen, daran zu glauben, dass wir bald sterben, und dies kann dann tatsächlich auch geschehen. Das nennt man psychogenen Tod. Es funktioniert aber auch in anderer Richtung, wie beispielsweise Selbstheilung durch Vorstellungskraft.
Jeanne Achterberg schrieb einmal: „Vorstellungen werden so bereitwillig in ihre physische Entsprechung umgesetzt, dass der Tod aufgrund einer gefürchteten Diagnose von einem glaubwürdigen Arzt gestellt, ebenso denkbar ist wie der Tod durch Zauberfluch für einen Haitianer.“ In der Geschichte der Menschheit lässt sich gut nachvollziehen, welche Macht Autoritäten über Leben und Tod hatten.
Die Zauberer sind in unserer Gesellschaft zwar etwas abhandengekommen, dafür sind zahlreiche andere Autoritäten an ihre Stelle getreten. So haben vor allem Ärzte eine starken Einfluss auf uns, da wir dazu neigen, ihnen zu glauben. Sie entsprechen zum einen den Erwartungen der Patienten, zum anderen neigen sie aber aufgrund ihrer schulmedizinischen Ausbildung auch dazu, Symptome mit klangvollen lateinischen Bezeichnungen zu belegen. So wird die Betitelung der Beschwerden wichtiger als der Mensch und seine Geschichte, die möglicherweise hinter der Krankheit steckt. Folglich werden Patienten häufig zu einer Statistik und nicht zu einer Persönlichkeit mit einer ganz individuellen Erfahrung von Gesundheit und Krankheit. Diagnosen haben auf Menschen eine starke Wirkung und bestimmen durch den Glauben an die Autorität und Kompetenz des Arztes häufig ihr weiteres Verhalten. Der Glaube an Autoritäten sitzt tief und wenige wagen es, deren Aussagen zu bezweifeln. Für die meisten von uns ist dies einfach zu anstrengend. Wir wollen schnelle Hilfe, Sicherheit, ein Wundermittel, das alle Probleme löst. Deshalb wenden wir uns an eine Autorität, die uns eine Pille gibt, die uns zufrieden stellt. Wir suchen nicht nach der Wahrheit.
Autoritäten geben unserem Leben auch Form und Ordnung, ohne die eine Gemeinschaft und ein Staat nicht existieren könnten. Man braucht sich nur vorzustellen wie es wäre, in einem Staat ohne Polizei und ohne gesetzliche Vorschriften zu leben. Auf der anderen Seite stellen Fachleute Informationen und Wissen zur Verfügung und wir können entscheiden, ob wir es glauben und uns danach richten wollen. Autoritäten bieten uns eine gewisse Beständigkeit, Sicherheit und das Gefühl, geschützt zu sein. Dennoch haben wir auch unsere eigene innere Autorität in Form von Erfahrung und Wissen. Das Wissen der anderen können wir uns zunutze machen, doch wir müssen ihnen nicht blindlings folgen. Dies könnte möglicherweise so enden, wie in der nachfolgenden alten indischen Geschichte erzählt:
Ein Scharlatan, der sich als Meister ausgab, schulte seine Anhänger in absolutem Gehorsam. Eines Tages setzte er sich großspurig vor seine eifrigen Jünger hin, hob segnend die Hand und sagte: „Ich werde euch den Weg zu Gott zeigen, vorausgesetzt, dass ihr meine Anweisungen in jeder Hinsicht befolgt.“ (Seine Lehre hätte kaum einer ernsthaften Untersuchung standhalten können!) Mit fordernder Stimme fragte der Lehrer: „Wollt ihr versprechen, dass ihr mir von diesem Augenblick an in allem genau folgt?“ Wie aus einem Munde ertönte die bereitwillige Zustimmung seines Publikums.
Und so begann der Lehrer mit seinen Anweisungen. „Setzt euch gerade hin!“ Seine zweihundert Anhänger wiederholten im Chor: „Setzt euch gerade hin!“
Bei dieser unerwarteten Reaktion schaute sich der Lehrer um und runzelte die Stirn; die Jünger, die ihrem Lehrer in allem genau folgten, schauten sich ebenfalls um und runzelten die Stirn. Der verärgerte Lehrer begann zu beten; doch jedes Wort, das er sprach, wurde von seinen gehorsamen Anhängern wiederholt. Selbst als er ein Kitzeln in seiner Kehle verspürte und hustete, gab es einen sturmartigen Hustenanfall im Publikum. Da aber wurde der Lehrer wütend: „Ruhig, ihr Narren! Hustet nicht und macht mir nicht alles nach!“ Doch seine gut geschulten Jünger schrien frohgemut zurück:
„Ruhig, ihr Narren! Hustet nicht und macht mir nicht alles nach!“
Was der aufgebrachte Lehrer auch sagte oder tat, seineunvergleichlichen Jünger machten es ihm nach. Seine Würde völlig vergessend, rief er: „Dieser Irrsinn muss aufhören!“ Er holte schwungvoll mit der Hand aus und verpasste einem aus der stupiden Schar eine Ohrfeige. Selbstverständlich taten es die zweihundert Jünger ihm gleich und schlugen sich gegenseitig und auch ihren Meister ins Gesicht.
Jetzt geriet der Lehrer in Panik und versuchte, den von ihm selbst geschulten, hirnlosen Automaten zu entfliehen. Um sich zu verbergen, sprang er in überstürzter Eile in einen Brunnen. Seine gedankenlosen Jünger, die bis zum Ende Gehorsam bewahrten, sprangen auf ihn herab in den Brunnen. So kamen sie in der Tat alle „gemeinsam in den Himmel.“
Ob die Jünger ihrem Meister aus Hingabe, Verehrung oder aufgrund charismatischer Herrschaft folgten, entzieht sich meiner Kenntnis. Der Begriff der charismatischen Herrschaft wurde von dem Soziologen Max Weber erstmals erwähnt. Einem Menschen mit Charisma, das allein aufgrund gewisser Persönlichkeitsmerkmale zustande kommt, kann es gelingen, mit seinen Zielen und Visionen Massen zu bewegen und kollektive Gefolgschaft und Gehorsam zu erzeugen. Die Geschichte ist voll mit Beispielen, sowohl positiver als auch negativer Art. Max Weber war einer der ersten, der mit seiner Theorie dem Bewusstsein einen Einfluss auf biologische Prozesse zugestand. Es lässt sich unschwer nachvollziehen, vor allem, wenn man an die jüngere Geschichte denkt, dass es einem einzelnen gelingt, Massen zu bewegen und Millionen in den Tod zu schicken. Es gibt natürlich auch viele Beispiele aus der Vergangenheit, wie etwa Gandhi oder Martin Luther King, deren charismatische Ausstrahlung dem Wohl der Menschheit diente.
Die Erkenntnis für uns daraus könnte sein, dass wir uns genau überlegen sollten, welcher Autorität wir folgen wollen und ob wir überhaupt einer folgen wollen.
Beziehungen oderNarren streiten, Freunde besprechen ihre Meinungsverschiedenheiten
Vom Verdienst eines Ferienjobs während des Studiums kaufte ich mir mein erstes Auto, einen himmelblauen VW-Käfer. Der Grundnutzen bestand für mich darin, endlich einfacher von A nach B zu gelangen, jedoch war das kaufentscheidende Merkmal die Farbe. Blau ist meine Lieblingsfarbe und himmelblau für ein Auto, das machte das Ganze dann noch besser. Das Modell war ein sogenannter Sparkäfer, hatte schon einige Jährchen auf dem Buckel, jedoch noch zwei Jahre TÜV, was erst einmal genügen sollte. Ich weiß nicht mehr genau, was er gekostet hat, doch mein gesamtes Ferieneinkommen war weg, mein Bruder sponserte den Rest und ich war glücklich.
So begann meine zweijährige Beziehung zu dem Käfer, der im Freundeskreis mittels einer Flasche Sekt auf den Namen Motte getauft und mit diesem Namen auch beschriftet wurde. Motte war der Spitzname, den mir mein längst verstorbener Vater einst gegeben hatte und den ich nun mit dem Auto in Ehren hielt.
Meine Annahme, dass ein Sparkäfer ein Benzinsparer sei, erwies sich als trügerisch. Diese Motte brauchte Unmengen Benzin, zumal er auch noch mit Winterreifen ausgestattet war und mir meine studentischen Mittel keine Sommerreifen erlaubten. Das sparsam bezog sich vor allem auf die Ausstattung, was mir so langsam dämmerte. Das Auto hatte zwar ein Lenkrad, eine Kupplung und eine Bremse, einen Tacho wohl auch, doch leider keine Benzinanzeige. Man weiß sich ja zu helfen und es wurde ein mechanischer, ans Armaturenbrett geklebter Benzinzähler angebracht, den ich mitunter vergaß einzustellen, sodass plötzliches Stehenbleiben erst einmal ein Teil meiner Autofahrten wurde. Doch ich war lernfähig und mit der Zeit gewöhnte ich mich daran.
So pflegte ich die Beziehung zu meinem Auto, wie einst zahlreiche Deutsche in der Wirtschaftswunderzeit, wenn es auch nicht jeden Samstag poliert wurde und der kleinste Kratzer von mir auch nicht als Weltuntergang empfunden wurde, wie von so manchem Autobesitzer.
Hatte ich mich auch endlich an die nicht vorhandene Benzinanzeige gewöhnt, so machte mir zu schaffen, dass die himmelblaue Motte im Sommer heizte und im Winter innen einfror. So saß ich im Sommer bei offenen Fenstern, den Fuß durch das kleine Dreiecksfenster gestreckt, im Auto und im Winter war ich mit einem Eisspray bewaffnet, um wenigstens durch ein kleines freies Loch in der Windschutzscheibe die Straße zu erkennen.
Dies tat meiner Beziehung zu dem Auto jedoch keinen Abbruch und ich litt mit, als ich eines Tages morgens fröhlich wegfahren wollte und feststellen musste, dass jemand in der Nacht sämtliche Autoreifen zerstochen hatte. In der etwas kriminell angehauchten Wohngegend, in der ich damals aufgrund der niedrigen Mieten wohnte, standen zwar noch dicht geparkt zahlreiche andere Autos herum, doch ausgerechnet meines hatte es erwischt. Dies zwang mich dann doch noch zum Kauf von Sommerreifen, was den Benzinverbrauch des Sparkäfers aber nicht wesentlich verringerte.
Nichtsdestotrotz reiste ich mit meinem himmelblauen Käfer durch ganz Europa. Manchmal gab er den Geist auf und blieb aus unerfindlichen oder später in einer Werkstatt erfindlichen Gründen stehen. So blockierte ich ausgerechnet zur Hauptverkehrszeit an einem Karfreitag Nachmittag in einem Kreisel in Brügge den gesamten Verkehr, weil das Bremskabel oder wie man das nennt, genau in diesem Moment riss und meine Motte schlagartig stehenblieb. Die belgische Polizei war äußerst freundlich und organisierte einen Abschleppdienst zur nächsten Werkstatt, die aber über die Osterfeiertage nicht arbeitete, sodass ich meine Besichtigungstour also ohne Auto fortsetzen musste. Um mir dies etwas zu erleichtern, mietete ich mir ein Fahrrad, mit dem ich frohen Mutes meine Tour begann. Es dauerte jedoch nicht lange, da hielt mich der nette Polizist von der Kreiselkatastrophe an. „Sie schon wieder, immer wenn ich Sie sehe, gibt es Ärger.“ Es wäre auch mit einem Fahrrad nicht in Ordnung, die Einbahnstraße zu ignorieren. Es wurde trotzdem ein wunderschöner Aufenthalt in Brügge, auch wenn ich bei der dortigen Polizei wohl keinen besonders guten Eindruck hinterlassen habe.
Mit dem reparierten Auto gelang mir dafür eine problemlose Rückreise und meine Motte funktionierte wieder prächtig. Dies tat sie auch noch, als ich den unförmigen Kinderwagen der damaligen Zeit nebst Tochter auf der Rückbank verstaute.
Leider geht jede Beziehung, wie auch die zu meinem himmelblauen Käfer, einmal zu Ende. Unsere Trennung bestand darin, dass der TÜV fällig wurde, meine Motte den Fahrtüchtigkeitstest nicht bestand und die anfallenden Reparaturen so viel gekostet hätten wie der Kaufpreis, zu dem ich das Auto erstanden hatte. So trennte ich mich schweren Herzens von meinem fahrbaren Untersatz, meiner Motte und übergab sie ihrem weiteren Schicksal. Meine Vorstellung von einer Entsorgung durch eine Schrottpresse erfüllte sich jedoch erfreulicherweise nicht, denn ein Bastler erstand sie und so ist anzunehmen, dass sie noch eine Zeit lang durch die Gegend fuhr.
Wir haben zu allem, was uns umgibt, eine Beziehung. Sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ein Auto oder ein Gegenstand. Im Normalfall ist die Beziehung zu Menschen, wenn man von Beziehung spricht, wohl die uns am bekannteste und vertrauteste.