Alstervergnügen - Ole Albers - E-Book

Alstervergnügen E-Book

Ole Albers

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Beschreibung

Wenn man Sven mit einem Wort beschreiben müsste, würde einem wohl als erstes "Nerd" einfallen: Computerfreak, mehr online als offline und mit starken Defiziten in der Sozialkompetenz. Seine zwischenmenschlichen Kontakte beschränken sich weitgehend auf Gespräche mit anderen Fans bei Heimspielen des FC St. Pauli. Und wenn er den Mund aufmacht, dann schafft er es, möglichst gezielt die Worte zu wählen, die zu einer maximalen Katastrophe führen. Doch so schlimm wie dieses Mal war es noch nie: Sven gerät zwischen die Fronten von Polizei und organisiertem Verbrechen, und jeder seiner Versuche, das Problem zu lösen, macht alles nur noch schlimmer. Und dann ist da noch Jule, die Sven gerade kennen und lieben gelernt hat und deren Leben nur er retten kann. Auch wenn Sven der offizielle Hauptdarsteller von Alstervergnügen ist: Der eigentliche Star der Geschichte ist die Stadt Hamburg und ihre liebenswerten Bewohner.

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Buch

Wenn man Sven mit einem Wort beschreiben müsste, würde einem wohl als erstes "Nerd" einfallen: Computerfreak, mehr online als offline und mit starken Defiziten in der Sozialkompetenz. Seine zwischenmenschlichen Kontakte beschränken sich weitgehend auf Gespräche mit anderen Fans bei Heimspielen des FC St. Pauli. Und wenn er den Mund aufmacht, dann schafft er es, möglichst gezielt die Worte zu wählen, die zu einer maximalen Katastrophe führen.

Doch so schlimm wie dieses Mal war es noch nie: Sven gerät zwischen die Fronten von Polizei und organisiertem Verbrechen, und jeder seiner Versuche, das Problem zu lösen, macht alles nur noch schlimmer. Und dann ist da noch Jule, die Sven gerade kennen und lieben gelernt hat und deren Leben nur er retten kann.

Auch wenn Sven der offizielle Hauptdarsteller von Alstervergnügen ist: Der eigentliche Star der Geschichte ist die Stadt Hamburg und ihre liebenswerten Bewohner.

Autor

Ole Albers, Jahrgang 1973, wuchs in einem kleinen Nest namens Kroge-Ehrendorf in Niedersachsen auf. Nach seinem Schulabschluss in den 80er Jahren floh er vor dem dörflichen Leben in die Großstadt, ins ferne München, wo er seine schriftstellerische Karriere als Redakteur der kultigen Videospielmagazine "Amiga Joker" und "PC Joker" begann. Doch schon bald begann das große Sterben der Spielemagazine und er entschied sich zähneknirschend für eine seriöse Ausbildung und ist nun als Software-Entwickler aktiv.

Seit etwa 20 Jahren ist der Autor nun in Hamburg als Software-Entwickler tätig, frönt seiner schriftstellerischen Leidenschaft jedoch weiterhin durch Blogs und dem Verfassen von Testberichten im Games-Bereich. "Alstervergnügen" war sein erster veröffentlichter Roman.

Content-Warnung

In diesem Roman geht es u.a. um Missverständnisse, die durch fälschlicherweise angenommene Suizidgedanken entstehen. Im Kontext dieses Romans führt das (hoffentlich) zu lustigen Situationen.

In der wirklichen Welt mit wirklichen Problemen kann es aber sehr schnell bitterer Ernst werden. Wenn du damit Probleme hast, leg das Buch bitte beiseite.

Es ist ein Zeichen von Stärke und nicht von Schwäche, wenn du Hilfe annimmst.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Epilog

Kapitel 1

Suicide is painless

Suicide is painless

It brings on many changes

and I can take or leave it if I please

[Johnny Mandel]

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das stimmt« murmelte Sven kaum hörbar, während er sich ein Stück vom Burger abschnitt.

Er saß im "Jim Block" am Jungfernstieg, der Hamburger Variante einer hochpreisigen Burgerkette. Inventar und Produkte waren deutlich teurer als bei der typischen amerikanischen Konkurrenz, was aber nichts daran änderte, dass Touristen und Einheimische den Fresstempel in Scharen bevölkerten.

Wie immer war es schwer gewesen einen freien Platz zu ergattern. Dies führte dazu, dass Sven sehr eng neben fremden Menschen zu sitzen hatte, die nicht immer nur angenehme Zeitgenossen waren. Seine Gesprächsthemen sorgten zudem meist dafür, dass er auch hier keine neuen Freunde fand, sondern der eine oder andere sich sogar erschüttert von ihm abwandte und dem Begriff "Fastfood" alle Ehre machte.

Nicht wenige aßen ihr Essen in Rekordzeit auf, um so schnell wie möglich Svens Gesprächen zu entkommen.

Sven gegenüber saß Dätlef, der sich längst daran gewöhnt hatte, dass Sven hin und wieder - oder seien wir ehrlich: meistens - ziemlich sinn- und zusammenhangloses Zeug von sich gab. Dätlef hinterfragte Svens Ausführungen in der Regel nicht weiter, sondern nahm sie einfach kommentarlos hin, wie es echte Kerle eben tun.

Kein echter Kerl war dagegen Dätlefs Verlobte Sophie. Mit ihren langen blonden Locken und ihrer Körpergröße von knapp über 1,50 Meter wirkte sie wie eine leicht geschrumpfte Version von Claudia Schiffer.

»Was stimmt nicht?« fragte sie, während sie im vegetarischen Salat herumstocherte1.

Dätlef seufzte kaum hörbar. Es konnte nichts Gutes dabei herauskommen, wenn man das ungeschriebene Gesetz zwischen Jungs, das sich am einfachsten mit einem schlichten "Frag nicht nach!" beschreiben ließ, brach.

Insbesondere nicht bei Sven.

Dätlef hieß natürlich nicht wirklich Dätlef. Seine Eltern hatten sich vielmehr für den etwas weniger seltsamen Namen Detlef entschieden. Allerdings war Dätlef ziemlich homophob erzogen worden. Wobei "homophob" vielleicht das falsche Wort ist. Denn Dätlef war ein toleranter Mensch. In Svens und Dätlefs Freundeskreis gab es auch ein paar Jungs, die mehr auf andere Jungs als auf Mädchen standen, und Dätlef hatte damit kein Problem, im Gegenteil: Es verringerte die Konkurrenz. Die Angst, die das Wort Phobie impliziert, war etwas anderes. Es schien ihm sehr wichtig zu sein, dass niemand, aber auch wirklich niemand, glaubte, er selbst könne etwas anderes als stockhetero sein.

Ob es an seiner dörflichen Herkunft lag oder an anderen Gründen, ist leider nicht dokumentiert und konnte von Sven auch nicht in Erfahrung gebracht werden. Auf jeden Fall ist Detlef kein guter Name, wenn man der Welt beweisen will, dass man auf keinen Fall schwul ist. Und so waren die ersten Worte, die Detlef zu Sven sagte, als sie sich auf einer Party an der Uni kennenlernten: »Hallo, ich bin Detlef. Ausgesprochen "dÄtlef", nicht "dEEtlef".

Man könnte meinen, das sei eine ziemlich merkwürdige Begrüßung, und wahrscheinlich hat man damit auch recht. Für Dätlef war es aber eine ganz normale, weil er der Meinung war, dass nur ein Detlef mit langem "E" wie in "Schnee" furchtbar schwul klingt, während echte Kerle eher wie "Hattrick" klingen.2.

Sven reagierte nun etwas irritiert auf Sophies Gegenfrage. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass jemand auf sein lautes Nachdenken reagieren würde; Das machte ja sonst auch nie jemand.

Auch er seufzte leise wie Dätlef kurz zuvor. Irgendwie war alles viel einfacher, wenn er allein mit seinem Kumpel unterwegs war.

»Ich meine, dass Selbstmord schmerzlos ist«, erklärte Sven seine Aussage: »Das glaube ich einfach nicht. Welche Selbstmordmethode ist denn wirklich schmerzlos?«

Dätlef hörte nur halb zu. Während des Studiums hatten Sven und er viele Stunden in der gemeinsamen WG-Küche vor dem Fernseher verbracht, während andere - heute beruflich erfolgreichere - Studenten so spannende Vorlesungen wie "Materialfluss und Logistik" oder "Business English" besucht hatten. Diese Vorlesungen fanden teilweise sogar am Freitagnachmittag statt! Das war ein Unding und müsste eigentlich durch die Genfer Konventionen verboten werden.

Zu dieser Zeit lief auf dem ehemaligen Hausfrauensender "9 Live" in einem kurzen überraschenden Anfall von Qualität täglich die Serie "M*A*S*H", deren Erkennungsmelodie "Suicide is Painless", übersetzt: "Selbstmord ist schmerzlos" von Johnny Mandel war. Sven, Dätlef, ihr Kumpel Benny und zwei weitere Mitbewohnerinnen verpassten - wenn sie nicht gerade versehentlich in eine Vorlesung gerieten - kaum eine Folge und versammelten sich stets in voller WG-Stärke in der kleinen Küche, um auf das windschiefe IKEA-Regal "Albert" zu starren.3 Der Hauptgrund, auf das Regal zu schauen lag dabei natürlich an dem alten Röhrenfernseher, der dort aufgestellt war, die Belastungsgrenzen des Regals deutlich auslotete und in kühner Verachtung der physikalischen Gesetze die amerikanische Anti-Kriegs-Serie über den Koreakrieg zeigte anstatt mitsamt des Regals zusammenzubrechen.

»Ich meine: Nimm mal an, du erhängst Dich. Da kann doch fast alles schief gehen. Zu langer Strick und der Hals reißt ab; Zu kurz und du röchelst zwölf Stunden an der Lavalampe im Schlafzimmer.«

Dätlef wollte schon einwenden, dass Lavalampen gar nicht an der Decke hingen und daher zum Aufhängen eher ungeeignet seien, von der runden Form ganz zu schweigen, doch er überlegte es sich anders, als er seine Verlobte ansah.

Sophie reagierte zunächst gar nicht, sondern hörte nur sprachlos zu. Ein Bild, das Dätlef leider nur selten zu sehen bekam. Wieder seufzte er leise, diesmal aber wie ein alter Norweger, der seit zehn Stunden mit der Angelrute am Geirangerfjord sitzt und endlich die erhoffte Ruhe hat, einen kapitalen Barsch aus dem Wasser zu ziehen, nachdem das Aida-Kreuzfahrtschiff mit den nervtötenden Touristen endlich abgelegt hat.

Es war der perfekte Moment. Ruhe. Stille. Harmonie.

Nur Sven musste leider die Stille füllen und den Moment zerstören: »Und was ist mit erschießen? Kopf? Herz? Ganz sicher ist keines davon und schmerzlos doch garantiert auch nicht.«

Er biss noch einmal in den Burger, um gleich darauf zu fragen: "Was noch? Ach ja: Von der Brücke springen? Toll. Kein garantierter Tod und wenn es nicht klappt, dann macht es richtig "Aua"! Eine Kohlenmonoxidvergiftung in der eigenen Garage ist sicher auch nicht berauschend. Na ja, berauschend schon, aber...«

Sven fuchtelte mit den Armen: »Ihr wisst schon, was ich meine! Zudem müsste man sich schnell entscheiden. Wenn wir erstmal alle Elektroautos fahren, ist es Essig mit dem Selbstmord in des deutschen liebsten Kind. Überhaupt: Als echter Öko fällt das ja schon mal komplett flach. Wieviel CO2darf ein Selbstmord eigentlich kosten? Der eigene Exodus auf Kosten des Waldsterbens?«

Sven redete sich richtig in Rage, während Dätlef die Durchzugstaktik – dank Sophie perfektioniert – anwendete: Es war nicht nur so, dass er so tat, als wenn er das alles nicht hören würde, die Worte gingen tatsächlich durch ihn hindurch, ohne dass sein Hirn Anstalten machte, die Worte zu verarbeiten. Sven hätte ebenso russisch oder chinesisch sprechen können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Dätlef musste nur unter allen Umständen dem Reflex widerstehen, in regelmäßigen Abständen »Ja, Schatz« einzuwerfen.

Sophie hingegen hörte genau hin und vergaß sogar in ihrem Grünzeug herumzustochern.

»Eine Guillotine ginge vielleicht. Ja, das wäre möglicherweise was. Das könnte schmerzlos sein, wenn es schnell genug ginge. Aber wer hat denn schon so was zu Hause? Gibt's die bei eBay? Oder gibt es eine Anleitung zum selber bauen bei Hornbach? Jeden Scheiß findest du im Internet! "Mein Kampf" von diesem komischen Ösi mit Runenfetisch harmonisch vereint auf dem gleichen Internetserver wie "Das Kapital" von dem unlustigsten der Marx-Brothers. Und nur zwei Klicks weiter tolle Bombenbau-Anleitungen im "Anarchists Cookbook" in der Cloud. Aber wenn man mal eine Guillotine braucht ist natürlich keine da.«

Sven musste seine wilden Gedankengänge kurz unterbrechen, um Messer und Gabel beiseite zu legen, das letzte Drittel des Burgers mit beiden Händen zum Mund zu führen und kräftig hineinzubeißen. Sein Mund war einfach nicht multitaskingfähig.

Hätten sich Sven und Dätlef heute einfach allein in den Burgertempel gesetzt, wäre die Geschichte spätestens jetzt zu Ende. Sie, liebe Leserinnen und Leser, hätten das Buch zuklappen können und sich fragen können, was zum Teufel Sie geritten hat, für diese paar Seiten so viel Geld auszugeben. Die Schriften der Scientology gibt es für weniger Geld - inklusive aller Stufen der Erleuchtung, von Ron Hubbard persönlich signiert und mit einem Vorwort von Gene Roddenberry.

Aber diesmal war etwas anders: Sophie saß mit am Tisch. Und das macht die Geschichte viel länger und komplizierter. Für Sie als Leser mag das ein Vorteil sein, aber Sven hätte sicher gerne darauf verzichtet. Es kann aber auch sein, dass weder Sie noch Sophie wirklich etwas dafür können und es nur eine Frage des Karmas ist. Dann hätte das Schicksal einfach einen anderen Weg gefunden, Sven zu malträtieren, wenn Sophie nicht den Anstoß gegeben hätte. Also keine Sorge: Ihrem eigenen Karma geht es weiterhin gut.

»Darüber macht man keine Scherze«, sagte Sophie leise, »du solltest wirklich mit jemandem reden, wenn du über so etwas nachdenkst.«

»Das mache ich doch gerade«, erwiderte Sven gut gelaunt und aß seinen Burger.

In diesem Moment schaltete sich Dätlef wieder ins Gespräch ein: »Schlaftabletten könnten gehen. Autsch!«

Der Schrei gehörte eigentlich nicht zu seiner geplanten thematischen Ausführung, sondern war der Tatsache geschuldet, dass Sophie ihm einen kräftigen Tritt vor das linke Knie verpasst hatte. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass die Sitzgelegenheiten am Tisch der drei eher an Barhocker erinnerten und in ihrer Unbequemlichkeit das klassische Fastfood-Motto "Wir freuen uns, dass ihr da seid, aber bitte verpisst euch sofort, wenn ihr aufgegessen habt" vermittelten.

Wahrscheinlich wäre Sophie bei dieser Aktion nach hinten gekippt, wenn sie nicht durch den Rücken eines anderen Gastes in dieser Legehennengastronimie daran gehindert worden wäre.

»Jetzt gib ihm nicht auch noch Tipps«, fauchte sie ihren Verlobten verärgert an.

Sven grinste über beide Backen, während Dätlef nur leicht den Kopf schüttelte: »Das meint der doch nicht ernst!« Sein Blick sagte: »du weißt doch, was für ein Spinner der Sven ist.«

»Na, wer weiß!«, goss Sven sichtlich amüsiert Öl ins Feuer.

Sven hatte gut lachen. Er wusste genau, dass Dätlef jetzt ein paar sehr anstrengende Stunden vor sich hatte, in denen es vor allem um diesen völlig durchgeknallten Typen namens "Sven" gehen würde. Aber so macht man das unter guten Freunden: Man schaut, dass man nicht zu leicht durchs Leben kommt.

Sven spülte den letzten Bissen seines Burgers mit etwas Cola hinunter. Er unterdrückte ein Bäuerchen und stand auf. Sophie und Dätlef taten es ihm gleich (Aufstehen, nicht Rülpsen unterdrücken) und die drei schlurften auf den überfüllten Jungfernstieg. Dort verabschiedete sich Sven von den beiden.

Diese Verabschiedung bestand wie immer aus einem möglichst kurzen Satz wie »Bis Denne«, »Tschö mit Ö«, einem klassischen Hamburger »Tschüss« oder anderen mehr oder weniger kreativen Worten. Sven setzte auch diesmal wieder zu einem entsprechend geistreichen Kommentar an, wurde aber an der kurzen Abschiedszeremonie gehindert, weil Sophie ihn völlig überraschend umarmte und mit einer Stimme »Machs gut« sagte, als würden sich die beiden nie wiedersehen.

Sven war über diese Reaktion reichlich irritiert, zuckte dann aber mit den Schultern und schlenderte zur nächsten U-Bahn-Station, während Dätlef den Rest des Tages eine schlecht gelaunte Begleiterin durch völlig überteuerte Boutiquen nahe der Binnenalster begleiten musste.

Und schlechte Laune war bei Sophie meistens teuer.

1 Man könnte meinen, dass Salate sowieso meistens vegetarisch sind, aber da Vegetarier in einem Fastfood-Restaurant ungefähr so häufig sind wie Antilopen in einer Löwenfamilie, gab es deutlich mehr nicht-vegetarische als fleischlose Salate. Sven war das völlig egal, denn er aß sowieso kein Grünzeug. Sophie dagegen nahm die ganze Vegetariergeschichte ziemlich ernst. Vielleicht war sie auch gar keine Vegetarierin, sondern Veganerin, das hatte Sven nie so richtig herausgefunden. Aber es hatte ihn auch nie wirklich interessiert. Und auch ihr Verlobter Dätlef war sich da nicht so sicher.

2 Ja. Im Wort "Hattrick" kommt kein "Ä" vor. Das weiß Sven und das weiß auch Dätlef. Aber dieses feine Argument hat Dätlef nie von seiner grundsätzlichen, wenn auch orthographisch falschen Argumentation abbringen können.

3 Nein, es gibt kein Regal namens "Albert" bei IKEA. Aber die WG fand, dass es eines geben sollte. Und das dieses Regal genau wie ein Albert aussah

Kapitel 2

Das Herz von St. Pauli

Das Herz von St. Pauli, das ist meine Heimat.

In Hamburg, da bin ich zu Haus.

Der Hafen, die Lichter, die Sehnsucht

begleiten

das Schiff in die Ferne hinaus.

Das Herz von St. Pauli, das ruft mich zurück,

denn dort an der Elbe, da wartet mein Glück

[Hans Albers]

Sven war tatsächlich weit davon entfernt, sich etwas antun zu wollen. Das wäre ihm irgendwie auch viel zu anstrengend gewesen. Und Sven hasste übertriebene Anstrengungen.

Seine Gemütslage war allerdings wirklich nicht die Beste: Beruflich hing er fest; Damals beim Einstellungsgespräch als Internetprogrammierer und Webdesigner bei der schicken Werbeagentur in der Hamburger Innenstadt mit perfekter U-Bahn- und vor allem Burgerladenanbindung war ihm das kollegiale Klima deutlich wichtiger als das Gehalt gewesen. Mittlerweile würde etwas mehr Kohle aber auch nicht unbedingt schaden. Und so wirklich bewahrheitet hatte sich das mit dem "Bei uns ist alles total locker" auch nicht. Blöderweise schienen Internetprogrammierer auf Bäumen zu wachsen, dementsprechend bekam man auch das Gehalt von dressierten Affen. Eigentlich hatte er mit seinen 32 Jahren beruflich deutlich weiter sein wollen.

Als wäre das nicht schon schlimm genug, hing sein Gemütszustand auch noch direkt vom Erfolg des FC St. Pauli ab. Und der war gerade nach einem kurzen Gastspiel im Fußball-Oberhaus sang- und klanglos wieder in die zweite Liga abgestiegen. Zu allem Überfluss war auch noch der Trainer des FC St. Pauli, Holger "Stani" Stanislawski, zum seelenlosen Konkurrenten Hoffenheim gewechselt, und nun sollte es ausgerechnet ein Paderborner richten. Wenigstens war der genauso kahlköpfig wie sein Vorgänger: In der aktuellen Situation war man für jedes gute Omen dankbar.

Aber das alles war zumindest für den Moment egal, denn an diesem Wochenende überwog die Vorfreude: Das erste Heimspiel nach der elend langen Sommerpause stand an.

Sven schnappte sich sein Nerdphone und rief seinen Kumpel Benny an. Zumindest versuchte er es, denn obwohl das weiße Schmuckstück mit dem angebissenen Apfel auf der Rückseite ihn unglaublich flüssig durch die Weiten des Internets führte, quittierte es den Versuch, seinen Kumpel anzurufen, mit einem Totalabsturz. Sven war weder überrascht noch sauer.

»Kein Mensch kauft ein iPhone zum Telefonieren«, sprach er zu sich selbst.

Sven war ein Nerd und irgendwie fast stolz darauf. Zum Telefonieren hatte er ein uraltes Klapphandy aus der Zeit, als Handys noch Handy und nicht Smartphone hießen und polyphone Klingeltöne das einzig Moderne waren, was Handys außer Telefonieren und Simsen noch konnten. Dieses Telefon funktionierte eigentlich immer, was ihm aber in der konkreten Situation nicht viel half, denn dummerweise hatte er es mal wieder zu Hause vergessen.

So blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Telefon aus-und wieder einzuschalten und mehr oder weniger geduldig zu warten, bis es wieder zum Leben erwachte.

Wenige Minuten später, während Sven weiterhin auf dem Bahnsteig am Jungfernstieg auf die Einfahrt der U1 wartete, war das Telefon hochgefahren. Er startete die Chat-App und schickte ein »Alter, wo biste?« an "TurntableMotherfucker", was wiederum in der realen Welt dazu führte, dass sein Kumpel Benny am heimischen PC eine Nachricht auf dem Bildschirm bekam. Und zwar genau das von Sven eingetippte "Alter, wo biste? Das wiederum war zwar das gewünschte Ergebnis, aber in dieser Situation relativ nutzlos, denn Benny war gar nicht zu Hause, sondern mit der Deutschen Bummelbahn auf dem Weg nach Hamburg.

Nach 15 Minuten ohne Reaktion von Benny schrieb Sven eine weitere Mitteilung in die Chat-App: »Alter! Ich warte!«

Fast gleichzeitig rief Benny bei Sven an. Dadurch war der Klingelton "Hells Bells" zu hören, allerdings wiederum ausgerechnet nicht von Sven. Zum einen natürlich, weil er sich mittlerweile in der U1 befand, die proppenvoll war und Sven von einem entsprechenden Lautstärkepegel umgeben war. Hauptsächlich jedoch, weil es das Klapphandy in seiner Wohnung war, welches klingelte. Theoretisch hätte das Smartphone, mit dem er die Textmitteilung schrieb auch mit "Hells Bells" klingeln und damit den Anruf ankündigen können; im Gegensatz zum Polyphon-Gedudel seines Klapphandies sogar in kristallklarem Stereo. In seiner Wohnung loggte sich das Telefon sogar über jede Menge Nerdspielzeug automatisch in die Stereoanlage ein und brachte dank Dolby Digital und Subwoofer die Nachbarn bei jedem Anruf zunächst zum Erzittern und anschließend zur Weißglut.

Doch was in der Theorie gut funktioniert hätte, scheiterte in der Praxis daran, dass Sven die Telefonfunktionen seines Smartphones deaktiviert hatte, damit es nicht wieder abstürzte. Außerdem funktionierte die Chat-App dadurch deutlich besser.

Alle Kommunikationsversuche scheiterten daher auf der ganzen Linie. Benny und Sven waren sich sowohl in ihrer Gelassenheit als auch in ihrer Unfähigkeit, aus eingefahrenen Mustern auszubrechen, sehr ähnlich. Doch während Svens Gelassenheit auf einer "egal, ob es klappt"-Mentalität beruhte, war es bei Benny eine deutlich positivere "das klappt bestimmt"-Einstellung. Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - ging bei den beiden selten etwas wirklich schief.

So kam es also, dass Benny und Sven sich mehr oder weniger zufällig an der U-Bahn-Station Feldstraße4 nahe dem Stadion des FC St. Pauli trafen.

Nun, ganz zufällig war die Begegnung von Benny und Sven natürlich nicht, denn ihr gemeinsames Ziel war das Millerntor-Stadion. Dort wollten sie die neue Fußballsaison mit einer ordentlichen Portion Astra einläuten.

Als sie sich am Ausgang der Feldstraße trafen, war es für sie das Normalste der Welt, obwohl keine Kommunikation wirklich funktionierte. Typische Dialoge wie »Wenn wir uns verlaufen, treffen wir uns am Riesenrad« hatten beide noch nie in ihrem Leben ausgetauscht und würden es wohl auch nie tun. Obwohl es in diesem Fall sogar geklappt hätte, denn es war mal wieder "Dom" unweit des St. Pauli Stadions, der fast ganzjährigen Kirmes im Herzen Hamburgs.

Das gerade erlebte Kommunikationsfiasko wurde nur am Rande erwähnt. Obwohl: Indirekt gab es eine recht ausführliche Diskussion darüber. In erster Linie ging es aber darum, dass Sven ein »völlig überteuertes Smartphone von einer Firma mit Gestapo-Methoden« (Apple, Argumentation von Benny) besaß, während Benny »billigen China-Schrott ohne echte Standards« (Android, Argumentation von Sven) dabei hatte. Diese Diskussion war eher ein Ritual als ein echter Streit. Beide Gesprächsteilnehmer brachten mehr oder weniger stichhaltige Argumente für das eigene und gegen das andere Telefon vor. Dabei überwogen die weniger sinnvollen Argumente bei weitem, ebenso gab es deutlich mehr Argumente gegen das Telefon des anderen als für das eigene.

Es gab nur ein Gentlemen's Agreement, sofern man bei Nerds von Gentlemen sprechen kann: Abstürze beim Telefonieren wurden nicht erwähnt. Beide waren sich in diesem Punkt einig, dass das Telefonieren ein völlig vernachlässigbares Feature eines Smartphones sei. Dies lag vor allem daran, dass beide mit ihren Geräten Probleme mit Funktionen außerhalb des Internets hatten und dass sie, wenn sie Telefonieren als wichtiges Kriterium akzeptieren würden, zugeben müssten, mehrere hundert Euro für etwas ausgegeben zu haben, das weniger kann als die alten Nokia-Handys, die bei eBay keine zehn Euro kosteten.

Das Gespräch wäre ohnehin schnell beendet gewesen, denn zum einen hatten die beiden wie immer in der Nähe des Millerntor-Stadions keinen Empfang und zum anderen waren sie nicht zum Telefonieren hier, sondern um das Eröffnungsspiel des FC St. Pauli gegen den FC Ingolstadt zu sehen. Wie nicht anders zu erwarten, waren sie mit dieser Idee nicht wirklich allein, sondern ein Horde meist braun-weiß gekleideter Fans strömte wie die Lemminge aus der U-Bahn.

Benny und Sven bogen nach rechts auf das Domgelände ab. Auf der linken Seite erhob sich der riesige Bunker auf dem Heiligen-Geist-Feld. Sven achtete kaum noch auf die vielen kleinen Fahrgeschäfte, Bierstände und T-Shirt-Verkäufer, während er sich dem Tempo der Menge anpasste. Den Weg über den matschigen, aufgeweichten Boden zur Gegengeraden hätte er auch mit geschlossenen Augen gefunden.

Benny hielt noch kurz an einem Süßigkeitenstand, um sich überteuerte Mandeln zu kaufen. Er orderte 200 Gramm in einer Papiertüte und gab dem Verkäufer ein paar Münzen. Der Verkäufer wünschte ihm noch ein "Gutes Spiel", während er ihm die Mandeln über den Tresen reichte. Sven drängte: Es war zwar noch eine Stunde bis zum Anpfiff, aber als Fan kommt man nicht auf den letzten Drücker. Schon gar nicht, wenn man einen guten Stehplatz ergattern will.

Sven schnappte sich ungefragt ein paar von Bennys Mandeln.

»Bäh. Nicht mal warm« protestierte er.

Benny zuckte nur mit den Schultern, was so viel heißen sollte wie: »Hallo? Was erwartest du? Wir sind hier auf dem Dom! Nur weil die Dinger 5 Euro gekostet haben, kann man nicht erwarten, dass sie schmecken!«

Im Stadion angekommen, reihten sich Benny und Sven in die Schlange vor dem Eingang zur Gegengerade ein. Es ging nur schleppend voran, während Benny sich hauptsächlich mit seinen gebrannten Mandeln beschäftigte und Sven mit den Umstehenden darüber diskutierte, ob die Heimat des neuen Trainers, Paderborn, wirklich existiere oder nicht doch eher ein Hoax sei, wie Bielefeld.

Als sie sich endlich nach vorne durchgekämpft hatten und das obligatorische Abklopfen durch die Ordner überstanden war, reihte sich Sven erneut in die Schlange der Vergnügungssüchtigen ein, um sich im Stadion eine Bratwurst auf Pappschachtel und zwei Astra in Plastikbechern zu ordern. Sven versuchte ein wenig Konversation zu betreiben, indem er erwähnte, dass er noch nie so hübsche Wurstverkäuferinnen gesehen habe wie hier am Millerntor. Obwohl es in diesem Fall keine Anmache war, sondern eine ehrliche, von Herzen kommende Bemerkung, ging die Verkäuferin nicht weiter darauf ein. Das hatte sie schon zu oft gehört. Und meistens war es nur ein dummer Anmachspruch.

Sven kämpfte sich weiter zum Senfspender und drückte eine ordentliche Portion auf den Pappdeckel der Bratwurst. Dann schlurfte er zu Benny zurück, der schon sehnsüchtig auf sein Bier wartete. Mit dem Bier in der einen und der Bratwurst in der anderen Hand gingen Sven und Benny zur Treppe, die zu den Stehplätzen hinunterführte. Sie stiegen bis zum Zaun hinunter, bogen ein paar Meter nach rechts ab und nahmen ihren Stammplatz auf Höhe der 16-Meter-Linie ein. Sven lehnte sich an die massive Metallstange, die die Zuschauer freundlicherweise vor dem Umfallen bewahren sollte und mit verschiedenen Aufklebern beklebt war.

Durch das Anstehen vor dem Stadion und Wursttheke waren es nur noch wenige Minuten bis zum Anpfiff. Hastig biss Sven in die Bratwurst. Denn spätestens bei Spielbeginn musste man als Fan die verschiedenen Hymnen mit vollem Einsatz mitsingen. Und wenn dabei Bratwurststücke auf die Tribüne segelten, erhöhte das die Sympathie nicht im Geringsten. Von der Wurst auf dem Spielplatz ganz zu schweigen.

Im Gegensatz zu den Mandeln, die Benny bereits vor dem Eintritt ins Stadion verdrückt hatte war Svens Bratwurst heiß wie die Hölle. Sven bekam kaum noch Luft, als er den letzten Bissen herunterschlang und dabei fast die Kehle verbrannte. Schnell trank er einen kräftigen Schluck Bier hinterher. Er zerknüllte die Pappe der Bratwurst und ließ sie auf den Boden fallen.

In dem Moment ertönte auch schon "Hells Bells". Diesmal aber aus keinem klappbaren oder Telefonie unfähigen Handy, sondern aus den Stadionlautsprechern. Die Boys in Brown liefen ein und um Sven herum brach die Hölle los.

»Scheiße, habe ich das gebraucht, Alter!« brüllte Sven gegen den Lärm an, während er Benny mit dem Plastikbecher, außen geschmückt mit dem Konterfei des Trainers, innen gefüllt mit frischem Bier, zuprostete. Benny erwiderte lachend: »Scheiß Plörre, euer Astra, aber muss man ja trinken hier!«

Das war jetzt nicht unbedingt ein Ice-Breaker bei den anderen Fans, die sie auf der Gegengerade eng gestaffelt umringten, aber außer ein paar freundlichen Worten wie »Heckenpenner« gab es keine weitere Reaktion aus dem direkten Umfeld.

Während Benny im Stadion also ungefähr so viele Sympathiepunkte sammelte wie ein Hansa-Rostock-Fan im HSV-Dress, ging es auf dem Platz richtig zur Sache. Kapitän Fabian "Boller" Boll hämmerte zwei Mordsdinger ins gegnerische Tor und Sven artikulierte etwas mühsam: »Wir steigen direkt wieder auf, Alter! Und dann werden wir Meister!«

Das war zu diesem Zeitpunkt etwas schwierig zu verstehen, da Benny in der Zwischenzeit mehrmals Bier holen gegangen war.

Benny fand das zuvor noch so verschmähte Bier offensichtlich auch nicht mehr so furchtbar, denn er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Freundlicherweise wurde er durch ein menschliches Wesen gestützt, welches - da war sich Benny relativ sicher - vermutlich weiblich war und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit "Lene" hieß.

Nach dem Abpfiff blieb Sven noch eine ganze Weile im Block stehen, sang zusammen mit den anderen gut 20.000 Fans das obligatorische "You'll never walk alone" und feierte den hochverdienten Sieg5 seiner Mannschaft, bis die Ordner ihn schließlich aufforderten, das Stadion zu verlassen. Benny kam der Aufforderung nach, packte Sven am Kragen und zog ihn zusammen mit Lene aus dem Stadion. Die drei folgten den anderen Tausenden von Fans und trotteten zielstrebig am Stadion vorbei, immer geradeaus, bis sie schließlich die Reeperbahn erreichten. Vorbei am Operettenhaus am Spielbudenplatz unterhielten sie sich angeregt über das erlebte Fußballspiel.

Mehrere Besucher in Abendgarderobe blickten teils interessiert, teils etwas befremdet auf den nicht enden wollenden Strom von St. Pauli-Fans, die in wenigen Metern Entfernung lautstark ihre gute Laune demonstrierten. Eine ältere Dame in einem weiten schwarzen Kleid umklammerte instinktiv ihre Handtasche fester.

Verärgert bemerkte Sven die Handbewegung und schritt dicht an sie heran:

»Gute Frau! Was fällt Ihnen ein. Nur weil wir hier mit Schal und Trikot unterwegs sind, heißt das noch lange nicht, dass wir Kriminell sind und ihre Handtasche entwenden wollen. Sie sollten sich was schämen! Schließlich sind Sie zu Gast in unserem Viertel und nicht umgekehrt! Denken Sie mal darüber nach!«

Gut. Das wollte Sven sagen, aber er merkte selbst, dass der Alkoholpegel diese Ausführung in ein einziges Lallen verwandelt hätte, was seiner Argumentation ziemlich geschadet hätte. Also entschied er sich für die Kurzfassung und streckte der Dame einfach die Zunge heraus.

Das Ziel seiner Geste wich erschrocken einen Schritt zurück, während ihr Begleiter erschüttert nach seinem Smartphone griff. Bevor es endlich eingeschaltet war, hatte Benny seinen Kumpel aber längst gegriffen und weitergezerrt. Der Mann entschied vernünftigerweise, dass es keinen Sinn machte, die Polizei zu rufen, nur weil jemand vor ein paar Minuten seiner Frau die Zunge herausgestreckt hatte. Er steckte das Telefon wieder in die Tasche und ging mit seiner Frau schnellen Schrittes zum Eingang des Operettenhauses. Es war später ziemlich ärgerlich für ihn, dass er sich nicht daran erinnerte in der Pause das Telefon eingeschaltet zu haben. Das Musical "Sister Act" verträgt sich einfach nicht mit dem Crazy Frog.

»Lene? Was issn das fürn blöder Name?« nuschelte Sven zu Benny, als die drei nur wenige Meter weiter im "Hörsaal" gelandet waren und den Sieg feierten. »Und was zum Teufel machen wir in einem Cocktailschuppen?«

Die zweite Frage war nicht ganz unberechtigt. Der "Hörsaal" war eigentlich eher ein Studententreff mitten auf der Reeperbahn. Stilistisch konnte man sich nicht sicher sein, ob das Interieur aus den 80er oder 90er Jahren stammte oder vielleicht sogar komplett vom Sperrmüll geklaut war. Für die Bar sprachen eindeutig der Kicker, der direkt vor den Toiletten stand, und die gemütliche Sitzecke, die im Halbkreis vor ein paar meterhohen Lautsprechern aufgebaut war. In zwanzig Jahren würde Sven sich wahrscheinlich dafür verfluchen, aber im Moment war es ziemlich cool, sich ohne Umwege das Trommelfell vaporisieren zu lassen.

Allerdings konnte Sven mit Cocktails grundsätzlich nicht viel anfangen, vor allem seit er nach einem "The Big Lebowski"-Filmabend in ihrer WG mit "White Russian" ziemlich böse abgestürzt war. Normalerweise war Benny auch eher der Bier- als der Cocktailtyp, nicht zuletzt, weil er - wie eigentlich alle Beteiligten der White Russian/Lebowski-Situation - keine guten Erinnerungen an Wodka und Milch hatte. Aber heute gab es plausible Gründe für seine Anwesenheit im Hörsaal:

»Also erschttens finde isch Lene einen wirklisch beschaubernden Namen, zweitens ist das doch ganz nett hier und drittens« beugte Benny sich vor und lallte direkt in Svens Ohr: »will isch die Kleine in die Kischte kriegen!«

Nun, es gibt gutes Timing, schlechtes Timing und hundsmiserables Timing. In diesem Fall war es eindeutig letzteres, denn in dem Moment, als Benny seinem Freund seine tiefsten Gefühle offenbarte, stoppte die Musik und der halbe Schuppen, Lene natürlich eingeschlossen, konnte seine "In die Kiste Kriegen"-Begründung hören.

Während der potenziellen "Kisten-Teilnehmerin" langsam die Gesichtszüge entglitten, versuchte Benny (erfolglos) die Situation zu retten:

»He, Lene. Hör doch mal«

»Ich habe bereits sehr gut gehört!« erwiderte die Angesprochene mit knallrotem Kopf, während Sven sich - der Situation völlig unangemessen - kaputtlachte: »He, Lene! verstehst du? He-Lene! Helene!«

Mit einem etwas geringeren Alkoholpegel hätte Sven eventuell bemerkt, dass dies

1. nicht wirklich witzig war,

2. es ziemlich erbärmlich ist, sich über einen Namen lustig zu machen,

3. es eine reichlich blöde Idee ist, eine stinkwütende Frau auch noch zu verarschen

und

4. Lene diesen Witz exakt 1.743 Mal in ihrem Leben gehört hatte.

(Ohne Svens Einsatz. Nun also inklusive dessen Erwähnung 1.744 mal)

Lene reagierte wenig damenhaft und rammte Sven ihre Faust ins Gesicht.

Sven musste anerkennen, dass sie einen ziemlich kräftigen Schlag für ein Mädel von einem Meter siebzig hatte, die sich auf knapp 70 Kilo verteilten. Mehr noch als Anerkennung verspürte Sven jedoch den Schmerz. Dennoch konnte er nicht aufhören blöde zu lachen, so dass Lenes Reaktion und auch der Schmerz dem Spaß doch einigermaßen angemessen waren.