Am Rande der Zeit - Charlotte Camp - E-Book

Am Rande der Zeit E-Book

Charlotte Camp

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Beschreibung

Am Rande der Zeit

Viele Jahrre glaubte er allein zu sein, der einzige Mensch auf der Erde dem es gelungen war in andere Zeiten vorzudringen. Er fühlte sich einsam, unverstanden, mit keinem konnte er seine Erlebnisse teilen. Keiner hatte je das Ungeheuerliche, das einmalige verstanden. Dann sah er >Sie<, er glaubte seinen Augen nicht zu trauen, sie stieg zögernd aus dem Zeitkanal, den nur er kannte, er schnappte nach Luft, ihr Anblick haute ihn um. Niemals zuvor hatte er solch eine markellose Frau gesehen, atemberaubend schön, sie kam tatsächlich aus der düsteren Höhle, dem Zeitkanal.

Er erinnerte sich an den besonderen Tag, als er mit ungläubigem Staunen ein Wesen direkt aus dem Tunnel kommen sah. Sein Staunen wuchs an, als er jene Gestalt eine Kappe vom Kopf riss und mit einer einzigen Bewegung eine silberne Haarflut über den Rücken rieseln ließ, eine Frau, und was für Eine. Sie schien direkt aus dem Hjmmelstor zu treten, aus dem Garten-Eden.

Nun waren sie schon über 70 Jahre in inniger Liebe verbunden, einer Liebe die bis in die Ewigkeit dauern sollte, wenn da nicht Missgunst, Hass und Neid der Anderen wäre. Was hatte sie nicht alles gemeinsam überstanden, waren in die bizarre Welt der Vorzeit geraten und konnten ihr wieder entfliehen. Duchlebten die tiefsten Abgründe der Hölle, doch sie genossen auch alle Höhen der Lust.

Eine unglaublich lange Zeit lebten sie schon in der Vergangenheit, doch nun hatte sich alles verändert, mittlerweile hatte die Vergangenheit die Zukunft eingeholt und einen äußerst gefährlichen Punkt erreicht, den Rand der alten Zeit. Die Zeiten aber durften sich nicht vermischen.

Es würde zu einem unvorstellbaren Chaos führen, war ihnen klar. Sie würden nicht nur die Jugend und Hochzeit der eigenen Eltern mit ansehen, sondern unweigerlich auch Zaungäste  der eigenen Geburt.

Das jedoch würde ihren sicheren Tod bedeuten. So blieb ihnen nur die einzige Alternative, wieder in die Vergangenheit zugehen.

Doch dismal erwägen sie noch tiefer in die alte Zeit einzutauchen, tiefer als je zuvor. "Die Zeit vergeht so schnell mein Schätzchen", murmelte Günter und strich seiner Liebsten zärtlich über die Wangen. Sie schmiegte sich in seine Arme, griff nach seiner Hand und lächelte verzagt. Doch ein beschauliches, ruhiges Leben war für sie nicht vorgesehen. Sie verirrten sich in dem Strudel der Zeiten...

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Charlotte Camp

Am Rande der Zeit

Das falsche Paradies

Zur Autorin: Nach einem turbulenten Leben, in selbst gewählter Ruhe und Abgeschiedenheit, widmet sie sich nun ausschließlich ihrem Hobby, dem Schreiben, fantastischer Abenteuer Romane. BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Am Rane der Zeit

 

 

Charlotte Camp

Am Rande der Zeit

Kapitel 1: Irrwege

Er war einfach gegangen, hatte mir vom Hoftor noch einmal lachend zugewunken und mich allein gelassen. Nun saß ich am Küchentisch und weinte um unsere Zeit, die vielen Jahre. Was hatten wir alles erlebt, durchlitten und überstanden, sollte nun alles zu Ende sein?

Warum müssen wir so weit zurückgehen, so tief eintauchen in die Vergangenheit.

„Wir treffen uns heute auf dem Dorfplatz am frühen Abend gegen 18 Uhr mein Schätzchen“, hatte er mir noch zu gerufen ehe er sich auf den Weg den Hang hinaufbegeben hatte.

„Ich kann es schon jetzt nicht erwarten dich dort wieder zu sehen“. Werde ich ihn wiedersehen, wird er mich erkennen? Es wird Zeit, dachte ich und machte mich voller Zweifel ebenfalls auf den Weg zur Höhle, dem Zeitkanal. Hundert Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, was werde ich tun, wenn unser Plan misslingt. Ich zögerte kurz, ehe ich die Höhle betrat. Warum hatte ich gerade vor dieser Zeitreise solche Angst, 1871 dachte ich, welch ein Wahnsinn, ich fürchtete, all meine Erinnerungen an mein bisheriges Leben einzubüßen, denn diese Zeit lag ja weit vor mir, wenn ich die Vergangenheit betrat. Wie um Himmelswillen sollte er mich wiedererkennen, wenn er mich noch gar nicht kannte. Ich tastete nach meinem Büchlein, in das ich vorsorglich alles notiert hatte und zog es aus meiner Tasche, warum bin ich hierhergekommen, überlegte ich als ich aus der Höhle wieder ins Freie trat. Ich muss in dem Büchlein lesen, wusste ich. Ich befinde mich jetzt im Jahr 1871 aber warum, was will ich hier in dieser frühen Zeit. Ich schlug das Buch auf und begann zu lesen, bald wusste ich genug. Ich wusste vorher das ich nach der Zeitreise alles erlebte, alles Gelebte vergessen hatte. Ich wusste auch das all die Jahre dazwischen jetzt nicht mehr existent waren, als hätte es sie niemals gegeben und dennoch bin ich freiwillig in diese Zeit gegangen, für einen fragwürdigen Neuanfang!

Unser altes gewohntes Leben konnten wir nicht mehr weiterführen, wir mussten die Zeit notgedrungen verlassen. Nun bin ich hier, mein Partner heißt Günter, hatte ich soeben in meinem Buch gelesen, wir waren uns sehr zugetan. Kann ich mich noch an ihn erinnern? Oh ja, seine Augen, seine Blicke die mein Herz erwärmten, wie könnte ich diese Augen vergessen. Ich werde ihn immer wieder erkennen unter Tausend Anderen, dachte ich und begann den Hang hinab zu steigen. Mit zittrigen Knien trat ich den Weg in das Dorf an.

 

Günter

Auf dem Marktplatz sollte unser Treffpunkt sein, ich wollte dort warten, am frühen Abend gegen 18 Uhr. Dort aber traf sich der Pöbel zu dieser Zeit, Arbeitslose, Handlanger, Feldarbeiter aber auch Jugendliche und einsame Witwer, gemischtes Publikum also.

Der Getränkestand war noch nicht abgebaut, das Bier floss in Strömen, jeden Freitag dasselbe Bild. Mir war längst klar, dieser Ort war nicht gut gewählt das war nicht der richtige Ort für ein Treffen mit einem Mädchen. Ich hatte mich nie zuvor unter das Bauernvolk begeben, mir war unbehaglich zu Mute. Die meisten saßen auf der Mauer mit einem Becher voll Bier oder Fusel. Man kannte mich gut, ich hatte schon oft Krankenbesuche gemacht, doch ich blieb stets distanziert, habe mich nie unter das gemeine Volk gemischt. Man empfing mich grölend „Doktorchen“, unser Doktor lässt sich herab zu den normalen Sterblichen“, spöttelten Einige. Ich holte mir ebenfalls einen Becher Bier um kein Spielverderber zu sein oder als Spießer zu erscheinen. Sie rückten zusammen und machten mir Platz auf der Mauer. Es war durchaus nicht nur Pöbel auf dem Platz. Neben mir erhob sich ein Kaufmannssohn, er war wohl Mitte dreißig und schon lange Witwer. Er hatte nur ein kurzes Eheglück, ein hübsches junges Ding, eine von mir abgelegte Geliebte. Möglicherweise hatte sie schon eine Frucht von mir im Leibe denn keine acht Monate nach der eiligen Hochzeit wurde schon ein Sohn geboren. Der arme Trottel neben mir hatte keine Ahnung, ich musterte ihn aus der Nähe, ein sogenannter Schönling, zu schön fast, für einen Mann!

Trotzdem wollte das junge Ding lieber mich haben, aber ich brauchte sie nicht, ich konnte mit ihr nichts weiter anfangen außerhalb der Bettlaken. Er hat sie mit offenen Armen empfangen, welch ein Segen für eine geschändete Frau. „Was macht der Sohn“? Fragte ich. „Er besucht schon eine Knabenschule in der Stadt“, antwortete Hermann. „Und, ist er gut?“

„Oh ja, ich bin sehr stolz auf ihn“. „Gut so“, sagte ich und klopfte ihm auf die Schulter. Er fühlte sich offensichtlich unbehaglich neben mir und verabschiedete sich bald. Er war gerade aus meinem Blickfeld verschwunden als der Blitz mich traf. Sie haute mich um, plötzlich stand „Sie“ da. Das ist sie dachte ich, ein Vollweib, ihr Anblick traf mich wie ein Pfeil ins Herz, es dauerte nur wenige Sekunden, unsere Blicke trafen sich, sie schaute nur „Mich“ an obwohl viel Jüngere als ich hier saßen. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre süßen Lippen, ich sah es deutlich, sie meinte mich. Alle grölten, einige sprangen auf, es war ein Tumult entstanden, ich sah mich um, notfalls würde ich die Schöne verteidigen müssen, als ich jedoch wieder in ihre Richtung sah war sie verschwunden. „Habt ihr das Weib gesehen? Mann oh Mann“, hörte ich sie grölen. Ich lief auf die Straße, konnte sie aber nirgends mehr erblicken. Ich eilte die Straße entlang bis zu nächsten Biegung, sie blieb verschwunden, ratlos blieb ich stehen und schüttelte den Kopf.

Ich wartete jeden Tag zur gleichen Zeit auf dem Platz auf sie. Nach einer Woche sah ich sie wieder, mein Herz blieb fast stehen ich war wie geblendet von ihrem Anblick. Sie ging sehr schnell, schwebte fast über den Boden.

Ihre Augen suchten mich zwischen den vielen Männern heraus und blieben an mir haften, ihr Blick traf mich mitten ins Herz. Ich sprang auf um sie aufzuhalten, doch ich konnte nicht schnell genug durch das Gedränge. Ich schubste die ungehobelten Rüpel beiseite und lief auf die Straße doch es war wieder zu spät, sie war schon wieder verschwunden. Ich lief die Straße entlang, doch ich konnte sie nicht mehr sehen. Wo ist sie geblieben, wo ist sie hingegangen? Ich wartete noch Stunden am Ortseingang denn ich war mir ziemlich sicher, Sie ist wie ich eine Zeitreisende.

Solche Kleider trägt hier keine Frau, ihr Bild ging mir nicht mehr aus dem Kopf, mir war als würde ich sie kennen. Ich wartete jeden Tag, dann nur noch jede Woche am Freitag auf sie, doch vergebens! Ich begann von ihr zu träumen, Träume die so wirklich waren als hätte ich alles wahrhaft erlebt. In meinen Träumen lebten wir zusammen, sie küsste mich wach, fütterte mich mit Leckereien, kämmte meine Haare, band meinen Zopf, neckte mich, lief auf einer Wiese lachend vor mir davon, weiter und weiter bis ich sie nicht mehr sehen konnte. Ein schmerzhaftes Gefühl des Verlustes drückte mir auf den Magen, begleitete mich durch die sinnlose verlorene Zeit ohne sie. Ich hatte nur meine Träume. Sie stand in der Küche kochte mein Leibgericht, ich saß am Tisch und schaute ihr zu. Sie hing an meinem Arm, wenn wir lange Spaziergänge machten, sie war immer bei mir. Wenn ich sie nicht sah brach ich in Panik aus und wurde wach, sie war nicht mehr da, warum kam sie nicht mehr.

 

Auf dem Dorfplatz wollten wir uns treffen, zögernd betrat ich das Dorf. Würde er mich wahrnehmen oder gelangweilt in eine andere Richtung sehen? Die Straße noch zu Ende gehen, dann kann ich schon den Marktplatz sehen. Meine Knie bibberten als ich die lauten Stimmen hörte, ich ging mit schnellen Schritten, lief fast um nicht unnötig aufzufallen. Jetzt konnte ich alles überblicken, den Platz, die Mauer vollbesetzt mit Männern, junge, alte, üble Gestalten, dazwischen saß er, ich sah ihn sofort auch ich wurde gesehen. Die Männer begannen sogleich zu grölen und zu pfeifen. Ich hatte nur Augen für ihn auch er

sah mich, unsere Blicke trafen sich und verschmolzen.

Doch es blieb keine Zeit für lange Blicke. Die grölenden angetrunkenen Kerle stürmten auf mich zu, mutig angeheizt vom Alkohol, umringten sie mich, ich bekam Angst, sah eine Lücke und begann zu laufen, zum Ende der Straße, bog um die Ecke und versteckte mich hinter Büschen in einem Garten. Ich befürchtete verfolgt und belästigt zu werden. So verbarg ich mich noch eine Weile, hörte keine Stimmen mehr und schlich auf einem Nebenweg aus dem Dorf, am Berge entlang bis zu dem Trampelpfad, welcher zu der Höhle führte. Vor der Höhle setzte ich mich auf den Felsen und schaute ins Tal. Warum kommt Günter nicht hierher, er muss sich doch denken können das ich hier auf ihn warte. Vermutlich weiß er gar nichts mehr von mir, alles was er sagte waren nur lockere Sprüche.

Ich vertiefte mich wieder in mein Büchlein.

Günter war mittags in die alte Zeit gesprungen, ich sollte später folgen. Er wollte mir unbedingt beweisen, dass er mich zu jeder Zeit wiedererkennen und lieben würde. Er hegte nicht den geringsten Zweifel, für ihn war es kein Wagnis, sondern ein Zeichen seiner immerwährenden, unauslöschlichen Liebe. Ich war mir nicht sicher, hegte große Zweifel, wie sollte er mich erkennen, wenn er mich noch nicht gesehen hat. Ich war mir sicher er hatte noch nicht mal ein Foto von mir eingesteckt. Ich hingegen hatte meine Taschen voll mit Fotos, Erinnerungsschreiben und Hinweisen, ich brauchte sie nur zu lesen und war im Bilde. Ich hatte die letzten Tage eine kurze Zusammenfassung des wichtigsten was uns betraf, aufgeschrieben und das meiste schon vor meinen Gang in das Dorf gelesen.

Es hat nicht sollen sein dachte ich, in einer Woche werde ich noch einen Versuch starten.

Vermutlich habe ich ihn nicht sonderlich interessiert, sonst hätte er nach mir gesucht. Er muss doch sehen, das ich mich dort keine Minute aufhalten kann, also sollte er sich schon beeilen, wenn er mich näher kennen lernen will. Er würde mich immer und überall erkennen und lieben wie vorher, hatte er geprotzt, nun ja, jetzt hat es nicht den Anschein. Alles nur Sprüche, dachte ich resigniert, was nun, wo sollte ich hin hier in dieser Zeit? Das Haus von Günter, von uns konnte ich nicht aufsuchen, er würde mich für eine Hure halten in dieser Zeit um 1870. Ich konnte auch zum dritten oder vierten Mal den Fehler begehen und bei Hermann an die Tür klopfen. Er würde mich mit Sicherheit nicht vor der Tür stehen lassen. War er mir nicht gerade im Dorf begegnet? Ich habe gesehen wie er heftig nach Luft geschnappt hat als er mich sah. Ach Gottchen das Bengelchen, wie alt mag er sein? Höchstens Mitte 30, er hat das Gesicht eines Mädchens, wenn da nicht der alberne Zwirbelbart wäre, alle hier tragen diesen lächerlichen Bart nur mein Günter nicht.

Ich würde den jungen Wolfgang kennen lernen mit etwa 8 Jahren, meine Güte, vor ein paar Monaten habe ich ihn fast 60-jährig gesehen.

Ich könnte mich in die Pension auf der anderen Seite am Berge einmieten. Nein das war unmöglich ich würde das Jahr 1991 antreffen, das wollte ich auf keinen Fall.

Ich brauchte nicht die gesamte Höhle zu durchqueren und den steilen Berg hinabsteigen, ich brauche nur in die Höhle steigen und die Zeit bestimmen. Das Jahr 2050 hatten wir schon vor 40 Jahren aufgesucht, da konnte ich unter der großen Kuppel ein Gästezimmer mieten. Von dort konnte ich jeden Tag einen Besuch in das Dorf machen, in das Dorf 180 Jahre später, soweit es noch bestand. Mein Gott, ich bin tatsächlich heimatlos, ein einsamer Pendler zwischen den Welten. Es würgte mich in der Kehle ich brach in Tränen aus, warum hatte ich mich auf dieses dumme Spiel eingelassen, einzeln in die ferne Zeit zu gehen, nur um unsere Gefühle zu testen... Noch immer saß ich vor der Höhle in der Sonne, ich hatte mein Büchlein wieder aufgeschlagen, las und las, Begebenheiten, Erlebnisse, Banales, Aufregendes, Trauriges und Schönes aus 70 gelebten Jahren. Ich las bis es dunkel wurde und hatte doch nur einen kleinen Teil geschafft.

Meine kostbarste Habe, die Alben und Mappen, hatte ich in der kleinen Nebenhöhle verborgen. In meiner geräumigen Manteltasche hatte ich etliche Fotos aus verschiedenen Epochen mit Datum und Kommentar. Fotos allein von Günter, mit mir zusammen, mit der Grafenfamilie von früher, mit uns in der Mitte und als kleinen Schock zum Schluss ein Foto von Günter mit 73 Jahren, heute Morgen erst aufgenommen mit dem Datum 1931. Ich erinnerte mich plötzlich an das ausschlaggebende Gespräch mit Günter, von dem Moment an war nichts mehr wie früher.

„Deine Mutter hat im Schloss Einzug gehalten, habe ich erfahren. Mein Gott, deine Mutter als blutjunge Frau, lebt nur wenige Kilometer von uns entfernt. Alles beginnt nun von neuem, der Kreislauf hat sich geschlossen, alles wird nun anders“. Wir konnten das Schloss nicht mehr betreten, unsere Verwandten nicht mehr besuchen, uns bleibt nur noch, dieser Zeit, die unser Leben ist, zu entfliehen. „Unsere Zeit hier ist zu Ende“, fügte ich dramatisch hinzu.

„Ich fürchte, du hast Recht“, bestätigte Günter seufzend.

„Schade- schade, es war eine schöne Zeit, ich wäre gerne noch geblieben, zudem werde ich auch zu alt“. „So werden wir denn gehen müssen, wir werden in die tiefe Vergangenheit eintauchen, 60 Jahre zurückgehen, alles Vertraute, uns lieb gewordene verlassen, 60 Jahre pralles, gelebtes Leben auslöschen, als hätte es die Jahre nie gegeben und in der fernen Vergangenheit einen Neuanfang beginnen“. Wir unterhielten uns über die Zeit danach.

„Leider werden wir wieder bei null beginnen müssen, alles ist dann verloren“, erklärte er.

„Es muss nicht alles verloren sein, warf ich ein, vielleicht können wir die meisten Neuanschaffungen retten und in die andere Zeit mitnehmen“.

„Ich möchte nicht noch einmal bei null anfangen, diesmal werden wir alles besser machen Liebste“, entgegnete er.

„Aber wir werden dann nichts mehr wissen von den ganzen Jahren“, gab ich zu bedenken, und wir wissen dann auch nichts mehr von unserer großen Liebe“!

„Du machst wohl Witze, ich werde dich immer lieben, auch wenn wir mehr als 60 Jahre zurückgehen, ich brauch dich nur zu sehen und das Herz wird mir aufgehen, dass weiß ich ganz genau, wir werden wieder jung sein und voller Liebe für einander entbrennen, es wird eine wunderbare Zeit, ein perfekter Neuanfang werden“.

Ich zuckte zweifelnd mit den Schultern.

Er nahm mich zärtlich in den Arm.

„Wie könnte ich dich jemals „nicht“ lieben“, raunte er mir ins Ohr.

 

Im Juni begannen wir unser wertvollstes Habe, dass wir uns die letzten Jahre angeschafft hatten, auf den Berg zu schleppen und in der kleinen Nebenhöhle zu verstauen. Dort sind sie erst einmal sicher aufgehoben, wenn wir in der Zeit zurückgehen, später werden wir Sie dann holen. Wir rackerten uns ab wie die Schwerarbeiter. Wolfgang, der uns hätte helfen können, war schon seit Wochen verschwunden.

Bald war die Wohnung erschreckend leer, wir merkten sehr bald wie schwer es ist, im Sommer ohne Kühlschrank auszukommen. Mit jedem Tag wurde es ungemütlicher im Haus, eine leichte Panik überkam mich, als auch noch die Generatoren aus dem Haus waren.

„Ach das ist alles nicht so wichtig, meinte Günter, Hauptsache, wir haben uns“.

„Ja du hast recht“, bestätigte ich halbherzig. Ich sah der ganzen Angelegenheit mit gemischten Gefühlen entgegen, es bereitete mir Unbehagen, so weit in die Vergangenheit zu gehen. Außerdem hatte ich große Bedenken, denn es war fragwürdig, ob ich auch in diese frühe Zeit gelangen könnte, im Gegensatz zu Günter, denn er hatte in dieser Zeit ja schon hier gelebt und gewirkt.

Nun habe ich den Schritt in die Vergangenheit getan, doch meine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bestätigt, alles war noch schlimmer gekommen, als ich es mir in meinen schlimmsten Albträumen, habe vorstellen können.

Nun hockte ich hier allein auf dem Felsen, auf dem wir so oft zusammensaßen.

 

Als erstes wollte ich Günter mein Lieblingsfoto zeigen, wenn wir uns endlich treffen würden. Das Foto von Hermann geknipst, es zeigt mich mit Günter beim Rocken, umgeben von kreischenden, klatschenden Gästen. Doch leider ist es nicht zu einer Begegnung mit uns gekommen, leider, vermutlich kommt er gar nicht mehr auf den Dorfplatz, wenn ich mich erneut dorthin wage, möglicherweise sehe ich ihn gar nicht mehr. Bevor wir uns von unserem Haus getrennt haben hatten wir in den Tagen zuvor alle Elektrogeräte in Sicherheit gebracht das war eine mühselige Plackerei.

Sie sollten uns das Leben in der stromlosen Zeit erleichtern, wir brauchten auf keinen Luxus verzichten. Ich sprang in die Höhle und wünschte mich in die neue Zeit. Jetzt würde

ich eine Woche unter der Kuppel verbringen.

Ich trat aus der Höhle, unter mir am Fuße des Berges erstrahlte das überdimensionale Kuppeldach so groß wie ein Dorf, das Einkaufscenter. Es war Tag und Nacht geöffnet. Ich leuchtete mir meinen Weg hinab mit meiner Taschenlampe ohne die ein Trip durch die Höhle undenkbar wäre. Ungewohnt grelles Licht blendete mich, ich betrat eine fremde Welt, suchte als Erstes unser Lieblings Restaurant auf und bestellte mir ein drei Gänge - Menü, man gönnt sich ja sonst nichts. Später mietete ich mir die Zimmer die ich mit Günter immer bewohnte und schlenderte danach durch die Hallen. Der Abend war noch jung ich hatte viel Zeit, eine ganze Woche. Eine Woche in einem tristen Hotelzimmer ist zu ertragen dachte ich aber was dann? Ich las noch ein wenig machte mich frisch und ging wieder in das kleine Restaurant um ein Gläschen Wein zu trinken.

Hier habe ich einst Justin kennen gelernt hier an diesem Tisch haben wir gesessen. Im Jahr 2050 oder 2040 allerdings war das nicht im Sommer, sondern im Dezember. Justin war damals ungefähr so alt wie ich es jetzt bin. Mein Gott dachte ich, wie jung ich nun wieder bin aber was nützt mir das wenn ich jetzt ohne meinen Günter leben muss. Ich brütete trübsinnig vor mich hin. Es war spät als ich endlich in mein Bett kroch.

Am nächsten Tag lief ich stundenlang durch die Passagen, der Tag wollte nicht vergehen. Anschließend ging ich durch das Dorf, alles hatte sich verändert. Der Marktplatz aber mit der Mauer war noch vorhanden. Die Tage erschienen mir endlos! Noch einen Tag dann ist es soweit. Ich machte mich fein, kleidete mich in ein zeitloses luftiges Kleidchen in dunkelgrün, packte die Fotos in meine Tasche und nahm das Hütchen in die Hand. Den Hut würde ich erst in der alten Zeit aufsetzen. Mein Herz klopfte wie wild als ich den Hang hinabstieg und das Dorf betrat.

Mein Herz schlug bis zum Halse, als ich ihn auf der Mauer sitzen sah. Ich sah noch wie er aufstand und auf mich zu kam, doch der Pöbel vor der Mauer begann sogleich mich einzukreisen und zu bedrängen. Laut grölend, angeheizt von Schnaps und Bier, hatten sie allen Mut nach mir zu greifen, ich musste laufen, ich konnte nicht stehen bleiben, der Pöbel würde mich erdrücken, ich hörte das scheußliche Geräusch meines zerreißenden Kleides, ich schlug um mich, kratzte und boxte, sie waren stark angetrunken und lüstern.

Ich lief so schnell ich konnte alles war noch schlimmer als vor einer Woche, ich hielt mich wieder hinter einer Hecke verborgen bis der Tumult sich gelegt hatte und hoffte Günter zu sehen auf der Suche nach mir.

Wie lange muss ich hier noch hocken bleiben? Ich sah ihn, er stand auf der Straße und schaute wo ich geblieben war, ich lugte durch die Hecke, komm mein Liebster warum kommst du nicht? Dachte ich, warum stehst du da wie angewurzelt und suchst mich nicht?

Er kam ein paar Schritte näher, schüttelte den Kopf und ging in die andere Richtung davon. Die Männer lungerten noch immer auf der Straße. Ich wagte nicht mein Versteck zu verlassen. Günter wandte sich noch einmal um und schüttelte erneut den Kopf. Das war’s dachte ich, es gibt also keinen Neubeginn mit uns. Schade schade, wieder lief ich heulend den Hang hinauf, heulte mich abends in den Schlaf und verließ am nächsten Tag das Center.

Ich fuhr in das Schlösschen dort konnte ich ein paar Wochen oder Monate verbringen, ein sinnloses Leben führen, meine frisch erworbene Jugend vertrödeln und vertun.

 

Wolfgang hatten wir vergessen, wir hatten ihn Tagelang nicht mehr gesehen. Der arme Kerl ist jetzt genauso wie die gesamten 60 Jahre ausgelöscht, jetzt gibt es ihn nur noch als

8-jährigen Knaben im Jahr 1871. Auch von Wolfgang hatte ich reichlich Fotos dabei, er war ein echter Hingucker, ein interessanter toller Kerl genau wie sein Vater. Schade, dachte ich wieder einmal, schade um die vielen gelebten Jahre die nun unwiederbringlich ausgelöscht sind. Ich packte meine große Reisetasche aus und ordnete alles in den geräumigen Schrank, ich arbeitete langsam denn ich hatte unendlich viel Zeit! Jetzt beginnt die ödeste Phase meines Lebens, eines Lebens allein. Ich hatte seit 8 Tagen mit keinem Menschen mehr gesprochen. Vielleicht kann ich als Erzieherin die Kinder betreuen, ich brauche eine Aufgabe, brauche Abwechslung, sonst werde ich noch verrückt. Ich werde jetzt in den Ort gehen in das kleine Restaurant um ein Abendessen einzunehmen, dort bin ich nicht allein. Doch als ich dasaß, zwischen all den Menschen, dem Stimmengewirr und Lachen fühlte ich mich erst richtig allein. Niedergeschlagen ging ich den Weg ins Schlösschen zurück, verkroch mich in unsere kleine Wohnung und stellte den Fernseher an, ich holte mir eine Flasche Wein aus dem Schrank, verdünnte ihn mit Wasser und setzte mich auf die Couch.

Die Tür öffnete sich und Günter stand im Raum, ich schnappte nach Luft und stierte ihn ungläubig an. Es war nicht Günter, es war Wolfgang! Auch er schnappte nach Luft und starrte mich an.

Endlose Minuten vergingen oder waren es nur Sekunden. „Carla“? Fragte er, „bist du das, bist du es wirklich“?

„Ja Wolfgang, ich bin es“, sagte ich fast tonlos. Er kam langsam näher und ließ mich nicht aus den Augen. „Ich glaube es nicht, sagte er fassungslos, du bist so schön so jung die schönste Frau die ich je gesehen habe“.

„Ach übertreib doch nicht so Wolfgang, ja gut ich bin jünger und frischer, aber - ach, ich bin so unglücklich“. „Ist Günter, aeh, mein Vater nicht mitgekommen?“

„Nein ich bin jetzt allein, er liebt mich nicht mehr, hat mich vermutlich nie richtig geliebt“.

„Was sagst du da, der alte Trottel will dich nicht mehr, dich? Wie kann man eine Frau wie dich verlassen“. Er schüttelte ungläubig den Kopf, „habt ihr gestritten?“

„Nein, wir sind nicht im Zank auseinandergegangen“, sagte ich, „ach Wolfgang ich bin so traurig“.

Er nahm mich in den Arm und schaukelte mich, „du bist nicht allein Carla, liebste Carla“, sagte er, „ich bin immer für dich da, du hast doch mich“. „Ja ich habe dich, sagte ich ohne zu überlegen“. Er begann mich zu küssen, Zaghaft erst, dann Besitzergreifend.

Ich befreite mich aus seiner Umarmung, „das geht mir zu schnell“, sagte ich. „Ja, entschuldige, du hast recht“. „Du tust mir gut“, murmelte ich“ und ich freue mich das du hier bist, das ist gut, das ist sehr gut, so kannst du mir alles erzählen, alles was in den vielen Jahren geschehen ist, ich habe viel Zeit, ein Glück das du hier bist, sonst hätten wir dich mit ausgelöscht“! „Ich verstehe nicht?

„Wir haben die gesamte Zeit unseres gemeinsamen Lebens ausgelöscht“.

„Wow“, staunte er, „da gibt es viel zu erzählen“. „Ich bin also der einzige der diese Löschung überstanden hat, weil ich mich in einer völlig anderen Zeit aufgehalten habe. Wäre ich im Dorf gewesen gäbe es mich jetzt nicht mehr?“

„Es gibt dich! Sagte ich, als 8-jährigen Knaben. Ich habe deinen Ziehvater Herbert gesehen ganz jung, er hatte noch ein hübsches Mädchengesicht“. „Hast du den Jungen auch gesehen?“ fragte er.

„Nein noch nicht, du wirst uns leider nie besuchen können, denn dich gibt es ja schon, ich fürchte das könnte dein Ende sein“. „Du gehörst nicht in die Zeit, in welcher der kleine Wolfgang aufwächst, ich vermute du würdest bei Eintritt in diese Zeit einfach vergehen, nur eine Vermutung von mir, aber ich würde es nicht darauf ankommen lassen“.

 

„Nun erzähle Wolfgang!“

„Wo soll ich beginnen“? „Erzähl erst einmal alles was du für wichtig hältst“, bat ich. Draußen prasselte ein Regenschauer, es war kühl geworden es folgte ein Hagel-Geprassel und ein Gewitter. Ich schloss das Fenster, holte Decken und ein Glas für Wolfgang. Wolfgang zündete eine Kerze an, ich zog die Decken über uns beide. „So ist es gemütlich“, sagte ich, wir saßen dicht beieinander. Wolfgang redete, nur unterbrochen von meinen Fragen, es wurde Mitternacht. Wolfgang hatte den Arm um mich gelegt und ich meinen Kopf an seine Schulter, als die Kerze abgebrannt, waren wir längst eingeschlafen.

Ich wurde wach als die aufgehende Sonne das Zimmer rot färbte, Wolfgang schnarchte leise, ich kuschelte mich noch ein halbes Stündchen in seinen Arm. Als ich erneut erwachte waren Stunden vergangen, ich blickte zur Seite in seine Augen. „Bist du schon lange wach „? Fragte ich. „Schon eine ganze Zeit aber ich habe mich nicht bewegt ich wollte den schönen Augenblick nicht zerstören, du hast so süß geschlafen“, „ich möchte jeden Morgen mit dir aufwachen, ich könnte dich Stundenlang nur anschauen!“

Ich sagte nichts was sollte ich darauf sagen?

Im Laufe des Tages erfuhr ich eine ganze Menge aus unserem Leben. Wolfgang konnte wunderbar erzählen, wir hockten den ganzen Tag zusammen fuhren in den Ort, machten einen langen Spaziergang nach dem Abendessen und saßen später wieder auf der Couch dicht beieinander. Er hatte den Arm um mich gelegt ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und lauschte seinen Worten.

„Erzähle mehr von der Praxis“, sagte ich. Er redete manchmal Stunden. „Die Patienten standen oft bis an die Straße, in drei Wochen müssen wir wieder eröffnen, dann werde ich dich natürlich mitnehmen“.

„Aber Wolfgang sagte ich, die Praxis gibt es ja gar nicht mehr und ich kann auch nicht in die Zeit zurück, ich kann nur nach 1871 gehen“. „Dann komm ich mit nach 1871“, sagte er.

„Oh nein mein Lieber das geht gar nicht, du weißt dort gibt es dich als 8-Jährigen, du kannst nicht zweimal sein“. „Dann können wir nur hier zusammen sein“? „Ich fürchte ja! Ich habe noch ein paar Dinge in der Höhlenluke deponiert, sagte ich, lass sie uns in den nächsten Tagen holen“. „Jederzeit, entgegnete er, wann immer du willst“. Die erste Woche verging wie im Fluge, am Wochenende fuhren wir zu den Höhlen. Wir gingen zu der kleinen Höhlenöffnung am Fuße des Berges, neben uns wölbte sich die riesige Kuppel des Centers. Ich schaute ob noch alles vorhanden war, die Strippen und Schläuche die Justin vor vielen Jahren dort installiert hatte steckten immer noch in der Luke. „Sie haben unser Haus mit der Welt verbunden“. „Das ist ja gar nicht möglich“ sagte Wolfgang. „Doch bestätigte ich, sie verbinden das Haus noch immer mit der Welt auch 1931“. „Wann wird das Haus abgerissen? Ich muss doch bald weichen, wenn das Center

gebaut wird „.

„Ach, erst in etwa 80 Jahren wird es das Haus nicht mehr geben, sagte ich, aber vieles andere wird sich ändern in der nächsten Zeit“. „Wir hätten nicht mehr lange bleiben können, bald hält Günters Mutter hier Einzug, also deine Großmutter, die alte Gräfin wird dann als junge Frau im Schlösschen einziehen, dann ist unser Bleiben in dieser Zeit unmöglich, sie heiratet dann den jungen Grafen Karl“. Wolfgang war sprachlos! „Was sagst du da? Fragte er, „sag das noch einmal“.

„Ja Wolfgang, so ist es“. Aber...aber, wenn sie mich sieht? „Sie wird dich natürlich nicht erkennen, sie hat dich doch erst viel später kennen gelernt, mit über 90 Jahren, du musst weiterhin das Schloss aufsuchen, du bist doch der Leibarzt der Sippe und unsere einzige Verbindung, wenn du sie siehst, ihr wahrhaftig gegenüberstehst, dann erst hat sich der Kreis geschlossen“.

 

Ich kramte meine Mappen aus der Luke und ging mit Wolfgang in das Center, um noch einige Kleinigkeiten zu besorgen. Im Schlösschen angekommen, sagte ich: „Du musst deinen Lauf alleine machen ich habe noch so viel zu lesen“. „Wenn es denn sein muss“ erwiderte er unwillig. Ich begann zu lesen – je mehr ich las desto mehr fühlte ich mich in die Zeit versetzt und erlebte sie erneut. Ich hatte viel Muße zum Lesen alles wurde lebendig, mit der Zeit glaubte ich alles. Nach den Fotos den Filmen und dem was Wolfgang erzählte, meinte ich alles selbst erlebt zu haben, ich hatte ja auch alles erlebt.

Wolfgang war in seine Zeit gereist, er wollte eine Baufirma beauftragen neue Praxisräume zu bauen, größer und stabiler als die vorigen, mit viel Glas und Stahl, alles sollte eine gewisse Eleganz ausstrahlen. „Ich komme so oft es mir möglich ist zu dir zurück ins Schlösschen“.

Wolfgang hatte das Schlösschen von seiner Großmutter, der alten Gräfin geerbt nach dem sein Vater, mein Günter das Erbe ausgeschlagen hatte. Er war der uneheliche Sohn von Günter und hatte fast dreißig Jahre nichts von seinem leiblichen Vater und seinen Adligen Vorfahren gewusst.

Ich wohnte mittlerweile 3 Wochen im Schlösschen, war schon über 4 Wochen von meinem Günter getrennt. Die Sehnsucht nach ihm wurde mit jedem verstreichenden Tag größer. Seit Wolfgang fort war, hatte ich reichlich Zeit zum Lesen in meinen Büchern, in denen ich die langen Jahre unserer Leben niedergeschrieben hatte, mit den vielen Fotos die ich sorgfältig mit Kommentar in die Alben geklebt hatte, ergab alles ein lebendiges Bild.

Es berührte mich sehr was ich jetzt las.

Ich lebte längst in dieser Geschichte und fühlte mich als Mittelpunkt der Story. Günter dachte ich, mein liebster treuer Gefährte seit so langer Zeit, Goldene Hochzeit haben wir schon gefeiert und liebten uns noch immer. Längst hatte dieses starke Gefühl wieder Besitz von mir ergriffen. Ich werde dich nicht länger allein lassen mein Liebster, wenn du mich noch willst und noch ein bisschen Liebe für mich übriggeblieben ist. Ich belegte mir hastig eine Scheibe Brot mit Käse, kochte mir eine Kanne Tee und vertiefte mich wieder in meine Lektüre, noch 200 Seiten, dann weiß ich alles was geschehen ist, zwei Stunden später klappte ich das letzte Büchlein zu.

Tränen liefen mir über die Wangen. Das war ein ganzes Leben, mein Leben mit Günter, meine Güte, was wir alles gemeinsam durchstanden haben. Warum sind wir nicht zusammen in die alte Zeit gereist? Wie dumm von uns, haben wir gedacht, wir fallen uns so gleich in die Arme und glühen voller Liebe für einander?

Vermutlich hat er mich gar nicht wieder erkannt, aber wie kann er mich lieben, wenn er gar nichts mehr von mir weiß. Mein armer Liebling, dachte ich, wenn du nichts mehr von mir weißt kannst du mich auch nicht vermissen, wie ich dich vermisse.

Ich stellte ihn mir vor im Schlösschen bei Ur - Ur inmitten der großen Familie lustig mit den Verwandten plaudernd. Bei seinen Krankenbesuchen, den jungen Frauen zuwinkend. Warum sollte er nicht, er war ja ein Junggeselle, ein Single. Wenn er mich aber nicht vermisst, weil er nichts von mir weiß was soll ich dann dort?

Ich heulte mich wieder einmal in den Schlaf. Wolfgang ist reell, er mag mich, begehrt mich, ich bin nicht allein, dachte ich, während ich morgens meinen Kaffee trank, irgendwann werde ich ihm nachgeben dann sind wir ein Paar.

Kann ich Günter einfach vergessen mit der Zeit? Niemals, dachte ich. Einmal noch werde ich einen neuen Versuch unternehmen!

Ich kleidete mich an und verließ das Schlösschen, ich wollte ein wenig shoppen gehen, meine Garderobe ließ zu wünschen übrig. Man erkannte mich und betitelte mich als Frau Gräfin aber das war ich nicht mehr. Meine Ehe mit Günter war ausgelöscht war ungültig. Ich bin ein Niemand, habe keine Identität mehr, dachte ich als ich die Straße zum Ort entlang schlenderte. Überall wurde ich begafft wo immer ich auftauchte, wurde ich angestiert. Mittags aß ich wieder in meinem Lieblingsrestaurant, der Wirt verbeugte sich tief und geleitete mich an den freien Tisch, viel lieber hätte ich in Gesellschaft mit anderen Gästen gespeist. Noch viel lieber hätte ich meine Speisen selber zubereitet, in meiner hübschen kleinen Wohnung im Schlösschen, die ich auf Lebenszeit nutzen durfte, jedoch dort befand sich noch immer keine richtige Küche. Günter hatte sie mir jahrelang versprochen, vielleicht würde Wolfgang meinen Wunsch verwirklichen.

Nach dem Abendessen lief ich wie jeden Tag über die Wiesen und umkreiste den kleinen See, eine Stunde dauerte diese Tour. Danach setzte ich mich vor den Fernseher.

Wie sinnlos mein Leben doch ist, ohne eine nützliche Aufgabe, ohne eine Pflicht.

Ich begann im Zimmer umher zu gehen, ist das nun Selbstmitleid oder leide ich schon unter Depressionen?

Die neuen Teile die ich gekauft hatte lagen noch immer in der Tasche, ich hatte sie noch nicht ausgepackt, sie waren mir egal. Alles war mir gleichgültig, ich sollte sie wenigstens auf Bügel hängen, dachte ich und machte mich an die Arbeit. Ein entzückendes Blüschen ist das, ich werde es anprobieren ehe ich es in den Schrank versenke. Nicht übel, dachte ich und drehte mich vor dem Spiegel. Eine fremde Frau schaute mir entgegen, jung und nicht ohne Reiz aber mit müden traurigen Augen, das bin nicht ich, habe ich das Lachen verlernt? Ich grinste mich an, so ist es schon besser Carla nun noch ein Lächeln, ja genau so, jetzt rede ich schon mit mir selber, sagte ich als sich die Tür hinter mir öffnete.

 

„Ich bin wieder da liebste Carla, ich habe es nicht länger ausgehalten ohne dich“. Günter stand in der Tür, nein es war nicht Günter.

Er kam näher. „Wow sagte er, welch ein reizender Anblick, die schönste Frau der Welt versteckt sich hinter dicken Schlossmauern“. Er umarmte mich und drückte mir einen Kuss

auf die Wange, nun betrachtete er mich liebevoll. „Ich kann es noch immer nicht glauben das ich bei dir sein darf, wir beide allein“.

„Wolfgang sagte ich, wie schön, dass du wieder hier bist ich habe schon Selbstgespräche geführt“. Er setzte sich auf das Bett und schaute mir bei meiner Tätigkeit zu. „Wie lange lässt du mich noch warten?“ Fragte er plötzlich. „Bis ich soweit bin, sagte ich trocken, ich bin nicht so schnell zu haben, wenn du mich bedrängst werde ich gehen!“

„Es ist gut so wie es ist, du brauchst ja nicht auf mich zu warten, die Welt ist voller Frauen,

du brauchst dir nur eine auszusuchen“. „Ok, ok“, brummte er beleidigt und verließ den Raum.

„Tut mir leid“, sagte ich, als ich später in die Stube kam, „las uns ein Gläschen trinken auf deine Heimkehr lieber Wolfgang, leider kann ich dir nichts Leckeres kochen, ich habe ja noch immer keinen Herd“. „Ich werde dir die schönste Küche kaufen die es gibt, versprach er“.

„Wir sind ausgeraubt worden“, sagte er, als ich mich zu ihm auf die Couch gesetzt hatte. „Alles ist weg, alle die wertvollen und kostspieligen Geräte nur ein Radio, ein alter Fernseher und der Herd in der Küche sind übriggeblieben“.

„Du kannst doch alles wieder neu anschaffen, viel moderner, du kannst im Haus eine Arztpraxis bauen lassen, groß genug ist es ja“. „Ja das habe ich schon alles in die Wege geleitet, aber ohne dich? „Ich kann mich dort nicht mehr zeigen, ich müsste mich stets verborgen halten, nun gut, das wäre nicht das schlimmste“, sagte ich.

„Und wenn ich dich heirate, würde das etwas ändern“. „Ach es ist alles nicht so einfach, du vergisst, dass es bald Krieg geben wird, unser Glück würde nicht lange währen, es wird ein fürchterlicher verheerender Krieg werden, dann solltest du in Sicherheit sein“. „Wie wäre es, wenn du hier deine Praxis aufbaust, du könntest die neusten Medikamente aus dem Jahre 2080 sowie die neusten modernsten Geräte aus der neuen Zeit besorgen, um den anderen Ärzten voraus zu sein! Überlege dir das einmal liebster Wolfgang“.

„Als erstes brauche ich Kühlgeräte für die empfindlichen Ampullen und Seren.

Ich habe mir eine Liste gemacht, sie ist sehr lang, du kannst mich ja begleiten und mir beratend zur Seite stehen meine Liebe“. „Ja selbstverständlich werde ich dich begleiten Wolfgang, wir können gleich morgen los“.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen denn wir waren es ja die das Haus geplündert hatten. Nun stand alles nutzlos in der kleinen Höhle, Günter wusste vermutlich nichts mehr davon, hatte keine Erinnerung daran.

Wir machten nicht mehr den weiten Weg um das Gebirge herum, wir nutzten die hiesige Höhle. Nach einer halben Stunde Fahrt, Auf und Abstieg, waren wir im Center 2080. Wir konnten nur so viel besorgen wie wir hinterher zu tragen vermochten und das war nicht viel. So gingen wir dreimal schwer beladen den Hang hinauf und in der anderen Zeit 1931 wieder herunter, niemand sah uns den Berg ersteigen, die große Kuppel verdeckte alles.

„Gib dir einen Ruck Carla und betrete Eure Zeit – Unsere Zeit, niemand wird dich sehen in der Dunkelheit“. „Du hast Recht, keiner wird mich sehen, ich werde alles mit dir den Berg hinab tragen, bis an das Haus oder besser auf den Hof“. Da wir immer wieder Verschnaufpausen einlegen mussten, brauchten wir die halbe Nacht für unsere schwierige Aktion. Vor Erschöpfung schnaufend, betrat ich wieder das Haus welches ich vor 5 Wochen verlassen hatte. Ich habe mich damals nicht umgesehen, es war ein Abschied, das Ende einer Epoche, ein Abschied für immer. Jetzt betrat ich es wieder mit einem Tränenschleier vor den Augen. Die halb leer geräumte Küche erschreckte mich fürchterlich. Wir selbst hatten fast alle Elektrogeräte ausgeräumt, am schlimmsten war die Lücke wo vorher der übergroße amerikanische Kühlschrank und die Gefriertruhe standen. Wir hatten einen neuen Kühlschrank, Microwelle und Kaffeemaschine abgestellt, der alte Wasserkocher stand noch auf der Spüle, wir schlossen die hässlichen Lücken noch in dieser Nacht. Halb angekleidet kroch ich erschöpft in mein altes Bett in der Kammer und schlief im nächsten Moment. Ein wohliges Gefühl hier wieder auf zu wachen, ich aalte mich im Bett.

Wo ist Günter? Warum schlafe ich in der kleinen Kammer und nicht im Schlafzimmer?

Ich schlaf doch nur in der Kammer, wenn Günter auf Reisen ist!

„Ich geh jetzt aus dem Haus liebste Carla“, rief Günter. Ich sprang aus dem Bett und lief ans Fenster. Wolfgang sah sich noch einmal um und winkte. „Ich bin in drei Stunden wieder hier“! Rief er. Verrat und Treuebruch...dachte ich, als ich aus dem Bad kam und mich an den Küchentisch setzte. Wir hatten das Haus dieser Zeit verlassen um in der alten Zeit jung, und wieder neu zu beginnen.

Nun sitze ich wieder hier, ich fühle mich schlecht und gemein. Nächste Woche werde ich wieder in die alte Zeit gehen und auf Günter warten. Ich hielt mich sechs Tage im Haus verborgen, im Garten hatte ich kaum etwas gepflanzt. Aber die Erdbeeren und die frühen Kirschen waren reif, ich buk Kirschkuchen und servierte Wolfgang Erdbeeren mit viel Zucker und Sahne, er mochte sie genau so süß wie sein Vater. Das Haus galt es, wieder bequem zu gestalten. Wolfgang hatte den Kühl und Gefrierschrank gleich am nächsten Tag gut gefüllt, hatte Brot, Kartoffeln und frisches Gemüse besorgt. Ich könnte jetzt wieder jeden Tag kochen. Hier gehöre ich her und nicht in das Schlösschen zu Untätigkeit gezwungen wie ein Luxusweibchen. Ich bin kein Luxusweibchen, ich stehe mit beiden Beinen im Leben! Na ja, ein wenig altmodisch bin ich wohl also eher das Gegenteil von einer Emanze. Gerne war ich das Heimchen am Herd aber nicht nur! Ich war an allem interessiert, für alles auch für neue Abenteuer offen. Liebte Wanderungen, Bergsteigen, Astrologie, historische Lektüre und neue Technik, doch am meisten mochte ich es, meine Lieben mit Leckereien zu bekochen und zu verwöhnen.

Eine seltsame Spannung lag in der Luft, wenn wir am Küchentisch oder in der Stube auf der Couch saßen, alles fühlte sich nicht richtig an.

Ich freute mich wenn Wolfgang von seinen Krankenbesuchen kam, ich war gern mit ihm zusammen aber alles schien falsch und verkehrt zu sein. Wir machten unseren Rundgang um das Dorf im Schutze der Dunkelheit, niemand durfte mich sehen, das alles hatte ich früher vor vielen Jahren schon erlebt. Damals hat alles einen gewissen Reiz für mich gehabt, jetzt bedrückte es mich. Wolfgang war ein toller Mann, vermutlich war er aufmerksamer und liebenswürdiger als sein Vater. Sah ebenso umwerfend aus aber etwas fehlte...er war nicht Günter! Möglicherweise war er zu lieb und nett, war zu sehr um mich bemüht! Er war mir hündisch ergeben.

Ich musste nichts dafür tun, musste ihn nicht erobern, er war mein Sklave. Er würde mich niemals schlagen, einsperren oder bevormunden wie sein Vater Günter. Würde mich stets wie eine Göttin verehren und zu mir aufsehen doch auch ich wollte aufschauen und bestaunen können. Es war mir unbegreiflich das er sich niemals ernsthaft um eine andere

Frau bemüht hat! Ich warte auf dich hat er schon in jugendlicher Schwärmerei als 15-Jähriger gesagt. Du bist die Frau die ich will, hat er mit 30 gesagt, für mich kommt niemals eine andere Frau in Frage hat er mit 40 und mit 50 Jahren gesagt. Ich habe ihn nie ernst genommen, habe es für Schwärmerei gehalten, obgleich ich längst begriffen hatte, das es keine oberflächliche Schwärmerei ist. Gleichwohl habe ich es nie so recht verstanden.

Ich habe mich nie herausgeputzt, hab mich nie hervor getan auch nicht kokettiert. Ich war durchaus kein Modepüppchen, wusste mich aber sehr wohl ins rechte Licht zu setzen, wenn es nötig war.

 

Es war soweit, heute wollte ich in die alte Zeit.

Voller Zweifel machte ich mich auf den Weg. Würde er nach mir Ausschau halten, auf mich warten? Werde ich ihn sehen oder gibt es mich für ihn gar nicht? Das wird jetzt mein letzter Versuch sein.

Wenn er mich nicht erkennt als >die Frau< wie er immer behauptet hat, ist er auch für mich nicht mehr der Richtige, dann werde ich mich für den Sohn, für Wolfgang entscheiden!

In der Nacht zuvor konnte ich nicht schlafen, ich sah mich allein im Dorf herumirren, ich suchte ihn überall, konnte ihn aber nicht finden, träumte mich schließlich in einem unruhigen Schlaf.

Ich machte mich sorgfältig zurecht, steckte meine Haare auf, kleidete mich schlicht in grau und band mir ein dunkles Kopftuch um, ich wollte nicht auffallen! Mein Täschchen, wo ist das Täschchen mit den vielen wichtigen Fotos. Ich öffnete die Tasche überflog alles rasch, alle Bilder und fügte das Foto von unserer goldenen Hochzeit an die unterste Stelle.

Möglicherweise wird er gar nichts aus den Fotos ersehen, keine Zusammenhänge finden,

Männer sind oft so begriffsstutzig.

Es war 17.30 Uhr, ich machte mich auf den Weg. Ich wollte noch ein wenig oben auf dem Berge auf dem Felsen sitzen, über das Haus und das Dorf schauen, noch einmal sah ich in das Täschchen, hatte ich Block und Stift für eine Nachricht?

Auch er hat das Recht von seinem vorigen Leben zu erfahren. Ich saß auf dem Stein vor der Höhle, als die Kirchenglocke 6 Mal schlug. Ich konnte von meinem Platz aus, den Dorfeingang mit dem Felsen neben der Straße überblicken. Kein Mensch hatte diese Stelle passiert seit ich hier saß, dennoch machte ich mich an den Abstieg. Wenige Minuten später war ich selbst an dieser Stelle angelangt, noch einmal würde ich nicht den Marktplatz aufsuchen zu dieser Tageszeit. Ich wartete 10 - 20 Minuten auf dem Felsen sitzend. Eine Kutsche war an mir vorbei ins Dorf gefahren, Kutscher und Insassen stierten in meine Richtung, die Kutsche fuhr langsamer, als wolle sie halten, ich sprang vom Stein und wandte mich in die andere Richtung.

Die Kutsche verschwand aus meinem Blickfeld, ich lehnte mich wieder an den Stein, schaute die Straße entlang, sah in Richtung unseres Hauses, nichts rührte sich, eine halbe Stunde war vergangen. Ich wartete noch weitere 10 Minuten, umsonst. Meine Geduld war zu Ende, ich holte den Schreibblock aus der Tasche legte ihn an den Felsen und schrieb.

 

Lieber Günter. Dreimal bin ich gekommen dich zu treffen, dreimal war es vergebens. Du hast immer behauptet du würdest mich jederzeit wiedererkennen, leider war das ein Irrtum.

In Wahrheit kennst du mich nicht und weißt nichts von mir! Eine Fortsetzung mit uns kann es also nicht geben, es hat nicht sollen sein. Dennoch hast du das Recht auf einen Einblick in unser voriges gemeinsames Leben. (Schade, schade) deine Carla.

 

Ich steckte den Brief mit den Fotos zusammen in einen Umschlag und machte mich auf den Weg zum Haus. Dort schob ich das Kuvert in den Kasten am Tor, verweilte noch einige Minuten vor dem Zaun und ging wieder den verwilderten geheimen Pfad, den nur wir beide kannten. Das ist nun das Ende, dachte ich verzweifelt, wieder sah ich alles durch einen Tränenschleier, als ich den Hang hinaufstieg. Ich betrat die Höhle und ging in das Jahr 2080 dort lief ich durch das große Center, irrte ziellos durch die endlosen Gänge ohne irgendetwas zu sehen. Mischte mich schließlich unter die anderen Menschen, wurde ein Teil von ihnen und war doch allein! Ich wollte jetzt nicht mit Wolfgang zusammen sein. Ich musste allein sein mich meinem Kummer hingeben einen Schlussstrich ziehen, allein mit einem Kapitel meines Lebens abschließen. Ich probierte Röcke, Hosen, Blusen und Schuhe, kaufte schließlich ein hübsches leichtes Sommerkleidchen. Abends saß ich lange im Restaurant, bis mich die geilen Blicke der Gattung Mann anödeten. Im Zimmer das ich bezogen hatte, erdrückten mich die trüben Gedanken, ich wälzte mich ruhelos auf meinem Lager bis ich endlich in einen erlösenden Schlaf fiel.

 

Morgens nach dem Erwachen plagten mich die gleichen Gedanken, ich konnte ihnen nicht entfliehen. Wo ist meine Zukunft? Ein Leben verborgen in einem Haus versteckt, wollte ich so Leben?

Untätig im Schlösschen den Tag, die Wochen, die Zeit vertun. Ich dachte immer, mein Platz ist an Günters Seite. Nun denn, auf zu einem Neuanfang!

Ich ging in die Lebensmittelabteilung besorgte ein paar Leckereien und Zutaten für ein feines Mittagsmahl und machte mich auf den Weg nach Hause. Nach Hause, dachte ich, wo ist mein zu Hause! Wenn alle Patienten gegangen und das Tor geschlossen war, konnte ich endlich in den Garten und mich müde arbeiten. Wir hatten indessen die Wohnung mit allem Nötigen wiedereingerichtet. Die zweite Höhle war mittlerweile leergeräumt, hatte ich festgestellt.

Hoffentlich hat Günter alles abgeholt und nicht irgendein Fremder, dachte ich. Wer hat ihm dabei geholfen, Jonny vielleicht? Jonny musste noch recht jung und rüstig sein im Jahre 1871.

Ich deckte den Tisch und wartete auf Wolfgang, ich freute mich wenn er kam, aber mein Herz klopfte nicht bis zum Hals wie bei Günter. „Ach mein Schätzchen wartet schon“, sagte Wolfgang fröhlich. Er schloss mich in den Arm und küsste mich. „Setzt dich schon Wölfchen“! Sagte ich. Er strahlte mich an. „Es ist schön mit dir zu sein, dir zu zusehen wie du dich bewegst, deine Nähe zu spüren jeden Tag, dich im Arm zuhalten, mit dir zu reden und irgendwann … Ja ist schon gut, ich sage nichts mehr“.

Wolfgangs Geburtstag nahte. „Du musst deinen Gästen absagen“, mahnte ich „oder ich muss fort, entscheide dich Wolfgang!“

„Wie kannst du so etwas Dummes fragen, wir werden gleich morgen abreisen ins Schlösschen, dort werde ich mit dir allein meinen Geburtstag feiern“. Wir reisten ins Schlösschen, Wolfgang blieb über das Wochenende, ich blieb allein zurück. Er besuchte mich jedes Wochenende, die Praxis musste versorgt werden! Anfang November fuhr ich mit ihm zurück. Der Garten musste Winterfest gemacht und die Äpfel abgeerntet werden. Zum Ende des Monats kehrten wir wieder ins Schlösschen zurück wir wollten das Grab der alten Gräfin an ihrem Geburtstag aufsuchen. Es war scheußliches Wetter grau und kalt. Die hohen Räume des alten Gemäuers wurden nicht richtig warm. Wir saßen abends dicht aneinander gekuschelt auf dem Sofa in warme Decken gehüllt und schauten fern. Am nächsten Tag besuchten wir den kleinen Friedhof, es war eisig kalt, ein Eisregen durchnässte uns bis auf die Haut. „Ich freue mich jetzt auf ein heißes Bad“, sagte ich auf dem Rückweg. Ich badete und hüllte mich in einen flauschigen Hausmantel, nach mir zog sich Wolfgang ins Bad zurück. Ich wollte ihm gerade frische Wäsche aus dem Schrank holen und ins Bad legen als die Tür aufflog, Günter stand vor mir! Mein Herz begann wie wild zu pochen, wir liefen aufeinander zu und fielen uns in die Arme.

Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durch strömte mich. „Mein Günter“, flüsterte ich. „Meine Liebste“, raunte er, „endlich habe ich dich gefunden“. Wir hielten uns fest umschlungen, er gab mir hundert kleine Küsse löste sich einen Moment von mir um mich zu betrachten. Seine Augen sprühten Blitze. „Oh wie schön du bist, oh wie ich dich liebe mein Herz“. Auch ich war hingerissen von seinem Anblick, ich hatte ihn nie so jung gesehen, was für ein toller Bursche, dachte ich, was für ein wunderbarer Mann. „Mein Günter, mein Liebster, mein Leben“, flüsterte ich, meine Knie wurden weich, ich schwankte. Er fing mich auf, trug mich zur Couch und beugte sich über mich als die Tür vom Bad aufgestoßen wurde. Wolfgang stand nur mit einer Hose bekleidet im Türrahmen und starrte uns ungläubig entgegen.

Günter sprang auf wie vom Blitz getroffen und ging bedrohlich auf den Anderen zu.

„Wer bist du, du kommst mir bekannt vor, bist du ein Verwandter von mir“?

„Du hast dich schnell getröstet Carla, das ist also dein Neuer, deshalb bist du nicht mehr gekommen, hast du sie wenigstens geheiratet oder hältst du sie nur als deine Mätresse“ sagte er verächtlich. „Nein das stimmt alles nicht“, rief ich verzweifelt.

„Ich sehe genug“! Sagte Günter und sah mich durchdringend an, sein Blick verbrannte mich.

„Ich hätte es wissen müssen, so eine Frau gibt sich nicht mit Einem zufrieden“.

Ich lief auf ihn zu und umfasste ihn. „Er ist nicht mein Liebhaber er ist nur ein Freund, glaub mir doch mein Liebster“ flehte ich. Er schüttelte mich ab wie ein lästiges Insekt. „Ich werde euer Glück nicht stören“, sagte er spöttisch, drehte sich um und ging mit schweren Schritten zur Tür, schaute noch einmal zurück, in seinen Augen las ich allen Schmerz der Welt, er schloss die Tür hinter sich.

Ich lief ihm nach. „Günter warte doch“, rief ich, doch er beschleunigte seinen Schritt und eilte die Treppe herunter, ich hörte noch die Haustür ins Schloss fallen. Beschämt ging ich wieder ins Zimmer zurück, Wolfgang stand noch immer an der gleichen Stelle. „Nur ein Freund, bin ich also nur ein Freund“, er ging an mir vorbei ohne mich anzusehen, „nur ein flüchtiger Freund“ hörte ich ihn noch einmal sagen, als er den Raum verließ. Bald darauf hörte ich eine Autotür krachen und den Motor aufheulen, ich war wie gelähmt.

Ich stellte mich an das Fenster und starrte in die schwärze der Nacht, jetzt habe ich sie beide verloren, dachte ich, was soll ich nur tun? Ich stellte den Fernseher an um mich zu zerstreuen doch nichts konnte mich ablenken, ich saß wie erstarrt auf dem Sofa und wickelte mich fröstelnd in die Decken. So saß ich eine Stunde, zwei oder drei, der Schmerz war unerträglich, ich muss mich betäuben, dachte ich und holte eine Flasche Obstler aus dem Schrank, wie soll ich das ertragen! Drei Tage verbrachte ich im Dämmerzustand hinter verschlossenen Türen. Am vierten Tag erschrak ich vor meinem Spiegelbild, das bin ich nicht, das kann ich nicht sein, dachte ich! Ich nahm ein lauwarmes Bad, machte mich zurecht und verließ das Schlösschen, ich lief durch den Wald umrundete den See und besuchte noch einmal den Friedhof. Ein neuer Strauß Blumen lag auf dem Grab der alten Gräfin. Er war also noch einmal gekommen um an das Grab seiner Mutter zu gehen denn als er bei uns im Zimmer war, war es ja schon dunkel. Vielleicht war er an der Tür und wollte noch einmal mit mir reden, als ich voll gedröhnt war und nichts gehört habe. Verdammt, alles mache ich verkehrt alles läuft schief.

 

Mittlerweile war es Dezember geworden. Noch zwei Wochen und Wolfgang würde die Praxis schließen. Vermutlich hasste er mich jetzt wie sein Vater, ich habe allen immer nur Unglück gebracht. Vielleicht ist es am besten keinen von ihnen mehr zu sehen auch hier im Schlösschen wird bald Winterpause sein. Das Personal würde das Schloss verlassen nur der Portier bleibt und hütet das Haus. Ich werde dann für uns kochen unten in der Schlossküche

für uns einsame Seelen, dachte ich. Vorher muss ich zum Einkaufen ins Center. Das Schlösschen war fast leer und unheimlich still, kein Kindergesang oder Lachen, keine ermahnende Stimme der Erzieherin, kein Getrampel der kleinen Füßchen. Die Köchin und Hausmädchen packten ihre Koffer. Die Köchin erklärte mir die Funktion der Geräte und musterte mich zweifelnd. Sie traut mir nicht zu auch nur ein Ei zu kochen oder gar ein Schnitzel braten zu können, auch sie verabschiedete ich belustigt. Der riesige Kühlschrank war fast leer und musste neu gefüllt werden. „Frau Gräfin geht ja meistens auswärts speisen, ich kann ihnen auch eine Hilfskraft besorgen Gräfin“. „Nicht nötig ich kann mich selbst versorgen Lisa, ich werde schon nicht verhungern“. „Aber sie können doch nicht“...

„Ich kann, unterbrach ich sie und nun gehen sie, das Taxi wartet schon“. Mein Taxi wartete auch, ich ließ mich die 45 km zum Center fahren, bestellte es auf den nächsten Tag zur gleichen Zeit wieder um ins Schlösschen zurück zu gelangen. Ich erledigte die Einkäufe und ließ sie in das private Kühlfach schließen, stieg den Hang hinauf zur Höhle und wünschte mich ein Jahr zurück. Jetzt war ich gespannt ob es funktionieren würde! Ich betrat wieder das Center, es hatte sich nichts verändert in dem einen Jahr. Ich bezog das gleiche Zimmer wie immer und schlenderte durch die Hallen, ich wusste nicht genau was ich hier wollte in eben diesem Jahr und an diesem Tag. Als ich Hunger bekam, suchte ich wieder das kleine behagliche Restaurant auf. Ich überlegte was ich die Weihnachtstage kochen würde für zwei oder drei Personen. Günter würde auf keinen Fall wiederkommen, Wolfgang hingegen könnte die Kränkung vermutlich verzeihen, das aber brauchte seine Zeit. Vielleicht zieht es ihn zu Weihnachten wieder ins Schlösschen. Ich an seiner Stelle würde im Schloss der alten Zeit mit der Grafenfamilie und Tochter mit Schwiegersohn in lustiger Gesellschaft feiern. Sicher würde er das tun, überlegte ich und schaute in Gedanken versunken ins Leere. Plötzlich sah ich ein bekanntes Gesicht, wer ist das bloß? Dachte ich, ist das Justin? Aber Justin ist doch tot!

Wann habe ich ihn das erste Mal getroffen...

 

Ich war in das Jahr 2040 gereist vor langer Zeit. Jetzt haben wir das Jahr 2041 in realer Zeit,

darum also bin ich ein Jahr zurückgegangen, mein Unterbewusstsein hat mich geleitet.

Er lächelte mich an. Als ich nicht reagierte, kam er an meinen Tisch, alles würde jetzt genauso ablaufen dachte ich, es ist ja die gleiche Zeit, alles lief genauso ab. Es war die gleiche Stunde dieselbe Minute.

Doch etwas war anders, es wartet kein eifersüchtiger Gatte auf mich zu Hause. Abends trafen wir uns wie damals in der kleinen Bar. „Wow sagte er, die Männer halten die Luft an, wenn sie einen Raum betreten!“

„Was kümmern mich die Männer, sagte ich, sie machen nur Ärger“. „Ihnen liegen doch alle zu Füßen“. „Das ihr Männer immer so übertreiben müsst“. Wir unterhielten uns und lachten viel.

Er versuchte alles um die Nacht in meinem Zimmer, in meinem Bett zu landen, genau wie damals dachte ich. Am nächsten Tag wartete er wieder im Restaurant auf mich, wir stellten fest, dass wir beide Zeitreisende waren und wollten uns unbedingt wiedersehen zum Erfahrungsaustausch. „Du könntest mich Silvester besuchen“. „Nichts lieber als das, aber vermutlich wacht ein eifersüchtiger Ehemann über dich“. „Ich habe keinen Ehemann mehr, der hat mich verlassen“. „Dich verlassen? Wie könnte man dich verlassen, den Trottel will ich sehen“! Er hatte seinen Grund“, verteidigte ich Günter. „Ah ich verstehe“, sagte er grinsend. „Du wunderst dich vermutlich über die Adresse, es ist kein Schlossplatz und keine Schlossstraße, es ist ein Schloss, ich wohne in einem Schloss nicht weit von hier im Jahre 2041“. Mein Gott was für ein Mann, dachte ich der kann sich bestimmt vor Frauen nicht retten, sicher ein Partylöwe, ein Playboy und Frauenverführer. Na der wird sich an mir die Zähne ausbeißen, dachte ich als ich den Hang hinabstieg, das Taxi wartete schon. Nun kann Weihnachten und Silvester kommen, ich werde nicht vor Einsamkeit vergehen.

Warum sollte ich nicht eine Romanze mit Justin beginnen, vermutlich würde dann alles anders kommen für ihn. Im Schlösschen erwartete mich eine Überraschung, Wolfgang wartete schon auf mich. „Verzeih mir liebste Carla, sagte er reuig, ich hätte dich nicht allein lassen dürfen, verzeihst du mir?“

„Sicher, entgegnete, ich habe dich gekränkt, ist schon in Ordnung“. Willst du mich heiraten Carla“, fragte er und ergriff meine Hände. “Oh liebster Wolfgang, damit habe ich nicht gerechnet, ich weiß gar nicht was ich sagen soll, du erwartest doch nicht sofort eine Antwort? „Nein natürlich nicht“, log er. Der Taxifahrer hatte meine Taschen aus dem Center geholt und sie mir bis an die Wohnungstür gebracht. Er wusste, dass er fürstlich belohnt würde, ich steckte ihm eine fette Banknote zu. Er verbeugte sich tief und eilte von dannen. Wolfgang trug nun die Taschen in die Küche. „Oh die sind aber schwer, hast du Steine darin?“

„Wir müssen uns jetzt selbst versorgen die Köchin ist gestern abgereist, ich glaube jetzt ist nur noch der Portier da“. „Den Einkauf hätten wir doch zusammen erledigen können, ich möchte nicht, das du so schwer trägst, liebste Carla“, sagte er und nahm mich in den Arm. „Wir müssen vor Weihnachten noch einmal einen Großeinkauf machen, wenn du Weihnachten hier verbringen willst oder möchtest du lieber im Schloss mit deinen

Verwandten feiern, ich habe volles Verständnis“. „Ich soll dich hier allein lassen, fragte er ungläubig, ich habe noch nie Weihnachten ohne dich verbracht seit 40 Jahren, bei dir ist mein Zuhause“.

„Du bist ein lieber Kerl“ sagte ich und setzte Kaffee auf, Wolfgang deckte den Tisch. „Du hast also die Winterpause etwas vorgezogen“. „Ja, ich konnte es nicht ertragen dich hier allein zu wissen, ich habe alles verriegelt und verrammelt“. Nach dem Kaffee machten wir unseren gemeinsamen Spaziergang, es schneite, bald würde alles weiß sein. „Wie geht es der Familie“ fragte ich. Wolfgang erzählte begeistert von seinen Enkeln. „Wie schade das ich sie niemals sehen kann“ sagte ich, „ach mein armer Liebling, ich habe Fotos dabei, auch von dem Jungen, ich werde sie dir später zeigen“. „Wie macht sich Maria als Hausfrau, sie muss ja jetzt viel selbst tun, das verwöhnte Prinzesschen“. „Maria steht mit beiden Beinen im Leben, sie bekommt alles gut geregelt, du würdest staunen, wenn du sie wirtschaften siehst, sie kocht und räumt, wickelt die Kleinen und bedient ihren Gatten, sie hat nur eine Küchenhilfe und eine Putzfrau, alles andere macht sie alleine“.

„Wer hätte das gedacht“, sagte ich staunend. Nach dem Abendessen zeigte er mir einen Stapel Fotos und konnte gar nicht genug erzählen. „Du bist die einzige Verbindung für mich zu meiner alten Welt, sagte ich, erzähl mir alles was geschehen ist Wolfgang“.

Wolfgang berichtete mit Begeisterung alles was geschehen war.

Ich wusste nichts mehr von der Verwandtschaft, von dem Geschehen im Dorf, durch den Zeitsprung war alles in meinem Kopf ausgelöscht. Ich wusste nur, was in meinem Büchlein stand und was Wolfgang mir erzählte.

Wir fuhren noch einmal in das Center vor Weihnachten und kamen mit vielen Taschen beladen zurück, von hier aus brauchten wir in keine anderen Zeit reisen, wir mussten keinen Berghang ersteigen, keine Höhle passieren, wir konnten bequem in das Center spazieren. Früher mit Günter, trugen wir große Rucksäcke, um alles transportieren zu können, habe ich in meinem Büchlein gelesen.

Im Frühjahr werde ich in das Jahr 1872 gehen und Günter aufsuchen. Ich werde einfach in das Haus gehen, wenn Sprechstunde ist, dann ist das Tor offen, wenn er mich dann hinauswirft, gehe ich eben wieder. Wenn er mich verachtet und nicht mehr will, dann werde ich Wolfgangs Antrag annehmen und ihn heiraten.

Wie grotesk das alles ist. Erst der Vater, dann der Sohn. Günter hat seinen eigenen Sohn nicht erkannt, er weiß noch nicht einmal, dass er einen Sohn hat! Ich müsste ihm alles erzählen.

Doch wenn er mich für eine Hure hält und mich nicht mehr ertragen kann, wird er es nie erfahren, auch nichts aus unserer Zeit zusammen, dachte ich.