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Dieser zweite Band der Reihe Erinnerungen an zu Hause enthält Notizen, Berichte, Buchauszüge des Grieben Reiseführer, familiäre Erzählungen, romanhafter Entwurf über eine zur Festungshaft verurteilte Dame. Als Ergänzung zum Band I vermittelt diese Veröffentlichung zeitgenössische Erlebnisse besonders in der frühen Nachkriegszeit von 1945/46.
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Seitenzahl: 165
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Die Reise nach Landeck
Mein Schulkamerad Pesenacker
Im Moor von Ostfriesland
Aus dem Leben meiner Mutter
Meine Tante Liese
"Geschichten aus dem Alten Schlesien“
Plan: Umgebung von Bad Kudowa
HEIMATLOS in der FREMDE
"Erinnerungen an Glatz"
Bilder von Glatz
Kinder des Ehepaares Rupprecht aus Niederhannsdorf bei Glatz
Zwei Kapellen
Bekanntmachung
Meine Geschwister
Luzia
Plan Bad Reinerz und Umgebung
Geheim-Räthin Charlotte Sophie Elisabeth Cristiane Ursinus
Bildet Bad Altheide
Autor Joachim Berke
Paul hing im Halbschlaf im Sessel eines Autobusses. Qualvolle Erinnerungen marterten den Heimatvertriebenen. Er ärgerte sich, in dieses Fahrzeug eingestiegen zu sein. Grete, seine Frau, hatte ihn überredet. Sie, die Westdeutsche, wollte die Heimat ihres Mannes kennen lernen. Nach Osten rollte das Vehikel, zurück in die Jugend von Paul, in seine Kindheit.
Eine Ahnung vom Morgen des kommenden Maientages hing knapp über dem Horizont spiegelnd im Betonband der Autobahn. Langsam erwachten einzelne Reisende aus ihrem Dämmerzustand. Achtundzwanzig Frauen und Männer, ein zwölfjähriger Junge und Rainer, der Reiseleiter, hatten sich Otto, dem Busfahrer, anvertraut. In der Zeit der Spendensammlung für notleidende Polen des Jahres 1988 hatten sich die Reisenden aus unterschiedlichen Gründen dieser Fahrt angeschlossen. Einige von ihnen wollten die Menschen kennen lernen, denen die mitgeführten Altkleider geschenkt werden sollten. Andere nutzten die Gelegenheit erstmals einen Ausflug in die Schrecklichkeit des Sozialismus zu machen. Manche von ihnen interessierten sich für Land und Leute und für die Historie und vielleicht auch für die Kultur. Wenige waren dabei, die ihre einstige Heimat wiedersehen wollten. Die sogenannten Flüchtlinge oder Heimatvertriebenen, die Besitzer des Vertriebenen Ausweises A, sie, die ihre verlorene Seele suchten. Der Reiseleiter Rainer Krause und dessen Mutter Anna gehörten zu den Schlesiern. Auch Krauses Sohn Markus sollte das Land der Vorfahren kennen lernen. Obwohl er auf fremder Erde, im Westen, nahe der Grenze zu den Niederlanden geboren worden war, hoffte seine Großmutter Anna, dass Klein-Markus, entsprechend der Forderungen der Vertriebenenverbände, ebenfalls in den Besitz der begehrten Urkunde, des Ausweises A, gelangen würde. Von Generation zu Generation würde so der Status weitergereicht werden. Bis in ferner Zukunft die Schlesier wieder daheim wären, dann könnten sie die Ausweise wieder abgeben. Paul, auch er besaß dieses Dokument, stellte sich den neuen Schlesier als eine Mischung von Menschen mit unterschiedlichstem Erbgut vor. Bis die Leute Kehr ich einst in meine Heimat wieder singen würden, vergingen sicher mehrere Menschenalter. Dann würden Nachkommen zurückfluten, die aus den Vorfahren der Niedersachsen-Bayern-Schwaben-Schlesier entstanden. Schweizer-Österreicher-Italiener-Türken-Schlesier wären denkbar. Nicht zu vergessen, die Amerikaner-Vietnamesen-Thailänder-Kenianer-Schlesier und die reinen, allerreinsten
Schlesien-Schlesier mit einem Hauch von polnischem, russischem oder niederländischem, vielleicht auch französischem oder brabantischem Blut. Dieses ganze Gemisch würde die Reste des alten Lebenssaftes der Horden Tamerlans und Dschingis Khans, von gotischen Kriegsmännern und slawischen Soldaten auffrischen.
Das Gehirn von Paul dämmerte in der Vergangenheit weiter. So dachte er an die Silinger, die es schon seit eineinhalbtausend Jahren nicht mehr gibt. Diese zogen damals nach Afrika und auch die Wandalen, die Krieger der Zeitenwende, die mit den Silingern das Land an der Oder bewohnten, wanderten aus. Sie zerstreuten sich und vermischten sich mit anderen Völkern. Von Osten kommend sickerten in den entstandenen Leerraum Slawen ein.
Später, im 10. Jahrhundert, gelangte das Christentum über das heutige Tschechien, in die Gebiete jenseits der Elbe. In der folgenden Zeit versuchten Böhmen und Polen in kriegerischen Auseinandersetzungen die Vorherrschaft zu erlangen. Im Jahr 1137 fiel der größte Teil des Glatzer Berglandes im sogenannten „Pfingstfrieden“ an Böhmen. Eigentlich gab es damals noch keine nationalen Hoheitsgebiete. Weder kannte man die Begriffe Polen, Deutschland, noch Böhmen, Mähren oder Tschechien, sondern nur Lehngebiete von Kaiser und Königen. So wurden große Teile des heutigen Polens und Tschechiens durch die Przemyslidenherrscher Boleslav I. erst 950 unter Kaiser Otto dem Großen in lockerer Form in das Reich eingegliedert. Im Hochmittelalter wurden politische Veränderungen fast ausschließlich von einzelnen Fürsten durchgesetzt. 1218 nach Christi verfasste der Bischof Vinzenz Kadlubek seine Chronica polonorum. In diesem Werk tauchen zum ersten Mal die Be- griffe Polen für das Land und Piasten für die Herrscher auf. Das sogenannte polnisch-schlesische Herrschergeschlecht stammte von einem Bauern aus Kruschwitz ab. Dieser hatte einzelne Stämme vereint. Im Laufe der Zeit lösten sich die Piasten von der polnischen Vorherrschaft. Sie führten ihre Fürstentümer in die unabhängige Selbständigkeit. Heinrich I. gelang nach Löschung der polnischen Senioratsverfassung im Jahr 1202 die Loslösung seines großen Fürstentums. Sein Sohn Heinrich II. verteidigte sein Reich gegen die Mongolen. Er starb auf dem Schlachtfeld der Walstatt bei Liegnitz 1241. Nur durch den Tod des Mongolenfürsten Ogedei in fernen Osten wurde der Ansturm der wilden Horden gestoppt. Sie mussten zurück, um einen neuen Großkhan zu wählen.
Paul kam hier sein Geschichtspauker Fritsch in den Sinn. Mein Gott, was konnte dieser die Dramatik des Treffens zwischen den schnellen Reiterhorden des Orients und den schwerfälligen Rittern des Abendlandes schildern! Muss das mal daheim nachlesen, dachte er sich, auch von der Heiligen Hedwig. Die Mutter des Kämpfers Heinrich II. wird, wie er, auch von den heutigen Polen verehrt. Dreißig- oder vierzigtausend Gefallene sollen auf dem Schlachtfeld gelegen haben. Nach der Legende hatte die Heilige Hedwig den Kopf ihres Sohnes, getrennt vom Leichnam, am Abend der Schlacht gefunden. Brrrrr, Paul fröstelte es.
Zur Sicherung der weltlichen Fürstentümer und kirchlicher Besitztümer wanderten später germanischstämmige Siedler ein, die sich mit den ansässigen Slawen vermischten. Klöster, Städte und adelige Grundherren sandten zur Anwerbung Lokatoren in die Landstriche westlich der Elbe. Es waren ausgesuchte Männer, sie kannten die örtlichen Verhältnisse des zu besiedelnden Landes, Fachleute für Ackerbau, Recht und Ortsgründung. In dem für die Siedler unbekanntem Land waren diese Mittler, Helfer, Rechtsberater und Gründer. Oft kauften sie den alten Grundherren Land ab, um es danach den Neuankömmlingen in Huben, eine Landeinheitsgröße, die das Auskommen einer Familie sicherte, wieder zu verkaufen. Viele Neugründungen erhielten den Namen des Lokators, wie zum Beispiel: Petersdorf, Waltersdorf, Kunzendorf, Heinzendorf. Oft wurden auch abgewandelte west-elbische Ortsnamen aus den Heimatgebieten der Siedler verwandt. Die Sage des Rattenfängers von Hameln soll als volkstümliche Schilderung der Menschen-Anwerbung entstanden sein. Die Einwanderer vermischten sich mit den Alteingesessenen. So entstanden in den nächsten Jahrhunderten die Schlesier.
Inzwischen war Paul hellwach. Der Bus torkelte von einem in das andere Schlagloch der deutschen, demokratischen und republikanischen Autobahn. Noch bestimmte der real existierende Sozialismus zwischen Lübbenau und Cottbus das Leben hinter dem Eisernen Vorhang. Der Schlesier sortierte die wenigen, zur Kenntnis genommenen Eindrücke der Nacht. Erst Helmstedt mit der Fahrt im gleißenden Scheinwerferlicht durch die Mauer. Zehn oder sogar zwölf betonierte Fahrbahnen eingeengt von zementierten Leitplanken, graue Wachhäuser beidseitig den Autostrom kanalisierend. Vopos, Volkspolizisten mit Verkehrskellen, Waffen, Spiegeln an langen Stangen, die zum Absuchen der Autos von unten dienten. Die Kerle hatten verschlossene, brummig verkniffene Gesichter Es waren stattliche Männer, genährt von Wurst volkseigener, landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften und dem vielen Bier aus Brauereien, die ebenfalls dem Volke gehörten. Zwei von diesen Kriegern durchstöberten das Innere des Autobusses, verlangten die Pässe der Fahrgäste, stellten überflüssige Fragen und forderten Grete auf, ihren aufnahmebereiten Fotoapparat zu verpacken. In unserer Deutschen Demokratische Republik wird nicht fotografiert und erst recht nicht auf der Transitstrecke! Basta! Später dann, kurz nachdem das Fahrzeug vom Berliner Ring am Schönefelder Kreuz auf das Autobahnstück E 36 gefahren war, erschütterte Lärm donnernder, schnell folgender Explosionen die Luft. Ein riesiger, sich dunkel gegen nachtdämmrigen Himmel abhebender Düsenbomber startete quer über die Straße hinweg. Acht gewaltige Düsentriebwerke schoben, eine kerosinstinkende Wolke verpesteter Luft hinter sich lassend, den Vogel in die Höhe. Bei der strategischen Luftüberwachung des sozialistischen Brudervolkes der UDSSR begann die Morgenschicht. In der Gegend von Lübbenau stand eine Wolke von rußigem, schwarzem Qualm über vielen Schloten und Türmen am nord-östlichen Horizont. Dort verheizten die republiksozialistischen Henneckes im Akkord den Boden ihres volkseigenen Vaterlandes. Das Braunkohlenkombinat „Schwarze Pumpe“, vielleicht lautete sein Name auch „Ernst-Thälmann-Kombinat“, verstromte torfige Kohle. Strom für Leben, aber auch jede Menge Dreck, Ruß, Schwefel und Gift für das Sterben von Mensch und Tier.
Jetzt, nachdem die Sonne über den riesigen Feldern der LPGs schwebte, auch ab und zu halbverfallene Häuser in der Ferne sichtbar wurden, musste Paul mal Wasser lassen. Es war um die übliche Zeit in der Frühe eines jeden Tages. So erhob er sich, stolperte nach vorn bis zum ersten Sitz neben Otto, den Fahrer. Dort gähnte Rainer Krause in den Morgen und wurde so richtig wach, als er vom Heimatvertriebenen angesprochen wurde. Also Pipi wolle er machen, der Herr Schlesier, da solle er sich doch mal an Otto halten, denn der fahre ja den Bus. Geht jetzt nicht, meinte der Fahrzeuglenker, ist hier verboten, Transitstrecke, müssten warten, bis ein versteckter Parkplatz kommen würde. Einige Reisende hatten den Wortwechsel mitbekommen. Dem allgemeinen Gemurmel war zu entnehmen, dass sie alle mal müssten, die Blasen voll waren und wann nun endlich Pinkelpause wäre. Rainer Krause wurde ganz unruhig, er begann über Mikrofon den Leuten zu erklären, dass man hier nicht halten könne. Doch die Unruhe verstärkte sich immer mehr. Rainer wusste, dass Paul gut reden konnte und deshalb drückte er diesem das Mikro mit der Aufforderung, er solle für Ruhe sorgen, in die Hand.
„Guten Morgen, meine Damen und Herren“, begann dieser sogleich zu quasseln, „unser Reiseleiter hat mich gebeten, Ihnen etwas zu erzählen, damit Sie abgelenkt werden. Es sind nur noch ein paar Kilometer bis zum Rastplatz, also haben Sie Geduld und ich hoffe, dass Sie gut geschlafen haben.
Mein Name ist Paul. Meine Frau heißt Grete, und wir wohnen nun in Lingen im Emsland. Krause, wie unser guter Rainer heißt, gab es sehr viele in der Grafschaft. Sein Vater war sehr bekannt, da er einen sehr seltenen Spitznamen hatte. Doch das erzähl ich später einmal. Also, ich stamme von uuba, druuba, woo die Pilzla wochsa, mit de lange Steela. Entschuldigung, sollte ein kleiner Witz sein, unsere Mundart, keine Angst, ich spreche schon in hochdeutsch weiter! Mein Heimatort ist Bad Landeck, ein altes Rheumabad, in dem sich schon der Alte Fritz gesund gebadet hat.
Wir befinden uns hier im Gebiet einer Durchbruchsschlacht des Zweiten Weltkrieges. Marschall Schukows Truppen durchstießen hier im März und April 45 die letzten Verteidigungsstellungen der deutschen Front im Süden der Reichshauptstadt Berlin. Ein Jahr später, im April, kamen wir bei Forst in Viehwaggons über die Grenze zur sowjetisch besetzten Zone. Wir waren auf unserer Vertreibung, viele sprachen von Flucht, das ist unrichtig, aber ich denke, der Ausdruck Austreibung wird der ganzen Sache gerechter.
Diese Bahnreise kann ich nicht vergessen. Mein Vater, verhärmt, wanderte wie ein gefangenes Tier in einem alten, abgewetzten Morgenmantel pausenlos während der achttägigen Fahrt im Waggon auf und ab. Schon in Landeck hatten wir uns mit der Familie meines Onkels Herbert zusammengetan. In einer Ecke des Wagens wurden unsere weichen Sachen, das Bettzeug und, wie meine Mutter sagte, die Pummeln, in Stoffbezügen eingepackte Gegenstände, derart aufeinander gestapelt, dass eine turmartige Liegestatt entstand. Auf dieser thronte unsere achtzigjährige Oma. Eine feine, alte Dame, die unter uns Kindern den Spitznamen Herzogin trug. Erhöht, über dem gemeinen Volk, das auf dem Boden des Waggons hockte, hatte Großmama alles im Blick. In einem Eckchen, auf zwei Packen, saß ein altes Bäuerlein aus Kunzendorf mit seiner Frau. Am späten Abend ruckte der Zug an, unser Waggon bekam langsam Fahrt und mit hoher Fistelstimme begann der alte Mann zu singen: >Muss i denn, muss i denn, zum Städtele hinaus ...< Er sang allein tapfer die erste Strophe bis zum Ende. In die Stille des Viehwaggons platzte dann unsere Oma: ’Dieser Mann muss ein Humorist sein!’
Die Reisenden lachten. Einige weckten ihre Nachbarn und erzählte die kleine Geschichte weiter.
„Uns allen war weiß Gott nicht zum Lachen, wir wurden aus unserer Grafschaft Glatz hinaus geworfen, verloren Haus und Hof, wurden heimatlos und da fängt der Kerl zu singen an!
Es war zum Heulen. Ihnen geht es jetzt sicher auch so. Wie weit sind wir denn, Otto?“, wandte sich Paul an den Busfahrer.
„Noch ein paar Minuten, der Parkplatz muss gleich kommen“, kam die Antwort.
Kurz darauf war es soweit, Weiblein links, Männlein rechts in die Büsche. Einer Mauer gleich, umschloss ein hoher Zaun den Halteplatz. Dreck, Unrat und Fäkalien erschwerten das Suchen nach freien Plätzchen. Die feinen Wessis fluchten. Bald ging es weiter. Markus, der kleine Kerl, bettelte Paul an. Er solle doch weiter erzählen, er fände das alles sehr spannend. Sein Vater würde nie von der alten Zeit erzählen! Der lachte nur und meinte, er wäre damals noch viel zu klein gewesen, hätte das alles nicht mitgekriegt. Wenn die anderen im Bus nichts dagegen hätten, solle mal der Paul weiter machen. Der schaute zu den Mitreisenden und als einige von diesen zustimmend nickten, ergriff er wieder das Mikrophon.
„So, nun geht es wieder besser. Bald kommen wir zur Grenze zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen. Diese werden wir bei Forst überschreiten. Damals, 1946 kamen wir Ausgetriebenen mit unserer Oma, dem Bäuerlein, den vielen Kindern und Frauen, mit wenigen alten Männern, nach drei Tagen und Nächten im jetzigen Grenzort an. Wir hatten einen längeren Aufenthalt. Eine internationale Kommission der Siegermächte überwachte die Repatriierung, also die Zurückführung der Deutschen in das Heimatland. Es mag richtig sein, dass unsere Vorfahren vor fünf-, sechs-, sieben- oder sogar achthundert Jahren aus dem Westen kamen, doch wir wollten nicht irgendwohin zurückgeführt werden, wir wollten nur in unserer angestammten Heimat, in Schlesien, weiter leben.
Das Verfahren dauerte einen Tag. Unser Zug bestand aus zweiundfünfzig oder dreiundfünfzig Viehwagen mit jeweils ungefähr vierzig Personen. So waren wir über zweitausend Menschen. Auf dem Bahnsteig drängelten die Leute. Jenseits der Gleise, im Osten, waren die Reste eines Waldes. Schwarz verkokelt stand Baumstamm neben Baumstamm, gleichmäßig abrasiert in zehn, zwölf Metern Höhe. Hier war die Schlacht hindurchgetobt. Stundenlanges Trommelfeuer von Stalinorgeln und schwerer Artillerie hatte den Boden umgepflügt. Ein süßlicher Gestank hing noch immer in der Luft. Abertausende von Durchziehenden hatten diesen Totenwald seit Wochen als Abort genutzt. Auch danach roch die Gegend. Neben dem Zug, zwischen den Schienen, versuchten einige Familien etwas Warmes zu kochen. Die Lok rußte fettigen Qualm. Flocken verbrannter, oberschlesischer Kohle taumelten in die Flüchtlingssüppchen.
Am frühen Nachmittag stellten sich die Schlesier für das Eintragen in das Register an. Langsam schob sich die Menschenschlange in den Wartesaal des Bahnhofes. Die Fenster des Raumes waren zerborsten. Hinter Tischen saßen Männer in unterschiedlichen Uniformen. Gleich am Eingang stand einer mit einer Reitgerte in der Hand. ‚Sneller, sneller, sneller!’ trieb er uns an. Wir schlurften weiter, vorbei an einem französischen Leutnant, der eine Strichliste führte. Daneben stand ein Nationalpole. Der schob uns einzeln mit einer Hand weiter. Sein Kieend, Kieend, Frrrau, Maan, Frrrau, Kieend, Kieend gab dem Franzosen an, wo er seinen Strich zu machen hatte. Gedrängt wurden wir durch einen Gang, der von Bänken und Tischen eingeengt war. Vor zwei kräftigen Soldaten der ruhmreichen Sowjetarmee stauten sich die Kinder, Frauen und Männer. Hier wurde entlaust. Einer der Sowjetarmisten hatte eine große Ungezieferpistole in der Hand - so eine Art Flintspritze, nur viel größer. Der andere hielt die Leute fest und öffnete mit der Hand den Hemdausschnitt. Die Spritze wurde hinein gesteckt, fuhr bis zum ersten Rippenbogen und wusch schoss das Lausepulver bis zum Nabel. Das Gleiche geschah am Rücken. In den Hosenbund wurde von vorn und hinten gepustet. Auch in die Ärmel- und Hosenöffnungen wurde hierin geblasen hinein. Zum Schluss vernebelte eine dichte Wolke Kopf und Gesicht. Schneller liefen wir Delinquenten durch den Rest des Saales. Draußen kletterten Männlein und Weiblein mit ihren Kindern zurück in die kuscheligen Viehwaggons. Über diese Registrierung wunderten wir uns noch viele Stunden.“
Inzwischen hatte der Reisebus die Grenzkontrollstation der Deutschen Demokratischen Volksrepublik erreicht. Wie in der Schule schnippte Klein-Markus mit den Fingern:
„Was sind Delinquenten, bitte?“
„Nun ja, das sind so eine Art Opferlämmer. Eigentlich sind damit Straffällige gemeint.“
Markus war zufrieden. Er wischte das beschlagene Busfenster mit seinem stark angebrauchten Taschentuch klar und starrte auf die Kontrollstation. Schlagbaum, Schlaglöcher, alles grau in grau, auch die Abfertigungsbaracke der Volksarmee. Rainer Krause wandte sich nun persönlich über das Mikro an seine Schäfchen:
„Grenze, Herrschaften, fotografieren streng verboten! Macht mir keinen Ärger! Gehe mit den Pässen zur Abfertigung. Hoffe, es geht schnell. Otto geht mit.“
Markus sah die beiden über den Platz vor der Baracke laufen. Durch einen Schalter, der sich rechts neben der Eingangstür befand, reichte sein Vater die Pässe. Nach einigen Minuten kamen aus der Tür drei Vopos. Sein Vater und Otto verschwanden in der Baracke. Die Volkspolizisten umschlichen den Bus, schauten unter diesen und kamen hinein. Sie zählten die Reisenden durch, stellten fest, dass es vierzehn Frauen, ein Kind und elf Männer waren und verließen wieder das Fahrzeug. Kurz darauf stiegen Otto, der Fahrer, und Rainer mit ‚Alles klar’ wieder ein. Der Bus quälte sich durch das Niemandsland. Drüben, bei dem Kontrollpunkt der Volksrepublik Polen,. ging nur der Reiseleiter zum Abfertigungsschalter. Wortlos knallte ein polnischer Grenzer seinen Stempel in die Pässe. Der Mann salutierte und Krause war in Gnaden entlassen. Freie Fahrt nach Schlesien!
So fuhren sie in die Heimat von Markus, Reiner und Anna, von Paul und noch von einigen aus Frankenstein, aus dem alten Glatz, aus Kudowa, Kunzendorf und Bad Landeck. Eine Zeitlang bewunderte Markus die nicht mehr vorhandene Gegenfahrbahn der Autostraße. Diese wurde einst vom Größten Feldherrn aller Zeiten, vom GröFaz, angelegt. Lediglich die ehemalige Trasse dieses Autoweges war noch zu erahnen. Gras und Heidekraut überwucherten den festgestampften Boden. Ab und zu standen in unregelmäßigen Abständen, so wie es der Wald wollte, jüngere und schon ältere Birken und Kiefern.
Im Autobus war es warm. Die Reisenden nickten wieder ein, und einige von ihnen verschliefen die schlesischen Städte Liegnitz, Schweidnitz und Reichenbach. In Frankenstein wurde Pause gemacht, die mitgebrachten Textilien ausgeladen und einer Frau Podulka übergeben. Diese bedankte sich mit allgemeinem Gejammer in deutscher und polnischer Sprache und dass sie alles dem Herrn Pfarrer geben wolle und einem Vergelt’s Gott!
Bald ging die Fahrt weiter, und der Reisebus schlüpfte durch den Pass bei Wartha, der auch Goldene Pforte genannt wird. Hier bahnte sich die Glatzer Neiße ihren Weg durch das Gebirge. In Bardo, so nennen die Polen nun den uralten Wallfahrtsort, legten die Reisenden einen Stopp ein.
Als der Lingener mit seiner Grete die Marienkirche betrat, erinnerte er sich an die Wallfahrt mit seiner Mutter im Jahr 1936. Damals war er noch ein kleiner Junge, der zu Ostern in die Schule kommen sollte. Vielleicht hatte dieser Anlas seine Mutter davon überzeugt, dass eine Wallfahrt zur Gnadenmutter Maria in Wartha für das Jungla sehr nützlich wäre. Welche Überlegungen auch immer ausschlaggebend waren, spielte jetzt keine Rolle mehr. Jedenfalls konnte Paul sich noch an die große Krippe im Keller des Klosters erinnern. Sie war handgeschnitzt, besaß unendlich viele Figuren, und wenn man etwas Geld spendete, bewegten sich Teile der frommen Darstellung. Seine Mutter, das Wallfahren wäre sonst unvollständig gewesen, schleppte den Jungen auf den Rosenkranzberg mit seinen vierzehn Kreuzwegkapellen. Sie betete den Schmerzhaften, hielt ihren Jungen immer wieder an mitzubeten und begann dieses verdienstvolle Gemurmel von vorn, sobald sie das Ende des letzten Gegrüßet seiest du Maria mit Wiederholung „Der für uns gekreuzigt worden ist“ erreicht hatte. Als sie nun die Kapelle der Dornenkrönung, hier war dieser Vorgang besonders realistisch im Altaraufbau - die Folterknechte trugen teuflische Züge und der Kopf Christi war blutüberströmt - dargestellt, schlug durch Gegenzug mit einem lauten Knall die Kirchleintür zu. Pauls Mutter war schon unterwegs zur nächsten Station, und der kleine Mann stand ganz allein vor der schrecklichen Szene. Der Türknall erschreckte ihn derart, dass er zu schreien begann, Höllenschwefel zu riechen meinte, und seine Mutter mit fliegenden Röcken zu ihm eilte, um ihn schützend in die Arme zu nehmen.
Als er mit dieser Geschichte fertig war, nickte seine Frau, denn sie kannte diesen Vorgang schon von ihrer Schwiegermutter. Sie erinnerte ihn daran, dass wegen der zugeschlagenen Tür seine Mutter darauf verzichtet habe, noch alle Kreuzwegstationen zu Ende zu gehen.