Sterne sieht man nur im Dunkeln - Meike Werkmeister - E-Book
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Sterne sieht man nur im Dunkeln E-Book

Meike Werkmeister

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Beschreibung

Eigentlich ist Anni glücklich. Mit ihrem Langzeitfreund Thies lebt sie in einem hübschen Bremer Häuschen, ihr Geld verdient sie als Game-Designerin und in ihrer Freizeit entwirft sie Poster- und Postkartenmotive. Doch dann will ihr Chef, dass sie das neue Büro in Berlin leitet. Und Thies will auf einmal heiraten. Nur Anni weiß nicht mehr, was sie will. Da meldet sich ihre Jugendfreundin Maria aus Norderney, und Anni beschließt spontan, eine Auszeit zu nehmen. 6 Wochen Sand und Wind, Sterne und Meer – einfach mal durchpusten lassen. Danach sieht sicher alles anders aus. Wie anders, das hätte Anni sich allerdings nicht träumen lassen ...

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Seitenzahl: 346

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Buch

Eigentlich ist Anni glücklich. Mit ihrem Langzeitfreund Thies lebt sie in einem hübschen Bremer Häuschen, ihr Geld verdient sie als Game-Designerin und in ihrer Freizeit entwirft sie Poster- und Postkartenmotive. Doch dann will ihr Chef, dass sie das neue Büro in Berlin leitet. Und Thies will auf einmal heiraten. Nur Anni weiß nicht mehr, was sie will. Da meldet sich ihre Jugendfreundin Maria aus Norderney, und Anni beschließt spontan, eine Auszeit zu nehmen. 6 Wochen Sand und Wind, Sterne und Meer – einfach mal durchpusten lassen. Danach sieht sicher alles anders aus. Wie anders, das hätte Anni sich allerdings nicht träumen lassen ...

Autorin

Meike Werkmeister ist Buchautorin und schreibt als freie Journalistin für verschiedene Magazine. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Wann immer sie Zeit findet, fährt sie ans Meer –besonders gern nach Norderney, wo sie seit Kindertagen Urlaub macht. Hier entstand auch die Idee zu diesem Roman. Es war an einem Frühsommertag, die See war noch rau, der Wind noch frisch, als Annis Geschichte ihren Anfang nahm. Eine Geschichte, in der schließlich weit mehr durcheinandergewirbelt wird als die Muscheln in der Brandung zu Annis Füßen.

Weitere Informationen unter www.meikewerkmeister.de

Meike Werkmeister

Sterne sieht man nur im Dunkeln

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Abdruck von Auszügen des Liedtexts von »Danke sagen« von Julia Kautz erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Originalausgabe Mai 2019

Copyright © 2018 by Meike Werkmeister

Copyright © dieser Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Getty Images/shuoshu.

Illustrationen: © Renata Wolff, »Haus Nr. 26«

Redaktion: Kristina Lake-Zapp

An · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22568-1V002

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Alle meine Farbenleuchten nicht so hell,wenn du nicht da bist.

Julia Kautz

Es geschah auf unserer dritten Hochzeitsfeier in diesem Frühsommer. Thies saß neben mir, in seinem perfekt geschnittenen Anzug, mit ironischer Fliege und frisch gestutztem Dreitagebart. In seinem Gesicht kämpften Rührung und Belustigung.

Ein Chor aus älteren Damen mit großen Schals stimmte »Oh Happy Day« an. Während Susanne im Brautkleid vor dem Altar niederkniete, tauchten vor meinem inneren Auge Bilder von ihr bei der Arbeit auf. Wie sie einen Praktikanten zusammenfaltete, weil er ihren Teamleiter-Parkplatz besetzt hatte. Wie sie sich vor Lachen über einen meiner Sprüche fast in die Hose machte.

Der Pastor legte eine Hand auf ihren und eine auf Davids Kopf. Nachdem der Chor mit Inbrunst die letzten Töne des Liedes von der Empore geschmettert hatte, steckte das Brautpaar sich gegenseitig Ringe an die Finger. Ringe, um deren Design vorher erbittert gestritten worden war.

In der Bank vor uns wurden Taschentücher verteilt. Thies nahm meine kleine, kalte Hand in seine große, warme. Ich suchte seinen Blick, und er blinzelte mir mit feuchten Augen zu, wie er es immer tat, wenn wir mal wieder in einer Kirche saßen, bei einer Trauung wie heute oder, immer öfter, bei einer Taufe. Ich beugte mich zu ihm hinüber und legte meine Stirn an seine Schulter.

Später, als alle Unterschriften erledigt und alle Segen gesprochen waren, tanzten wir am Strand vor einem Lokal direkt an der Weser. Der Junimond spiegelte sich im Wasser, die Luft war klar und mild und roch nach Sommer. In der Ferne ragten die Scheinwerfer des Weserstadions wie riesige Fühler in den wolkenlosen Nachthimmel. Thies wirbelte mich zu irgendeinem Boney-M.-Song herum. Keiner von uns konnte besonders gut tanzen, was uns jedoch nie davon abhielt, es so ausgelassen wie möglich zu tun. Er lachte mich zwischen seinen Drehungen und Hüftschwüngen an, beugte sich zu mir herunter, und ich sah, dass seine Schläfen nass geschwitzt waren.

»Kleine Pause?«, fragte ich am Ende des Songs.

Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und blickte in Richtung des hell erleuchteten Pavillons, an dessen Bar sich andere Gäste drängelten. »Sprudel?«

»Gern, ich warte da drüben.«

Ein Stück von der Musik und den Lichtern entfernt setzte ich mich ans Ufer. Ich streifte die flachen Riemchensandalen ab und grub meine Zehen in den kühlen Sand. Wenige Meter von mir entfernt schob sich ein kleiner Lastkahn geräuschlos über das ruhige Wasser. Hinter mir hörte ich Thies’ Schritte. Er reichte mir eine eiskalte Glasflasche und ließ sich neben mir nieder.

»Und, wie findest du die Feier?« Er atmete noch ein wenig schnell vom Tanzen.

»Ich denke, wir können ein erstes Ranking wagen.« Ich wuschelte meinen Pagenkopf zurecht.

»Ambiente?« Thies setzte die Flasche an seine vollen Lippen.

»Zehn Punkte, mehr geht nicht.«

Er brummte zustimmend.

»Essen?«, fragte ich.

Thies zupfte an seinen Bartstoppeln. »Ich fürchte, da sind wir unterschiedlicher Ansicht. Ich fand es lecker.«

Ich nickte. »Doch, es hat geschmeckt. Aber Büfetts sind einfach nicht meins, von mir also nur fünf Punkte. Die Pasta aus dem Parmesanlaib war allerdings ein zweites Anstehen wert.«

Eigentlich war Thies dran mit dem nächsten Stichwort für unser Hochzeits-Pingpong, doch er knibbelte nur schweigend am Etikett der Flasche herum.

Wir hatten beide nach dem Tischwein auf Alkohol verzichtet. Ich musste morgen, wie so häufig an Wochenenden, noch etwas arbeiten, und Thies hatte eine Präsentation erwähnt, die er für Montag vorbereiten wollte.

Wir schauten aufs Wasser, wo die kleine Fähre, die regelmäßig von der einen Weserseite auf die andere übersetzte, rumpelnd am Steg anlegte. Ein paar Gänse erhoben sich schnatternd über dem Fluss in die Luft, als der Kapitän die Rampe herunterließ.

»Das hättest du nicht in Berlin«, bemerkte Thies. Ich musterte ihn von der Seite.

»Nein«, sagte ich. »Das nicht.«

Eine Zeit lang sahen wir der Fähre zu und meiner Freundin Susanne, wie sie ihre Oma am Arm die Steinrampe hinunterführte und dann über den Steg an Bord geleitete. Es rührte mich, wie die alte Dame sich an der Reling festklammerte und gar nicht mehr aufhören wollte zu winken. Das Schiff legte ab und hinterließ winzige Schaumwellen, die wenige Meter vor uns auf den Strand rollten.

»Anni?«

»Ja?«

»Wünschst du dir das wirklich nicht?«

Ich spürte etwas Festes neben mir und ertastete einen Eisstiel aus Holz, den wahrscheinlich irgendein Kind beim Baden hier verbuddelt hatte.

»Was meinst du?«

»Das.« Er breitete die Arme aus und wies mit seiner Flasche auf die Lichterketten, den Geschenketisch vor dem Pavillon, die Brautmutter, die beschwipst kichernd die Windlichter auf den Biertischen kontrollierte. Susanne und David, die sich auf der Tanzfläche aneinander festhielten, während die Gäste drum herum sie mit glückseligen Mienen beobachteten.

Ich griff nach seiner Hand, an der Sand klebte. »Wo kommt das denn her?«

»Vorhin hat mich Susannes Vater an der Bar angesprochen, ein netter Typ, aber ziemlich redselig.« Thies betrachtete unsere ineinander verschränkten Finger. »Er meinte, wir wirken so herzergreifend frisch verliebt.«

»Das sind wir doch auch.« Ich wischte mit meinem Daumen Sand von seinem. »Schon seit einer halben Ewigkeit.«

»Ja«, sagte er.

Irgendetwas lag zwischen uns, aber ich konnte es nicht fassen.

»Susannes Vater meinte, ich solle mir nicht mehr allzu lange Zeit lassen, den nächsten Schritt zu wagen.«

Ich lachte auf. »Damit hätten wir den Wann-ist-es-endlich-bei-euch-so-weit?-Spruch für heute hinter uns. Können wir bitte gehen, bevor Susanne den Brautstrauß wirft? Ich möchte nicht wieder zwischen lauter siebzehnjährigen Nichten stehen, die mir aus Mitleid den Vortritt lassen.«

Thies lachte nicht mit.

Im Nachhinein denke ich, dass dies der Moment war, in dem ich hätte hellhörig werden müssen. In dem ich hätte genauer nachfragen müssen. Es wäre der Moment gewesen, in dem Thies hätte sagen können, dass ihm nicht nach Scherzen zumute war. Dass er das mit mir ernsthaft diskutieren wolle, dass es Zeit war für ein echtes Gespräch.

Aber wir hielten uns nur an den sandigen Händen und hörten, wie der Wind Bässe vom anderen Ufer herübertrug, die sich mit denen auf unserem vermischten.

»Genug Pause«, beschloss ich nach einer Weile. »Sie spielen Neunziger.«

Und schon war ich unterwegs. Thies rappelte sich auf und folgte mir mit etwas Abstand. Und dann tanzten wir zu »Sing Hallelujah«, »Mr. Vain«, »Coco Jamboo« und anderen Grausamkeiten, bis wir durchgeschwitzt waren.

Zwei Wochen zuvor saß ich mal wieder bis spät im Büro. Hinter der alten Fabrikhalle in der Neustadt, in der ich arbeitete, breitete sich bereits ein blasser Sonnenuntergang aus und erinnerte mich daran, endlich den Rechner herunterzufahren und nach Hause zu gehen. Wie immer hatte keiner von uns Licht angemacht, nur unsere Computerbildschirme tauchten den Raum in einen fahlen Schein. Meine Kollegen saßen noch nach vorn gebeugt über neuen Entwürfen oder spielten einige der Spiele durch, die wir hier tagtäglich entwickelten. Viele von ihnen meinten, es sei der Grund, warum sie Gamedesigner geworden seien – um so viel wie möglich zu spielen –, aber mich hatte das nie gereizt. Fremde Welten zu entwerfen fand ich spannend, aber privat wollte ich sie schnell wieder verlassen.

Ich suchte zwischen den Jacken am Kleiderständer nach meiner, nahm meine Tasche und rief in die Runde: »Schönen Abend allerseits!« Noch bevor die zerkratzte Eisentür zum Großraumbüro hinter mir ins Schloss fiel, hatte ich bereits meinen Fahrradschlüssel hervorgekramt. Doch auf dem Weg über den düsteren Flur kam mir mein Chef Holger entgegen.

»A-Team, hast du noch einen Moment?«

Ich bemühte mich nicht, mein Stöhnen zu unterdrücken. Ich würde im Dunkeln nach Hause radeln, mal wieder.

»Sorry, es geht wirklich schnell.« Holger führte mich in sein Büro und schloss hinter sich die Tür. Zu meiner Erleichterung bat er mich nicht, in einem der bunten Sitzsäcke, die überall im Raum verstreut lagen, Platz zu nehmen, denn wenn man erst mal in einem davon versunken war, kam man so schnell nicht mehr hoch. Etwas verloren standen wir voreinander.

Holger räusperte sich. »Ich wollte dir nur schnell etwas sagen, ich brauche auch nicht sofort eine Antwort, aber ich möchte, dass du schon mal darüber nachdenkst.« Er knetete seine blassen Finger und rückte seine Brille zurecht. »Magst du Berlin?«

»Ähm, ja?« Aus meiner Eile machte ich kein Geheimnis. Ich hatte in dieser Firma in den vergangenen vierzehn Jahren nur überlebt, weil ich gelernt hatte, Feierabend zu machen, wenn eigentlich noch jemand etwas von mir wollte.

»Ich finde, wir sollten dort auch einen Standort aufbauen.« Holger kniff die Augen zusammen, um mich in dem Dämmerlicht überhaupt noch sehen zu können. Als ich verständnislos die Stirn kraus zog, fügte er hinzu: »Ja, und ich suche jemanden, der das Ganze da leitet. Und weil du eine meiner erfahrensten Mitarbeiterinnen bist …«

»… und eine deiner ältesten …«

Holger kicherte. »Richtig, ich dachte jedenfalls, ich könnte dich da gebrauchen. Du hast Zeit mit der Entscheidung, ich suche gerade nach Büros, Investoren, es dauert noch einige Monate, bis es konkret wird. Aber denk doch schon mal darüber nach.«

»Und sonst fragst du Susanne?«

Er kicherte wieder. »Ja. Oder einen der anderen. Aber … aber dich frage ich zuerst.«

»Ich werde das gegenchecken«, versprach ich augenzwinkernd.

»Ich weiß ja, dass du mit Susanne alles besprichst«, sagte er. »Aber sonst bitte noch keinem der Kollegen verraten, dass ich etwas plane. Alles noch topsecret, A-Team. Na ja, mit deinem Thies solltest du natürlich schon drüber reden, der müsste ja vielleicht mit.«

Als ich kurz darauf auf meinem Fahrrad durch die Neustadt raste, vorbei an Dönerbuden, Matratzenläden und Graffitiwänden, dachte ich noch einmal über seinen letzten Satz nach.

»… der müsste ja vielleicht mit.«

Es gelang mir beim besten Willen nicht, mir Thies zwischen Umzugskisten vorzustellen.

»Würdest du nach Berlin ziehen?«, fragte ich, noch in Schuhen und Jacke, als ich etwa zehn Minuten später nach Hause kam. Thies tippte gerade am Kühlschrank lehnend auf seinem Smartphone herum und sah verwundert auf.

»Natürlich nicht.«

»Und warum nicht?«

Er verzog das Gesicht, als hätte ich eine Frage gestellt, auf die ich bereits die Antwort wusste. »Nach Berlin geht man, wenn man Anfang zwanzig ist, nicht, wenn man wie ich langsam, aber sicher auf die vierzig zugeht.«

Einige Tage nach Susannes Hochzeit erwachte ich vom Klingeln des Paketboten, der die neuen Rahmen brachte. Ich hatte an diesem Samstag ausschlafen wollen, weil ich am Abend zuvor erst spät von der Arbeit gekommen war. In meinem übergroßen Flanellschlafanzug lief ich zur Tür, die Haare in alle Himmelsrichtungen abstehend.

»Mo-hor-gen!« Ich konnte nicht anders, als aus der gesungenen Freundlichkeit des Zustellers eine sadistische Freude darüber herauszuhören, dass er mich offensichtlich geweckt hatte. Er konnte ja nicht wissen, dass ich manchmal erst ins Bett ging, wenn er in der Früh seine Schicht begann.

Knurrend nahm ich die Lieferung entgegen und schob die Tür mit dem nackten Fuß hinter mir zu. Den Karton unter dem Arm, trat ich ans Fenster unserer Wohnküche und sah auf die anderen kleinen pastellfarbenen Altbau-Reihenhäuser in unserer Stichstraße. Thies’ Fahrrad lehnte nicht neben meinem an unserem verrosteten Vorgartenzaun. Er war wohl bereits zum Markt gefahren.

Ich trug das Paket an unserer Küchenzeile, dem Ikea-Tisch mit alten Schulstühlen und dem übergroßen Cordsofa vorbei in meine Arbeitsecke. Wie wir uns gefreut hatten, als wir damals die Zusage des Vermieters für diese Traumwohnung erhielten! Fünfundsiebzig Quadratmeter über zwei Etagen, mit Original-Holzdielen und kleinem Garten, und das mitten im ruhigeren Teil des coolen Bremer Viertels, in dem alle wohnen wollten, die es gerne fußläufig zu Kumpir-Buden und Kneipen hatten.

Heute musste ich mich manchmal an diese Freude erinnern, wenn die Dielen bei jedem Schritt knarrten, der Putz von den Wänden bröselte, die Duschwand leckte, uns frühmorgens betrunkene Studenten auf dem Heimweg in die Hecke kotzten oder ich schlicht nicht genug Platz für meine Entwürfe hatte. Ein eigenes kleines Atelier, davon durfte man doch mit vierunddreißig träumen, oder? Thies zog mich auf, wenn ich so sprach, und frotzelte, wir könnten uns ja nach einer altersgerechten Penthouse-Wohnung in einem Neubaugebiet am Stadtrand umsehen. Spätestens wenn wir Freunde in einem solchen besuchten, die stolz ihre Deckenstrahler und Carports präsentierten, war das Thema ganz schnell erledigt.

Ich wickelte Rahmen für Rahmen aus der Luftpolsterfolie. Mit dem Zeigefinger strich ich über das Holz, das sich rau und natürlich anfühlte, wie meine Kunden es mochten. Vorsichtig balancierte ich zwischen den ausgebreiteten Waren zu meinem Schreibtisch in der Ecke, einem Fund vom Flohmarkt, den ich mintfarben lackiert hatte. Obendrauf stand mein Rechner neben zwei Emaille-Bechern voller Stifte und Pinsel, darunter mein ganzer Stolz: ein schnittiger Farblaserdrucker, aus dem in der Woche etwa zehn bis fünfzehn Prints surrten. Gar nicht so schlecht, wenn man bedachte, dass ich vor weniger als zwölf Monaten angefangen hatte, meine Entwürfe in einem Online-Shop anzubieten. Ein frischer Stapel lag neben dem Laptop, ebenso die Tabelle mit den Bestellungen. Ich nahm beides und kniete mich wieder zwischen die Rahmen. Dann ordnete ich die Illustrationen zu: »Im Herzen trag ich Bikinifigur« kam zu dem Rahmen in A3, »Team Barfuß« zu dem in A4, »Das Leben ist kein Bällebad« zu dem A5-er in der weiß gebürsteten Shabby-Chic-Variante. Gleich drei Exemplare in unterschiedlichen Formaten durfte ich von meinem derzeitigen Bestseller verschicken:

Während ich die ersten Rahmenspangen löste, hörte ich von draußen das Knarzen unseres Vorgartentörchens. Das musste Thies sein. Dabei hätte ich hier gut noch ein paar ruhige Minuten gebrauchen können. Manchmal war dieses Häuschen wirklich zu klein für zwei Menschen, von denen einer in seiner Freizeit Kunstdrucke rahmte und der andere mit Ganzkörpereinsatz kochte.

»Huhu!« Thies tauchte im Türrahmen auf, wobei ich zunächst nur den unteren Teil von ihm sah. Der obere war hinter einer großen Kiste mit Einkäufen versteckt, aus der Möhrengrün, Salatblätter und Baguette-Stangen ragten.

»Vorsicht!«, rief ich gerade noch rechtzeitig, ehe Thies einen Sneaker-Abdruck auf »Team Barfuß« hinterlassen konnte.

»Ah, du bist fleißig.« Thies schob sich so vorsichtig an der Wand entlang Richtung Kühlschrank, wie es mit einem Meter zweiundneunzig und beinahe hundert Kilo Lebendgewicht möglich war.

»Gut geschlafen?« Er war an unserer Küchennische angelangt und begann, alles auf der Holzarbeitsfläche auszubreiten. Dabei kam immer mehr von ihm zum Vorschein, und ich registrierte, dass er sein Wochenend-Outfit trug, Sweatshirt zu bequemen Jeans.

»Jup«, murmelte ich und legte den ersten Print vorsichtig in den Rahmen ein. »Ich mach das hier eben fertig, ja?«

»Es gibt nachher Gemüselasagne. Und für morgen Abend habe ich Büffel-Burrata gekauft, mittags sind wir ja bei meiner Mutter zum Spargelessen.«

»Morgen Nachmittag muss ich leider für zwei, drei Stündchen ins Büro, ich bin gestern nicht fertig geworden.« Vorsichtig schloss ich eine Klemme. »Weiß nicht, wann ich zurück bin.«

»Ach, schade! Dann mach ich dir daraus ein schönes Sandwich.«

»Das ist lieb, danke. Du, ich muss hier noch eben …«

Thies drehte sich um und betrachtete mich ernst, wie ich in meinem Schlafanzug auf dem Boden hockte.

»Anni, ich habe mir was überlegt.«

»Kann das warten, bis ich …«

»Nee, kann es nicht.«

»Oh.«

In einer Hand hielt Thies eine Rhabarberstange, in der anderen eine braune Papiertüte, aus der oben Tomatenrispen herauslugten, und ich weiß das deswegen so genau, weil ich diesen Moment nie in meinem Leben vergessen werde. Weil Thies nämlich einen Satz sagte, von dem ich dachte, er würde ihn niemals sagen. Er sah mich an, mit dieser eigenartigen Seelenruhe, die er immer dann ausstrahlte, wenn er eigentlich angespannt war, eine der vielen Eigenschaften, die ich an ihm liebte.

Er sagte, und es war eindeutig kein Scherz: »Ich finde, wir sollten heiraten.«

Einige Momente saß ich regungslos auf dem Boden, auf dem Schoß einen Holzrahmen, in der Hand eine Metallklemme. Thies stand zwischen seinen Einkäufen in der Küche und sah mich erwartungsvoll an.

»Anni?«

Ich wollte antworten, irgendetwas Angemessenes sagen, aber meine Gedanken nahmen wild Reißaus und rannten in eine andere Richtung, kamen schließlich bei meinen Prints an, die ich verpacken musste, wenn ich es noch rechtzeitig zur Post schaffen wollte. Mit meiner freien Hand tastete ich nach der Noppenfolie, die neben mir lag.

»Ach, Anni!« Thies legte endlich das Gemüse aus der Hand, kam auf mich zu und hockte sich vor mich auf den Boden. Er nahm mein Gesicht in beide Hände. »Hey!«

Ich ließ die Folie sinken. »Ich bin überfordert.«

Er legte seine Stirn an meine. »Ich hab dich überrumpelt, entschuldige. Es ist nur … seit Susannes Vater neulich gesagt hat, dass ich nicht zu lange warten soll … Mir ist das nicht mehr aus dem Kopf gegangen.«

Er rieb sanft seine Nase an meiner. »Es ist nur so eine Idee.«

In diesem Moment klingelte das Telefon. Noch ehe ich ihn davon abhalten konnte, sprang Thies auf und suchte es. Ich hörte an seiner freundlichen Abwehrhaltung, dass seine Mutter dran war.

»Ja, Mo.« Er lief auf und ab. Bei jedem seiner Schritte knarzten die Dielen. »Ja, wir kommen morgen, wie verabredet … Doch, wir mögen Spargel, das war doch abgesprochen … Mo … Okay, ich gebe sie dir.«

Mit entschuldigender Geste reichte er mir den Hörer.

»Anni!« Ich musste das Telefon etwas weiter weghalten, weil sie so laut sprach.

»Hallo, Mo.«

Am anderen Ende der Leitung raschelte es. »Verträgst du Spargel?«

»Aber ja, ich freue mich schon.«

»Gut, nicht dass der Junge da wieder was missverstanden hat. Tschüss.« Noch ehe ich etwas erwidern konnte, hatte sie aufgelegt.

Ich sah zu Thies hinüber, doch er hatte mir den Rücken zugewandt und räumte seine Einkäufe in den Kühlschrank. Ratlos betrachtete ich den Hörer in meiner Hand. Diese Familie hat ein Talent für falsches Timing, dachte ich. Thies pflückte seelenruhig ein paar welke Blättchen von einem Salatkopf und begann leise vor sich hin zu summen.

Ich schaute den Rahmen auf meinem Schoß an, die Noppenfolie, das Packpapier. Dann machte ich da weiter, wo ich vor Thies’ denkwürdigem Satz aufgehört hatte. Wenn ich mich beeilte, könnte ich die Bestellungen heute noch versenden.

»Was ist hier eigentlich los?« Thies’ Mutter Monika, von allen nur Mo genannt, stand in lilafarbenen Crocs in ihrer Eicheneinbauküche, in einer Hand den selbst gemachten Eierlikör, in der anderen das Messer, mit dem sie gerade die Tiefkühltorte anschneiden wollte. »Warum macht ihr heute so lange Gesichter?«

Thies und ich saßen eng nebeneinander am Küchentisch auf ihrer Holzbank, in deren Lehne Herzchen gefräst waren. An unseren Füßen trugen wir die Gästehausschuhe aus buntem Filz, die Mo verteilte, sobald wir ihr Haus betraten. Ich spürte, wie Thies unruhig neben mir hin und her rutschte, während ich mich bemühte, möglichst unbeteiligt zu wirken. Mo atmete laut. Fast jeden Sonntag verbrachten wir in ihrem Künstlerbungalow in Worpswede, aßen mit wenig Kompetenz und großer Experimentierfreude zubereitete Gerichte und lauschten Mos Geschichten über ihr hübsches Heimatdorf. Es gelang uns nur selten, derart in den Mittelpunkt ihres Interesses zu rücken wie heute.

»Thies? Anni? Einer von euch verrät mir jetzt, was Sache ist!« Sie setzte sich auf die Stuhlkante. Vom Kuchen ließ sie ab, worüber ich nicht allzu traurig war, denn von diesen halb aufgetauten Sahnebomben bekam ich jedes Mal Bauchweh.

»Also gut«, sagte Thies irgendwann. »Ich habe Anni vorgeschlagen zu heiraten. Und sie weiß nicht so recht.«

Ich war selbst überrascht davon, dass sich die Wahrheit, so schonungslos ausgesprochen, wie eine Ohrfeige anfühlte. Mos Augen weiteten sich zunächst, dann wurden sie bedrohlich schmal und richteten sich auf ihren Sohn: »Na, da wäre ich an Annis Stelle auch nicht begeistert.«

Thies verschränkte seine Arme vor der Brust. »Was ist eigentlich euer Problem?«, fragte er, was ich angesichts des Gemütszustands seiner Mutter und der Tatsache, dass sie noch immer ein großes Messer in der Hand hielt, ziemlich mutig fand.

Mein Blick wanderte zu den geöffneten Schiebetüren und in den großen Garten mit seiner Wildblumenwiese und dem Apfelbaum, wo das alte Seil, an dem Thies als kleiner Junge hochgeklettert war, im Wind schaukelte. Hinter dem Grundstück floss bedächtig die Hamme. Heute war es zu frisch für die Terrasse, weswegen wir auf die Küche ausgewichen waren, in der es nach dem Spargel roch, den Mo in der Mikrowelle gegart hatte.

Sie trommelte mit ihren kurzen brombeerfarben lackierten Fingernägeln auf die Holztischplatte. »Bist du etwa fremdgegangen, Junge?«

»Ich bitte dich, Mo!«

»Warum sonst würdest du ihr ohne Vorwarnung einen Antrag machen, nach all den Jahren? Da steckt doch irgendetwas dahinter!« Ihre kurzen grauen Haare wirkten auf mich heute noch stacheliger als sonst. Hinter einem Ohr klebte etwas Ölfarbe. Bei unserer Ankunft hatte sie in ihrem Gartenhäuschen gemalt.

»Es war nicht wirklich ein Antrag«, schob ich vorsichtig ein, was mir einen irritierten Seitenblick von Thies einbrachte. »Eher ein Angebot.«

Mo murrte spöttisch, woraufhin Thies sagte: »Leute, ich habe nicht vorgeschlagen, Amateurpornos zu drehen. Ich habe nur angesprochen, dass wir heiraten könnten, was ist bitte so schlimm daran?« Sein linkes Knie begann auf und ab zu wippen. Ich legte meine Hand darauf. Er hörte kurz damit auf, nur um gleich erneut loszulegen.

»Ich verstehe überhaupt nicht, wo das herkommt«, jammerte Mo. »Die Ehe ist doch eine längst überholte patriarchische Tradition.«

»Mama!« Thies funkelte sie angriffslustig an. »Nur weil das mit Papa und dir ein Fiasko war, muss das doch nicht bei allen so laufen.« Er hatte leicht die Stimme erhoben, was selten vorkam. Ich kannte ihn und seine Mutter seit gut einem Jahrzehnt, und noch immer faszinierte es mich, wie offen die beiden Dinge aussprachen, die bei uns zu Hause nicht mal jemand denken würde. Ich strich etwas fester über Thies’ wackelndes Knie.

Mos Mund war klein und rund geworden. »Jetzt sag nicht, dass es damit zu tun hat, dass du neulich Nadine wiedergesehen hast.«

Davon hörte ich zum ersten Mal. Thies’ Knie tanzte Tango. »So ein Quatsch!«

Da fiel Mos Blick auf mich, bedauerlicherweise, denn ich hatte mich bisher deutlich wohler in der Rolle der Zuschauerin gefühlt.

»Anni, du weißt, ich liebe dich. Ohne deinen guten Einfluss würde Thies in seiner Freizeit V-Ausschnitt-Pullover tragen und hier im Passat-Kombi vorfahren. Aber …« Unvermittelt wurde ihre Miene weich, alle Anspannung wich aus ihrem Körper. Ein winziges Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Nein, sie ist nicht schwanger, Mo«, sagte Thies von der Seite, woraufhin sich die Miene seiner Mutter schlagartig wieder verfinsterte.

»Ich weiß, Kinder passen nicht in euer Leben.« Sie hatte sich trotzdem etwas beruhigt. »Ich brauche frische Luft.«

Kaum war sie in den Garten geeilt, zog Thies mich an sich. »Sorry, du weißt, ich kann nichts vor ihr verheimlichen.« Er seufzte leise. »Bist du sauer?«

Ehe ich etwas erwidern konnte, kehrte seine Mutter zurück, als sei nichts gewesen, und begann, heftig atmend den Kuchen anzuschneiden, der dabei knirschte wie Styropor. »Natürlich dürftet ihr hier feiern …«, sagte sie, gerade laut genug, dass ich sicher war, mich nicht verhört zu haben.

Im Bus zurück nach Bremen saßen wir gedankenversunken nebeneinander. Während draußen die Worpsweder Fachwerkhäuser mit ihren moosgrünen Reetdächern an uns vorbeizogen, lachte Thies unvermittelt auf.

»Ihr spinnt doch beide!« Er schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel.

Ich seufzte. »Ja, andere Mamis wären froh, dass ihr Sohn endlich zur Vernunft kommt. Dachtest du auch zwischendurch, dass sie gleich mit dem Kuchenmesser auf dich losgeht?«

»Hmhm. Aber der Garten zum Feiern war ein Friedensangebot.«

»Meinst du, wir dürfen nächsten Sonntag wiederkommen?«

»Wie ich sie kenne, hat sie bis dahin einen Stapel Hochzeitszeitungen besorgt. Du weißt, wie sprunghaft sie ist.«

Das Wort »Hochzeitszeitungen« ließ mich kurz erschaudern. In meinem Bauch rumorte es, und ich war nicht sicher, ob wie so häufig Mos Kochkünste schuld waren oder die Ereignisse drum herum. »Ich denke, es ist der falsche Zeitpunkt, um ihr endlich zu gestehen, dass wir die Torten nicht mögen, oder?«

»Bist du lebensmüde?« Lächelnd drückte Thies mir einen Kuss auf den Mund.

Ich sah mich um, der Bus war fast leer. Auf der hintersten Bank saß ein älterer Herr mit Hut und Gehstock, vorne eine Mutter mit ihrem Schulkind, die »Ich sehe was, was du nicht siehst« spielten.

Da fiel mir etwas ein. »Wieso weiß ich eigentlich nicht, dass du Nadine wiedergesehen hast?«

»Ach!« Thies machte eine wegwerfende Geste. »Sie stand beim Bäcker plötzlich vor mir, mehr nicht, ich fand das nicht erwähnenswert.«

»Ich schon. Habt ihr miteinander gesprochen?«

»Kurz.«

»Jetzt sag schon, was sagt sie?«

Er wand sich. »Was schon? Sie ist verheiratet und hat einen kleinen Sohn, der quengelnd im Kinderwagen saß – wir konnten keine drei Sätze miteinander wechseln.«

»Und, ist sie wenigstens dick geworden?« Ich zwinkerte ihm zu.

»Anni!« Er hob tadelnd den Zeigefinger, aber er schmunzelte dabei.

»Hat es dir was ausgemacht?«

»Was, dass sie zugenommen hat?«

»Jetzt komm! Ich meine: Hat es dir was ausgemacht, sie zu sehen?«

»Wie kommst du denn darauf?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich hab es schon wieder vergessen, so unwichtig war es.«

»Mo hast du es erzählt.«

Er zögerte einen Moment. »Ich frage mich gerade selbst, warum eigentlich.«

»Sie mochte sie mal sehr.«

Er küsste mich erneut. »Nie so, wie sie dich mag.«

Wir fuhren an Kopfsalatfeldern vorbei, hier und da unterbrochen vom Moor, in dem Fischreiher wateten. Eine Weile schauten wir still hinaus, dann fragte er: »Warum willst du nicht heiraten, Anni?«

Ich wollte etwas sagen, doch irgendwie konnte ich die Worte nicht in die richtige Reihenfolge bringen. »Warum willst du es denn?«, brachte ich schließlich hervor. »Doch nicht wirklich wegen des blöden Kommentars von Susannes Vater, oder?«

»Natürlich nicht.« Thies räusperte sich. »Ich stelle es mir einfach schön vor, mit dir verheiratet zu sein.«

Etwas in mir wurde schwer. »Und ich finde es schön, wie es ist.«

Thies nahm meine Hand. »Kannst du es dir wirklich gar nicht vorstellen?«

»Ehrlich?« Ich holte tief Luft. »Ich weiß es nicht. Ich weiß gerade überhaupt nicht viel. Ich weiß nicht, ob ich nach Berlin gehen soll. Ich weiß nicht, ob das eine einmalige Karrierechance ist. Und ich weiß erst recht nicht, wie das zwischen uns wird, wenn du nicht mitgehen willst.«

An Thies’ Gesichtsausdruck las ich ab, dass er das Thema Berlin bisher nicht ernst genommen hatte. Während ich es seit Tagen hin und her wälzte, hatte er es längst abgehakt.

Den Rest der Busfahrt beobachteten wir schweigend, wie sich nach Wiesen und Wäldern Bremens Vororte ausbreiteten, mit ihren Gärten voller Trampolins und Klettergerüsten, wie die Häuser höher und die Straßen breiter wurden, bis wir endgültig die Stadt erreichten. Unsere Rennräder, eines in Weiß, eines in Schwarz, beide mit Stange, lehnten einträchtig an einer Straßenlaterne.

Während Thies seines aufschloss, sagte er: »Okay, ich lass dich ab jetzt damit in Ruhe.«

Ein paar Tage darauf wartete Susanne an der Tür zum Büro auf mich. Sie war gerade aus den Flitterwochen zurück, aber die Zornesfalte unter ihrem kurzen Pony wirkte steiler als sonst.

»Frag nicht«, sagte sie und winkte ab.

»War’s nicht schön?« Ich knöpfte meine Jeansjacke auf und schmiss sie über die anderen Jacken auf dem Kleiderständer.

»Zypern ist ein Traum.« Susanne blies sich eine kupferfarbene Strähne aus dem Gesicht. »Aber David und ich haben nur gestritten, ich glaube, der ganze Hochzeitsstress hat seine volle Wirkung gezeigt. Willst du Fotos sehen?«

»Ich hab es auf Instagram verfolgt«, sagte ich, was nur zum Teil der Wahrheit entsprach, da ich angesichts der Menge der Bilder, die Susanne gepostet hatte, irgendwann ausgestiegen war.

»Und hier gibt es auch direkt Ärger«, flüsterte sie mir noch schnell mit zerknirschtem Blick zu. Hinter uns versammelten sich bereits unsere Kollegen in der Mitte des Raumes zur morgendlichen Konferenz. Ich schnappte einem von ihnen im Vorbeigehen eine von zwei gefüllten Kaffeetassen aus der Hand und stellte mich dazu.

»Wir müssen über das Mädchenspiel reden«, sagte Susanne nach dem üblichen Begrüßungsgeplänkel, was ihre Warnung an mich erklärte, denn ich arbeitete seit Monaten daran. »Die ersten Tests mit der Zielgruppe waren leider ziemlich ernüchternd.« Ich wimmerte leise. »Ich werte heute noch mal genau aus, woran es hapert«, fuhr sie fort, dann bemerkte sie, dass unsere neue Schülerpraktikantin einen Finger nach oben reckte. »Ja, Coco, möchtest du etwas beitragen?«

Alle schauten auf das Mädchen, das für meinen Geschmack zu viel Kajal und zu wenig Kleidung trug.

»Du hattest mich ja gebeten, das Spiel übers Wochenende zu testen.« Sie spielte mit den großen Kreolen, die von ihren mehrfach gepiercten Ohrläppchen baumelten. »Also ich finde es auch nicht so toll.«

Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten. Wieder so ein junger Mensch, dem seine Helikoptereltern eingeflüstert hatten, dass die Welt auf seine Meinung wartete. Ich hatte in ihrem Alter Kaffee gekocht und den Mund gehalten. Meine große Klappe hatte ich mir erst nach und nach hart erarbeitet, weil ich einsehen musste, dass sie meine einzige Chance in diesem Business war, als zierliche Frau ernst genommen zu werden.

»Und was gefällt dir daran nicht?« Ich hörte Ungeduld in Susannes Stimme.

»Ich finde das alles ein bisschen langweilig«, sagte Coco gedehnt. »Ich weiß, ihr wolltet ’nen Gegenentwurf zu den Shopping- und Prinzessinnenspielen, aber ich glaube, Mädchen wollen Prinzessinnen sein. Oder Kim Kardashian.«

Susanne und mir entfuhr zeitgleich ein spöttisches Lachen.

»Danke für diesen Beitrag, wir denken darüber nach«, wollte Susanne die Diskussion gerade beenden, als eine männliche Stimme vom Eingang her einwarf: »Guter Punkt.«

Hinter uns stand unser Chef Holger, wie gewohnt von Kopf bis Fuß in Schwarz, die langen dünnen Haare zu einem nachlässigen Zopf gebunden. »Ich habe das Spiel am Wochenende meinen Nichten gezeigt.« Ich stöhnte innerlich, seine Nichten waren für Holger ein Orakel, dem es nicht zu widersprechen galt. »Sie fanden es zu wenig glamourös, zu wenig aufregend. Wer sitzt gerade am Design der Protagonistin?«

»Das wäre dann wohl ich.« Ich grinste gespielt.

Holger schlenderte mit seinen zu langen Gliedmaßen zu meinem Schreibtisch und betrachtete den handgezeichneten Entwurf von Lena, so der Arbeitstitel der Figur, der daneben an der Wand hing. Sie sah aus wie eine von uns. Typ lässige Großstädterin, mit hüpfendem Pferdeschwanz, stilisiertem Tiertattoo am Unterarm, wohlgerundeten Formen in Röhrenjeans und weißen Sneakers. Lena sollte urban sein, sie sollte nachhaltig leben, und sie sollte für sich selbst sorgen. Sie hatte Dates, sie hatte einen Job und einen Traum, den es per Mausklick zu verwirklichen galt: ein eigenes Café, ein Bio-Modelabel oder eine Weltreise, je nachdem, was die Anwenderin entschied. Dieses Spiel war ein »Second Life« für junge Frauen, die sich ihr zukünftiges Leben darin so erschaffen konnten, wie sie es sich ausmalten.

»Lena ist zu normal.« Holger betrachtete mit vorgeschobenem Unterkiefer mein Werk. »Die Mädchen von heute wollen nicht normal sein.« Er verschränkte seine dünnen Arme vor seiner Brust.

Aus dem Augenwinkel sah ich Coco heftig nicken. »Lass Lena an Castingshows teilnehmen«, schlug Holger vor. »Lass sie powershoppen, lass sie einen Poledance-Kurs machen, lass sie davon träumen, ein Star zu sein.«

»Und als Bonuspunkte gibt es Echthaar-Extensions oder Gelnägel?«, fragte ich und spürte Susannes hysterischen Seitenblick.

»Genau.« Zu meinem Entsetzen nickte Holger. »Lass sie ein bisschen trashiger werden.«

»Emanzipation, my ass«, warf ich ein, spürte aber, dass mein Sarkasmus komplett an meinem Chef abprallte.

»Exakt. Schon der Name klingt viel zu normal.« Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb an unserer Praktikantin hängen, deren Gesicht vor Aufregung rote Flecken zierten. »Coco. Lasst sie uns Coco nennen.«

Die echte Coco begann an ihren lackierten Nägeln zu knabbern.

»Das klingt …« Ich versuchte, mich in meiner Wortwahl zu bremsen. »… alles richtig schlimm.«

»Ach, A-Team!« Holger klopfte mir auf die Schulter. »Nicht böse gemeint, aber vielleicht weißt du einfach nicht, wovon Mädchen und junge Frauen heute träumen.«

»Ja, vielleicht«, sagte ich.

Holger klatschte in die Hände. »Aber nicht umsonst seid ihr mein supertolles Lieblingsteam, dem stets irgendetwas Geniales einfällt. Also, los geht’s! Wer mir die coolste Coco bringt, bekommt ein Sixpack Craftbier.«

Während alle zu ihren Rechnern schlurften, rief Holger im Rausgehen in den Raum: »Ach, und gebt ihr einen Prinzen. Irgendeinen erfolgreichen Typen, den sie erobern will. Einen Profifußballer oder Rapper oder so. Je höher das Level, desto reicher der Typ. Darf ruhig ein bisschen was Zwielichtiges haben.«

Als Holger aus der Tür war, begannen alle wild durcheinanderzureden. Ich betrachtete meine Skizze von Lena: ihr freundliches Lächeln, den bedruckten Turnbeutel, in dem sie in der letzten Version ihren wiederverwendbaren Kaffeebecher bei sich trug, neben der kleinen Schaufel für ihr Urban-Gardening-Projekt. Monate meines Lebens – für die Tonne.

Ich hörte, wie Susanne an meinen Schreibtisch trat. »Vielleicht will er dich quälen, damit du sein Angebot annimmst.«

»Pssst«, machte ich. »Glaub ich nicht. Er wusste gar nicht mehr, dass die Figur in meiner Verantwortung liegt.«

»Wir könnten noch mal gemeinsam zu ihm gehen.« Ich hörte ihr an, dass sie selbst nicht überzeugt von diesem Vorschlag war.

»Gute Idee«, sagte ich. »Und dann erzählen wir ihm, dass wir in unserem Job einen feministischen Auftrag sehen und es mit unserer Gesinnung nicht vereinbaren können, ein Spiel zu erschaffen, das Mädchen vorgaukelt, man müsse nur einen reichen Kerl mit Knasterfahrung finden, und alles wird gut. Lass uns dabei lila Perücken tragen, ja?«

Susanne schenkte mir ihr Haha-Gesicht. »Du hast ja recht, es macht keinen Sinn. Wie unser Job im Allgemeinen wenig Sinn macht.« Sie drehte an ihrem Ohrstecker herum und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Einer unserer jungen Kollegen versuchte, mit Winken auf sich aufmerksam zu machen. Sie ignorierte ihn.

»Nach Feierabend noch auf ein Bier?«, fragte ich.

»Ein anderes Mal.« Susanne gähnte. »Ich bin echt müde.«

»Hey, das ist mein Part. Du kommst gerade aus dem Urlaub, du solltest topfit sein.« Susanne streckte mir die Zunge raus und machte sich auf den Weg zu ihrem Rechner.

Ich sah noch einmal auf meine Zeichnung von Lena. Ihr freundliches Lächeln wirkte auf mich in diesem Moment fast spöttisch. Ab ins Altpapier mit dir, dachte ich, doch irgendetwas hielt mich zurück. Vorsichtig nahm ich stattdessen die Reißzwecken aus der Wand, rollte das Papier auf und ließ es mit einem Gummiband darum in meinem Rucksack verschwinden.

Als ich nach einer weiteren hektisch einberufenen Konferenz nach zwanzig Uhr Richtung Wilhelm-Kaisen-Brücke radelte, versuchte ich mich zu erinnern, warum ich früher unbedingt hatte Computerspiele entwerfen wollen. Mein Praktikum nach der Schule in Holgers damals noch kleinem Start-up war mir wie eine Offenbarung vorgekommen. Ein Teil dieses Teams zu sein, das neue Welten erfand, voller Farbe, Drama, Fantasie und, ja, mitunter Brutalität, hätte kein größerer Kontrast sein können zu meinem bisherigen Vorortleben mit Tartanspielplätzen und Voltigierunterricht.

Holger war mein Jahrgang, damals also noch blutjung, und hatte anscheinend vieles richtig gemacht, denn sein Unternehmen war seither mit jedem Jahr gewachsen. Mich hatte er direkt nach dem Praktikum dabehalten, weil ich, wie er fand, Ideen für ein ganzes Team hatte, weshalb er mir auch den Spitznamen »A-Team« verpasste, mit dem er mich bis heute konsequent ansprach. Ich hatte zwar noch ein paar Semester Mediendesign nebenher studiert, aber nie meinen Abschluss gemacht, warum auch, ich hatte ja bereits meinen Traumjob und verdiente mein eigenes Geld.

Wenn ich heute daran zurückdachte, wer ich mit neunzehn gewesen war, kam es mir schon verantwortungslos vor, dieser Person die Entscheidung über einen neuen Haarschnitt zu überlassen, geschweige denn über eine Lebensplanung. Niemand denkt direkt nach der Schule darüber nach, ob man in einem Job alt werden kann. Ich hatte es für den Jackpot gehalten, einen gefunden zu haben, der sich wie ein Hobby anfühlte. Doch so fühlte er sich schon länger nicht mehr an.

Ich trat kraftvoll in die Pedale und wechselte auf die Fahrradspur der Brücke. Vor mir tauchten die Kirchtürme der Stadt auf. Wer hätte gedacht, dass ich hierbleiben würde, damals, vor fünfzehn Jahren, als ich zunächst nur die kleine Reisetasche gepackt hatte und meine Eltern mich verabschiedeten, als sei ich unterwegs zu einem Blauhelmeinsatz? Hatte ich die erste, die einfachste Gelegenheit ergriffen, die sich mir bot? Eine menschenleere Straßenbahn rauschte an mir vorbei. Ihr Fahrtwind zerzauste die Strähnen, die vorne aus meiner Mütze hingen. Unter mir schimmerte dunkel die Weser. Vielleicht, überlegte ich, hätte ich noch etwas anderes ausprobieren sollen, den ein oder anderen Kampf kämpfen, statt das zu nehmen, was mir zuflog. Während ich den Leuten zusah, die aus dem hell erleuchteten Theaterschiff auf die Uferpromenade strömten, dachte ich seit Langem mal wieder: Was wäre passiert, wenn ich mich nicht für eine andere Stadt als Jan entschieden hätte? Schnell schob ich den Gedanken beiseite und fuhr von der Brücke auf den Radweg.

Kurze Zeit später bog ich in unsere Straße ein. Meine schmalen Reifen ruckelten über das Kopfsteinpflaster. Bei Familie Siemers in Hausnummer drei war hinter der dichten Efeuwand schon alles dunkel. Herr und Frau Petersen aus Nummer vierzehn saßen sich an ihrem Esstisch gegenüber, wie ich durch ihr großes Panoramafenster sehen konnte, wahrscheinlich spielten sie wieder Canasta. Herr Meyerhoff von nebenan wässerte die Begonien in seinem Vorgarten. Auch bei uns brannte Licht.

Ich schloss mein Fahrrad am Zaun an, nickte unserem Nachbarn zu und lief die vier Stufen zu unserer tomatenrot lackierten Tür hinauf. Drinnen saß Thies auf dem Sofa, noch in Anzughose und aufgeknöpftem Oberhemd, in einer Hand eine Milchtüte, die er offensichtlich soeben von seinen Lippen genommen hatte.

»Ich dachte, du kriegst ’nen Blähbauch davon?«

»Mmmh?« Über den Fernseher flimmerte irgendeine Netflix-Serie, die er auf Pause stellte. Ich schälte mich aus meiner Jacke und stellte meine Sneakers neben Thies’ Lederschuhe. Dann kroch ich zu ihm auf die Couch und vergrub mein Gesicht an seinem Hals. Er nahm mich in den Arm und kraulte mir den Kopf. Er roch nach Milch und nach Zuhause.

»Hey«, sagte er und küsste meine von der Mütze geplätteten Haare.

»Hey!« Ich küsste ihn auf den Mund.

Er betrachtete mich schmunzelnd. »Wie viele Zombie-Morde heute?«

»Keinen, dafür ein anderer schwerer Verlust.«

Thies machte große Augen.

Ich ließ mir ein bisschen Zeit, um die Spannung zu steigern, dann sagte ich: »Lena wurde ermordet.«

»Nein!« Thies setzte sich auf. »Wie kann das sein?«

»Sie war zu wenig wie Kim Kardashian.«

»Das erklärt es.«

»Ja, nun haben wir eine Castingshow-Teilnehmerin, deren größter Traum es ist, sich einen korrupten Märchenprinzen zu angeln. Alle Versuche, einen solchen Love Interest für sie zu designen, landeten im Papierkorb, weil sie immer aussahen wie eine Mischung aus dem letzten RTL-Bachelor und Donald Trump.«

»Nein!«

»Doch! Ich habe stattdessen an einer besten Freundin gebastelt, die den Satz ›Nicht, das hat zu viele Kohlenhydrate!‹ sagt, wenn Coco in Versuchung gerät, sich Pasta zu bestellen.«

»Coco.« Thies kraulte mitleidig mein Ohr. »Wirst du kündigen?«

»Morgen!« Ich hielt ihm meinen Nacken hin. »Morgen suche ich nach meinem Märchenprinzen, der mich aushält, sodass ich nie mehr solch würdelose Arbeiten erledigen muss. Für heute habe ich noch was zu tun.«

»Du hast genug für heute gearbeitet, Anni.«

»Ich brauche das zum Runterkommen, sonst träume ich die ganze Nacht von unserer Praktikantin, die Lena mit Maschinenpistolen massakriert.«

»Du könntest auch mit mir hochgehen und kuscheln.« Thies rieb sich die Augen.

»Du meinst, dir dabei zusehen, wie du ganz schnell einschläfst?« Ich küsste ihn erneut auf seine müde lächelnden Lippen.

Während Thies seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher widmete, krabbelte ich vom Sofa und ging zu meinem Schreibtisch. Als ich den Laptop einschalten wollte, bemerkte ich die Postkarte, die daneben lag. Sie zeigte Dünen, fast weißen Sand und dahinter Meer, blaugrün und stürmisch. »Gruß aus Norderney«, stand verschnörkelt am oberen linken Rand. Ich drehte die Karte um. Die Schrift kam mir bekannt vor.

Liebe Anni,

neulich musste ich an dich denken und habe beim Googeln deinen Online-Shop gefunden. Superschöne Sachen machst du. Wer so weise Dinge aufs Papier bringt, hat sicher ein erfülltes Leben. Ich wüsste gerne mehr davon. Es hat mich jetzt auch in den Norden verschlagen, vorne drauf siehst du meine neue Heimat. Stell dir vor, ich habe ein Strandcafé hier. Wenn du in der Nähe bist, sag Bescheid.

Maria

An den seitlichen Rand war hochkant eine Handynummer gequetscht. Daneben:

PS: Ich vermisse dich und hoffe noch immer, dass du eines Tages wieder mit mir sprichst. Es gibt viel zu erzählen.

Meine Müdigkeit war von einem auf den anderen Moment verflogen.

»Ach ja, die ist für dich gekommen«, hörte ich Thies vom Sofa aus sagen. »Wer ist Maria?«