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Diese zweite Veröffentlichung von "Alte Geschichten aus Lingen Band II" ist Ergänzung und Fortsetzung des ersten Bandes. In vorliegender Schrift erzählt der Autor neben Geschichten aus unserer Stadt, auch von Reisen mit der Bahn und dem Flugzeug. Berke unterhält mit Witz und Phantasie. Was ist Wahrheit, was ist Dichtung? Dies festzustellen bleibt dem Leser überlassen. Aus Gründen des Datenschutzes wurden einige Namen verändert.
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Seitenzahl: 142
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Aufregung über mein Buch
Im Badezimmer
Der Trockenschrank
Peinlich
Vor langer Zeit
Weihnacht 2001
Unser Kirschbaum
Im Biener Busch
Meine Brille
Wer hat den Kuchen vergiftet?
Katrin Semmelweiß
Reisen mit der BuBa
Das Hochwasser 1946
Liesa und Miesa
Der Weihnachtskarpfen
Doktor Frank Breidendiek
Früher
Mein erster Flug
Logistik Otto
Die Verbesserung
Ein letzter Schluck
Als erster war mein alter Schulkumpel Helmut an der Reihe. Was ich denn mit solch einem Buch wolle? Heimreise in die schlesische Grafschaft Glatz! Die schreiben jetzt alle solche Bücher. Alles Revanchisten, ist doch klar, und du, damit war ich gemeint, bist auch ein solcher! Eindeutig, schläfst bei den Revanchisten im Heemtehäusla und was noch viel schlimmer ist, du schreibst für den Grafschafter Boten! Ihr Wessis bekommt den Hals nicht voll und was zahlt dir denn der Bote? Die Geschichte von Heinzendorf, der Lichterabend bei der Kapelle, der Heinze hat sogar den Zement vom Westen mitgebracht, obwohl es in der Grafschaft genug gibt!
Ich hatte von dem Herrn die Nase voll! So habe ich ihm einen E-Mail-Brief geschickt, darin vermerkt, dass ich es kindisch finde, derart miteinander umzugehen. Er hatte mir einige „Bilderscheiben“, wie er diese Produkte nannte, zugesandt, wohl in der Hoffnung, dass ich diese Erzeugnisse vermarkten würde. Alles sandte ich ihm zurück. Er war ein ehemaliger DDR-Bürger, gelernter Tischler, dann Briefträger mit sehr viel Zeit und dem Hobby Fotografie. Ich fühlte mich wirklich beleidigt und habe ihm mitgeteilt: „... wir sollten unsere briefliche Verbindung trennen, da nur Verletzungen entstehen ”
Er hat mein Schreiben verstanden und sich nicht wieder gemeldet.
Irgendwie bin ich neugierig und wollte wissen, was denn Revanchist bedeutet. Laut Duden ist das jemand, der eine Revanchepolitik vertritt, ein russisch-kommunistischer Begriff. Wenn das schon der Duden schreibt, dachte ich bei mir, und ordnete meinen lieben Helmut gedanklich neu ein.
Inzwischen hatte ich das Ei gelegt, mein Buch war endlich erschienen. Es begann sich gut zu verkaufen und erste Leserstimmen überzeugten sogar mich von meiner Schreiberei. Ein nicht seiner Heimat beraubter Diplom Ingenieur schrieb: „Selten habe ich ein Buch in den Händen gehalten, das so realistisch, erfrischend und wahrheitsgetreu geschrieben wurde, man kann einfach nicht aufhören zu lesen. Es ist gleichermaßen für die junge Generation und die, welche die Zeit miterlebt haben. Man kann dem Autor nur danken für so eine schriftstellerische Leistung. Mit viel Humor und Ernsthaftigkeit sind die Erlebnisse auf den Punkt gebracht. Ein Buch, das viele interessieren wird.“
Es dauerte nicht lange, da schlug die nächste Bombe ein, eine Verwandte beschwerte sich, dass ich ihren Vater beleidigt hätte, er war Parteigenosse, na, ja, ich in meiner Ehrlichkeit hatte geschrieben „zwei, drei Onkel waren in der Partei“. Bei immerhin 16 Geschwistern meiner Mutter war das nicht so viel. Auch waren noch weitere, andere Druckschriften bei ihrem Brief.
Sie hat sich viel Mühe gegeben, mir auf vier eng beschriebenen Seiten die Leviten zu lesen, mir erklärt, dass ich der „Feindpropaganda“ erlegen wäre und schließlich alles ganz anders gewesen wäre. Das versuchte sie an Hand von Zitaten von Churchill, deutschen Stimmen und auch natürlich von total falsch dargestellten Medienberichten zu belegen. Didaktisch geschult, politisch nazifixiert und auch nicht ohne Häme!
Nun, ich habe die Belehrung geschluckt. In der Familie waren wir uns einig, diesen Schrieb zu ignorieren.
Nach einiger Zeit wurde ich gebeten, im hiesigen Seniorenstift zu lesen. Schließlich wären im Haus viele Vertriebene. Ich freute mich auf diesen Termin, denn es war bei den alten Herrschaften immer sehr lustig, wie ich aus Erfahrung wusste. Am 10. Februar bummelte ich mit meinem Auto hin, traf eine Viertelstunde vor Beginn ein und war erstaunt, dass der Vortragsraum voll war. Dann mal zu, dachte ich, und begann mit meiner Lesung. Die Zuhörer waren sehr aufmerksam und ich meinte, es würde vor Spannung im Raum knistern. So nahm ich aus meiner Leserei etwas Tempo heraus, machte eine Kunstpause und siehe da, schon meldete sich ein jüngerer Herr aus den vorderen Reihen:
„Ich muß Ihnen etwas erzählen. Vor kurzem habe ich mit einer polnischen Dame gesprochen, einer Frau Doktor. Sie behauptete Breslau war immer polnisch, die Deutschen sind 39 in die Stadt einmarschiert und 45 haben die Polen die schlesische Hauptstadt zurückgewonnen. Das habe sie in der Schule in den 70er Jahren gelernt und nie eine andere Geschichte gehört!“
In diesem Moment erhob sich ein wesentlich älterer Herr aus der Reihe hinter dem Berichterstatter, fuchtelte drohend mit seinem Krückstock gegen den Redner und schrie:
„Sie da, hören sie sofort auf! Das ist alles Scheiße, was sie da sagen! Ganz einfach, wir haben den Krieg verloren!“
Dann drehte er sich um, schwang noch einmal seine Krücke und stieß hervor:
„Hitler ist Schuld, der hat angefangen!“
Ehrlich gesagt, ich war schon etwas verdattert, konnte nur sagen:
„Meine Herren, meine Herren, ganz ruhig bleiben!“
Im Raum wurde es mulmig, ich dachte an Saalschlacht, denn der jüngere Berichterstatter hatte einen ganz knallroten Kopf bekommen, war aufgesprungen und wollte hinter dem Krückenmenschen her. Es ging noch einmal gut, ich las meinen Schluss und beendete den Vortrag mit:
„Ich denke, auf eine Diskussion können wir verzichten, die hatten wir schon!“
Einige Damen kicherten und in den folgenden Tagen hörte ich von der tollen Lesung im Seniorenstift. Die Heimleitung rief bei mir an und bestellte einige Exemplare meiner Schreiberei.
Rrriiirr, rrrrrr, dieser blöde Wecker, patsch, ein auf’n Kopp, halt die Schnauze, kannst mich mal, dreh mich um, schnarche weiter, Mann bin ich müde, wie spät mag es sein? Kann nichts sehen.
„Wie spät iss’n das?”
Rrrach, schnarch, rrrach.
„He Gisela, wie spät iss’n das?”
„Was iss? Was iss’n jetzt schon wieder? Hab so schön geträumt!”
“Wie spät es ist!“
Mann, kannste mich nicht schlafen lassen? Mitten in der Nacht! „Halbfünf! Gib endlich Ruhe! ”
„Ich steh auf, wenn ich nur nicht so müde wäre, aber der Flieger geht schon um acht von Hamburg, also, ich muß raus.”
Hoch. Wälz mich aus dem Bett, so von rechts über den Rücken nach links, Beine über die Seitenkante, hochgezogen, ächz, werde auch immer älter. Ab ins Badezimmer, Licht knallt in meine Augen, seh kaum was, Brille ist irgendwo. Klooooo, Mann das tut gut, weiter, Waschbecken, Zahnputzglas aus dem Schränkchen, brrrittt, knall, wummms, klirr, Schiete, das ist hinüber. Die Scherben liegen im Waschbecken, kein Gefühl in der rechten Hand, schläft wohl noch. Wiederholung, Glas zwei, es klappt, Bürste zwischen die Zähne, Meridol im Maul, schmeckt mir nicht, gurgle Odol hinterher, wird etwas besser.
Rasieren, ach ja, jetzt geht’s los, muß die Brille holen, irgendwo im Schlafzimmer.
„Gisela, Mensch komm hoch, der Flieger wartet nicht!”
Taste, taste auf dem Nachttischchen umher, endlich Brille, ah, das hilft, seh wieder!
„Ich komm schon, mach auch ein Ei!”
Na bitte, wenn’s um die Fliegerei geht, ist meine Liebste immer dabei! Wieder zurück in’s Bad. Langsam werd ich munter. Rasieren! Schaumdose raus, schütteln, abstellen, halbheißes Wasser an Hals, Kinn, Wangen, Nase und Ohr. Schaum in die Fresse. Bin nicht gut heute Morgen, sah vorhin schon so alt im Spiegel aus! Pass nicht auf, volle Ladung vom weißen Zeug in den Mund, schmeckt nach Seife, na endlich, alles voller Weiß, jetzt wag ich es. Neue Klinge in den Apparat! Auf geht’s, rechts oben, ab nach unten, andere Seite, läuft gut, mit dem neuen Schneider!
„Willst du ein Ei oder zwei?” tönt es in mein Badezimmer. Autsch, das war’s, geschnitten, blute sofort wie eine alte Sau!
„Mensch, musste mich so erschrecken! Bin gerade beim Rasieren, hab mich geschnitten, blute wie ein Schwein, werd’ nicht mitfliegen können.” „Stell dich nicht so an, nimm den Stift und still das Blut! Also eins oder zwei?”
„Natürlich nur eins, wie immer! Aua, das brennt wie Feuer! Mann tut das weh! “
Langsam hört es auf zu bluten. Schmier mir neuen Schaum in’s Gesicht, zieh um die Wunde vorsichtig herum, bin fertig, jetzt noch Rasierwasser, nur ein paar Tropfen in die Hand, dann auf die blanke Haut, es brennt wie in der Hölle, ich hüpfe von einem Bein auf das andere, es tut gut und duftet so schön und ich bin nun richtig da, wieder so richtig hell und klar und freu mich auf den neuen Tag und auf Amerika!
Sie waren drei Mädchen, zwei Jungen und ich, mit meinen 28 Lenzen, ich sollte das junge Volk ausbilden. Sie wollten Fotolaboranten werden.
Die älteste der weiblichen Gruppe war Inge. Nett, lieb, hübsch und ich muss gestehen, wie beide waren ganz schön verliebt. Sie war meine Assistentin, ging mir zur Hand, wie Fräulein Wisniewsky immer wieder bemerkte und ich konnte sie wirklich für alle Tätigkeiten einsetzen.
Erika, unser Pferdeschwanzmädel, war 16 Jahre alt. Ihr Vater, ein Witwer, hatte seine Einzige mir zur Ausbildung anvertraut. Sie war im letzten Lehrjahr, im Zweiten, denn für den Anlernberuf waren nur zwei Ausbildungsjahre vorgeschrieben. Sie war zart gebaut, hatte einen etwas dunkleren Teint, ihre Augenbrauen und ihre Haare waren dunkelbraun, schon fast schwarz. Sie hatte viel Temperament, war fast immer lustig und hellwach. Ihr Vater war Schlesier, Heimat-Vertriebener. Ebenso die Familie unseres Chefs. Sie kam aus Langenbielau und ich stammte aus der Grafschaft Glatz.
Die andere hieß Christin, sie hatte ihren Abschluss der Mittelschule, keinen Lehrvertrag abgeschlossen, sondern hospitierte nur für ein Jahr bei uns. Sie hatte sich an der Fotoschule in Kiel angemeldet und wollte bei uns nur sehen, wie Bilder gemacht werden. Es war eine ganz Feine, Stille, in sich Zurückgezogene. Sie wurde in der Gruppe nicht heimisch. Sie hatte schwarze Haare, schwarze Augenbrauen und trug fast immer nur schwarze Gardarobe. Sie sah alles, sie hörte alles, doch sie sprach kaum. Mit fast 18 Jahren war sie für die jüngere Erika schon eine kleine Respektsperson.
Hans-Peter war Lehrling, ebenfalls im zweiten Jahr. Seine Leistungen in der Volksschule, heutzutage spricht man von Hauptschule, waren nicht so toll. Sein Vater, ein Berliner, hatte bei Axel, dem Sohn des Hauses, um die Lehrstelle gebettelt. Bald musste der Junge zur Laborantenprüfung. Er war nicht groß, sicherlich nur um ein Meter sechzig, hatte sehr große Ohren und steckte immer voller dummer Streiche. Die Labormädchen neckten ihn gern.
Valentin, ein 16-jähriger, vervollständigte die Belegschaft. Er war im ersten Lehrjahr. Fast ein Meter achtzig hoch, bückte er sich immer, wenn er in die Dunkelkammer schlurfte. Er war etwas pummelig, hatte rötliche Wangen wie frische Äpfelchen und vom Verstand eine etwas längere Leitung. Mit Erika bemühte er sich um die Entwicklung der Filme in völliger Finsternis, in der Dunkelkammer.
Damals, ich denke es war am Ende der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, werkelten wir schon ein, zwei Jahre in unserem neuen Fotolabor. Die Räume lagen im Keller des Hauses an der Tecklenburger Strasse. Unser Seniorchef hatte das Gebäude gedanklich entworfen. Leider war er vor der Fertigstellung verstorben. Seine Witwe und sein Sohn sorgten dann für die endgültige Her-stellung des Hauses. Der alte Herr hatte einen großen Keller, unser Labor, eingeplant. Dieses bestand aus den Räumen Filmentwicklung, Kopierraum und Tageslichtraum.
Drogerien aus Papenburg, Spelle, Freren, Salzbergen und Neuenhaus sandten uns ihre Kundenaufträge per Post. Unser Seniorchef hatte die Kollegen über den Drogistenverband angeworben. Die eingehenden Mengen waren sehr unterschiedlich, vor allem von der jeweiligen Jahreszeit abhängig. Die so genannte Saison begann im Mai, in der Regel mit dem Pfingstfest und endete im Herbst Ende Oktober. Weihnachten brachte einen hohen Auftragseingang, denn schließlich wurden die Lieblinge der Kunden beim Geschenkauspacken geblitzt. Amüsante Ablichtungen entstanden von Muttis in neuer Reizwäsche vor dem Tannenbaum. Natürlich mussten alle Fotoapparate, alle weihnachtlich neuen, billigen Knipskästchen, die vom Christkind kamen, ausprobiert werden. Die Kleinbildfotografie eroberte immer größere Marktanteile und wir wurden im Betrieb mit 36er- und 24er-Filmen zugeschüttet. Bevor das neue Labor einsatzfähig war, werkelten wir in zwei Räumen an der Gerhardstrasse. Dort war alles einfach, man kann sagen primitiv. Curt Wisniewsky, unser Seniorchef, hatte einen Aufbaukredit in Höhe von fünftausend Mark erhalten. Davon wurden die ersten Geräte angeschafft und eine gewisse Aufregung machte sich in der Firma bemerkbar, als sich eine Kontrollkommission anmeldete. Die Herrschaften kamen und ich führte ihnen die einzelnen Teile, die sie auf einer Liste mir unter die Nase hielten, vor. Alles erfolgte peinlich genau und da eine Filmklammer im Wert von 2 DM fehlte, musste ich im Fixiertank so lange stochern und fischen, bis ich sie wieder fand.
Nun, das war im alten Betrieb, jetzt ging es der Firma schon wesentlich besser und wir bekamen einen Trockenschrank, von dem Hersteller Kindermann, für Filme im Kellerlabor aufgestellt. Bis zu dieser Zeit trockneten wir die schwarz-weißen Zelluloidstreifen an der Luft. Als Schrankzubehör wurden Filmstangen mitgeliefert. Es waren Rahmen aus Nirostastahl an denen drei Rollfilme oder aber fünf Kleinbildstreifen befestigt werden konnten. Es passten jeweils vier Halter in den Schrank. So konnten in einem Durchgang zwanzig Kleinbild- oder zwölf Rollfilme sauber, ordentlich, ohne Fliegen- oder Wespenknabbereien in einer guten halben Stunde trocken werden.
Diese feststehenden Mengen pro Filmrahmen ergab die Organisation. In einem dafür hergerichteten Holzkästchen konnten die vorbereiteten Filme sortiert werden. Diese Arbeit übernahm Peter. Er packte die Postsendungen aus, versah jede Dose, jede Rolle, mit einer doppelten Papiernummer, von der wurde der zweite Teil auf dem Arbeitsbeutel aufgeklebt. War das Behältnis voll, so standen 20 Kleinbildfilme in vier Reihen zu fünf Stück hintereinander. Jeweils passend für einen Filmrahmen. Drei Rollfilme in vier Reihen ergaben eine komplette Halter, die aber nie mit Kleinbild gemischt wurden. Beide Arten konnten nur getrennt verarbeitet werden.
Das gefüllte Kästchen wurde in eine lichtdichten Durchreiche gestellt, die Tür geschlossen und die zweite Klappe in der Dunkelheit von innen geöffnet. Eine Signalgebung erfolgte durch Klopfzeichen. Dreimal von außen gegen die hölzerne Tür im Tageslichtraum gepocht, bedeutete, vorbereitete Filme sind in der Schleuse. Die beiden Helfer hingegen polterten sechsmal an die Innentür der Dunkelkammer, wenn fertig entwickelte Bilderstreifen für die Trocknung auf Rahmen in der Durchreiche hingen. Peterle, wie ihn die Mädchen nannten, reckte sich dann und nahm mit Mühe die nassen Filme aus der Lichtschleuse und hing diese in den Trockenschrank. Dieser Prozess von der Abgabe des Gutes in die Dunkelkammer und bis zum Empfang der fertigen Filme dauerte ungefähr vierzig Minuten und konnte bei Hochbetrieb durch geschicktes arbeiten zum Entwickeln von drei Partien in der Stunde gesteigert werden. Die Zeit im Entwickler betrug sechs bis sieben Minuten, im Unterbrecher bis zu zwei und im Fixierbad zehn Minuten. Die letzte Wässerung sollte zwanzig Minuten dauern. Wenn die erste Partie im Wasser war, konnte die nächste in den Entwickler getaucht werden. Das erfordert genaues und schnelles arbeiten und war die Aufgabe von Erika und Valentin.
Im November war nicht viel los. Es kamen nur wenige Aufträge herein und die meiste Arbeitszeit verging mit Putzen, Aufräumen und Unterrichtung der Auszubildenden, die noch Lehrlinge genannt wurden. In einer Laborecke standen zwei leere sechzig Liter Korbflaschen, in denen Essigsäure, der Grundbestandteil für das Unterbrecherbad, aufbewahrt wurde. Die Behälter sollten schon längst abgeholt worden sein, doch sie waren anscheinend in Oldenburg in der pharmazeutischen Großhandlung vergessen worden. Ich gab Erika den Auftrag, die Flaschen mit einem Handkarren zur Bahn zu bringen und diese dort als Leergut per Fracht nach Oldenburg zu senden. Erika erledigte den Auftrag ohne Widerspruch, doch am nächsten Tag polterte ihr Vater die Treppe zum Labor hinunter, riss die Tür auf und beschimpfte mich in übelster Weise. Lump, Verbrecher, Mörder und was weiß, ich brüllte es mir entgegen. Ich hätte das Mädel bei Nebel mit einem Handwagen durch den Verkehr zum Bahnhof geschickt! Ich war total verblüfft, war mir keiner Schuld bewusst, zumal der Weg bis zur Güterabfertigung über die sichere Bahnrampe verlief. Der Mann war fast nicht zu bremsen. Erika war auch das Einzige was er hatte, denn seine Frau war in den Wirren der Nachkriegszeit in Schlesien umgekommen. Irgendwann hatte er sein Pulver verschossen und verschwand wieder. Als ich dies unserem Juniorchef Axel erzählte, meinte dieser, den Kerl zeigen wir wegen Beleidigung an! Beim Schiedsmann backte der Herr kleine Brötchen, entschuldigte sich bei mir und gab mir einen 20-DM-Schein als Sühne, so wie der Schiedsmann es angeordnet hatte.
Das alte Jahr verging und es kam der Frühling. Irgendwie entstand der Plan, Valentin in den April zu schicken. Alle wussten Bescheid, nur der Kandidat war ahnungslos. Am frühen Morgen begann ich im Labor zu schimpfen, irgendwer hätte das Kopierpapier durcheinander geworfen. Alle Gradationen waren angeblich vermischt und wir konnten nicht arbeiten. Großer Ärger, Kosten, Papier nur wegwerfen und so weiter. Inge kam und sagte, ich soll mich nicht aufregen, mit der Gradationswaage könnten wir die einzelnen Arten schnell auseinander halten. Also bat ich die Mitarbeiter, mir die Waage zu bringen. Alle brachen in Hektik aus, aber das Gerät war nicht zu finden. Cristien meldete sich und behauptete, sie wäre in der Drogerie zum goldenen Becher am Markt. Also sprach ich Valentin an:
„Du siehst, was hier los ist! Wir brauchen die Gradationswaage! Sie muss im Geschäft sein, Inge Wisniewsky hat sie ausgeliehen. Also, schwing dich auf dein Rad und hohl sie her!”
Sicherheitshalber fragte ich nach:
„Was sollst du hohlen?”
„Das Gradiatonsding”, kam die Antwort.
Ich habe ihm dann das Wort eingetrichtert und ihm noch einen Zettel mitgegeben, darauf schön aufgemalt das Wort: Gradationswaage.