Am Himmel funkelt ein neuer Tag - Meike Werkmeister - E-Book

Am Himmel funkelt ein neuer Tag E-Book

Meike Werkmeister

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Beschreibung

Der große neue Sommerroman der SPIEGEL-Bestsellerautorin

Zoé ist ein echtes Glückskind. Alles im Leben scheint ihr zuzufliegen. Als sie die Chance bekommt, ein Jahr als Innenarchitektin in London zu arbeiten, zögert sie keine Sekunde. Prompt landet sie in einem wunderschönen Viertel, das sich anfühlt wie ein kleines Dorf inmitten der Großstadt. Wenn Zoé über den Blumenmarkt streift oder frühmorgens im Naturteich schwimmt, kann nichts ihr Glück trüben. Nicht einmal der Mann, der ihr einst das Herz gebrochen hat und sich ausgerechnet jetzt wieder meldet. Erst als eine Wahrsagerin ihr prophezeit, dass dieser Sommer all ihre Pläne auf den Kopf stellen wird, beginnt Zoé zu zweifeln. Was hat sie wirklich hierhergeführt? Und was bedeutet eigentlich Glück?

Der große neue Sommerroman der SPIEGEL-Bestsellerautorin – mit liebevoll gestaltetem Anhang mit farbigen Illustrationen.

»Meike Werkmeisters Geschichten machen einfach glücklich.« Karla Paul

»Sie ist wie ihre Bücher: witzig, sympathisch und klug.« NDR 90,3 Kulturjournal

»Die perfekte Sommerlektüre, um abzuschalten und sich unterhalten zu lassen.« belletristik-couch.de (über »Das Glück riecht nach Sommer«)

»Ein Roman wie eine beste Freundin, den man fest in sein Herz schließt.« Feel Good Magazin (über »Sterne sieht man nur im Dunkeln«)

»Diese Geschichte kann beides: Sie wärmt ganz tief drinnen und ist doch frischer Wind im Liebesroman-Genre.« emotion (über »Über dem Meer tanzt das Licht«)

»Ein Roman, der uns zeigt, dass wir uns trauen sollten, auf unser Herz zu hören.« JOY (über »Sterne sieht man nur im Dunkeln«)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 489

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Zoé ist ein echtes Glückskind. Alles im Leben scheint ihr zuzufliegen. Als sie die Chance bekommt, ein Jahr als Innenarchitektin in London zu arbeiten, zögert sie keine Sekunde. Prompt landet sie in einem wunderschönen Viertel, das sich anfühlt wie ein kleines Dorf inmitten der Großstadt. Wenn Zoé über den Blumenmarkt streift oder frühmorgens im Naturteich schwimmt, kann nichts ihr Glück trüben. Nicht einmal der Mann, der ihr einst das Herz gebrochen hat und sich ausgerechnet jetzt wieder meldet. Erst als eine Wahrsagerin ihr prophezeit, dass dieser Sommer all ihre Pläne auf den Kopf stellen wird, beginnt Zoé zu zweifeln. Was hat sie wirklich hierhergeführt? Und was bedeutet eigentlich Glück?

Autorin

Meike Werkmeister ist gelernte Journalistin und schreibt seit 2019 hauptberuflich Romane, die regelmäßig auf der Spiegel-Bestsellerliste stehen. »Am Himmel funkelt ein neuer Tag« ist bereits ihr siebtes Buch im Goldmann Verlag. Die Autorin ist in Münster aufgewachsen, lebt aber schon seit über zwanzig Jahren in Hamburg, mittlerweile mit Mann, Sohn und Hund. Sie liebt Reisen, kaltes Wasser und alles Britische – drei Dinge, die sie wunderbar in dieser Geschichte ausleben konnte.

www.meikewerkmeister.de

Meike Werkmeister

Am Himmel funkelt ein neuer Tag

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe April 2024

Copyright © 2024 by Meike Werkmeister

Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: FinePic®, München

Anhang und Illustrationen: © Mi Ha | Guter Punkt, München

Autorinnenfoto: Ulrike Schacht

Redaktion: Kristina Lake-Zapp

LS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31397-5V003

www.goldmann-verlag.de

Für meine SchwesternDie echten und die im Geiste

Der Pfad führte steil den Hügel hinauf. Links und rechts davon standen Eschen und Silberpappeln, deren Zweige sich tief zu mir herunterbeugten. Sattgrünes Efeu rankte um ihre massigen Stämme. Im Unterholz raschelte ein Tier, vermutlich ein Eichhörnchen oder ein Igel, der sich noch schnell einen Schlafplatz suchte, bevor sich die Sonne vollends über den Horizont geschoben hatte. Es roch nach feuchter Erde, nassem Gras und Holz.

Schritt für Schritt ging ich nach oben. In den dichten Baumkronen über mir begrüßten Rotkehlchen und Amseln den beginnenden Tag. Die Luft war klar und frisch, und doch ahnte ich, dass es in wenigen Stunden richtig warm sein würde. Dann würden Familien ihre Picknickkörbe den Weg hinauftragen, mit Basthüten auf den Köpfen und Sonnencreme auf den Nasen. Die Kinder würden vorausrennen, die Eltern lachend und schnaufend folgen, mitten hinein in diesen wunderschönen Sommertag. Auch ich geriet bereits etwas außer Atem. Ich war die ganze Woche nicht zum Schwimmen gekommen.

Noch ein paar Meter, dann lichteten sich die Bäume, und der Pfad führte auf eine Wiese. Ich stapfte durch hohes Gras und Wildblumen bis zum höchsten Punkt, wo unter einer mächtigen Eiche eine Bank wartete. Der Blick, der sich mir bot, ließ mich verblüfft auflachen. Ich stand hoch oben auf einem Hügel. Unter mir erstreckte sich der Park, an dessen Rand sich winzig klein die hübschen viktorianischen Häuser von Hampstead aneinanderreihten. Dahinter glitzerte die Skyline der Stadt im Licht der aufgehenden Sonne. All diese gläsernen, galaktischen Türme, dazwischen die Kuppel der St Paul’s Cathedral und das obere Ende des London Eye. Die gigantische Metropole lag zu meinen Füßen. Und ich stand hier oben, bis zu den Knien im Gras.

Minutenlang versuchte ich, immer neue Details in diesem faszinierenden Stillleben zu entdecken, bis ich wieder zu Atem kam. Dann wandte ich mich dem Tal unter mir zu. Die Bäume wuchsen dort dicht an dicht, ein richtiger Wald, mitten in London. Und dann sah ich es. Kaum zu erkennen durch die vielen Schichten von Grün, die Äste und Blätter, Stiele und Knospen. Und doch, eindeutig, da funkelte es, wie sonst nichts auf der Welt im Sonnenlicht funkelt: Ich hatte das Wasser gefunden.

Fünf Tage zuvor

Im Morgengrauen huschte Licht über die Dachschrägen. Draußen ratterte ein Zug in den beginnenden Tag. Wenn mich nicht alles täuschte, vibrierten dabei ganz leicht die Scheiben. Ich lag still da und sah mich in meinem Schlafzimmer unter dem Dach um, in dem ein hölzernes Sprossenbett auf einem wollweißen Teppich stand. Ich hatte kaum geschlafen. Zu viele fremde Geräusche um mich herum. Zu viele aufwühlende Gedanken in meinem Kopf.

Ich war endlich in London.

Jahrelang hatte ich davon geträumt, aber nie war der richtige Zeitpunkt gekommen. Im Grunde war das immer noch so, und doch lag ich nun hier, unter einer herrlich weichen Daunendecke, und hörte zu, wie sich meine Gedanken und die fremden Geräusche zu einem etwas schrägen Konzert vermischten. Irgendwo tropfte ein Wasserhahn. Stimmen drangen von der Gasse vor dem Haus zu mir herauf. Die nächste Bahn ließ die Fenster vibrieren. Und da war noch etwas, ein Dröhnen, das ich nicht ganz zuordnen konnte. Es kam aus einem der Stockwerke unter mir.

Schließlich stand ich auf. Ich musste zwar erst um zehn in meinem neuen Büro sein, aber ich war zu kribbelig für dieses Herumliegen. Ich stellte mich ans Sprossenfenster und schaute hinaus auf die pittoresken Reihenhäuser. Von hier oben konnte ich über ihre Dächer hinwegsehen. In der Ferne erhoben sich einige Bürotürme in den blassblauen Londoner Morgenhimmel. Direkt unter mir lag ein kleiner Hinterhofgarten, der durch eine Backsteinmauer vom Nachbargrundstück getrennt war. Taunasser Rasen wuchs darin, hier und da blühten ein paar Gänseblümchen. An der Mauer waren Getränkekisten gestapelt. Daneben stand ein Stuhl mit drei Beinen. Hinter den Gärten, die an diesen angrenzten, entdeckte ich Schienen. Sie waren weiter weg, als ich vermutet hatte. Zwischen den Mauern und Gärten und hübschen Häusern mit Fassadenschmuck schlängelten sich kleine Gassen hindurch. Es sah ein bisschen so aus wie eine Illustration in einem alten englischen Märchenbuch.

Manchmal war mir mein eigenes Glück unheimlich. In solchen Momenten fragte ich mich, ob es endlich war, wie der Inhalt eines Bonbonglases, das sich immer weiter leert, bis nur noch ein paar bunte Zuckerkrümel am Glasboden liegen. Was würde passieren, wenn mein Vorrat an Glück endgültig aufgebraucht war? Diese Aussicht aus dem Fenster, dieses Viertel, diese hübsche kleine Wohnung – sie waren jedenfalls eindeutig Glücksfälle.

Es hatte alles schnell gehen müssen. Wenige Wochen hatte ich gehabt, um von Hamburg aus eine Bleibe in London zu finden. Auf den gängigen Portalen war das meiste Möblierte und einigermaßen bewohnbar Aussehende schlicht unbezahlbar. Bei dieser Wohnung waren die online gestellten Bilder schlecht ausgeleuchtet gewesen, die Beschreibung lückenhaft, vermutlich war sie deswegen noch für einen fairen Preis zu haben. Schon gestern Abend, als ich erschöpft von der Reise erst im Dunkeln angekommen war, hatte ich gesehen, dass dieses kleine zweistöckige Apartment die seltene Ausnahme von der Regel darstellte: Es war in Wirklichkeit schöner als auf den Fotos.

Ich lief barfuß die schmale Wendeltreppe hinunter in mein neues Wohnzimmer. Jetzt, wo Tageslicht den winzigen Raum flutete, sah er noch freundlicher aus als gestern Abend. Hinter einem beigen Samtsofa war eine Rotklinkerwand freigelegt. Auf einem von mehreren in die Wand gedübelten Regalbrettern stand ein einsamer, verstaubter Kugelkaktus.

»Bert«, sagte ich leise. »Nice to meet you.«

Und damit hatte er seinen Namen. Ich gab allen Pflanzen Namen, immer den ersten, der mir einfiel. Bert würde Kumpels brauchen, damit es hier gemütlicher wurde. Und dem Sofa fehlten Kissen und Decken, am besten welche mit Farbe. Das Mahagoni-Sideboard würde eine neue Lackierung bekommen. Und noch bevor der erste Tag richtig angebrochen war, hatte ich in meiner Fantasie bereits alles umgestaltet, den Kleiderschrank, der baufällig wirkte, rausgeschmissen und durch eine von der Decke hängende Stange und eine Kommode ersetzt, Vorhänge besorgt, einen Flauschteppich, mehr Bilder. Berufskrankheit. Lediglich der Fußboden war perfekt, wie er war – alte Holzdielen, die mich an die Wohnung in Hamburg erinnerten, in der ich zuletzt gewohnt hatte und die etwa fünfmal so groß war wie diese hier. In der noch immer ein paar Dinge von mir standen, die nicht in meinen Koffer gepasst hatten.

Ich ging den engen Flur entlang in die Küche. Eine Art Schlauch, an dessen Ende ein Tisch mit zwei Stühlen stand. Der leere Kühlschrank brummte traurig vor sich hin, gestern war es zu spät zum Einkaufen gewesen. Auch hier gab es ein Fenster, von dem aus ich auf die andere Seite sehen konnte, in eine schmale Gasse hinein. Dort hatte ich gestern spätabends meinen Schlüssel aus einem Wandkasten mit Zahlenschloss geholt. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Gasse voller kleiner Ladenlokale war. Direkt gegenüber schloss gerade eine ältere Dame mit Glockenhut ein Geschäft auf, das aussah wie eine Änderungsschneiderei. Im Fenster daneben standen jede Menge Lederschuhe, augenscheinlich ein Schuster. Vor dem Gebäude, in dem ich wohnte, bildete sich eine immer länger werdende Schlange. Ich hatte es bereits in der Online-Beschreibung gelesen: Mein Vermieter betrieb im Erdgeschoss ein Café. Ganz offensichtlich ein beliebtes – der Anzahl der Menschen da unten nach zu urteilen.

Von dort waren vermutlich auch die Geräusche gekommen, die ich gehört hatte. Typisch alte englische Bauweise, da wurde nicht viel Wert auf Schallschutz gelegt. Ich erinnerte mich gut an die schlaflosen Nächte während meines ersten Schüleraustausches in Bath, wo am Ende (!) des Flures der Vater meiner Austauschschülerin schnarchte. Hier war es neben den Stimmen und dem Rattern des Zuges vor allem dieses tiefe Dröhnen gewesen, das mich vom Schlafen abgehalten hatte. Bei Tageslicht betrachtet, verstand ich: Vermutlich kam es von der Kaffeemaschine. Immerhin bedeutete das, dass in unmittelbarer Nähe ein Frühstück auf mich wartete, das ich nicht selbst zubereiten musste.

Das Bad war ockerfarben gefliest und so winzig, dass ich mich beim In-die-Dusche-Steigen am Warmwasserboiler stieß. Der Duschvorhang klebte an meinem Körper, während ich laut einen Song aus dem Radio vor mich hin sang, den ich seit gestern nicht mehr aus dem Kopf bekam. Es gab einiges zu tun in meiner neuen Wohnung – aber diesen Vorhang würde ich als Erstes ersetzen, beschloss ich, während ein lauwarmes Rinnsal auf meinen mit Gänsehaut überzogenen Körper tropfte. Nach und nach kam etwas mehr Wasser aus der Düse, gerade so genug, um das Shampoo auszuspülen.

Unter mir dröhnte es wieder, als ich meine Kleider aus dem Koffer nahm und sie in den windschiefen Schrank einräumte. Ich machte mir auf dem Handy etwas Gute-Laune-Musik an. Was sollte ich heute an meinem ersten Arbeitstag anziehen? In meinem Job ging es nicht primär darum, seriös auszusehen, sondern vielmehr wie jemand, dem man zutraute, die eigene Wohnung besser einzurichten, als man selbst dazu in der Lage wäre. Ich entschied mich für die ausgewaschene Jeans mit dem hohen Bund. Weiße Bluse dazu, Oversize-Blazer, Halbschuhe. Das müsste modern und zugleich schick genug sein, um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Über dem Sideboard hing ein leicht matter Spiegel, vor dem ich wippend und summend meine Wimperntusche auftrug, weil das Licht hier besser war als im Bad. Ich knetete extraviel Wachs in meine kurzen Haare, die ich in Hamburg noch frisch hellblond gefärbt hatte. Meine Naturhaarfarbe lag irgendwo zwischen Kinderblond und Rötlich, viel zu brav für den Fransen-Look, in dem ich meine Haare gerade trug – knapp über den Ohren endend, wild durchgestuft. Ich kontrollierte ein letztes Mal mein Spiegelbild, das nicht mehr ganz so müde aussah, und tanzte mir Mut für diesen aufregenden Tag an.

Mit meiner Tasche über der Schulter machte ich mich schließlich auf den Weg nach unten. Das Treppenhaus war extrem niedrig und die Beleuchtung dürftig. Im ersten Stock kam ich an einer weiteren Wohnungstür vorbei. Mit jeder teppichbezogenen Stufe wurden die Geräusche aus dem Café lauter. Unten angekommen, schob ich die schwere Haustür auf. Draußen stellte ich mich in die Schlange hinter zwei junge Mädchen in Schuluniform und einen Mann im Anzug, der laut in sein Mobiltelefon sprach. Zahlreiche Leute liefen an uns vorbei, vermutlich auf dem Weg zur Arbeit. Beseelt stand ich zwischen ihnen und zog die englische Morgenluft ein. Ich war hier. Ich war wirklich hier. Und ich kam meinem Frühstück immer näher.

Das Café in meinem Haus hatte eine hübsche Glasfront, über der in großen Lettern Honey & Wood stand. Dahinter erkannte ich eine Theke, randvoll mit Gebäck, darüber eine Tafel mit handgeschriebener Speisekarte. An einem großen quadratischen Holztisch saßen Leute vor ihren Tellern. Auch an einem langen Fensterbrett sowie auf den Bänken draußen vor dem Laden wurde gefrühstückt. Ich fühlte mich wie vor dem Guckloch des Ameisennestes im Tierpark: Im Honey & Wood wimmelte es.

Mit jedem Gast, der das Café verließ, schob sich die Schlange ein Stück weiter über das Kopfsteinpflaster. Manche Gäste kamen mit Coffee-to-go-Bechern wieder heraus, andere quetschten sich auf frei gewordene Plätze. Als auch ich endlich eingetreten war, lauschte ich einen Moment den Gesprächen, die durch den Raum schallten. Es war auf die schönstmögliche Weise laut und geschäftig.

»Good morning.« Ich schaute in die freundlichen Augen eines Mannes, über dessen Bauch sich eine Schürze spannte. In die Brusttasche war der Buchstabe R eingestickt. Er lehnte an der Theke, hinter der sich eine offene Küche befand, wo zwei Mitarbeiterinnen Eier brieten und mit schwungvollen Bewegungen auf Avocado-Toasts gleiten ließen. Seine dichten schwarzen Haare waren von einer Netzhaube bedeckt, hinter seinem Ohr steckte ein Stift, den er nun hervornahm, während er mich erwartungsvoll ansah. »Was kann ich für dich tun, honey?«, fragte er mit sonorer Stimme in herrlich vornehmem British English, wie ich es so gern hörte.

Ich musste lächeln. Ich liebte diese typisch britischen Koseformen am Ende des Satzes.

Das macht zwei Pfund sechzig, love.

Brauchst du eine Tragetasche, darling?

Der Mann hinter der Theke erwiderte mein Lächeln.

Ich streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin Zoé, frisch oben eingezogen. Du musst Ravi sein.«

Zu meiner Überraschung streifte er die Gummihandschuhe ab und nahm meine Hand zwischen seine großen weichen Hände. »Wie schön, dass du da bist, Zoé! Ich habe gestern wohl schon geschlafen, entschuldige. Hast du alles gefunden?«

Lachend erwiderte ich: »Habe ich, die Wohnung ist toll! Vielen Dank.«

Er ließ meine Hand los, desinfizierte blitzschnell seine Finger und schlüpfte wieder in die Handschuhe, während er munter weitersprach. »Wunderbar. Lass uns bald mal länger quatschen, ich wohne auch im Haus. Ich klopfe bei dir, okay? Erst mal Frühstück?«

Ich verspürte den Impuls, stellvertretend für ihn Luft zu holen. »Ich nehme sehr gern einen English Breakfast Tea und einmal den French Toast.«

»Eine exzellente Wahl.« Ravi fischte den Stift hinter seinem Ohr hervor, kritzelte etwas auf einen kleinen Block und lehnte sich dann verschwörerisch zu mir. »Wenn du Glück hast, mache ich den Toast selbst, dann ist er noch besser.«

Eine der beiden Mitarbeiterinnen, eine ältere Dame mit leuchtend rotem Haar, versetzte ihm von hinten einen Klaps mit einem Holzlöffel. Sein laut dröhnendes Lachen überstimmte das Gemurmel im Raum.

Er zwinkerte mir zu. »Such dir einen schönen Platz, honey. Am Fenster ist was frei geworden, ich finde dich.«

Als ich mich abwandte, hörte ich Ravi bereits mit der nächsten Kundin sprechen, die eine Arbeitsuniform der Londoner Verkehrsbetriebe trug.

»Martha, wie geht es dem Hund deiner Mutter? Was macht ihre neue Hüfte? Wie immer drei Eier auf Sauerteigbrot, darling? Setz dich doch.« Wieder folgte sein durchdringendes Lachen. Ob es das gewesen war, was ich oben in meiner Wohnung gehört hatte? Nicht das Dröhnen der Siebträgermaschine, sondern Ravis Lachen? Vermutlich eine Mischung aus beidem.

Ich fand einen freien Platz am Fensterbrett neben einem Mann mit Dutt und ausrasiertem Nacken, der mit Künstlerfingern etwas auf die linierten Seiten eines stoffgebundenen Notizbuches schrieb. Er blickte nur kurz auf, als ich mich setzte. Dann rückte er seine John-Lennon-Brille zurecht und schrieb weiter. Der Erdnussbuttertoast neben seiner Teetasse war noch unangerührt. Dafür aß die Frau auf meiner anderen Seite, deren dichte Locken nass glänzten, zügig und sichtlich erfreut ihr Porridge.

Ich sah mich um, betrachtete die Hocker an der Fensterbank, die aufbereiteten Schulstühle an dem großen Holztisch mitten im Raum, die Schwarz-Weiß-Fotografien an den Wänden. Besser hätte man das nicht machen können, dachte ich. Ich war nicht sicher, woran es genau lag. Vielleicht an dem Geräuschteppich, der über allem schwebte wie Fahrstuhlmusik. Vielleicht am Geruch von frischen Kardamomschnecken, Kaffeebohnen und Speck. Ganz sicher auch an den Lilien, die in einer riesigen Vase mitten auf dem Tisch standen. Jedenfalls fühlte ich mich hier wohl. Wohler, als man sich für gewöhnlich an Orten fühlt, die man zum ersten Mal besucht. So wohl, als wäre dies längst mein Stammcafé, als wäre ich hier schon viele Male gewesen.

Ich holte meinen kleinen Block hervor und öffnete die Seite mit der Unbedingt-finden-Liste. Hinter die erste Zeile machte ich einen Haken.

Café

Da stand noch:

SupermarktBäckereiDrogerieApothekeHausarztpraxisBuchhandlung

Und am allerwichtigsten:

Schwimmbad

Ich hatte die Liste während des Fluges angefertigt, um mir die Zeit zu vertreiben. Nun musste ich schmunzeln, weil meine Mutter früher immer solche Listen gemacht hatte, wenn wir im Sommer in ein Ferienhaus in Dänemark fuhren. In den ersten Tagen war sie stets damit beschäftigt gewesen zu recherchieren, wo sich die nächste Hausarztpraxis und Apotheke befanden – nur zur Sicherheit – und wo man an welchen Tagen frische Brötchen bekam.

»Hier hat jemand den besten French Toast von ganz London bestellt?« Ravis laute Stimme erklang hinter mir.

Lächelnd hob ich die Hand. »Das war wohl ich.«

Er stellte einen Teller mit knusprig gebackenen Toastscheiben vor mich, deren karamellisierte Ecken noch knisterten, so frisch kamen sie aus der Pfanne.

Ravi warf dem schreibenden Mann neben mir einen flüchtigen Blick zu und wandte sich dann wieder an mich: »Wenn du das alles aufisst, geht der nächste aufs Haus.«

2

Auf dem Weg zur Bahnhaltestelle sah ich weitere Frauen mit nassen Haaren. Vermutlich gehörte das für Engländerinnen im Sommer einfach dazu. Wie Flipflops und Trägertops, sobald es über dreizehn Grad waren. Ich mochte diese entspannte Einstellung zum Leben. Diesen inneren Sommer, den hier alle ausriefen, irgendwann Mitte März. Wäre ich eine Britin, hätte ich vermutlich etwas Luftigeres getragen und müsste nicht mit dem Gedanken spielen, den obersten Knopf meiner Jeans zu öffnen, weil mein Bauch so voll war. Ravi hatte recht: Keiner machte einen so guten French Toast wie er. Und ich hatte ihn bis auf den letzten Krümel aufgegessen, sehr zu seinem Erstaunen. Bezahlen durfte ich nicht, obwohl ich wirklich insistiert hatte.

Satt und zufrieden lief ich durch die verschlungenen Gassen von Hampstead und freute mich, gleich in der Bahn fast alle Punkte auf meiner Liste abhaken zu können. In den wunderschönen alten Häuschen, an denen ich vorbeikam, gab es alles, was ich für den täglichen Bedarf brauchte: einen Gemüseladen, zwei kleine Supermärkte, eine Apotheke, weitere Cafés, eine Eisdiele, zwei Bäckereien, Imbisse und eine zauberhaft aussehende Buchhandlung. Dieser Stadtteil wirkte wie ein kleines Dorf. Kaum zu glauben, dass ich mich mitten in London befand. Kurz bevor ich an die Bahnstation gelangte, entdeckte ich den Eingang zu einem großen Park. Wie herrlich, sogar Natur gab es hier.

Ein paar Meter vor den Schranken zur Overground hatte ein Obsthändler glänzende Äpfel übereinandergestapelt. Ich kaufte mir einen als Proviant – für den Fall, dass ich nach diesem ausgiebigen Frühstück je wieder Hunger bekommen sollte.

Über den Bahnsteig drängten sich zahlreiche Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Ich begann, vor mich hin zu singen, wie ich es immer tat, wenn ich nervös war. Ich spielte an den Piercings in meinen Ohren. Den Silberringen an meinen Fingern. Strich über das neue Tattoo an meinem Handgelenk, ein vierblättriges Kleeblatt, das ich mir im Winter hatte stechen lassen. Alles Ablenkungsmanöver, damit ich nicht darüber nachdachte, dass ich gleich in einen sehr vollen Zug steigen musste. Ich sah auf mein Handy. Meine Mutter hatte eine Nachricht geschickt, in der sie mir für den ersten Arbeitstag alles Gute wünschte und mich bat, sie heute Abend anzurufen. Außerdem hatte Marc mir geschrieben.

Bist du okay, Babe? Hat gestern Abend alles gut geklappt? Viel Glück für deinen ersten Tag!

Ich beantwortete die Nachricht meiner Mutter, dann tippte ich wieder die von Marc an. Was sollte ich ihm antworten? Wie war unser Status? Nicht zum ersten Mal ärgerte ich mich über mich selbst, dass ich nicht klarer gewesen war. In meinen Gefühlen. Und darin, wie ich darüber sprach.

Die Bahn fuhr mit einem so lauten Rauschen in die Station ein, dass ich erschrocken zusammenzuckte. »Alles gut, Zoé«, sagte ich leise zu mir selbst. »Das ist kein Problem für dich.« Der Zug hielt, und ich ließ mich mit den anderen hineinschieben.

Nur fünf Stationen, dann musste ich umsteigen, das würde ich schon schaffen, obwohl es wirklich voll war. Ich hätte auch U-Bahn fahren können. Aber lieber etwas länger oberirdisch als kurz unterirdisch. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, dennoch war ich kaum groß genug für den Handgriff über meinem Kopf, an den ich mich so fest klammerte, dass die Silberringe in meine Finger einschnitten.

Noch drei Stationen. Der Duft verschiedener Deos und Haarprodukte kitzelte in meiner Nase. Der Zug fährt oberirdisch, dachte ich. Bei einer Panne kommst du ganz schnell raus. Die meisten Menschen um mich herum wirkten verschlafen, fast niemand sprach, alle schauten auf ihre Handys. Ich spürte trotzdem ihre Unruhe, als murmelten sie in Gedanken wild durcheinander, voller Pläne und Termine und Wünsche für den beginnenden Tag.

Noch zwei Stationen. Du kannst das. Meine schweißnasse Hand rutschte beinahe vom Griff ab.

Noch eine Station. Und noch eine. Der Zug hielt. Ich stieg aus, drängelte mich über einen weiteren vollen Bahnsteig, rein in den nächsten Zug. Zum Glück war dieser nicht ganz so voll besetzt wie der erste.

Fünf weitere Stationen. Ich konzentrierte mich auf meinen Atem und schaute zwischen den anderen Passagieren hindurch auf die Ziegelhäuser, an denen wir vorbeifuhren. Wie unglaublich britisch sie aussahen mit ihren Erkerfenstern und Satteldächern und Eingängen im Hochparterre.

An der Shoreditch High Street wurde ich wieder ausgespuckt. Erleichtert atmete ich die frische Luft ein und entfernte mich vom Gedrängel auf dem Bahnsteig. Geschafft. Siehst du, alles kein Problem! Mit leicht wackeligen Knien lief ich durch eine Unterführung voller großflächiger Graffitis. Von ein paar Straßenständen wehte würziger Geruch herüber. Ich würde mich an diesen Arbeitsweg gewöhnen. Oder doch aufs Rad umsteigen wie in Hamburg. Aber traute ich mich das in einer Neun-Millionen-Einwohner-Metropole, bei Linksverkehr?

Am anderen Ende der Unterführung bog ich in eine auf den ersten Blick unscheinbare Straße ein. Beinahe ehrfürchtig las ich den Namen auf dem Schild. Brick Lane. Diese »Gasse« hatte nicht nur einem Weltbestseller den Namen geschenkt, sondern stand stellvertretend für das ganze bunte, multikulturelle Viertel, von dem ich schon so viel gehört und gelesen hatte. Ausgerechnet hier durfte ich nun jeden Tag zur Arbeit gehen. Wer wollte sich da schon über zu volle Züge beschweren?

Die Leute, die mir entgegenkamen, hätten unterschiedlicher nicht aussehen können. Manche von ihnen trugen Designerkleidung, andere waren in farbenfrohe Vintageklamotten gekleidet, wieder andere in traditionelle Gewänder gehüllt. Ich kam an einem Nail Spa vorbei, an einem Supermarkt mit arabischem Schild, vor dem 50-Kilo-Säcke mit Reis gestapelt waren, einem Kindergarten, an dessen Tor die Erzieherinnen ihre Schützlinge begrüßten, und einem Barber Shop, dessen Rollläden noch geschlossen waren. Aus dem danebenliegenden Beigel Bake – einem jüdischen Bäcker, der laut Beschilderung rund um die Uhr geöffnet hatte – kam gerade eine Gruppe Männer in weißen Hemden. Eine Frau mit Hidschab trug einen Kaffeebecher aus dem minimalistisch aussehenden Coffeelab nebenan und unterhielt sich lachend und gestikulierend mit ihrer bis zum Haaransatz tätowierten Freundin. Der Geruch frisch gemahlener Kaffeebohnen wehte mit ihnen aus dem Laden. Ich widerstand dem Impuls, mir einen Flat White zu holen, denn ich wusste, dass ich das später bereuen würde. Mein Herz schlug zwar wieder einigermaßen normal, aber Koffein war keine gute Idee.

Stattdessen schoss ich Fotos mit dem Handy. Ich wollte alles festhalten. Das gesprayte Love is Love auf den geschlossenen Rollläden der Metzgerei, die Siebzigerjahre-Sonnenbrillen-Auswahl im Schaufenster des Vintage Store. Die unfassbar bunten Torten in der Auslage der kleinen Konditorei, deren Schichten aussahen wie ein Regenbogen. Den in den Himmel ragenden Turm der alten Truman Brewery.

In den ehemaligen Fabrikgebäuden mit den Gelbklinkerfassaden waren heutzutage jede Menge Shops untergebracht. Zwischen einem Secondhandladen, in dem offenbar hauptsächlich Band-T-Shirts aus den Achtzigern verkauft wurden, und einem Plattenladen mit echten Vinyls entdeckte ich das schlichte Schild meines neuen Arbeitsplatzes. The Interior Designers stand an der Klingel. Was für ein selbstbewusster Name. Es mochte viele Innenarchitekturbüros geben. Aber dies war eben das Innenarchitekturbüro. Und ich durfte ein Jahr lang hier arbeiten.

Dass ich das wollte, hatte ich in dem Moment gewusst, als ich die Anfrage über Instagram bekam. Dafür hatte ich in Hamburg meine Festanstellung gekündigt. Ich hatte erst vor wenigen Monaten in meinem Job angefangen, und auch er war ein echter Glücksfall gewesen. Nach einem Master in Innenarchitektur hatte ich zunächst einige Jahre für meine Professorin gearbeitet, einfach weil es mir an der Uni so gut gefiel und ich spannende Projekte betreuen durfte. Bis ich eine interessante Ausschreibung entdeckte. Mit dreißig sollte ich endlich mal etwas Praxis im Job sammeln, beschloss ich und bewarb mich kurzerhand.

Ich bekam die Stelle. In einer coolen kleinen Agentur mit einer netten Chefin, die mir direkt eigene Aufträge übergab, ein neues Yogastudio oder eine Zahnarztpraxis einzurichten beispielsweise. Ein Sechser im Lotto eigentlich, denn Festanstellungen als Innenarchitektin gab es nicht viele. Weswegen meine Eltern meine Entscheidung, noch in der Probezeit zu kündigen und hastig eine neue Chance zu ergreifen, mit Sorge betrachteten. Vor allem, weil The Interior Designers nicht wirklich eine volle Stelle ausgeschrieben hatten, sondern lediglich ein einjähriges Praktikum. Dafür, meinten auch meine Freundinnen, sei ich doch nun wirklich langsam zu alt und außerdem überqualifiziert.

Ich betrat das Gebäude, stieg in den leicht klapprigen Aufzug und fuhr in den zweiten Stock. Hauptsache, ich selbst wusste, warum ich hier war.

Oben angekommen, erwartete mich eine lichtdurchflutete Bürofläche.

»Ich möchte zu Grace«, sagte ich am Empfang, der aus einem aus Beton gegossenen Tresen bestand. Dahinter tippte ein junger weißer Mann mit asymmetrischer Frisur und schwarz lackierten Fingernägeln auf eine kabellose Tastatur ein.

Er nickte ein wenig müde und führte mich an verglasten Büros vorbei, in denen – selbstredend – Designermöbel standen. Am Ende des Ganges klopfte er an eine Tür.

»Hereinspaziert!«, rief eine samtige Frauenstimme, woraufhin der junge Mann wortlos die Tür aufschob und verschwand.

»Hey, hallo, ich bin Zoé.«

Hinter dem langen, verblüffend chaotischen Schreibtisch erhob sich eine große Schwarze Frau mit raspelkurzen Locken und einem eng geschnittenen Anzug aus glänzendem Stoff. Elegant machte sie auf ihren hohen Absätzen ein paar Schritte auf mich zu und hielt mir ihre Hand hin. »Wie schön, dich kennenzulernen. Ich bin Grace.«

Plötzlich befürchtete ich, mein durch Seriengucken und Reisen eigentlich ganz anständiges Schulenglisch könnte mich im Stich lassen, und begann instinktiv dagegen anzuplappern. »Das kann ich nur zurückgeben. Ich bin sehr froh, hier zu sein.« Ich schüttelte energisch ihre Hand. »Das alles hier ist … Ich bin begeistert. Ich kann’s kaum erwarten loszulegen.«

Grace lächelte breit, wobei sie vor Charme nur so sprühte. »Toll, du bist wirklich das Energiebündel, für das ich dich gehalten habe.«

Sie stellte mir ihr Team vor, das außer Alfie vom Empfang aus zwei weiteren jungen Männern bestand, die ebenfalls müde auf mich wirkten. In ihrer knappen Mail nach unserem Instagram-Austausch hatte Grace mir das Konzept ihrer Agentur erklärt: Zusätzlich zu ihrem festen Team holte sie sich jedes Jahr neue Leute aus aller Welt, begrenzt auf zwölf Monate. Das sorgte für spannende Impulse, hatte sie geschrieben. Für die Jungs war ich also vermutlich so etwas wie die x-te Praktikantin, die durchgeschleust wurde.

Grace brachte mich in mein neues Büro, hinter dessen Fenstern ich die Schornsteine der alten Brauereigebäude sah. Davor standen zwei Schreibtische, frontal aneinandergeschoben. An einem davon saß eine sehr jung aussehende Frau mit offenen langen Haaren in einem übergroßen Sweatshirt, die aufstand, als wir eintraten.

»Das ist Yon«, sagte Grace. »Sie ist in diesem Jahr meine zweite Entdeckung und wird mit dir im Team arbeiten.« Sie wandte sich an meine Kollegin. »Darling, das ist Zoé aus Deutschland. Zoé, Yon aus Korea.«

»Aus Korea?« Ich machte ein anerkennendes Gesicht. »Du hattest einen deutlich weiteren Weg als ich.«

Grace ließ ein tiefes, kehliges Lachen erklingen. »Ja, ich finde die besten Leute auf der ganzen Welt. Yon hat schon vor ein paar Tagen angefangen.«

Meine neue Kollegin begrüßte mich freundlich.

»Sweety, setzt du Zoé ins Bild über das Projekt, an dem ihr gemeinsam arbeiten werdet? Und zeigst ihr, wo alles ist?«

Yon antwortete in lupenreinem British English: »Klar, das mache ich sehr gern.«

»Bis später, ihr Lieben. Komm gut an, Zoé. Wenn es Fragen gibt, weißt du ja, wo du mich findest.« Mit einem Lächeln auf den glänzenden Lippen verließ Grace festen Schrittes unser Büro.

»Wow!«, sagte ich und wandte mich Yon zu.

Die nickte wissend. »Sie ist eine Königin.« Sie musterte mich freundlich von oben bis unten. »Und wir sind die neuen Arbeitsbienen in ihrem Reich. Bist du gut?«

Ich musste lachen. »Aber sicher doch.« Ich lief zu meinem Schreibtisch und ließ mich auf den Stuhl sinken.

Yon griff nach einem Ordner. »Hier stehen Infos zu unserem Projekt drin.« Sie ließ ihn über ihren Schreibtisch bis zu mir gleiten. »Daraus machen wir Honig.«

Ich sah sie etwas ratlos an.

Sie zwinkerte mir zu. »Na, wir Arbeitsbienen. Wenn du so gut bist wie ich, sind wir zusammen unschlagbar. Besser als die Boys nebenan auf jeden Fall.«

Ich schmunzelte. »Das klingt nach einem guten Plan.«

Yon lief in ihren klobigen Basketball-Sneakers zu mir herüber und schwang sich geschickt auf die Tischplatte. »Umso besser wir arbeiten, desto mehr Zeit bleibt uns zum Ausgehen.«

»Ausgehen?«

»Was glaubst du, warum ich hier bin? Ich komme aus einem Staat, in dem die Männer noch immer das Sagen haben und Frauen vor allem Hausfrau und Mutter sein sollen.« Sie band ihre schwarzen Haare, deren Spitzen pink gefärbt waren, zu einem hohen Zopf zusammen. »Bist du etwa nur zum Arbeiten nach London gekommen?«

Ich überlegte einen Moment. »Auf keinen Fall.«

»Siehst du.« Yon hielt mir ihre Hand zum Einschlagen hin.

In den nächsten Stunden arbeitete ich mich durch den Ordner mit unserem Projekt – es handelte sich um einen Jahrhundertwendepalast in Chelsea, der kernsaniert werden sollte – und wurde von Yon in sämtliche Gepflogenheiten der Agentur eingeweiht. Dafür zog sie mich jedes Mal am Ärmel meines Blazers auf einen Gitterbalkon, unter dem es gespenstisch in die Tiefe ging.

»Schmeckt mir eigentlich nicht.« Schulterzuckend betrachtete sie ihre E-Zigarette. »Aber zu Hause gilt Rauchen als unweiblich, also mache ich es hier aus Prinzip. Außerdem liebe ich die Pausen. Worauf freust du dich am meisten in deiner Zeit hier?«

Die wichtigsten Eckdaten hatten wir bereits geklärt. Sie sprach deswegen so perfekt Englisch, weil sie ihr Abitur auf einem britischen Elite-Internat gemacht hatte. Sie war Veganerin und mietete ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft gleich um die Ecke. Ihre besorgten Eltern in Seoul dachten, es wären nur Frauen dort, während sie in Wahrheit mit drei französischen Austauschstudenten zusammenlebte. Sie war erst einundzwanzig, hatte in Rekordzeit studiert und in Korea bereits mehrere Design-Nachwuchswettbewerbe gewonnen. Ich dagegen aß alles, war fast zehn Jahre älter und verfügte lediglich über ein hübsches Instagram-Profil und unverschämtes Glück.

Ich wickelte den Bagel aus, den wir vorhin bei einem Verkäufer mit Bauchladen erstanden hatten, und dachte über Yons Frage nach. Worauf freute ich mich am meisten?

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Beherzt biss ich in meinen Lunch, selbst baff, dass ich schon wieder etwas essen konnte und wie hungrig mich die ganze Aufregung offenbar gemacht hatte.

Yon steckte ihre E-Zigarette ein und nahm sich ihren Bagel. »Ich will Sneakers shoppen und Streetfood essen und die Nächte durchtanzen. Ein paar gute Läden hab ich bereits entdeckt. Aber du bist ja gestern erst angekommen.« Sie legte den Kopf in den Nacken, sodass ihr Zopf fast bis zum Po reichte, und schaute in den strahlend blauen Himmel. »Wo willst du zuerst hin?«

Ich kaute nachdenklich. »Ins Freibad und auf den Blumenmarkt.«

»Du bist seltsam.« Yon zupfte zufrieden eine Sprosse von ihrem Bagel mit Analogkäse. »Ich mag dich.«

Am späten Nachmittag diskutierte ich gerade mit Yon über den richtigen Look für unser Projekt, als Neil, einer von Grace’ Mitarbeitern, vor unseren Schreibtischen auftauchte. Er hatte noch hellere Haut als ich, Sommersprossen im ganzen Gesicht und dichtes rotes Haar.

»Hey, Girls, genug gearbeitet für heute. Es ist Zoés erster Tag, wir gehen ins Pub.«

Yon riss die Augen auf. »Ich fahre den Computer runter.«

Neil grinste sie schief an, wobei er mich ein bisschen an Prinz Harry erinnerte. »Schön, dass ich dich überreden konnte.«

Yon war schon dabei, ihre Sachen zusammenzusuchen. Währenddessen kam Stephen, ein weiterer Mitarbeiter, kaugummikauend in den Raum. Er setzte sein Käppi falsch herum auf und sah uns auffordernd an. »Kann’s losgehen? Grace weiß Bescheid.«

Auf dem Weg sammelten wir noch Alfie ein, der nicht nur am Empfang saß, sondern auch eigene Kunden betreute, wie ich von Yon wusste. Er sprühte im Aufzug so viel Haarspray in seinen asymmetrischen Pony, dass alle husten mussten.

Wir folgten unseren drei Kollegen in den freundlichen Londoner Spätnachmittag hinein. In den Straßen von Shoreditch tummelten sich an diesem warmen Tag jede Menge junge Leute. Die Jungs führten uns an einer Moschee vorbei, an Marktständen mit Kunsthandwerk und schließlich in eine schmale Gasse, in der ich schon von Weitem das Eckpub bemerkte. Eine Traube von Menschen hatte sich davor gebildet, die ganz offensichtlich ihr Feierabendpint genossen. Stephen, Alfie und Neil baten uns, draußen zu warten, und kamen wenig später mit schmalen Gläsern voller Bier ohne Schaumkrone zurück.

Alfie reichte mir ein Pint, wobei mir auffiel, wie akkurat seine Nägel lackiert waren. »Also, es gibt ein paar Regeln, die ihr als Neulinge kennen müsst«, erklärte er. »Auf jede trinken wir.«

Ich betrachtete das Getränk skeptisch. Bier ohne Kohlensäure war nicht unbedingt mein Favorit.

»Regel Nummer eins«, Alfie hob sein Glas, »wir gehen regelmäßig aus, da müsst ihr durch.«

Yon zwinkerte mir zu, bevor wir mit den Jungs anstießen und tranken. Hustend wischte sie sich über den Mund. »Schmeckt das scheiße.«

»Hey, keine Beleidigungen unserer Kultur«, erwiderte Neil grinsend.

Von Yon hatte ich während einer unserer »Raucherpausen« erfahren, dass er bekannt dafür war, gern mit den neuen Praktikantinnen zu flirten. Auf den ersten Blick war das erstaunlich. Aber war am Ende nicht immer der Typ mit den süßen Sommersprossen, dem man es am wenigsten zutraute, der Schlimmste von allen? Der coole Stephen mit dem ebenmäßigen Schwarzen Teint war laut Yon hingegen frisch verlobt mit einer Frau aus seiner freien Kirchengemeinde. Und Alfie hatte sich gerade von seinem Partner, einem bekannten Medienanwalt, getrennt und lebte nun wieder allein mit drei Katzen aus dem Tierheim zusammen, die viel Aufmerksamkeit benötigten. Jedenfalls berichtete er laut Yon regelmäßig, er müsse früher gehen, um eine von ihnen zur Osteopathie oder zum Tierfrisör zu bringen.

»Regel Nummer zwei«, sagte er nun und hob die perfekt getrimmten Augenbrauen. »Wir räumen unsere Stühle nie. Macht euch also keine Illusionen, nach dem Jahr übernommen zu werden. Keine Internationale ist je geblieben.«

Internationale – so nannten sie uns also. Erneut lächelte Yon mich vielsagend an, und wir tranken.

»Regel Nummer drei.« Jetzt war es Neil, der das Wort ergriff. Sein Glas war bereits zu drei Vierteln leer. »Wenn wir zusammen ausgehen, erfährt Grace nichts von dem, was dabei passiert. Das gilt für uns alle. Wir halten die Klappe – ihr haltet die Klappe. Was im Pub passiert, bleibt im Pub, verstanden?«

Wieder tranken wir. Yons Glas sah für mich so voll aus, als würde sie nur simulieren. Das Ale schmeckte auch wirklich nicht besonders.

Während die Jungs danach über Dart-Ergebnisse sprachen, flüsterte Yon mir zu: »Die haben Angst vor uns, merkst du das?«

»Hm.« Ich betrachtete mein schales Bier. »Nicht unser Problem, würde ich sagen. Wir machen unser Ding, richtig?«

»Richtig!« Yon hob ihr Glas. Auf ihren kurzen Fingernägeln klebten kleine Figuren. »Außerdem haben sie allen Grund dazu.«

Respekt, dachte ich. So selbstbewusst war ich mit Anfang zwanzig noch nicht gewesen.

Obwohl mir das Bier nicht schmeckte, war mein Glas irgendwann leer. Und von irgendwoher kam ein neues. Vor allem Neil kümmerte sich rührend um uns, wie Yon es schon vorausgesagt hatte.

Als er ihr beim Reden immer näher kam, hakte sie sich bei mir unter. »Gott, diese Typen, kannst du es glauben?«, flüsterte sie mir zu.

Ich drehte an meinen Piercings. »Er kann jedenfalls nicht mehr so richtig geradeaus gucken.«

Yon zuckte unter ihrem extraweiten Sweatshirt mit den Schultern. Nur bei genauerem Hinsehen ließ sich erahnen, dass sie darunter durchaus beeindruckende Kurven versteckte. »Wer nichts verträgt, sollte nichts trinken.«

Die Musik wurde lauter, und Alfie begann, wild zu tanzen. Yon und ich machten mit, und Neil sah Yon mit Stielaugen zu. Das konnte noch lustig werden.

Nach ein paar Songs legten Yon und ich eine Pause ein und stellten uns an den Rand der Menschentraube. Sie schaute skeptisch zu Neil, der ein paar Mädels antanzte. »Man sollte sich nicht mit Kollegen betrinken.«

»Findest du ihn süß?«

Sie prustete in ihr Glas. »Auf keinen Fall! Außerdem will ich Männern hier aus dem Weg gehen.«

»Das klappt bisher so mittel, oder?« Ich zwinkerte ihr liebevoll zu. »Sagtest du nicht, du wohnst mit drei süßen Franzosen zusammen?«

Sie lehnte sich gegen mich, als würden ihre Beine sie nicht mehr richtig tragen. »Franzosen sind meistens süß, oder?« Sie wirkte mit einem Mal ziemlich angetrunken. »Aber mit Mitbewohnern sollte man noch weniger was anfangen als mit Kollegen. Das hab ich mir fest vorgenommen. Hier muss es anders werden als zu Hause.«

»Was ist zu Hause passiert?«, fragte ich vorsichtig. Nicht weit von uns sangen Alfie und Neil sehr laut und sehr schief bei It’s Raining Men mit.

»Zu viel Drama. Ich bin bindungsgestört. Sagt zumindest die Therapeutin, die meine Eltern engagiert haben, weil ich in den nächsten Jahren heiraten soll und sie Angst haben, dass das so nichts wird. Ich verliebe mich ganz schnell und ganz doll. Und dann, wenn es wirklich ernst wird …« Sie stellte ihr Glas ab, schloss ihre kleinen Hände zu Fäusten und öffnete sie dann zackig wieder. »Puff, alles vorbei. Deswegen hab ich mir vorgenommen, dieses Muster zu durchbrechen. Hier geht es nur um mich.«

Ich hielt ihr mein Glas hin und dachte, dass sie bestimmt gar nicht therapiebedürftig, sondern einfach gesunde einundzwanzig war. Laut sagte ich: »Da bin ich dabei.«

Sie gähnte, schnappte sich wieder ihr Bier und prostete mir halbherzig zu. »Ist das bei dir auch so? Bei dir und dem Mann zu Hause, mit dem es kompliziert ist? Bist du auch bindungsgestört?«

Ich dachte einen Moment nach. »Das nicht«, antwortete ich. »Wir haben bis vorgestern gelebt wie ein Ehepaar. Bei mir ist es eher das Gegenteil. Ich war erst selten so richtig … verliebt.«

»Ich muss mal.« Ruckartig richtete Yon sich auf und verschwand im Pub.

»Eigentlich erst ein Mal«, fügte ich leise hinzu, aber sie hörte mich nicht mehr.

3

Alfie verabschiedete sich als Erster, weil er noch auf eine Party eingeladen war und vorher für die Katzen kochen musste. Hüftschwingend schritt er durch die Straßen davon, vorbei an Bürotürmen, die so hoch in den Himmel ragten, dass mir schon beim bloßen Anblick schwindelig wurde. Als eine angetrunkene Frau anfing, beim Reden die Hand an Stephens Hüfte zu legen, brach der urplötzlich und ohne Ankündigung auf. Nur Neil stand noch neben mir und versuchte, mir etwas zu erzählen, was ich nicht richtig verstand, weil er so lallte. Eine Viertelstunde später war Yon noch immer nicht vom Klo zurück, und ich ging rein, um nach ihr zu schauen. Aber ich fand sie nirgends. Dafür kam eine Nachricht auf meinem Handy an.

game over, bis morgen

Alles klar, hab mir schon Sorgen gemacht, schlaf gut

keine sorge, ich boxe

Ich beschloss, mich ebenfalls davonzustehlen. Neil würde es wahrscheinlich nicht mal bemerken, wer wusste schon, woran der sich morgen früh überhaupt noch erinnerte. Außerdem konnte ich ihn zwischen den anderen Gästen vor dem Pub nicht mehr entdecken, vermutlich war er längst mit jemandem weitergezogen, der einen ähnlich hohen Pegel hatte wie er.

Es war noch nicht mal halb acht, als ich in Hampstead aus der auch diesmal ziemlich vollen Bahn stieg, noch immer leicht benebelt. Beim Anblick der kleinen Häuser rund um die Station überkam mich sofort ein wohliges Gefühl. Ich hatte mir instinktiv das richtige Stadtviertel ausgesucht.

Ich schlenderte an blühenden Vorgärten vorbei, an wunderhübsch verzierten Fassaden und an Katzen, die im Abendlicht dekorativ in alten Holzfensterrahmen saßen und herausschauten. Jetzt wäre eigentlich der richtige Moment, um schwimmen zu gehen, dachte ich. Es würde mich schlagartig ausnüchtern und diese Unruhe in mir vertreiben, die ich seit heute früh nicht richtig losgeworden war. Es würde meine Gedanken sortieren. Dafür sorgen, dass mein Herz wieder im richtigen Takt schlug und ich nachher ruhig schlafen konnte.

Was Marc wohl gerade machte? Plötzlich fehlte er mir. Oder fehlte mir nur das Gefühl, das er mir geben konnte? Ich hatte bis zuletzt nicht ganz ergründen können, was es war, das mich in seine Arme trieb, im vergangenen Jahr, auf einer Party von Freunden. War es nur mein Liebeskummer gewesen, diese beißende Einsamkeit in mir? Oder die Tatsache, dass er wirklich gut zu mir war und ich mich bei ihm irgendwie sicher fühlte? Jedenfalls verbrachte ich die Nacht bei ihm, in seiner halb leeren 150-Quadratmeter-Wohnung im schicken Hamburg-Eppendorf, die er sich vom Verkauf einer seiner selbst programmierten Apps geleistet hatte. Ich sagte ihm gleich, dass ich für eine Beziehung gerade nicht bereit war – noch bevor mehr zwischen uns passierte, ich wollte keine falschen Hoffnungen wecken.

Ein paar Wochen später wiederholte sich das Ganze, dann immer mal wieder, nach verschiedenen Treffen mit Freundinnen und Freunden. Ich sagte: »Aus uns wird aber nichts« – und wachte am nächsten Morgen neben ihm auf, auf dem Nachtschrank schon eine Tasse Kaffee, die ich nie trank, bevor ich ging. Bis er mich bat, seine Wohnung einzurichten, er brauche da Hilfe. Von da an blieb ich manchmal noch, nahm Maß für Vorhänge und neue Sofalandschaften, rollte weiche Teppiche über die alten Holzdielen, stellte überall Pflanzen auf. Er beobachtete mich dabei wie ein seltenes Tier, und seine stille Bewunderung schmeichelte mir. Genau wie seine Art, einfach spontan etwas vom Sushi-Laden mitzubringen, einen Film anzustellen und danach zu verkünden, es sei zu spät, um noch heimzufahren, er hätte da vorsichtshalber mal eine Zahnbürste für mich gekauft. Immer mehr meiner Sachen sammelten sich bei ihm an. Und als die Wohnung schließlich so aussah, wie ich selbst gern wohnen wollte, blieb ich ganz.

Wir haben nie darüber gesprochen, wann aus meinem »Ich will keine Beziehung mit dir« doch eine wurde. Manchmal glaube ich, er traute sich schlicht nicht, danach zu fragen, aus Angst, mir könnte einfallen, dass ich mich geirrt hatte.

»Ich wusste, dass es so kommt«, hatte er gesagt, als ich ihm eröffnete, dass ich gehen würde. Nach London. Und überhaupt. Ich hätte ihm so gern geantwortet: »Ich nicht.«

Während ich in die Straße zu meiner Wohnung einbog, fragte ich mich, ob ich ihn anrufen sollte. Wir hatten uns eine Zeit lang beinahe jeden Abend gegenseitig von unserem Tag erzählt, vor allem die wichtigen beruflichen Dinge, denn wir waren beide immer schwer beschäftigt. Es fühlte sich komisch an, ihm nicht von meinem ersten Arbeitstag in London zu berichten. Aber ich wollte auch fair ihm gegenüber sein.

Ich sollte lieber endlich online nach einem Schwimmbad suchen oder noch einen Spaziergang im Park machen, beschloss ich, als ich an der Haustür neben dem Honey & Wood angelangt war, das nicht mehr geöffnet hatte. Dann würde ich wieder klarer sehen.

Ich schloss auf, stieg die Teppichstufen hinauf und lauschte dabei, ob ich etwas aus Ravis Wohnung hörte, aber hinter seiner Tür war alles still. Als ich im zweiten Stock ankam, sah ich, warum: Er stand vor meiner Wohnungstür, mehrere Vorratsdosen unter dem Arm.

»Da bist du ja, liebe Zoé.« Seine laute Stimme schallte durchs Treppenhaus. »Ich habe hier köstliche Sachen, die im Café übrig geblieben sind.« Er trug noch immer sein Haarnetz und lächelte mich etwas abgekämpft an.

»Großartig!« Ich stieg die letzten Stufen zu ihm hinauf. »Und weißt du, was noch großartiger wäre?«

Er sah mich fragend mit seinen Teddybärenaugen an.

»Wenn wir sie zusammen essen würden. Was hältst du von einem Picknick im Park?«

Wenig später spazierte ich neben Ravi über den Gehweg unserer Straße. Der Abend war immer noch mild. Ravi hatte die Netzhaube in seiner Wohnung gelassen und pfiff vor sich hin. Seine dichten dunklen Haare standen wild zu allen Seiten ab. Mein Anflug von Traurigkeit war längst in die warme Luft davongeflogen, zusammen mit allem Grübeln. Es war wirklich viel zu schön dafür hier draußen. Am Ende der Straße führte ein schmaler Weg durch eine Allee von haushohen Ahornblättrigen Platanen in den Park, dessen Eingang mir heute früh aufgefallen war. Wir gingen gemeinsam unter den imposanten Bäumen hindurch, Ravi neben mir fortwährend pfeifend. Ein Teich mit Enten schimmerte neben uns im Abendlicht. Anwohner ließen ihre Hunde laufen, die fröhlich über sattgrüne Wiesen tollten. Ravi steuerte energisch eine Bank an, und wir setzten uns.

»So, wonach ist dir?« Er klappte einen altmodischen Picknickkorb auf, den er eilig in seiner Wohnung für uns gepackt hatte. »Es gibt Sandwiches mit Ei und Schinken oder mit veganem Aufstrich, jede Menge Kuchen und ein paar Dips mit Käsecrackern.« Er sagte das so schnell, dass ich nicht sicher war, alles richtig verstanden zu haben.

»Einmal alles, bitte. Ich hatte schon zu viel Bier, aber noch kein Abendbrot.« Ich nahm mir eins der Schinken-Ei-Sandwiches.

Ravi zog anerkennend die üppig gewachsenen Augenbrauen hoch. »Okay, ein richtiger erster Arbeitstag in England also.«

Ich nickte kauend. »Inklusive dem Kollegen, der nach zwei Bier touchy wird, und der Kollegin, die nach dem vierten einfach verschwindet.«

Ravi lachte. »Ich arbeite mit zwei Damen jenseits der sechzig zusammen und sage dir: beides dabei.« Er öffnete eine Dose mit Knoblauchdip und stippte einen Käsecracker hinein. »Was passiert, wenn du zu viel trinkst?«

»Ab einer gewissen Promillegrenze gestehe ich den Menschen um mich herum meine Liebe und meine es auch so.«

Er musste wieder lachen. »Das hätte ich mir denken können, das passt.«

»Und du?«, fragte ich kauend. Das Sandwich schmeckte herrlich. Jetzt erst bemerkte ich, wie hungrig ich gewesen war.

»Ich bin der Typ, der bei Feiern ab dem späten Nachmittag schnarchend unter der Garderobe liegt, schon vor dem Dinner. Ich schlafe ein, egal wo, und bin nicht mehr wach zu kriegen.«

Ich hielt mir den Bauch vor Lachen.

Ravi wischte sich eine kleine Lachträne aus dem Augenwinkel und zog weiter genüsslich Cracker durch den Dip, dessen Duft zu mir herüberwehte. »Mein Ex hat das gehasst. Aber schön, dass es dich zum Lachen bringt. Hach, du machst es Menschen leicht.«

»Ich?« Ich pflückte mir einen Krümel aus dem Mundwinkel. »Du machst es Menschen leicht. Die Leute im Café lieben dich.«

Ravi wischte sich ein wenig verlegen mit einer Serviette über den Dreitagebart. »Ich liebe meinen Job.«

Ich ließ meinen Blick über den Ententeich vor uns schweifen. Am anderen Ufer spiegelten sich die viktorianischen Fassaden der Häuser im Wasser. »Ist nicht zu übersehen. Wie lange hast du das Honey & Wood schon?«

»Seit drei Jahren. Das Haus hat meiner Tante gehört. Sie hat oben gewohnt und unten einen erfolgreichen indischen Feinkostladen mit angeschlossenem Imbiss betrieben. Weil sie keine Kinder hatte, hat sie mir alles vererbt. Ich wusste sofort, was ich damit machen will. Auch wenn meine Mutter seitdem mit Stressmigräne kämpft, weil ich meinen sicheren Job dafür aufgegeben habe.«

»Was hast du denn vorher gearbeitet?« Ich hatte aufgegessen und äugte in den Picknickkorb.

Ravi reichte mir wortlos ein weiteres Sandwich. »Ich hatte einen dieser Bürojobs, bei denen du die Stunden zählst. Am Wochenende habe ich Dinnerpartys oder Brunchs bei mir zu Hause veranstaltet, die ganze Bude voll. Alle haben immer gesagt: ›Du solltest das beruflich machen.‹ Nun, jetzt mache ich genau das.«

»Das ist toll. Dein Café ist wundervoll.«

Ravi strahlte. »Ich bin jeden Tag dankbar, diese Entscheidung getroffen zu haben. Auch wenn ich zu nichts anderem mehr komme.« Er rieb sich über den leicht gewölbten Bauch. »Früher bin ich wenigstens ab und zu nach der Arbeit ins Fitnessstudio gegangen und habe hübschen Studenten beim Pumpen zugesehen, während ich so getan habe, als würde ich trainieren. Derzeit falle ich abends um neun ins Bett, weil ich um fünf aufstehe und Sauerteigbrot und Banana Bread backe.«

Ich klappte mein Sandwich auf, was ein paar Enten anlockte. »Hab ich mitbekommen.«

Er musste schon wieder lachen. »Sorry, hab ich dich heute früh geweckt?«

Ich winkte ab. »Kein Ding, ich profitiere ja davon.« Ich zeigte auf das belegte Brot in meiner Hand. »Schätze, mein Kühlschrank bleibt leer. Bei dir schmeckt eh alles besser.«

Ravi fuhr sich stolz lächelnd durchs verwuschelte Haar. »Da ist ein Chutney drin, das ich nach dem Rezept meiner Tante koche. Hier und da versuche ich, etwas Indisches in die Rezepte zu integrieren, um sie stolz zu machen. Morgen beim Mittagstisch gibt es ein Blumenkohl-Curry, ganz mild – nun ja, für indische Verhältnisse. Ich stelle dir etwas für abends beiseite, sicherheitshalber mit Brot.«

»Damit ist es offiziell: Du bist der beste Vermieter und Nachbar der Welt.« Ich nahm einen großen Bissen und verdrehte verzückt die Augen.

»Wir sprechen uns noch mal, wenn du mich unter einer Garderobe aufgesammelt hast.«

Ich musste so sehr lachen, dass ich mich verschluckte.

Als ich mich wieder gefangen hatte, fragte Ravi: »Wie hast du mich eigentlich gefunden?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe gezielt nach der Anzeige mit den schlechtesten Fotos gesucht.«

Sein rundlicher Körper neben mir bebte. »Ich wusste, dass sie die richtigen Leute anzieht.«

Die Sonne sank tiefer über die Häuser von Hampstead, und erstmals an diesem Tag war mir etwas frisch.

Ravi packte bereits die Sachen zusammen. »Ich könnte noch ewig quatschen, aber wir müssen leider los.«

Kurz fürchtete ich, mit meinen Scherzen zu weit gegangen zu sein. »Du weißt, dass ich die Wohnung toll finde?«

»Natürlich weiß ich das, ich habe sie selbst eingerichtet.« Er grinste mich an. »Aber es wird langsam dunkel.«

»Alles klar, verstehe, du musst zeitig ins Bett.« Ich knüllte meine Serviette zusammen. »Schließlich musst du mich morgen früh rechtzeitig wecken.«

»Ach, ich komme notfalls auch mit fünf Stunden Schlaf aus.« Ravi schloss den Picknickkorb. »Aber wir sollten nicht im Park sein, wenn die Sonne weg ist.« Er erhob sich bereits, und ich folgte ihm den Weg hinunter in Richtung Platanenallee. Ein paar Leute kamen uns noch entgegen.

»Oh, ist es hier abends gefährlich?«

»Na ja, nicht direkt.« Ravi machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Aber im Park spukt es.«

Ich wollte lachen, merkte aber, dass er ernst blieb.

»Ist so, die Geister kommen in den Heath, wenn die Sonne verschwindet. Laurie hat erst neulich wieder ein weißes Pferd und einen alten Mann in Ritterrüstung gesehen.«

Ich unterdrückte erneut ein Lachen. »Deine Mitarbeiterin mit den roten Haaren?«

»Ja, aber sie ist nicht die Einzige. Fast alle, die länger hier leben, haben früher oder später schon einen Geist gesehen.«

Ich biss mir auf die Lippe. Er meinte das ganz offensichtlich todernst.

»Viele Zugezogene bleiben stumpf bei Dunkelheit im Park, die meisten Einheimischen kämen nicht auf die Idee. Ich möchte wirklich nicht, dass meine aufbrausende Tante Mala plötzlich vor mir steht und mich fragt, was für einen traditionslosen Hipstermagneten ich aus ihrem indischen Feinkostladen gemacht habe.« Jetzt lachte er zu meiner Erleichterung doch. »Ich sage dir, indische Tanten sind nicht so sanftmütig wie britische.«

Wir gelangten ans Ende der Allee. Die haushohen Bäume links und rechts warfen bereits lange blasse Schatten.

Eine ältere Dame radelte an uns vorbei. »Hi, Ravi, wir sehen uns morgen!«, rief sie im Vorbeifahren.

»June, hab einen schönen Abend! Dein Schinkencroissant wird wie immer auf dich warten, lauwarm und ohne Gurken.«

Sie winkte über ihre Schulter. Von hinten sah ich, dass tropfende Haarsträhnen auf ihre Strickjacke fielen.

Das brachte mich auf eine Idee. »Sag mal, gibt es ein Schwimmbad hier in der Nähe?«, fragte ich Ravi. »Ich sehe ständig Frauen mit nassen Haaren.«

»O ja, ganz im Süden des Parks. Es gibt aber auch noch etwas viel Besseres.«

»Was meinst du?«

»Die Ponds, die Naturteiche, in denen die Leute schwimmen. Hampstead Heath ist berühmt dafür, wusstest du das nicht?«

»Nein, aber das klingt toll! Ich suche nämlich noch etwas, wo ich trainieren kann.«

»Für was trainierst du denn, darling? Sag bitte nicht so ein Triathlon-Ding – ich habe gerade angefangen zu glauben, wir wären sister and brother from another mother.«

Ich kickte einen kleinen Zweig vom Weg. »Keine Sorge. Schwimmen ist nur mein Stressausgleich. Andere stricken oder meditieren oder spielen Candy Crush. Ich schwimme.«

Ravi bog in unsere Straße ein, in der schon die Laternen ansprangen. »Puh, dann ist ja gut. Da bist du hier genau richtig. Wir reden morgen früh mit Laurie, die soll dich mitnehmen, sie geht mehrmals die Woche schwimmen.«

Zurück in meiner Wohnung, setzte ich mich aufs Sofa und suchte im Internet nach den Ponds. Ich fand Bilder von hübschen Naturteichen mit Schilf und hohen Bäumen am Ufer. Es gab einen, der nur für Ladies war, einen für Männer und einen gemischten, wie interessant. Laut meiner Karten-App brauchte ich nur etwa fünfzehn Minuten zu Fuß zum Ladies’ Pond. Das würde ich baldmöglichst ausprobieren, vielleicht schon morgen nach der Arbeit.

Mein Telefon klingelte, ein Videocall von meiner Mutter.

»Hallo, mein liebes Kind«, begrüßte sie mich, als ich dranging. Sie saß auf der Couch, ein dickes Kissen im Rücken, wie immer zu nah vor dem Bildschirm.

Mein Vater kam aus dem Off dazu und quetschte sich neben sie. »Da ist ja unser entzückendes Töchterchen. Wie geht es dir, Zoélein?«

Mit einem wohligen Gefühl lehnte ich mich zurück. Wie gut es tat, ihre lieben Stimmen zu hören.

»Danke, es geht mir gut. Alle sind so nett hier. Und ich habe die schönste Wohnung im hübschesten Viertel von ganz London.« Ich stand auf und gab ihnen per Video eine kleine Tour. Sogar die rosa Sonnenuntergangswolken vor dem Fenster zeigte ich ihnen.

»Engelchen, das ist ja wunderbar.« Meine Mutter hatte ganz rote Wangen vor Begeisterung. »Du musst nur noch ein paar Pflanzen kaufen.«

»Ist fest eingeplant, Mami.«

Beide lächelten zufrieden.

Ich setzte mich wieder aufs Sofa. »Wie geht es euch denn?«

»Alles gut hier, Liebling. Uns geht es wunderbar, nur du fehlst.« Mein Vater fuhr sich mit der Hand über den kahlen Halbkreis auf seinem Kopf. »Die Rouladen morgen werden ohne dich nur halb so gut schmecken.«

»Aber …«, fiel meine Mutter ihm ins Wort. »Hauptsache, es geht dir gut.«

Ich erzählte ihnen noch von meinem ersten Arbeitstag, Ravi, Yon und meinen Kollegen. Als wir aufgelegt hatten, schmunzelte ich vor mich hin. Meine süßen Eltern. Sie waren deutlich älter als die meisten Eltern meiner Freundinnen und Freunde, denn meine Mutter hatte mich erst mit 45 bekommen, zu einem Zeitpunkt, als sie sich bereits damit abgefunden hatte, niemals Mutter zu werden. Dementsprechend gut hatte ich es immer gehabt, denn ich war ihr größtes Geschenk, ihr ultimativer Glücksfall. Die beiden ein Jahr lang nicht wie sonst jeden Sonntag in meiner Heimat Buchholz, einem kleinen Ort südlich von Hamburg, besuchen zu können, schmerzte mich. Immer wenn ich kam, half ich meiner Mutter bei der Pflege der Pflanzen und spielte mit meinem Vater die Partie Schach weiter, die wir auf dem kleinen Tisch im Erker stehen ließen bis zum nächsten Mal. Manchmal kam ich schon samstagabends und schlief in meinem alten Kinderzimmer, im 80-Zentimeter-Bett aus Jugendzeiten. Behutsam schob ich mein Heimwehgefühl beiseite, dann nahm ich Kugelkaktus Bert aus dem Regal und ging mit ihm zum Fenster, um ihn vor den rötlichen Wolken über den Dächern zu fotografieren. Anschließend stellte ich ihn zurück ins Regal und postete noch im Stehen das Bild bei Instagram mit dem Hashtag #finallylondon. Endlich London.

Sekunden später klingelte mein Handy. Marc.

»Okay, du hast Zeit für Posts, aber nicht, um mich anzurufen?« Er klang angestrengt heiter.

»Hey, wie geht es dir?«

»Ich weiß nicht. Ich hab mir viele Gedanken gemacht in den letzten Tagen.« Er atmete einmal tief in den Hörer. »Das ging mir alles zu schnell.«

Ich stellte mich ans Fenster und betrachtete die nun nur noch zartrosa Wolken. »Kann ich verstehen.«

»Ich mag uns einfach.«

Damals, als das mit Marc und mir schleichend von einer kleinen Affäre zu etwas Festem wurde, hatte mir das an ihm gefallen. Dieses Unkomplizierte. Ich hatte gerade die ganz großen Gefühle hinter mir. Die guten und die schlechten. Mit Marc plätscherte alles vor sich hin. Mit Marc gab es kein Drama. Aber eben auch keine ganz großen Gefühle.

Ich konnte hören, wie er auf seinem Laptop tippte. »Mir ist eine neue Idee gekommen, als ich über uns nachgedacht habe. Eine App, mit der Paare Rituale pflegen können, damit sie wieder zueinanderfinden.«

Beinahe hätte ich laut aufgelacht. In Marcs Welt lösten Apps echte Probleme.

»Wir haben einfach beide zu viel gearbeitet in letzter Zeit.«

Damit wiederum hatte er recht. Kaum einen Abend vor zehn zu Hause, oft Termine nach Feierabend. Ständig nur das Tasten im Dunkeln, ob der andere schon im Bett lag oder nicht. Mir hatte viel gefehlt in den letzten Monaten – meine Freundinnen, Zeit zum Schwimmen, Rumhängen auf dem Sofa, Schlaf. Marc war es nicht gewesen. Ich wünschte, er wäre es gewesen.

»Babe, bist du noch dran?«

»Es tut mir leid, es ist nur …«

»Alles gut, du hattest einen langen Tag«, fiel er mir ins Wort. »Wir reden ein andermal darüber. Aber bitte lass mich an deinem neuen Leben teilhaben, wenigstens ein kleines bisschen. Schick mal Fotos von der Wohnung, vom Büro …« Als ich nicht sofort reagierte, fügte er hinzu: »Natürlich nur, wenn du dazu kommst.«

»Okay.« Ich fühlte mich so mies.

»Schlaf gut, Babe!«

Als wir das Gespräch beendet hatten, legte ich für ein paar Minuten die Hände über die Augen. Menschen wie Marc, die ihr Leben lang nur offenen Türen begegneten, reagierten oft völlig irrational auf geschlossene. Sie versuchten entweder, diese einfach einzutreten, oder redeten sich ein, sie wären gar nicht da. Ich wusste das. Ich war nämlich auch so ein Mensch.

Die letzte geschlossene Tür, vor der ich gestanden hatte, wollte ich mit dem Kopf zuerst einrennen. Wenn ich ganz ehrlich zu mir war, hatte ich mich bis heute nicht vollends davon erholt.

Vor meinem Dachfenster war es dunkel geworden. In der Wohnung unter mir hörte ich Ravi lautstark einen Adele-Song singen. Was für ein unglaublich liebenswerter Kerl er doch war. Vielleicht auch, weil er sich deutlich besser mit geschlossenen Türen auskannte als Marc und ich, wir privilegierten weißen Vorstadtwunschkinder.