Am Horizont wartet die Sonne - Meike Werkmeister - E-Book

Am Horizont wartet die Sonne E-Book

Meike Werkmeister

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Beschreibung

Der große neue Sommerroman der SPIEGEL-Bestsellerautorin

Es gibt keine Zufälle, es gibt nur Zeichen. Davon ist die Hamburger Autorin Katrin überzeugt. Doch während sie Bücher schreibt, die anderen Orientierung geben sollen, steckt sie selbst in einer Lebenskrise. Bis das Schicksal auch ihr ein Zeichen gibt: Als sie einen Liebesbrief findet, adressiert an einen Filipe in Portugal, beschließt sie, dem Empfänger die Botschaft persönlich zu überbringen. Mit ihrer Freundin Julia reist sie auf eine idyllische Halbinsel an der Atlantikküste, die Heimat des geheimnisvollen Filipe. Bei der Suche nach ihm gerät Katrin unversehens in ein Familiendrama. Und findet etwas, wonach sie gar nicht gesucht hat …

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Buch

Es gibt keine Zufälle, es gibt nur Zeichen. Davon ist die Hamburger Autorin Katrin überzeugt. Doch während sie Bücher schreibt, die anderen Orientierung geben sollen, steckt sie selbst in einer Lebenskrise. Bis das Schicksal auch ihr ein Zeichen gibt: Als sie einen Liebesbrief findet, adressiert an einen Filipe in Portugal, beschließt sie, dem Empfänger die Botschaft persönlich zu überbringen. Mit ihrer Cousine Julia reist sie auf eine idyllische Halbinsel an der Atlantikküste, die Heimat des geheimnisvollen Filipe. Bei der Suche nach ihm gerät Katrin unversehens in ein Familiendrama. Und findet etwas, wonach sie gar nicht gesucht hat …

Autorin

Meike Werkmeisters Sommerbücher begeistern mittlerweile seit Jahren eine treue Fangemeinde. Die gelernte Journalistin lebt mit Familie und Hund in Hamburg, wo sie in ihrem kleinen Arbeitszimmer ihre Bestseller schreibt. Marial, Schauplatz dieser Geschichte, ist ein fiktiver Ort an der portugiesischen Atlantikküste. Die Ideen dazu kamen der Autorin an einem ganz ähnlichen Ort, ebenfalls in Portugal – die meisten davon am Meer, mit Blick auf den Horizont.

www.meikewerkmeister.de

Meike Werkmeister

Am Horizont wartet die Sonne

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe Mai 2023

Copyright © 2023 by Meike Werkmeister

Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: FinePic®, München

Anhang und Illustrationen: Mi Ha, Guter Punkt München, unter Verwendung von Motiven von Getty Images PlusAutorinnenfoto: Ulrike Schacht

Redaktion: Kristina Lake-Zapp

LS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30091-3V002

www.goldmann-verlag.de

Für meine beiden Lieblingssurfer

Noch fünf Minuten. Vor mir im Lagerraum standen ein mittlerweile kalter Kaffee, ein stilles Wasser und ein Teller mit Minischokoriegeln, den die freundliche Buchhändlerin mir hingestellt hatte. Von nebenan hörte ich Gemurmel und vorfreudiges Gläserklirren. Ich zog noch einmal meinen Taschenspiegel hervor und kontrollierte, ob ich Lippenstift an den Zähnen hatte. Schaute an mir herunter, ob etwas von dem Kaffee auf meiner seidenglänzenden Stoffhose oder meinen spitzen Pumps gelandet war. Alles noch sauber, auch die zarte Bluse, auf die meine braunen, mit dem Lockenstab zu Wellen geformten Haare fielen. Mein druckfrisches neues Buch lag vor mir auf dem Tisch, versehen mit Post-its, die neonorange oben herausblitzten und die Stellen markierten, die ich heute vorlesen würde. Ich klappte es auf und las flüsternd den Anfang. Schon nach drei Sätzen legte ich es wieder weg, ich hatte oft genug geübt, es würde schon gutgehen.

»Du siehst wie immer hinreißend aus, Katrin.« Ein etwas untersetzter Herr mit tiefschwarz gefärbtem Haar kam in den Raum. Jürgen, ein stadtbekannter Kulturredakteur und der Moderator des Abends. Wir kannten uns, weil er in den vergangenen Jahren schon einige meiner Veranstaltungen moderiert hatte. Ich sah darüber hinweg, dass er bei der Buchvorstellung manchmal spoilerte und nicht immer lückenfrei genderte, denn mit seinem permanenten Redefluss gab er mir das Gefühl, dass auch ich nur eine Zuhörerin war. Und damit war er mein perfektes Match.

»Danke dir.« Ich nippte noch einmal an meinem stillen Wasser und sah auf die Uhr. Noch anderthalb Minuten.

Jürgen zog die buschigen Augenbrauen hoch, strich über sein Leinenhemd und stieß mit seinem Wasserglas gegen meins. »Let the games begin!«

Das sagte er jedes Mal vor einer Lesung, und ich mochte ihn dafür, denn so schön solche Abende waren: Sie waren auch ein Spiel, das ich gewinnen musste. Die Regel lautete: Du musst jede und jeden Einzelnen im Raum von dir überzeugen. Über die Jahre hatte ich gelernt, für neunzig Minuten etwas in mir anzuknipsen, was nach maximaler Leichtigkeit aussah, aber so viel Energie verbrauchte wie eine Flutlichtanlage.

Ich folgte Jürgen bis zum Türrahmen. Dort blieb ich stehen. Er schenkte mir einen letzten väterlich zuversichtlichen Blick über die Schulter, lief weiter und betrat das kleine Podest im Verkaufsraum. Das Gläserklirren verklang. Das Gemurmel verstummte. Ich konnte von der Tür aus Jürgens füllige Rückseite sehen. Er stand jetzt am Stehtisch vor dem Mikrofon. Ein kleiner Zipfel seines Hemdes hatte sich aus dem Hosenbund gestohlen.

»Einen schönen guten Abend!«, sagte er mit seiner sonoren Radiostimme. »Ich darf Sie heute zu einer besonderen Lesung mit einer besonderen Autorin begrüßen …«

Ich versuchte, seine Stimme auszublenden und im Kopf noch einmal die Sätze durchzugehen, die ich mir zurechtgelegt hatte. Vom Türrahmen aus konnte ich einen Blick aufs Publikum erhaschen, das sich zwischen Regalen voller Bücher versammelt hatte. Meine Agentin Franzi saß in der ersten Reihe. Sie strich sich mit zwei Fingern die vorderen Haarsträhnen glatt, die glatter nicht werden konnten. Schräg hinter ihr entdeckte ich meine Meditationslehrerin Ruth. Sofort fühlte ich mich ertappt, weil ich heute wieder nicht die Atemübungen gemacht hatte, die sie mit mir gegen mein Lampenfieber einübte. Ruth hielt die Augen geschlossen und lauschte Jürgens Worten. Der Impuls zu gähnen stieg in mir auf, das passierte mir manchmal aus Nervosität.

»… Geschichten, die einen begleiten …«, schnappte ich von Jürgens Monolog auf, »… beim Lesen etwas über sich selbst lernen …«

Ein paar Plätze neben Ruth sah ich meinen Noch-Mann Tim. Er hatte zur Feier des Tages ein frisch gebügeltes Oberhemd angezogen, was mich rührte. Sein Gesicht strahlte vor Stolz, wie immer, wenn es um mich in meiner Rolle als Autorin ging. Auch das rührte mich. Auf seinem Schoß thronte mit unruhigem Blick unsere Bulldogge Murmel. Der Hundesitter hatte uns mal wieder kurzfristig im Stich gelassen, und auch wenn Haustiere bei Lesungen ungern gesehen waren, machte man für den Hund der Autorin eine Ausnahme. Es war uns schon einmal passiert, dass Murmel in dem Moment, in dem ich die Bühne betrat, so laut gefiept hatte, dass Tim die Veranstaltung verlassen musste. Für heute hatte er einen Kauknochen mit Leberwurst präpariert, und wir hofften, dass folgende goldene Regel griff: Wenn Murmel etwas noch mehr verehrte als mich, dann war es Leberwurst.

Neben Tim saß seine neue Freundin Ina. Kinderärztin, glänzende kupferrote Haare, Stupsnase, Männerhemd zu Doc Martens, trockener Humor. Wäre Ina nicht mit meinem Mann zusammen, hätte ich sie mir als Freundin gewünscht.

»Liebe Leute, jetzt ist es so weit.« Jürgen machte eine Kunstpause und hob dann die Stimme. »Begrüßen Sie mit mir die bezaubernde Katrin Lehmann.«

Das war mein Stichwort. Ich straffte die Schultern, ging mit energischen Schritten auf die Bühne zu und stieg hinauf. Knipste das energiefressende Flutlicht an. Sah in viele lächelnde Gesichter. Hörte den Applaus. Im Publikum entdeckte ich meine ältere Nachbarin Frau Schneider, die ihren Gehstock umklammert hielt. Meinen Lektor Lutz, auf dessen Knien ein Strauß Sonnenblumen lag. Meine Cousine und beste Freundin Julia, die auf ihren Fingern pfiff. Und mit einem Mal war die Aufregung verflogen. Mit einem Mal bewegte ich mich wie auf Schienen, begrüßte Jürgen, begrüßte das Publikum, lächelte so breit, dass mir die Wangen schmerzten, und hielt mein Buch ins Scheinwerferlicht.

Ich setzte mich auf den Stuhl neben Jürgen und lehnte mich zum Mikrofon vor. »Herzlich willkommen! Schön, dass Sie da sind.«

Und in diesem Moment, dem Moment, in dem eigentlich nichts mehr schiefgehen konnte, entdeckte ich ihn. Er saß in der allerletzten Reihe. Er trug eins seiner lässigen Jacketts über einem weißen T-Shirt, hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und dieses herausfordernde Lächeln auf dem Gesicht, das alles auf einmal sagte:

Hi.

Ja, ich bin auch da.

Überraschung.

Es tut mir leid.

Für den Bruchteil einer Sekunde schubste mich unser Blickkontakt von den Schienen, und mein Tausend-Watt-Lächeln verrutschte. So kurz, dass nicht mal Julia es bemerkte, wie sie mir später berichtete. Schnell beugte ich mich über mein Buch, atmete tief ein, um die erste Szene vorzulesen, und dachte: Es gibt keine Zufälle. Es gibt nur Zeichen.

1

Vier Tage zuvor

Meistens passieren Dinge, die dein Leben verändern, dann, wenn du am wenigsten damit rechnest. An Montagen, an denen du es nicht geschafft hast, deine Haare zu waschen, bevor du deine Cousine vom Flughafen abholst, zum Beispiel.

Ich stand zwischen anderen Wartenden in der Ankunftshalle von Terminal 1 und blickte mich nach Julia um. Hoffentlich treffe ich heute niemanden, dachte ich und sah an mir herunter. Die Camouflage-Leggings, die ich übergezogen hatte, gingen hoffentlich noch als einigermaßen modisch durch. In Kombination mit meinen uncoolen Sandalen und der Mütze, für die es eigentlich zu mild war, wirkte das Ganze jedoch eindeutig verzweifelt. Frau Mitte dreißig versucht sich in Streetstyle und scheitert. Egal, gleich würde Julia durch die Schiebetüren schreiten und von ihrem Fortbildungswochenende berichten, wir würden in ein Carsharing-Auto steigen und zu ihr nach Hause fahren. Duschen und etwas Ordentliches anziehen konnte ich später. Wie hatte ich es nur wieder geschafft, beim Nichtschreiben komplett die Zeit zu vergessen?

Eine Gruppe Businessfrauen in Hosenanzügen kam mit Rollkoffern auf mich zu, gefolgt von einem älteren Herrn mit einem Malteser, der sichtlich empört oben aus einer Hundetasche schaute. Neben mir wartete eine Familie, die ein Plakat vorbereitet hatte. Willkommen zu Hause, Matti! stand in Regenbogenfarben darauf. Vermutlich das Wiedersehen nach einem Austauschjahr in Kanada oder den USA. Ich konnte nur hoffen, dass Julia vor Matti rauskam, sonst würde ich unter Garantie heulen müssen, wenn der Teenager seine Eltern und Geschwister erstmals seit Monaten wieder in die Arme schloss.

Murmel fiepte zu meinen Füßen. Der Hund hatte offenbar auch keine Lust mehr zu warten. Er zog an der Leine und schnupperte am Boden. Ich fasste die Leine enger und sah, dass er an etwas nagte.

»Murmel, aus!« Ich bückte mich und zog ihm etwas aus dem Maul, was sich als Papier entpuppte. Leicht angewidert suchte ich nach einer Möglichkeit, es zu entsorgen, als ich erkannte, dass es sich um einen Briefumschlag handelte. Am oberen linken Eck, wo vermutlich der Absender gestanden hatte, zierten Murmels Zahnabdrücke das Papier. Die Tinte war komplett verlaufen, die Briefmarke halb weggefressen. Auch bei der Empfängeradresse war die Schrift verwischt, der Name nicht mehr zu entziffern.

Da stand nur noch:

Rua das Pedras, gefolgt von einer kaum leserlichen Hausnummer, und darunter:

2520-006 Ilha do Marial

Portugal

Portugal, dachte ich interessiert. Ein Brief, der weit reisen sollte. Wieso lag er hier auf dem Boden des Hamburger Flughafens?

Ich sah mich um. Nicht weit von Murmel und mir stand ein Mülleimer. Hatte ihn jemand dort hineinwerfen wollen und sein Ziel verfehlt? Oder war er verloren gegangen? Und was sollte ich nun damit machen? In den nächsten Briefkasten stecken konnte ich ihn nicht, schließlich waren weder Frankierung noch Empfängeradresse vollständig. Ihn einfach wegzuschmeißen brachte ich aber auch nicht übers Herz. Kurzerhand beschloss ich, zu Hause noch mal in Ruhe mit Lesebrille und bei guter Beleuchtung zu schauen, ob ich etwas retten konnte, und schob den Umschlag in meine Tasche.

Murmel zog erneut an der Leine, diesmal heftiger, und sein nervöses Fiepen verwandelte sich in hysterisches Bellen. Ich blickte auf und sah, warum. Julia hatte die Schiebetüren passiert und steuerte energisch auf uns zu. Ihr akkurat geschnittenes, kinnlanges Haar wippte bei jedem Schritt, der offene Windbreaker wehte hinter ihr her. Kurz vor uns machte sie halt und hockte sich zu meinem Hund auf den Boden. Murmel führte ein Freudentänzchen auf, wobei er mit seinen Krallen einen Faden aus Julias Dreiviertel-Cargohose zog, was sie großzügig ignorierte.

Als die zwei sich einigermaßen beruhigt hatten, richtete sich meine Cousine auf und umarmte mich. »Danke, dass du gekommen bist! Ich hätte echt auch ein Taxi nehmen können.«

»Kein Ding, du weißt ja, dass mir jede Ausrede lieb ist, die mich von der Arbeit abhält.«

»Wirklich, immer noch?« Sie klang ruppig, aber ich wusste, dass sie es nicht so meinte. Als ich leise stöhnte, zog sie die Augenbrauen zusammen. »Alles eine Frage der Zeit, Süße.«

»Bestimmt.« Ich bemühte mich um einen zuversichtlichen Gesichtsausdruck. »Wie ist es bei dir gelaufen?«

»War interessant.« Sie schnappte sich ihren Koffer, und wir machten uns auf den Weg.

»Erzähl mal, was hast du gelernt?«

»Och!« Sie winkte mit der freien Hand ab. »Ich erspare dir die medizinischen Details, nur so viel: Ich habe Unmengen Kaffee getrunken.«

Schade, dachte ich. So war das bei Tim auch immer gewesen. Wenn man selbst kein Medizinstudium absolviert hatte, war man für manche Themen offenbar keine geeignete Gesprächspartnerin. Und wurde abgespeist mit Floskeln wie Das ist schwer zu erklären oder Glaub mir, das willst du gar nicht so genau wissen. Dabei wollte ich genau das.

»Und die anderen?«, versuchte ich es erneut. »Nette Leute dabei?«

Julia warf mir einen strengen Blick zu. »Ich war da zum Arbeiten.«

»Ich weiß, ich will nur etwas teilhaben an deinem Wochenende.«

»Glaub mir, das willst du gar nicht so genau wissen.« Da war es wieder. Ich merkte, wie sie mich von der Seite musterte. »Du siehst … interessant aus. Muss ich mir Sorgen machen?«

Augenzwinkernd schob ich die Mütze zurecht. »Das trägt man jetzt so.«

Sie knuffte mich in die Seite. »Na ja, die Schuhe …«

»Ich weiß. Die Wahrheit ist: Ich war spät dran und hab mir nur schnell was übergeworfen.«

Sie schnupperte in meine Richtung. »So wie du möchte ich ungeduscht auch mal riechen.«

Nachdem ich Julia und ihr Gepäck nach Hause gebracht hatte, ging ich ausgiebig duschen und setzte mich mit nassen Haaren aufs Sofa. Murmel sprang zu mir und rollte sich zu meinen Füßen zusammen. Ich stopfte mehrere Kissen um mich herum, nahm den Laptop vom Couchtisch und zog ihn auf meinen Schoß. Mehrere Mails waren in meiner Abwesenheit angekommen – unter anderem von meiner Mutter, die bedauerte, es nicht zu meiner Buchpremiere zu schaffen, weil sie mit ihrem Mann Ulf auf La Palma war, und von meiner Agentin Franzi, die von meiner Idee, nach der Scheidung wieder unter meinem Mädchennamen zu schreiben, sehr wenig hielt. Ich sei mit Tims Namen erfolgreich geworden, man kenne mich nun mal als Katrin Lehmann.

Wieso nur habe ich damals nicht meinen Namen behalten, dachte ich verärgert. Weil ich jung und naiv war, gab ich mir selbst die Antwort. Zu jung und zu naiv, um voraussehen zu können, dass ich den Namenswechsel im Nachhinein aus Emanzipationsgründen unmöglich finden würde. Ganz abgesehen davon, dass er im Fall einer Scheidung unpraktisch war. Aber wer denkt bei der Hochzeit schon an so etwas?

Ich justierte ein Kissen hinter mir. Auf Dauer konnte ich so nicht arbeiten. Das würde mein Rücken nicht mitmachen. Ich brauchte einen Schreibtisch, am besten ein richtiges Arbeitszimmer. Es gab doch überall diese Co-Working-Spaces oder privaten Bürogemeinschaften, gerade unter freiberuflichen Kreativen. Ich sollte mich mal umschauen, dann käme ich auch mehr unter Leute, das würde mir sicher guttun.

Als ich diese Wohnung gefunden hatte, war sie als Übergangslösung gedacht gewesen. Als Rückzugsort, an dem ich in Ruhe mein Buch fertig schreiben konnte, fernab von den Spannungen zu Hause. Das war nun fast anderthalb Jahre her. Das Buch sollte in wenigen Tagen erscheinen, aber ich war trotzdem nicht nach Hause zurückgekehrt. Stattdessen saß ich noch immer hier: dreißig Quadratmeter, alles in einem Raum – ein Sofa, ein französisches Bett, eine Schrankwand, eine Küchenzeile mit zwei Herdplatten, ein kleiner Esstisch, auf dem sich die Post stapelte.

Tim sagte, er habe es nicht kommen sehen, als ich den ersten kleinen Koffer aus der Wohnung trug. Habe niemals damit gerechnet, dass noch viele Kofferladungen folgen würden, bis in unserem gemeinsamen Nest nichts mehr von mir übrig blieb außer Erinnerungen. Und auch ich hatte anfangs wirklich noch geglaubt, dass es sich nur um eine vorübergehende Krise handelte.

Mein Handy vibrierte in der Tasche, die neben mir auf dem Boden stand. Ich setzte meine neue Brille auf, die ich seit Kurzem brauchte. Ungewöhnlich früh für eine Lesebrille, hatte mir die Augenärztin bescheinigt. Als wäre es eine Auszeichnung. Ich hatte in einem Anflug von Übermut gegen den Rat der Optikerin eins dieser XXL-Modelle gewählt, in der Hoffnung, dass ich damit aussehen würde wie die coolen jungen Bloggerinnen, die sich mit meinen Büchern fotografierten. Stattdessen wirkte ich eher wie eine Figur aus einer Neunziger-Sitcom, der man ein überdimensioniertes Gestell auf die Nase gesetzt hatte, damit auch der oder die letzte Zuschauende kapierte, dass sie schlau, aber schräg war.

Ich holte mein Handy hervor. Als ich sah, wer mir geschrieben hatte, pochte mir das Herz mit einem Mal bis zum Hals. Was für ein merkwürdiger Tag. Manchmal saß ich wochenlang um Worte ringend hier auf dem Sofa, und niemand meldete sich, außer vielleicht Julia, die mir auf dem Weg zu ihrer Schicht im Krankenhaus eine Sprachnachricht schickte. Und heute wollten plötzlich alle was von mir. Mit ihm hatte ich trotzdem nicht gerechnet.

Felix hatte sich seit Monaten nicht bei mir gemeldet. Seit wir uns darauf geeinigt hatten, dass es besser war, wenn wir den Kontakt ganz abbrachen. Seit er mal wieder beschlossen hatte, dass seine Ehe im Gegensatz zu meiner noch zu retten war. Wie stark mein Körper nach so langer Zeit reagierte, wenn sein Name auf dem Display auftauchte, frustrierte mich. Nur ein paar Buchstaben, doch mein Gehirn hatte gespeichert, dass sie in dieser bestimmten Reihenfolge etwas bedeuteten, was alles andere für einen Moment unwichtig erscheinen ließ. Ich hatte gedacht, ich wäre schon weiter. Mit zusammengekniffenen Lippen öffnete ich die Nachricht.

Musste an dich denken, stand da. Mehr nicht.

Ein bitteres Lachen entfuhr mir. Felix war ein Meister darin, mit kleinen Botschaften eine große Wirkung zu erzielen. Zuletzt war es mir immer gelungen, nicht darauf zu antworten. Es hatte eine Zeit gegeben, in der mich seine Spielchen zum Schreiben inspiriert hatten. In der er mich zum Schreiben inspiriert hatte. Noch so eine Sache, die ein für alle Mal zu Ende war.

Murmel zuckte zu meinen Füßen im Schlaf. Ich blickte durch die Schiebetür hinaus auf die kleine Loggia, hinter der die Schienen der Hochbahn zu sehen waren. Würde ich heute etwas schaffen? Oder würde ich wieder nur hier sitzen und damit ringen, dass mir nichts mehr einfiel?

Etwas anderes fiel mir ein. Ich bückte mich erneut zu meiner Tasche und zog den Brief heraus, den ich heute früh am Flughafen eingesteckt hatte. Ein seltsamer Fund. Was wohl darin stand? An wen er sich richtete?

Ich betrachtete nachdenklich die zerlaufene Schrift. Vom Absender konnte ich jetzt, mit der Brille auf der Nase und nachdem Murmels Spucke vollends getrocknet war, immerhin das allerletzte Wort entziffern. Es war keine Überraschung: Hamburg stand da. Der Name des Empfängers dagegen war auch in getrocknetem Zustand zu verwischt, um ihn lesen zu können. Genauso die Hausnummer. Es sah aus, als sei sie zweistellig, mehr war nicht mehr zu erkennen.

Der Name der Stadt klang schön: Marial. Ich zog den Laptop, der noch immer auf meinem Schoß stand, wieder näher heran und tippte den Städtenamen in die Suchleiste ein. Marial lag etwas nördlich von Lissabon, direkt an der Atlantikküste. Ein kleiner Fischerort mit ein paar Hotels und Ferienwohnungen, offenbar touristisch noch nicht allzu erschlossen. Ich vergrößerte den Ausschnitt. Sah ganz so aus, als läge ein Teil des Städtchens auf einer kleinen Halbinsel, dafür stand wohl in der Adresse das Ilha, Insel. Ich begann, Bilder zu suchen. Fand kleine, weiß getünchte Häuser in engen Gassen, dahinter türkisfarbenes Meer. Steilküste, raue Wellen, Surfende vor dem Sonnenuntergang. Die Fotos kitzelten etwas in mir wach, das ich fast vergessen hatte.

Mein Fernweh.

Jahrelang hatten Tim und ich nur Städtetrips gemacht, nie länger als ein paar Tage. Weil er in der Klinik nicht abkömmlich war. Oder weil ich mal wieder ein Manuskript abgeben musste. Wenn wir irgendwo hinfuhren, dann meist mit dem Auto, wegen Murmel. Und auch wenn Julia unseren Hund nahm, blieben wir nie lange, weil es immer etwas zu tun gab, was wichtiger war. Dabei hatte ich das Reisen einst geliebt. Meine erste große Reise mit Tim hatte mich vor vielen Jahren nach Irland geführt und zu meinem ersten veröffentlichten Buch inspiriert, einer philosophischen Erzählung über den Sinn des Lebens. Ich bekam bis heute Briefe, die so schön waren, dass ich es kaum glauben konnte. Von Leser*innen, die mir mailten, meine Geschichte habe sie umdenken lassen. Habe ihnen die Augen geöffnet. Eine Leserin schrieb sogar, meine Worte hätten ihr Leben verbessert. In dunklen Momenten wünschte ich mir manchmal, sie hätten auf mich selbst denselben Effekt gehabt.

Murmel drehte sich im Schlaf auf den Rücken und streckte die Pfoten in die Luft. Ich klickte ein weiteres Foto an. Eine blühende Wiese, dahinter nichts als tiefblaues Meer. Ich musste mal wieder weg. Ich musste verreisen. Ich brauchte eine Auszeit von diesen Hunde-Übergaben mit Tim, bei denen ich mich jedes Mal schuldig fühlte. Von den Schreibtagen auf dem Sofa, die sich immer weniger wie Erfüllung und immer mehr wie harte Arbeit anfühlten. Von den Botengängen für meine alte Nachbarin Frau Schneider, die es nicht mehr zum Supermarkt schaffte und die an Tagen, an denen Murmel nicht bei mir war, manchmal mein einziger Kontakt zur Außenwelt war. Von den Meditationsstunden, zu denen Julia und ich uns schleppten, weil wir uns einredeten, uns damit etwas zu gönnen. Ich sollte mal wieder was tun, was wirklich Spaß machte. Was keinen Sinn hatte, kein Ziel, keinen Abgabetermin. Zum Beispiel auf einer Wiese stehen und aufs Meer schauen.

Ich griff nach dem Briefumschlag und drehte ihn um. Er war nicht mehr richtig verschlossen. An der angekauten Seite hatte sich der Kleber von der Lasche gelöst, Murmel hatte ihn gründlich bearbeitet. Ich könnte ihn einfach öffnen und nachsehen, was darin war. Aber das war nicht richtig, oder? Das machte man nicht. Ich machte so was nicht. Ich sollte ihn wegschmeißen. Verschicken konnte ich ihn ohnehin nicht mehr. Aber irgendetwas hielt mich davon ab.

2

»Atmet noch einmal tief in den Bauch ein«, Ruths Stimme klang schwer und dunkel durch den Raum, »… uuuund wieder aus.«

In einem meiner teuren, schlammfarbenen Yoga-Outfits aus butterweichem Stretchstoff saß ich im Schneidersitz auf einem Meditationskissen. Sonnenlicht fiel durchs Sprossenfenster des Loftraums auf mein Gesicht. Um mich herum hörte ich zwölf Frauen atmen. Die neben mir, die ich vom Sehen kannte, weil sie fast an jeder von Ruths Meditationsstunden teilnahm, stöhnte dabei laut. Das machte sie jedes Mal, und es löste in mir auch heute wieder zwei Empfindungen gleichzeitig aus: leichte Irritation und zugleich Bewunderung, dass sie sich so gehen lassen konnte und es ihr egal war, was die anderen elf Frauen im Raum darüber dachten. Sie war ganz bei sich. Das musste ein toller Zustand sein.

Ich dagegen war ganz bei meinem Erscheinungstermin in drei Tagen, während Ruth uns mit ihrer monotonen Stimme durch die Abschlussmeditation führte.

»Und jetzt fühlt ihr mal dahin, wo es vielleicht etwas hakt«, hörte ich sie wie durch Watte sagen. »Wo der Atem nicht hinwill. Wo ihr das Gefühl habt, der Körper sperrt sich.«

Normalerweise ließ ich mich von meinen eigenen Gedanken tragen. Ich hatte den Versuch, an nichts zu denken, vor langer Zeit aufgegeben. Aber diese Worte lösten etwas in mir aus. Ich wusste, wo mein Atem nicht hinwollte.

»Kämpft nicht dagegen an, nehmt einfach nur wahr, was passiert. Manches muss man nur loslassen, dann löst es sich ganz von allein in Luft auf. Stellt euch vor, wie das, was euch quer sitzt, davonfliegt. Seht ihm dabei zu. Winkt ihm hinterher.«

Einfach loslassen, dachte ich. Einfach davonfliegen lassen.

Ich sah meine Schuldgefühle aus dem Fenster entschwinden, in Richtung Sonne, hoch über die Dächer von Eppendorf hinweg. Dann machten sie kehrt und krabbelten zurück in meinen Bauch, wo sie einen zähen Klumpen bildeten.

Freundliche Wolken trieben über den Sommerhimmel, als ich den letzten freien Tisch auf der Terrasse unseres Stammcafés ergatterte. Heute war Markttag in Eppendorf, und das ganze Viertel war auf den Beinen. Am Tisch neben mir hatte sich eine Gruppe Eltern mit Kinderwagen versammelt, die laut lachend ihre Croissants in die Milchkaffeeschalen tunkten. Zu ihren Füßen standen Einkaufskörbe mit in Papier eingeschlagenem Spargel, Tomaten und Erdbeeren.

Julia stand an der Straßenecke und telefonierte, was mir Gelegenheit gab, den Blick durch die schöne Straße schweifen zu lassen, in der ich wohnte. Mitten hindurch führte die Hochbahn, unter deren Gewölbe sich die Marktstände aneinanderreihten. Das Gebäude, in dem meine Wohnung lag, war ein Fünfzigerjahrebau mit Betonplatten vor den Loggien. Er wirkte wie ein Fremdkörper zwischen den weißen Jahrhundertwendebauten, deren pompöse Außenfassaden mit Ornamenten geschmückt waren. Ich liebte unser Viertel. Auch wenn es mir manchmal auf die Nerven ging, dass hier alle unglaublich gut angezogen waren und man nie jemanden sah, bei dem der Haaransatz herauswuchs oder die Tasche nicht zu den Schuhen passte. Wenn ich so sprach, sagte Julia oft, ich sei doch kein Stück besser, und natürlich hatte sie recht. Bis vor Kurzem hätte ich mich niemals im Morgengrauen in Pyjamahose mit Murmel auf die Straße getraut. Niemals hätte ich mit ungewaschenen Haaren jemanden vom Flughafen abgeholt. Alles Anzeichen dafür, dass ich gerade eine wirklich ungewöhnliche Phase durchmachte.

Ich zog mir die farblich zum Yoga-Outfit passende Cashmere-Wickeljacke über. Dann holte ich mein Handy aus der Tasche. Eine Nachricht war angekommen. Da stand wieder dieser Name. Der, der mir Herzklopfen bereitete.

Kati, bist du okay?

Niemand außer ihm hatte mich je so genannt. Noch ehe ich mich auf das Gefühl einlassen konnte, das diese Worte in mir auslösten, kam Julia an den Tisch.

»Boah, ich brauch ein Croissant. Du auch?«

Ich steckte mein Handy wieder ein. »Ja bitte, mit Kaffee.«

Als Julia mit einem vollen Tablett zurückkam und sich mir gegenübersetzte, fragte ich: »Woran hast du heute beim Meditieren gedacht?«

Sie lehnte sich seufzend zurück. »An mein Drei-Uhr-Meeting, bei dem es um den Patienten auf Zimmer 335 geht.« Sie schob sich eine schlichte Sonnenbrille in die Haare. »Und dass ich noch gucken wollte, ob irgendwo gerade Birkenstocks runtergesetzt sind, ich brauche neue für die Arbeit.«

Ich hob vorsichtig meine volle Kaffeetasse vom Tablett und schnupperte daran. »Ich hab über meine Buchpremiere nachgedacht. Und darüber, dass ich gern mal mit dir in den Urlaub fahren würde.«

Julia ließ ihr Croissant auf dem Weg zum Mund wieder sinken. »Du willst endlich mitkommen? Ich glaub es nicht!«

Ich musste lachen. »Mit in deinen Club? Nein, ich dachte eher, wir könnten irgendwo anders hin. Ohne Animation.«

Julia verzog die schmalen Lippen und biss beherzt in ihr knuspriges Frühstück. Ich musste an die vielen Fotos denken, die sie mir von ihren Fuerteventura-Urlauben geschickt hatte. Einmal im Jahr warf meine grundsolide Cousine knallfarbene Spaghettiträgertops in ihren Alukoffer und verwandelte sich in eine Frau, die vormittags an der Poolbar Macarena tanzte. Diese Reisen waren ihr heilig, aber sie hatte mich bisher nie überreden können, sie zu begleiten.

»Ach schade, ich hätte dir den Club so gern mal gezeigt«, sagte sie jetzt.

Ich trank einen großen Schluck von meinem Milchkaffee. »Lass uns woanders hinfliegen. Eine Woche oder sogar zwei, nur du und ich.«

Sie sah mich skeptisch an. »Und wohin willst du?«

Ich zupfte ein paar Krümel von meinem Gebäckstück und steckte sie mir in den Mund. »Irgendwohin, wo nicht viel ist.«

»Wie – wo nicht viel ist?« Die typische steile Falte bildete sich zwischen Julias Augenbrauen.

Todernst tunkte ich mein Croissant in den Kaffee. »Jugendherberge Sauerland oder so.«

Sie grinste mich über ihre große Keramikschale hinweg breit an. »Klingt verlockend. Da frag ich direkt mal, ob ich Urlaub bekomme.«

Ich war gedanklich noch immer bei unseren Urlaubsplänen, als Murmel und ich am nächsten Morgen an der Außenalster spazieren gingen. Murmel bemerkte zuerst, dass Tim uns entgegenkam. Der Hund begann, an der Leine zu ziehen und zu fiepen, was schließlich auch Tim hörte, der gedankenverloren über das glitzernde Wasser geschaut hatte.

»Hey, mein kleiner Schatz.« Bei uns angekommen, beugte er sich zu unserem Hund, der sich völlig außer sich im Kreis drehte und versuchte, ihm durchs Gesicht zu schlecken. Niemals zuerst den Hund begrüßen. Am besten den Hund überhaupt nicht begrüßen. Alles Ratschläge unserer Hundetrainerin, an die Tim und ich uns nicht hielten.

Erst als Murmel sich einigermaßen beruhigt hatte, wandte Tim sich mir zu. »Hey.« Er nahm sein Käppi ab und rieb sich über den raspelkurz rasierten Kopf.

»Hey.«

Wir umarmten uns. Es fühlte sich so vertraut an, dass es wehtat. Was waren wir, wenn es kein wir mehr gab? Ich hatte mich das oft gefragt, seit wir endgültig entschieden hatten, uns zu trennen. Bei Tim war viel passiert seitdem.

Ich ließ Murmel von der Leine, und wir liefen am Ufer entlang. Der Morgen war windstill, sodass keine Segler zu sehen waren. Um diese Uhrzeit waren auf dem Wasser nur ein paar tapfere Stand-up-Paddler unterwegs und am Ufer jede Menge Joggende, die wie ferngesteuert um Hamburgs Binnengewässer eilten. Manchmal rannte ich in ihrem Trupp mit, und jedes Mal dachte ich, wie absurd es war: all diese Stadtmenschen, die ums Wasser kreisten, als gelte es, ein unsichtbares Ziel zu erreichen, das nur sie kannten.

»Bist du schon aufgeregt?« Tim sah mich von der Seite an.

Ich erwiderte seinen Blick. Er trug seinen typischen Dreitagebart und war ein bisschen schmaler im Gesicht geworden. Ich kannte das, es war immer so in Stressphasen. Oder wenn er frisch verliebt war.

»Ach.« Ich blickte wieder aufs Wasser, auf dessen Oberfläche sich das Sonnenlicht brach. »Schon.«

»Die Leute werden auch dieses Buch lieben.«

Tim blieb stehen und schaute sich nach Murmel um. Er hatte angefangen, vor einem Kastanienbaum ein Loch zu buddeln. Tim pfiff laut, woraufhin Murmel die erdige Schnauze hob und mit fliegenden Ohren angehechtet kam.

»Schreibst du eigentlich schon am nächsten Buch?«

Ich scharrte mit meiner Sandale im Schotter. »Theoretisch ja.«

Er lachte leise. »Das sagst du jedes Mal.«

Ich schnaubte. So war das, wenn man immer funktionierte. Die Leute glaubten einem nicht mehr, wenn es mal nicht rundlief.

Tim lobte Murmel, der mit hängender Zunge bei uns angekommen war. »Ina hat ihm was Neues beigebracht. Auf sie hört er richtig gut.«

»Glaub ich dir.« Ich sollte jetzt nachfragen, was, aber etwas in mir sträubte sich dagegen. Ich wollte es lieber nicht so genau wissen, also grinste ich nur und überreichte Tim eine Tüte mit Hundeleckerchen für die gesunde Darmflora sowie Murmels liebstem Spieltier. »Ich hab dir noch einen Budni-Gutschein dazugelegt, den ich doppelt hatte, und einen Katalog vom Schauspielhaus. Die spielen tolle Sachen diese Saison, vielleicht ist das was für euch.«

»Du bist die Beste, danke!« Tim knetete seine Hände. »Hör mal, Katrin …«

»Ja?«

»Ich fände es toll, wenn wir mal wieder was gemeinsam unternehmen. Es ist jetzt über ein Jahr vergangen …« Er schob sein Käppi zurecht. »Ich würde mich wirklich freuen, wenn du bald zum Abendessen kommst. Ina möchte dich endlich richtig kennenlernen.«

Murmel setzte sich auf meinen Fuß. »Okay, das heißt, es ist richtig ernst, oder?«

Er atmete gedehnt aus. »Ja. Ich glaube schon. Es ist für uns alle nicht leicht, und vielleicht ist es auch naiv, aber ich wünsche mir so sehr, dass wir miteinander auskommen.«

Murmel stupste mich in die Wade und hinterließ einen Erdfleck auf meinem cremefarbenen Rock.

»Das wünsche ich mir auch.« Wir sind jetzt alle irgendwie eine Familie, ob ich es will oder nicht, dachte ich. Wir haben immer noch Murmel zusammen. Tim ist immer noch Julias Chef. Und der Mensch, mit dem ich das größte Stück Vergangenheit teile. »Wann passt es euch?«

Ein erleichtertes Lächeln zog sich über sein Gesicht. »Vielleicht spontan morgen? Oder hast du vor der Buchpremiere noch zu viel zu tun?«

Ich wischte die Erde von meinem Rock, auf dem ein gräulicher Schatten zurückblieb. »Nein, eigentlich bin ich ganz froh, wenn ihr mich etwas ablenkt.«

3

»Schön, dich zu sehen! Komm rein!« Tim stand mit geröteten Wangen in der Tür zu Inas Wohngemeinschaft. Murmel drängte sich an ihm vorbei und führte sein Freudentänzchen auf.

Ich begrüßte beide. Dann blickte ich auf den Haufen Sneakers vor der Tür und fragte mich, ob ich meine Lackhalbschuhe danebenstellen sollte.

Tim las meine Gedanken. »Lass sie ruhig an, das wird hier nicht so eng gesehen.«

Ich trat hinter ihm in den Flur. Der leicht muffige Geruch weckte Erinnerungen an meine Studienzeit. Ina war kaum jünger als ich, das wusste ich. Offenbar war sie aber deutlich jünger geblieben. Sofort bereute ich es, mich extra schick gemacht zu haben. In dieser Umgebung wirkte mein Outfit – ein kimonoartiges rotes Kleid – irgendwie bemüht.

Der Flur führte an mehreren geschlossenen Zimmertüren vorbei, bis er in einen hellen, großen Raum mündete. Er war eingerichtet wie viele moderne Coffeeshops: Betonboden, zusammengewürfelte Flohmarktmöbel, überall Möglichkeiten, sich hinzufläzen. An der offenen Küchenzeile stand Ina in einem ihrer Männerhemden, mit nackten Beinen und Füßen, und nahm gerade Teller aus einem Regal. Die kupferroten Haare hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden.

Sie drehte sich mit einem vorsichtigen Lächeln zu mir um. »Wow!«, entfuhr es ihr bei meinem Anblick. »Hallo, Katrin.«

»Hi, Ina.«

Ich bemerkte, wie Tim uns beobachtete. Ina stellte die Teller auf den großen Esstisch. Kurzerhand ging ich auf sie zu und umarmte sie. Sie wurde stocksteif, wie ein Tier, das man streicheln will und das sich angegriffen fühlt.

»Ich freue mich über die Einladung«, sagte ich und überreichte ihr eine Flasche Wein und eine Frischhaltedose aus Glas. »Ich habe Beeren-Crumble zum Nachtisch mitgebracht, ich hoffe, das ist okay?«

Als ich einen Schritt zurücktrat, bemerkte ich die Erleichterung auf ihrem Gesicht. »Oh, wie nett. Danke!« Wenn sie lächelte, sah ihre Nase noch ein bisschen stupsiger aus.

Tim stand neben mir und strahlte mich dankbar an.

Es gab Pasta mit Spinat, gezogen im Hochbeet des Schrebergartens, der zur WG gehörte. Gekocht hatte Tim, was mich kurz sprachlos machte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er jemals für mich gekocht hatte. Als er zum wiederholten Mal betonte, dass er das ganz allein zubereitet habe, lehnte Ina sich verschwörerisch zu mir herüber. »Ehrlich gesagt versuche ich gar nicht, für ihn zu kochen, weil wir beide wissen, dass du in dieser Hinsicht die Preise verdorben hast.«

Kurz sah ich in ihrem Gesicht den Schrecken darüber, dass sie das tatsächlich laut gesagt hatte.

Wenn ihr wüsstet, dachte ich. Wenn ihr wüsstet, dass ich nicht mehr koche, seit es niemanden mehr gibt, der sich darüber freut.

»Na ja.« Ich schob mir süffisant grinsend etwas Spinat auf die Gabel, dem für meinen Geschmack ein wenig mehr Muskatnuss gutgetan hätte. »Ich glaube, auf gewisse Weise bekommt es ihm ganz gut, dass er nicht mehr regelmäßig bei mir isst.«

Ina machte große Augen. Als ich anfing zu lachen, schlug sie sich prustend die Hand vor den Mund.

Tim schüttelte den Kopf. »Keine halbe Stunde, und ihr verbündet euch gegen mich. Läuft, würde ich sagen.«

Der Wein, den ich mitgebracht hatte, war bald leer, und Ina holte einen neuen aus dem Kühlschrank. Sie erzählte von ihrer Facharztausbildung auf der Kinderstation, vom Schrebergarten der WG und vom Erfolg der Modelinie ihrer Freundin, die zwei Stockwerke weiter unten mit ihrer Familie wohnte. Dabei wanderten immer mehr rote Flecken über ihren Hals. Ganz offensichtlich redete sie gegen ihre Nervosität an. Ich konnte nicht anders, als sie dafür zu mögen.

»Dein neues Buch ist super«, sagte sie irgendwann und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. »Ich hab es innerhalb von einem Wochenende verschlungen.«

Ich hielt einen Moment inne. Dann sah ich zu Tim, der angestrengt auf seinen Teller blickte. Mein Buch erschien erst morgen. Bisher kannten es nur meine Agentin, mein Lektor und – Tim.

Ina sah zwischen Tim und mir hin und her und wirkte mit einem Mal erschrocken. »Oh!« Sie rieb sich über den feuerroten Hals. »Entschuldige, er hat so davon geschwärmt und …«

Tim war blass geworden. »Katrin, hätte ich …«

Ich winkte ab. »Schon okay. Freut mich, dass es dir gefällt.«

Wir aßen schweigend weiter, und ich fragte mich, ob der Moment jetzt günstig wäre, Tim um einen Gefallen zu bitten.

»Hör mal, was ganz anderes.« Ich zog den Gürtel meines Kleides nach. »Ich würde gern mit Julia Urlaub machen. Meinst du, es gibt eine Chance, dass sie in den nächsten Wochen freibekommt?«

Ina bestand darauf, die Küche aufzuräumen, während Tim mir die Dachterrasse zeigte. Sie war fast so groß wie das Wohnzimmer und bot einen tollen Ausblick über die Jarrestadt.

Ich lehnte mich ans Geländer und schaute über die Dächer der Rotklinkerbauten, hinter denen die Sonne unterging.

Tim trat neben mich. »Ich fand es so gut, ich musste das mit ihr teilen. Bist du mir böse?«

Kurz war ich sprachlos. Er hatte mit mir nie groß über meine Bücher geredet. Wenn ich ihm eines meiner Manuskripte zu lesen gab – als erstem Testleser –, sagte er jedes Mal nur wenige Sätze dazu. Dass er es liebe. Dass er sehr stolz auf mich sei.

»Ich bin dir nicht böse«, sagte ich schließlich. »Ich schätze, das ist ein gutes Zeichen. Für mein Buch. Und für euch.«

Tim kam noch ein Stück näher, ich konnte jetzt seine kräftige Schulter an meiner fühlen. »Danke, dass du so cool bleibst. Wenn es mal etwas gibt, von dem du nicht willst, dass ich …«

»Es ist wirklich okay, Tim.«

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, und ich versuchte, ihn herunterzuschlucken. »Sie gehört jetzt eben zu dir«, sagte ich mit belegter Stimme. »Ich werde mich daran gewöhnen.«

Er griff nach meiner Hand. Die Sorge in seinem Blick konnte ich kaum ertragen.

Ich zog meine Hand zurück. »Lass mal, ich will jetzt nicht heulen, okay?«

»Okay.« Er lehnte sich neben mir ans Geländer. »Das verstehe ich.«

Vielleicht wäre es leichter, wenn er nicht immer noch so wundervoll wäre, dachte ich.

In meiner Handtasche vibrierte das Handy. Mehrmals hintereinander. Ich blickte zu Tim, und etwas Merkwürdiges geschah. Ich konnte in seinen Augen lesen, dass ihn dieser Moment an etwas erinnerte. An andere Momente, in denen mein Handy mehrmals hintereinander vibriert hatte. In denen wir beide wussten, wer mir schrieb.

»Felix schreibt wieder.« Keine Ahnung, warum ich das sagte. Vielleicht wollte ich endlich ehrlich zu ihm sein. So ehrlich, wie er mir gegenüber gewesen war, als sich in unserer Trennungsphase etwas mit Ina anbahnte, der neuen Kollegin, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte.

Tims Miene verfinsterte sich. Ein Teil von mir fragte sich, ob ich nur hatte herausfinden wollen, ob es ihm noch wehtat. Das tat es – ich konnte es sehen –, und sofort schämte ich mich dafür.

»Aber keine Sorge«, fügte ich schnell hinzu. »Das Thema ist für mich durch.«

Tims Gesicht entspannte sich wieder etwas. »Hauptsache, es geht dir gut. Du siehst auf jeden Fall so aus. Tolles neues Kleid übrigens!«

Ein heiseres Lachen entfuhr mir.

Tim sah mich beunruhigt an. »Bist du gestresst wegen der Termine fürs neue Buch?«

»Ja. Und davon, dass ich das nächste nicht geschrieben bekomme.«

Tim schwieg einen Moment. »Hat das auch mit … dem hier zu tun?«

Ich sah hinunter auf die kleine Kopfsteinpflasterstraße, wo gerade eine ältere Dame zwei Dackel spazieren führte. »Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Vermutlich war es alles etwas viel in letzter Zeit.«

Eine Zeit lang schwiegen wir gemeinsam. Ich konnte von drinnen hören, wie Ina mit einer ihrer Mitbewohnerinnen sprach. Dann wurde die Musik lauter gedreht.

Tim räusperte sich. »Wir müssen irgendwann mal über die Wohnung reden.«

Mit einem Mal ahnte ich, warum Ina uns allein gelassen hatte. Warum Tim mir die Dachterrasse zeigen wollte. Unser Moment der Nähe fühlte sich plötzlich schal an.

»Das sind ja auch deine Sachen, du solltest vorbeikommen und schauen, ob du noch etwas davon haben willst.«

Ich musterte ihn. »Sie will zu dir ziehen, oder?«

Er antwortete nicht sofort. »Ich will das«, sagte er schließlich leise. Von drinnen hörte ich Gelächter. »Sie ist sich noch unsicher, ob wir nicht etwas Neues suchen sollten. Mir wäre am Ende beides recht.«

Ich hatte gewusst, dass es ernst mit den beiden war. Dass Ina für Tim kein Trostpflaster war, um über unsere Trennung hinwegzukommen. Ich wollte ihn auch gar nicht zurück, ich wusste, dass es für uns beide besser so war. Weshalb nur fiel es mir dann so schwer, mich für ihn zu freuen?

»Bevor das Ganze konkreter wird«, fuhr Tim fort, »wollte ich es aber mit dir klären. Vielleicht möchtest du die Wohnung ja auch haben.«

Ich schnaubte. »Ich denke, sie passt eher zum Gehalt zweier Ärzte als zu dem einer Schriftstellerin mit Schreibblockade.«

Tim sah verletzt aus. Ich hatte ruppiger geklungen, als ich beabsichtigt hatte.

Ich griff nach seiner Hand, die auf dem Geländer lag. »Entschuldige, ich meine es nicht so.«

»Schon gut.« Er legte seine andere Hand auf meine und drückte sie. »Denk einfach mal drüber nach, okay?«

»Wer will Nachtisch?«

Wir drehten uns beide um.

In der Terrassentür stand Ina. Kurz huschte ihr Blick über unsere Hände, aber sie ließ sich nichts anmerken.

»Eigentlich bin ich ziemlich satt.« Ich zog meine Hand aus Tims. »Aber Nachtisch passt immer noch.«

Tim wollte mir unbedingt ein Taxi rufen, doch ich hatte darauf bestanden zu laufen. Es war ein komisches Gefühl, ihn mit Ina in der Tür stehen zu sehen, Murmel mit fragendem Fiepen zu ihren Füßen. Tim hatte rote Wangen vom Wein. Unter Inas Augen krümelte etwas Kajal, ihr Pferdeschwanz war zerzaust. Beide winkten. Mich beschlich das Gefühl, in Inas Gesicht zu lesen, dass sie wusste, wie ich mich fühlte.

Unten auf der Straße sog ich tief die frische Abendluft ein. Ich hatte es überstanden. Ein weiterer wichtiger Schritt zu mehr Normalität. Zu einem Leben, in dem ich verstanden hatte, dass eins meiner großen Ziele nicht mehr zu erreichen war: es besser zu machen als meine Eltern. Vielleicht war es das, was gerade am meisten wehtat. Nicht Ina und Tim zusammen. Nicht die Tatsache, dass Tim so schnell wieder jemanden gefunden hatte, der vermutlich noch besser zu ihm passte als ich. Sondern mein eigenes Scheitern.

Ich lief durch die Straßen und lauschte den Gesprächen, die von den Balkonen herunterschallten. Der Musik, die Jugendliche in den Parks hörten. Und zu meiner Traurigkeit gesellte sich ein gefährliches anderes Gefühl. Das von Leichtsinn.

Dieser Sommerabend musste noch nicht vorbei sein. Ich könnte noch ein bisschen weiter Wein trinken. Vielleicht könnte auch ich in den Armen von jemandem einschlafen. Ich versuchte, gegen den Impuls anzukämpfen, doch ich wusste bereits, dass ich keine Chance hatte. An einer Brücke zwischen Winterhude und Eppendorf blieb ich stehen. Unter mir schimmerte dunkel das Wasser eines Alsterfleets. Ich holte mein Telefon hervor und las die Nachrichten, die Felix mir vorhin geschickt hatte.

Ich vermisse dich.

Ist alles gut bei dir?

Kati?

Ich musste daran denken, wie ich Felix zum ersten Mal gesehen hatte. Auf der Leipziger Buchmesse vor drei Jahren. Am Stand meines Verlages hatte sich eine Traube um einen Mann mit zurückgegelten, grau melierten Haaren und Hipster-Hornbrille gebildet. Aufgekratzte Leserinnen streckten ihm ihre Bücher entgegen, damit er sie signierte. Er sah jede von ihnen dabei aufmerksam an. Lächelte. Fragte sie etwas. Sein Interesse wirkte echt. Ich beobachtete, was mit den Frauen passierte, wenn er ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte. Sie fingen an zu kichern, sie wurden rot. Erwachsene Frauen.

Neben mir hatte mein Lektor Lutz gestanden. Ich weiß noch, dass er eine seiner bunten Fliegen trug und meinem Blick folgte. »Irgendein Soziologe, der einen Ratgeber über glückliche Beziehungen geschrieben hat.« Lutz strich sein kariertes Jackett glatt. »Scheint gut anzukommen.«

Ich hatte mit den Augen gerollt. »Tja, die Damenwelt liegt ihm offenbar bereits zu Füßen.« Wir kicherten in uns hinein. Hätte ich vielleicht besser nicht tun sollen.

Jetzt wählte ich seine Nummer, bevor das letzte Fitzelchen Vernunft in mir mich stoppen konnte.

Er ging sofort dran. »Da bist du ja.«

Ein Satz. Ein Satz von ihm, und mir lief ein Schauer den Rücken herunter.

Scheiße.

»Wir wollten das nicht mehr machen«, sagte ich und hörte mir selbst an, dass ich es nicht so meinte.

Felix schwieg. Im Hintergrund lief Musik.

»Wo bist du?«, fragte ich.

Ich hörte Stimmen, das Klappern von Geschirr. »Wir haben Gäste.«

Ich hasste mich augenblicklich dafür, ihn angerufen zu haben.

Noch ehe ich das Gespräch beenden konnte, sagte er: »Bitte verzeih, kann ich dich später …«

Mitten im Satz legte ich mit zittrigen Fingern auf. Am liebsten hätte ich das Telefon ins dunkle Wasser unter mir geschleudert. Wie dämlich war ich? Da hatte ich monatelang Distanz aufgebaut, um mir und ihm und allen anderen zu beweisen, dass es endgültig vorbei war, dass seine Masche bei mir nicht mehr zog, dass ich nicht länger die bedürftige Frau war, die auf ihn wartete. Und dann reichten wenige Nachrichten, ein paar emotional schwierige Tage und drei Gläser Wein – und ich machte all das innerhalb von einer Minute zunichte.

Ich hätte meinen Frust gern in die Nacht hinausgeschrien, aber ich ließ es bleiben – aus Angst, dass irgendjemand denken könnte, ich bräuchte ernsthaft Hilfe. Stattdessen lief ich in meinem hübschen roten Kleid über die Brücke und weiter durch die beleuchteten Straßen in Richtung Eppendorf. Was hatte ich in meinem verklärten Kopf gedacht? Dass ich ihm meinen Standort schickte und er sich ein Taxi rief? Dass wir in einer Bar noch ein paar Drinks bestellten und uns dabei mit Blicken auszogen? Dass wir danach in meiner Wohnung landeten und genau das taten? Ich konnte dankbar sein, dass er und seine Frau gerade Gäste hatten. Denn ansonsten wäre es genau so gekommen. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was das für Folgen gehabt hätte.

Zu Hause stand ich einen Moment in meiner dunklen Wohnung. Wie war ich nur in diese Lage geraten? Wieso hatten Tim und ich unsere Liebe vertrocknen lassen wie einen vergessenen Blumenstrauß? Wieso wohnte ich mit Mitte dreißig in einem Einzimmerappartement, in dem ich kein einziges Bild aufgehängt hatte? Wieso schaffte ich es nicht, mich richtig auf mein neues Buch zu freuen, geschweige denn das nächste zu schreiben? Nichts davon passte zu meinem Anspruch an mich selbst.

Vor einigen Jahren, als mein erstes Buch zum Erfolg wurde, hatte mich mal eine Journalistin gefragt, wo ich mich in fünf Jahren sähe. Ich hatte geantwortet: »Im Grunde hoffe ich, dass alles genau so bleibt, wie es gerade ist.«

Nun war mir nichts geblieben als der Hund. Und auch der nur in Teilzeit.

Ich stellte die Lackschuhe ins Regal und ließ mich aufs Sofa fallen. Das Licht einer vorbeirauschenden Hochbahn fiel ins Zimmer. Einige Minuten saß ich ganz still da. Irgendwie fühlte sich das Alleinsein hübsch zurechtgemacht noch einsamer an als ungeduscht in Camouflage-Leggings. Als wäre es eine Verschwendung, dass niemand mich hier sitzen sah, mit meinen Beach Waves und dem Rouge auf den Wangen, das farblich zum Kleid passte.

Dabei wusste ich selbst nicht genau, was eigentlich mein Problem war. Im Grunde war alles so gut wie seit Langem nicht mehr. Tim war offensichtlich glücklich mit Ina. Ich hatte mich endgültig von meiner unseligen Affäre losgesagt, wenn man den Ausrutscher heute nicht mitrechnete. Wir hatten gerade zu dritt einen netten Abend verbracht. Das Leben ging weiter. Und trotzdem. Es fühlte sich an, als würde ich auf einem dieser Laufbänder am Flughafen stehen und auf der Stelle treten, weil es in die falsche Richtung lief.

Schluss mit dem Selbstmitleid, beschloss ich. Es lag in meiner Hand, etwas zu ändern. Wie sollte es anders werden, wenn ich tagein, tagaus auf diesem Sofa saß und darauf wartete, dass etwas passierte? Natürlich war ich da bei Felix’ Nachrichten kurz schwach geworden. Wenn ich wollte, dass es mit meinem Leben voranging, musste ich es selbst in die Hand nehmen.

Morgen erschien mein neues Buch, das würde für einigen Trubel sorgen. Und danach würde ich – musste ich – in den Urlaub fahren. Am besten irgendwohin, wo ich mal richtig raus war.

Aus irgendeinem Grund dachte ich wieder an den Brief, den ich am Flughafen gefunden hatte. An die Bilder aus Portugal. Der Umschlag lag noch immer auf dem Couchtisch. Ich machte das Licht an und griff danach. In dem Moment, in dem ich ihn hochhob, sprang die Lasche auf. Der Kleber hatte sich komplett gelöst. Ich könnte den Inhalt nun einfach so herausnehmen und anschauen.

Das konnte ich nicht machen.

Oder?

Denn was, wenn dies kein Zufall war? Wenn jemand auf diesen Brief wartete? Wenn er eine wichtige Botschaft enthielt? Wenn ich ihn gefunden hatte, damit er seine Empfängerin oder seinen Empfänger doch noch erreichte?

Ich griff nach meiner Brille, die ebenfalls auf dem Tisch lag, und setzte sie auf. Zog den Brief sorgsam aus dem Umschlag. Faltete das schlichte weiße Papier auseinander.

Vorder- und Rückseite waren mit einer großzügigen, ordentlichen Handschrift beschrieben. Zweifel stiegen in mir auf. Diese Zeilen waren nicht für mich bestimmt. Ganz kurz erwog ich, den Brief doch wieder wegzulegen. Aber meine Neugierde war größer, und so begann ich zu lesen.

Lieber Filipe,

es tut mir leid, dass ich nicht gekommen bin, um dich zu verabschieden. Ich weiß, ich hatte es versprochen. Ich vermute, meine kurze Nachricht muss dir herzlos erschienen sein. Aber ich habe den Gedanken einfach nicht ertragen, dass du gehst. Jetzt, wo gerade alles so schön war.

Als wir uns kennenlernten, hast du mir direkt gesagt, wann du wieder abreisen würdest. Was ich nicht geahnt habe, war, dass ich so starke Gefühle für dich entwickeln würde. Ich habe dich immer im Glauben gelassen, aus uns könne nichts Ernstes werden. Ich habe immer behauptet, eine Fernbeziehung käme für mich nicht infrage. Aber seit du weg bist, bin ich sicher, einen Fehler gemacht zu haben. Ich glaube jetzt, dass wir alles können, wenn wir nur wollen. Wenn die Gefühle zwischen uns stimmen, kann uns nichts davon abhalten, zusammen zu sein. Dann finden wir einen Weg. Glaubst du auch noch daran? Kannst du mir und uns diese Chance geben?

Ich weiß noch, wie du mir erzählt hast, was deine Oma, deine geliebte vovó, immer sagt. Dass man es weiß, wenn man seinen Menschen trifft. Dass man es einfach irgendwie weiß. Nun, Filipe, seit du weg bist, weiß ich es.

In Liebe

deine Zoé

Erst als ich das Papier auf mein rotes Kleid sinken ließ, merkte ich, wie gerührt ich war. So fühlte man, wenn man richtig verliebt war. So hatte ich damals für Tim empfunden.

Ich las den Brief noch einmal. Wie tragisch, dass Filipe ihn nicht erhalten würde. Dass ich daran vielleicht eine Mitschuld trug, weil ich Murmel den Umschlag nicht schnell genug entrissen hatte. Ich konnte nur hoffen, dass Zoé ihn das, was sie ihm sagen wollte, noch auf anderem Wege hatte wissen lassen.

4

Am Tag meiner Buchpremiere erwachte ich mit dem typisch flauen Gefühl, das großen Ereignissen vorausgeht. Ich hängte meine neue fließende Hose, die ich mir extra für diesen Anlass gekauft hatte, vorne an den Schrank, genau wie die dazugehörige Bluse. Probierte verschiedene Schuhe an und entschied mich doch wieder für die spitzen Pumps, die ich meine Lesungsschuhe nannte, weil sie mir schon oft Glück gebracht hatten. Als wäre ich eine Fußballerin, die um einen Pokal kämpfte. Dabei kämpfte ich nur gegen mich selbst. Gegen den Teil von mir, der überzeugt war, alle im Raum auf meine Seite ziehen zu müssen. Ich wusste, dass ich abends unzufrieden im Bett lag, wenn ich das Gefühl hatte, auch nur eine Person im Publikum gelangweilt zu haben.

Ich lackierte mir die Nägel und trug eine Gesichtsmaske auf. Beim Einmassieren betrachtete ich die feinen Linien um meinen Mund und meine Augen. Meine Kosmetikerin hatte neulich gesagt, es wäre nie zu früh, um mit Botox anzufangen. Ich hatte nur gelächelt und insgeheim gedacht: Wenn man ein Publikum mit etwas so Leisem wie einem Buch fesseln will, braucht man eine sehr laute Mimik – und dafür jeden verfügbaren Muskel. Ich konnte das: mit meiner Mimik einen Raum für mich gewinnen. Das sagte ich wie ein Mantra vor mich hin, während ich die Maske mit einem feuchten Waschlappen entfernte. Ich war gut darin. Ich musste nur noch lernen, es auch zu genießen.

Gegen Mittag hatte ich noch einmal alle Stellen laut gelesen, ausgiebig geduscht und die kleinen Geschenke für den Moderator, Lutz und die Buchhändlerin – je eine Flasche Wein und ein Tütchen selbst geröstete Kichererbsen – sowie eine Flasche Sekt in meine Tasche gepackt. Außerdem hatte ich Frau Schneider, die ebenfalls zur Lesung kommen wollte, ihre Thrombosestrümpfe hochgerollt, weil sie fürchtete, der mobile Pflegedienst würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Ich musste mich nur noch anziehen, frisieren und schminken.