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Am Rio de la Plata beginnt für den Erzähler das Südamerika-Abenteuer. In einem von Revolutionen zerrissenen Land bringt ihm seine Ähnlichkeit mit einem dortigen Parteigänger prompt erste Verwicklungen. Ein Geheimnis zieht ihn ins Landesinnere von Argentinien, wo er dem Revolutionär Lopez Jordan begegnet. Die vorliegende Erzählung spielt Anfang der 70er-Jahre des 19. Jahrhunderts. "Am Rio de la Plata" wird fortgesetzt in Band 13 "In den Kordilleren".
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Seitenzahl: 706
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KARL MAY’s
GESAMMELTE WERKE
BAND 12
AM RIO DE LA PLATA
REISEERZÄHLUNG
VON
KARL MAY
Herausgegeben von Dr. Euchar Albrecht Schmid
© 1952 Karl-May-Verlag
ISBN 978-3-7802-1512-3
Ein kalter Pampero strich über die meerbusenartige Mündung des La Plata herüber und bewarf die Straßen von Montevideo mit einem Gemisch von Sand, Staub und großen Regentropfen. Man konnte nicht auf der Straße verweilen und darum saß ich in meinem Zimmer des Hotel Oriental und vertrieb mir die Zeit mit einem Buch, dessen Inhalt sich auf das Land bezog, das ich kennenlernen wollte. Es war in spanischer Sprache geschrieben und die Stelle, bei der ich mich soeben befand, würde in deutscher Übersetzung ungefähr lauten:
„Die Bevölkerung von Uruguay und der argentinischen Länder besteht aus Nachkommen der Spanier, aus einigen nicht sehr zahlreichen Indianerstämmen und aus den Gauchos, die zwar Mischlinge sind, sich aber trotzdem als Weiße betrachten und auf die Rassezugehörigkeit sehr stolz sind. Sie vermählen sich meist mit indianischen Frauen und tragen dadurch das Ihrige dazu bei, die Bevölkerung des Landes wieder mehr und mehr mit dem Blut der Ureinwohner zu durchmischen.
Der Gaucho hat in seiner Wesensart die wilde Entschlossenheit und den unabhängigen Sinn dieser Ureinwohner und zeigt dabei den Anstand, den Stolz, die edle Freimütigkeit und das vornehme, gewandte Betragen des spanischen Caballero. Seine Neigungen ziehen ihn zum Nomadenleben und zu abenteuerlichen Fahrten. Er ist ein Feind jedes Zwanges, ein Verächter des Besitzes, den er beinahe als eine unnütze Last betrachtet, und ein Freund glänzenden Tandes, den er sich mit großem Eifer verschafft, aber auch ohne Bedauern wieder verliert.
Er ist ferner ein kühner, todesmutiger Beschützer seiner Familie, die er jedoch ebenso hart behandelt wie sich selbst. Misstrauisch, weil er unzählige Male betrogen wurde, schlau aus Selbsterhaltungstrieb und Vorsicht, achtet er den Fremden, ohne ihn zu lieben, dient er dem Städter, ohne ihn zu achten, und lernt wohl niemals begreifen, wie man in seine Heimat kommen konnte, um die Herden auszubeuten, die ihm bisher den täglichen Lebensunterhalt boten, ohne dass er sich um den vorhergehenden und um den folgenden Tag zu kümmern brauchte.
Seit sich im Lande eine besitzende Klasse gebildet hat, ruht der Gaucho, der sich tapfer für die Befreiung von der spanischen Herrschaft schlug, vom Sieg aus, hat niemals Belohnung verlangt und begnügt sich mit der bescheidenen Rolle, das Eigentum anderer zu schützen, wofür er nichts fordert, als dass man nie vergisst, dass er ein freier Mann ist und seine Dienste freiwillig leistet.
Die Bewaffnung des Gauchos bilden der Lasso, ein langer, lederner Riemen mit einer Schlinge, ferner die Bolas und im Fall des Krieges außerdem eine Lanze.
Der Ruhm des Gauchos besteht in der Geschicklichkeit, mit der er den Lasso wirft. Ein etwa zehn Meter langer Riemen ist mit dem einen Ende an dem Schenkel des Reiters befestigt, das andere läuft in eine bewegliche Schlinge aus. Diese Schlinge wird um den Kopf geschwungen und nach dem fliehenden Tier geworfen. Trifft sie den Hals oder die Füße, so wird sie durch den Widerstand des Tieres zugezogen. Die Aufgabe des Pferdes ist es nun, die Spannung des Riemens auszuhalten, bald nachzugeben, bald Widerstand zu leisten. Der Reiter versucht indes, das gefangene Tier nach einem Ort zu ziehen, wo er es niederwerfen kann. Diese Art des Schlingenwerfens, die man lacear a muerte nennt, ist sehr gefährlich und erfordert große Übung. Es ist vorgekommen, dass dabei durch die Verwicklung des Riemens dem Reiter die Beine zerbrochen wurden. Der Lasso hängt beständig am Sattel des Gauchos. Widerspenstige Pferde, Ochsen, Hammel, alles wird mit der Schlinge gebändigt oder gefangen.
Bolas nennt man drei an Riemen zusammenhängende Bleikugeln. Zwei werden um den Kopf geschwungen, die dritte aber festgehalten, bis man sicher ist, das Tier mit dem Wurf zu erreichen. Die Kugeln schlingen sich dann um seine Beine und bringen es zu Fall.
Die Hauptleidenschaft des Gauchos ist das Spiel, die Karten gehen ihm über alles. Auf den Fersen hockend, das Messer neben sich in die Erde gesteckt, um einen unehrlichen Gegner sofort mit einem Stich ins Herz bestrafen zu können, spielt er mit zäher Ausdauer und wagt dabei kaltblütig auch das Kostbarste, was er besitzt.
In der Estanzia[1] arbeitet der Gaucho nur, wenn es ihm gefällt. Er gibt seinem Dienstverhältnis ein Gepräge von Freiwilligkeit und würde es niemals dulden, dass sein Herr so unhöflich wäre, ihn nicht als Caballero anzuerkennen, zumal er sich durch seine Bescheidenheit, sein anständiges Betragen und seine ruhige, Achtung einflößende Haltung als solcher zu geben trachtet.
Wenn es ihm einmal nicht passt, die vom Herrn verlangte Arbeit zu verrichten, so sagt er, dass er nur zu der oder der Stunde und unter den oder den Umständen ans Werk gehen könne. Ist der Herr damit nicht einverstanden, so verlangt der Gaucho, ohne grob zu werden, seinen Lohn, setzt sich auf sein Pferd und sucht sich eine andere Estanzia. Obgleich er die Bequemlichkeit liebt, findet er stets Arbeit, weil er verständig ist und sich auf die Pflege des Viehs, das den Hauptreichtum jener Gegenden bildet, vorzüglich versteht.
So ist der Gaucho, den man nicht etwa mit den zwar kühnen, aber gewissenlosen Abenteurern verwechseln darf, die Frauen, Mädchen, Pferde, kurz alles entführen und stehlen, was ihnen gefällt und unbesorgt in die Zukunft hineinleben.“ – – –
Das stand in dem Buch, das ich las. Ich war erst am Vormittag in Montevideo angekommen und kannte demnach das Land und seine Bewohner nicht im Mindesten. Dennoch wagte ich, einigen Zweifel an der Wahrheit des Gelesenen zu hegen.
Denn einerseits besteht die Bevölkerung, von der hier die Rede war, nicht nur aus Gauchos, Indianern und Nachkommen der Spanier. Es sind auch Engländer, Deutsche, Franzosen und Italiener zu Tausenden, ja Zehntausenden im Land, die Schweizer, Illyrier und viele andere gar nicht gerechnet.
Zum anderen aber war ich mit der Art und Weise, wie der Gaucho den Lasso gebrauchen sollte, vollends nicht einverstanden. Welcher Reiter, der zum Beispiel einen halbwilden Stier einfangen will, wird sich den Lasso am Schenkel befestigen! Der Stier würde ihn unbedingt vom Sattel reißen und zu Tode schleppen.
Ich war bei erster Gelegenheit so frei, mich nach dem Verfasser dieser Auslassung zu erkundigen. Er hieß Adolphe Delacour und war Schriftleiter des Patriote Français zu Montevideo gewesen. Nun, dieser Herr musste die Verhältnisse wohl besser kennen als ich. Ich aber musste mich begnügen, abzuwarten, ob ich seine Ansichten bestätigt finden würde, was dann übrigens nicht der Fall war.
Vorläufig war es nicht nötig, mich länger mit dem Buch zu beschäftigen. Der Pampawind hatte nachgelassen und auf den Straßen entwickelte sich das rege Leben einer bedeutenden Hafenstadt von neuem. Ich wollte mir dieses Treiben betrachten und zu diesem Zweck einen Ausgang machen.
Soeben setzte ich den Hut auf, als an meiner Tür geklopft wurde. Ich rief „Herein!“, und zu meinem Erstaunen trat ein nach französischer Mode gekleideter Herr ein. Er trug eine schwarze Hose, ebensolchen Frack, weiße Weste, weißes Halstuch, Lackstiefel und hielt einen schwarzen Zylinderhut in der Hand, um den ein weiß-seidenes Band geschlungen war. Dieses Band, von dem zwei breite Schleifen herabhingen, brachte mich unerfahrenen Menschen auf den großartigen Gedanken, einen Kindstauf- oder Hochzeitsbitter vor mir zu haben. Er machte mir eine tiefe, ehrerbietige Verneigung und grüßte:
„Ich bringe Ihnen meine Verbeugung, Herr Oberst!“
Er wiederholte seinen Bückling noch zweimal. Ich überlegte inzwischen. Wozu diese militärische Anrede? Hatte man hier in Uruguay vielleicht eine ähnliche Gepflogenheit wie im lieben Österreich, wo die Kellner jeden dicken Gast ,Herr Baron‘, jeden Brillenträger ,Herr Professor‘ und jeden Inhaber eines kräftigen Schnurrbarts ,Herr Major‘ nennen? Der Mann hatte ein so eigenartiges Gesicht. Er gefiel mir nicht. Darum antwortete ich kurz:
„Danke! Was wollen Sie?“
Er schwenkte den Hut zweimal hin und her und erklärte:
„Ich komme, um mich Ihnen mit allem, was ich bin und habe, zur geneigten Verfügung zu stellen.“
Dabei richtete sich sein Auge mit einem scharf forschenden Blick auf mich. Er hatte keine ehrlichen Augen und so fragte ich:
„Mit allem, was Sie sind und haben? Dann sagen Sie mir zunächst gefälligst, wer und was Sie sind.“
„Ich bin Señor Esquilo Anibal Andaro, Besitzer einer bedeutenden Estanzia bei San Fructuoso. Euer Gnaden werden von mir gehört haben.“
Es kommt zuweilen vor, dass der Name eines Menschen bezeichnend für seine Wesensart ist. Ins Deutsche übersetzt, lautete der meines Besuchers Aeschylus Hannibal Schleicher. Das war nicht gerade empfehlend.
„Ich muss gestehen, dass ich noch nie von Ihnen gehört habe“, bemerkte ich. „Da Sie mir gesagt haben, wer und was Sie sind, darf ich wohl auch erfahren, was Sie besitzen, um es mir anzubieten?“
„Ich besitze erstens Geld und zweitens Einfluss.“ Er machte vor den beiden Worten, um sie besser zur Geltung zu bringen, eine Pause und sprach sie mit scharfer Betonung aus. Dann sah er mich mit einem pfiffigen, erwartungsvollen Augenblinzeln von der Seite an. Sein Gesicht war jetzt das eines dummlistigen, dreisten Menschen.
„Das sind allerdings zwei recht schöne, brauchbare Dinge, Geld und Einfluss. Sind Sie wirklich zu dem Zweck gekommen, mir beides zur Verfügung zu stellen?“
„Ich würde mich glücklich fühlen, wenn Sie die Gewogenheit haben wollten, mein Anerbieten nicht zurückzuweisen.“
Das war überraschend. Dieser Mann stellte mir seine gesellschaftlichen Verbindungen und seinen Geldbeutel zur Verfügung. Aus welchem Grund? Ich musste das zu erfahren trachten.
„Gut, Señor, ich nehme beides an, vor allen Dingen das Erste.“
„Also zunächst Kapital! Wollen Euer Hochwohlgeboren mir sagen, wie hoch die Summe ist, die Sie brauchen?“
„Ich brauche augenblicklich fünftausend Pesos Fuertos.“
Er zog sein Gesicht befriedigt in die Breite.
„Eine Kleinigkeit! Euer Gnaden können das Geld binnen einer halben Stunde haben, wenn wir über die kleinen Bedingungen einig werden, die zu machen mir wohl erlaubt sein wird.“
„Welche Bedingungen?“
Er trat nahe an mich heran, nickte mir vertraulich zu und erkundigte sich.
„Darf ich vorher fragen, ob dieses Geld persönlichen oder anderen Zecken dienen soll?“
„Nur persönlichen natürlich.“
„So bin ich bereit, die Summe nicht etwa herzuleihen, sondern sie Euer Hochwohlgeboren, falls Sie es mir gestatten, als einen Beweis meiner Achtung schenkungsweise auszuzahlen.“
„Dagegen habe ich nicht das Mindeste.“
„Freut mich außerordentlich. Nur möchte ich Sie in diesem Fall ersuchen, Ihren Namen unter zwei oder drei Zeilen zu setzen, die ich augenblicklich entwerfen werde.“
„Welchen Inhalts sollen diese Zeilen sein?“
„Oh, es wird sich wirklich nur um eine Geringfügigkeit handeln. Euer Hochwohlgeboren werden mir durch Namensunterschrift bestätigen, dass ich, Esquilo Anibal Andaro, Ihre Truppen bis zu einer angegebenen Zeit und zu einem ganz bestimmten Preis mit Gewehren versehen muss. Ich bin in der glücklichen Lage, mich in einigen Tagen im Besitz einer hinreichenden Anzahl von Spencer-Gewehren zu befinden.“
Jetzt war es mir klar, dass dieser Señor Schleicher mich mit einem Offizier verwechselte, dem ich vielleicht ein wenig ähnlich sah. Wahrscheinlich hatte er die löbliche Absicht, den Betreffenden durch das Geschenk von fünftausend Pesos zu bestechen, um auf diese Weise Heereslieferant zu werden. Bei der Beendigung des nordamerikanischen Bürgerkrieges waren etwa zwanzigtausend Spencer-Gewehre in Gebrauch gewesen. Man konnte den Yankees recht gut zutrauen, dass sie einen Teil dieser Waffen nach den La-Plata-Staaten, wo dergleichen damals gebraucht wurde, verkauft hatten. Bei diesem Handel konnte der Señor das Zehnfache des Geschenkes, das er mir anbot, herausschlagen.
Er hatte mich Oberst genannt. Wie kam ein Oberst dazu, über den Kriegsminister hinweg den Ankauf von Gewehren zu bestimmen? Wollte der Betreffende etwa als Libertador auftreten? Mit diesem Wort, zu deutsch Befreier, bezeichnet man am La Plata die Bandenführer, die sich gegen die herrschende Regierung auflehnen. Dergleichen Leute hat die Geschichte jener südamerikanischen Länder viele zu verzeichnen.
Das Erlebnis machte mir Spaß. Kaum hatte ich den Fuß hier ins Land gesetzt, so bekam ich auch schon Gelegenheit, einen Einblick in seine innersten Angelegenheiten zu tun. Ich hatte große Lust, die Rolle meines Doppelgängers noch ein wenig weiterzuspielen, doch besann ich mich eines Besseren. Natürlich hatte ich mich, bevor ich hierher kam, über die hiesigen Verhältnisse möglichst unterrichtet, und so wusste ich, dass es für mich gefährlich werden könne, meinen Besucher in seinem Irrtum zu belassen, nur um mich über Dinge zu unterrichten, die mich nichts angingen. Darum trat ich langsam den Rückzug an.
„Eine solche Schrift kann ich leider nicht unterzeichnen. Ich wüsste nicht, was ich mit den Gewehren machen sollte, da ich nicht die geringste Verwendung dafür habe.“
„Nicht?“, fragte er erstaunt. „Euer Hochwohlgeboren können in der Zeit von einer Woche über tausend Mann beisammen haben.“
„Zu welchem Zweck?“
Er trat zwei Schritte zurück, kniff das eine Auge zu, lächelte listig, als ob er sagen wolle: ,Na, spiele doch nicht Komödie mit mir. Ich weiß ja genau, woran ich mit dir bin!‘, und fragte:
„Soll ich das Euer Gnaden wirklich erst sagen? Ich habe gehört, dass Sie nach Montevideo kommen würden. Nun sind Sie da und ich kenne den Zweck Ihrer Anwesenheit.“
„Sie irren sich, Señor. Mir scheint, Sie halten mich für einen Mann, der ich nicht bin.“
„Unmöglich! Sie hüllen sich wohl nur in diesen Schleier, weil meine Forderung bezüglich der Gewehre Ihnen vielleicht nicht genehm ist. Nun, ich bin gern bereit, Ihnen andere Vorschläge zu machen.“
„Auch das würde nicht zu Ihrem Ziel führen, denn Sie verwechseln mich wirklich mit einer Person, mit der ich einige Ähnlichkeit zu besitzen scheine.“
Das machte ihn aber nicht irre. Er behielt seine zuversichtliche Miene, wozu sich noch ein beinahe überlegenes Lächeln gesellte und sagte:
„Wie ich aus Ihren Worten merke, befinden Sie sich jetzt überhaupt nicht in der Stimmung, über diese oder ähnliche Angelegenheiten zu sprechen. Warten wir also eine geeignetere Stunde ab, Señor! Ich werde mir erlauben, wieder vorzusprechen.“
„Ihr abermaliger Besuch würde das gleiche Ergebnis haben. Ich bin nicht der Mann, für den Sie mich halten.“
Er wurde ernster und fragte:
„Also wünschen Sie nicht, dass ich meinen Besuch wiederhole?“
„Er wird mir jederzeit angenehm sein, vorausgesetzt, dass Sie nicht länger in dem erwähnten Irrtum verharren. Können Sie mir sagen, wer der Herr ist, mit dem Sie mich verwechseln?“
Jetzt musterte er mich scharf vom Kopf bis zu den Füßen hinab. Dann meinte er kopfschüttelnd:
„Ich kenne Euer Gnaden bisher als einen tapferen, hochverdienten Offizier und hoffnungsvollen Staatsmann. Die Eigenschaften, die ich heute an Ihnen entdecke, geben mir die Überzeugung, dass Sie in letzter Beziehung schnell aufsteigen werden.“
„Sie meinen, ich verstelle mich? Hier, nehmen Sie Einsicht in meinen Pass!“
Ich gab ihm den Pass aus der Brieftasche, die ich auf dem Tisch liegen hatte. Er las ihn durch und verglich die beschriebenen Angaben darin Wort für Wort mit meinem Äußeren. Sein Gesicht wurde dabei lang und immer länger. Er befand sich in einer Verlegenheit, die von Augenblick zu Augenblick wuchs.
„Teufel!“, rief er endlich, indem er den Pass auf den Tisch warf. „Jetzt weiß ich nicht, woran ich bin! Ich sowohl als auch zwei meiner Freunde haben Sie genau als denjenigen erkannt, den ich in Ihnen zu finden gedachte!“
„Wann sahen Sie mich?“
„Als Sie unter der Tür des Hotels standen. Und nun ist dieser Pass ganz geeignet, mich irre zu machen. Sie kommen wirklich aus New York?“
„Allerdings. Mit der ,Seagull‘, die noch jetzt vor Anker liegt. Sie können sich bei dem Kapitän erkundigen.“
„So hole Sie der Teufel!“, rief er zornig. „Warum sagten Sie das nicht sogleich?“
„Weil Sie nicht fragten. Ihr Auftreten ließ mit Sicherheit darauf schließen, dass Sie mich kennen. Erst als Sie von den Gewehren sprachen, merkte ich, wie die Sache stand. Und da habe ich Sie sofort auf Ihren Irrtum aufmerksam gemacht, was Sie mir hoffentlich bestätigen werden.“
„Nichts bestätige ich, gar nichts! Sie mussten mir sofort sagen, wer Sie sind!“
Er wurde grob. Darum schlug ich einen sehr gemessenen Ton an.
„Ich ersuche Sie um Höflichkeit! Ich bin nicht gewöhnt, mir ins Gesicht sagen zu lassen, dass mich der Teufel holen soll. Auch bin ich nicht allwissend und kann nicht sofort beim Eintritt eines Menschen erraten, was er von mir will. Übrigens müssen Sie doch bei dem Wirt oder den Bediensteten des Hotels nach mir gefragt haben, bevor Sie zu mir kamen, und da muss man Ihnen unbedingt berichtet haben, dass ich ein Fremder bin.“
„Das hat man mir allerdings gesagt, aber ich glaubte es nicht, da ich mir den Verhältnissen nach sagen musste, dass der Señor, für den ich Sie hielt, sich unter einem Decknamen hier aufhalten werde. Dazu kam dann Ihre Aussprache des Spanischen, der man es nicht anhört, dass Sie ein Fremder, ein Alemán sind.“
Dieses letzte Geständnis war sehr schmeichelhaft für mich. Als ich vor mehreren Jahren nach Mexiko kam, hatte ich mich hinsichtlich dieser Sprache noch der grausamsten Radebrecherei schuldig gemacht. Aber das Leben ist der beste Lehrmeister. Während der langen Wanderung durch die Sonora und den Süden von Kalifornien hatte ich mich nach und nach in den Lenguaje castelano finden müssen, ahnte aber bis heute nicht, dass ich ein solcher Sancho Pansa geworden sei.
„Und endlich“, fuhr er fort, „warum tragen Sie den Bart genauso, wie er von den Bewohnern unserer Banda oriental getragen wird?“
„Weil ich mich, wenn ich reise, den Gewohnheiten der betreffenden Bevölkerung anzupassen pflege und nicht überall als Fremder erkannt werden will.“
„Nun, so haben Sie eben die Schuld daran, dass ich Sie für einen anderen hielt. Kein Ausländer hat das Recht, uns nachzuahmen. Man kennt eine gewisse Art von Tieren, die diesen Nachahmungstrieb in hohem Grade besitzen, und jeder verständige Mann wird sich hüten, mit ihnen verglichen zu werden.“
„Für diesen Wink bin ich Ihnen unendlich dankbar, Señor. Doch bitte ich Sie dringend, diesen Unterricht nicht etwa noch weiter auszudehnen. Bis jetzt habe ich ihn unentgeltlich entgegengenommen. Geben Sie sich aber noch weitere Mühe, so würde ich mich gezwungen sehen, Ihnen einen Lohn auszuzahlen, der Ihren Verdiensten angemessen wäre.“
„Señor, Sie drohen mir?“
„Nein. Ich mache Sie nur auf etwas aufmerksam.“
„Vergessen Sie nicht, wo Sie sich befinden!“
„Und ziehen Sie selbst in Betracht, dass Sie nicht in einem Zimmer Ihrer Estanzia stehen, sondern in einem Raum, der gegenwärtig mir gehört! Und nun mag es genug sein. Bitte, machen Sie mir das Vergnügen, Ihnen Lebewohl sagen zu dürfen!“
Ich ging zur Tür, öffnete sie und lud ihn durch eine Handbewegung ein, von dieser Öffnung Gebrauch zu machen. Er zögerte noch einige Augenblicke und starrte mich groß an. Es schien ihm etwas Ungeheuerliches, von mir hinausbefördert zu werden. Dann schoss er schnell an mir vorüber und rief mir dabei zu:
„Auf Wiedersehen! Man wird mit Ihnen abzurechnen wissen!“
Er schüttelte die Faust drohend gegen mich und eilte die Treppe hinab. Das war meine erste Unterredung mit einem Einheimischen, ein Anfang, von dem ich keineswegs erbaut sein konnte. Freilich, irgendeine Befürchtung zu hegen, das fiel mir nicht ein. Der Mann hatte mich beleidigt und war deshalb von mir hinausgewiesen worden, etwas so Einfaches und Selbstverständliches, dass keine Veranlassung vorhanden war, weiter daran zu denken. Auch hatte dieser Estanziero auf mich gar nicht den Eindruck gemacht, als ob ich ihn weiter fürchten müsste.
Bevor ich ging, mir die Stadt anzusehen, nahm ich die paar Empfehlungsschreiben vor, die ich mitgebracht hatte. Ich bin grundsätzlich gegen diese Art, fremden Leuten Pflichten aufzuerlegen oder ihnen gar zur Last zu fallen. Man wird selbst in seinen Handlungen und Bewegungen sehr gehindert. Aus diesem Grund mache ich, wenn ich reise, meine Bekanntschaft lieber aus freier Hand, bewege mich nach meinem persönlichen Geschmack und gebe etwaige Briefe erst kurz vor der Abreise ab. Hundertmal habe ich dabei beobachtet, wie befriedigt die Betreffenden davon waren, dass es nun keine Zeit mehr zu gesellschaftlichen Ansprüchen und Forderungen gab.
Heute hatte ich vier solche Schreiben in der Hand. Eins war von dem Leiter eines New Yorker Handelshauses an seinen Teilhaber, der die Zweigstelle dieses Geschäfts in Montevideo führte. Ich hatte Gelegenheit gehabt, dem Yankee einen nicht ganz unwichtigen Dienst zu leisten, und von ihm dafür das Versprechen erhalten, dass er mich seinem Teilhaber auf das Beste empfehlen werde. Dieses eine Schreiben musste ich sofort abgeben, da der Wechsel, dessen Betrag mein Reisegeld bildete, von dem Teilhaber eingelöst werden sollte.
Die drei anderen Schreiben steckte ich wieder in die Brieftasche, dieses eine aber legte ich auf den Tisch oder vielmehr, ich wollte es auf den Tisch werfen. Es traf mit der Kante auf und fiel auf die Diele hinab. Als ich es aufhob, sah ich, dass das dünne Siegel zersprungen war und die Klappe des Umschlags offen stand. So konnte ich den Brief unmöglich abgeben. Ich musste ihn wieder schließen, und zwar so, dass man nicht sehen konnte, dass er offen gewesen war. Ich wäre sonst in den Verdacht gekommen, ihn mit Absicht geöffnet und gelesen zu haben.
Gelesen? Hm! Konnte ich das nicht dennoch tun? Eine Verletzung des Briefgeheimnisses war es wohl, aber ich hatte doch vielleicht eine Art von Recht dazu, da ich es war, auf den sich der Inhalt bezog. Ich nahm also den Bogen aus dem Umschlag und entfaltete ihn. Der Inhalt lautete folgendermaßen:
„Habe Ihr letztes Schreiben empfangen und bin mit Ihren Vorschlägen voll einverstanden. Das Geschäft ist gewagt, bringt aber im Fall des Gelingens so hohen Gewinn, dass wir den Versuch unternehmen müssen. Das Pulver kommt mit der ,Seagull‘. Wir haben dreißig Prozent Holzkohle daruntergemischt, und da ich hoffe, dass es Ihnen gelingen wird, es heimlich an Land zu bringen und den Zoll zu sparen, machen wir ein vorzügliches Geschäft.
Ich ermächtige Sie hiermit, die Verträge zu entwerfen und an Lopez Jordan zur Unterschrift zu senden. Das ist freilich eine gefährliche Angelegenheit, denn wenn die Nationalen den Boten erwischen und die Verträge bei ihm finden, so ist es um ihn geschehen. Glücklicherweise kann ich Ihnen zufällig einen Mann bezeichnen, der sich zu dieser Sendung vortrefflich eignet.
Der Überbringer dieses Briefes ist Deutscher. Er hat sich mehrere Jahre lang unter den nördlichen Indianern herumgetrieben und ist ein verwegener Kerl, dabei aber stockdumm und vertrauensselig. Er will, glaube ich, nach Santiago und Tucuman und wird also durch die Provinz Entre Rios kommen. Tun Sie, als ob Sie ihm ein Empfehlungsschreiben an Jordan geben, das aber in Wirklichkeit die beiden Verträge enthält. Findet man sie bei ihm und er wird erschossen, so verliert die Welt einen Dummkopf, um den es nicht schade ist. Natürlich dürfen die Urkunden Ihre Unterschrift nicht enthalten. Sie unterzeichnen vielmehr erst dann, wenn Sie die Schriftstücke durch einen Boten Jordans zurückerhalten.
Im Übrigen wird der Dutchman Ihnen nicht viel Beschwerden machen. Er ist von einer geradezu lächerlichen Anspruchslosigkeit. Ein Glas saurer Wein und einige süße Redensarten genügen, ihn glücklich zu machen.“
Das war, so weit er sich auf mich bezog, der Inhalt dieses merkwürdigen ,Empfehlungsschreibens‘. Hätte ich den Brief nicht gelesen, so wäre ich wahrscheinlich in die Falle gegangen. Es war ein echter Yankeestreich, um den es hier ging. Der ,Dummkopf‘ sollte, ohne es zu ahnen, eine der Hauptrollen beim Zustandekommen eines Aufruhrs spielen. Denn dass es sich um nichts anderes handelte, sagte mir die Erwähnung des Schießpulvers und der Name des berüchtigten Bandenführers Lopez Jordan, der seine Gewissenlosigkeit sogar so weit getrieben hatte, seinen eigenen Stiefvater, den früheren General und Präsidenten Urquiza, ermorden zu lassen. Ihm sollten jedenfalls Pulver und auch Geld geliefert werden und der Überbringer der Verträge über dieses Geschäft sollte ich sein.
Ich steckte den Brief in den Umschlag zurück und stellte mit Hilfe eines Streichholzes das zersprungene Siegel wieder her. Dann machte ich mich auf den Weg zu dem Empfänger, der spanischer Abkunft war, Tupido hieß und an der Plaza de la Independencia wohnte. Als ich auf die Straße trat, war von dem Pampero und dem Regen keine Spur mehr zu sehen.
Die Stadt liegt auf einer Landzunge, die sattelartig auf der einen Seite zur Bai und auf der anderen zum Meer abfällt. Infolgedessen läuft das Wasser so schnell ab, dass der Boden selbst nach dem stärksten Regen in wenigen Minuten abtrocknet.
Montevideo ist eine schöne, ja glänzende Stadt mitteleuropäischen Stils, besitzt gute Straßen, reiche Häuser mit lieblichen Gärten und stattlichen Großbauten, in denen sich Klubs und Theater befinden. Die Bauart der Privathäuser ist eigenartig. Es herrscht da fast eine Verschwendung von Marmor, den man überdies aus Italien holt, obgleich im Lande selbst sehr guter Marmor zu finden ist.
Wer bei seiner Ankunft in der Hauptstadt Montevideo etwa glaubt, hier den Bewohnern des Landesinnern zu begegnen, der hat sich sehr geirrt. Kein Gaucho reitet durch die Straßen, indianische Gesichtszüge sind nur selten zu sehen und Neger trifft man nicht häufiger als zum Beispiel in London oder Hamburg.
Die Tracht der Menschen ist französisch, bei den Männern wie bei den Frauen. Es können Tage vergehen, bis man einmal eine Dame erblickt, die die spanische Mantilla trägt. Über die Hälfte der Einwohnerschaft ist europäischen Ursprungs.
Das Durcheinander der Völkerschaften ruft ein auffallendes Sprachgemisch hervor. Leute, die drei, vier oder fünf Sprachen geläufig beherrschen, sind hier weit zahlreicher als selbst in den europäischen Millionenstädten. Kurz und gut, solange man sich innerhalb der Bannmeile der Stadt befindet, ist aus nichts zu ersehen, dass man auf südamerikanischem Boden steht. Man könnte ebenso gut meinen, in Bordeaux oder Triest zu sein.
Auch ich fühlte mich ziemlich enttäuscht, als ich jetzt, neugierig um mich blickend, langsam dahinschlenderte. Ich sah nur europäische Trachten und Gesichter, wie man sie – wenn man deren dunkle Färbung nicht als etwas Eigenartiges betrachtet – überall findet.
Auffällig waren mir nur die weißen oder roten Bänder, die viele Männer an ihren Hüten trugen. Später erfuhr ich die Bedeutung dieses Schmuckes: Die Träger weißer Bänder gehörten zur politischen Partei der ,Blancos‘, während die ,Colorados‘ rote Bänder hatten. Señor Esquilo Anibal Andaro war demnach nicht etwa Hochzeitsbitter, sondern ein Blanco gewesen. Höchstwahrscheinlich gehörte also der Oberst, mit dem er mich verwechselt hatte, derselben Partei an. Vielleicht gelang es mir, den Namen dieses Mannes zu erfahren.
An der Plaza de la Independencia erkannte ich an einem riesigen Firmenschild das Haus, in dem sich der Sitz der Zweigstelle meines pfiffigen Yankees befand. Die Vorderseite des Gebäudes machte einen nichts weniger als stattlichen Eindruck. Sie zeigte nur das Erdgeschoss und den ersten Stock. Zu ebener Erde befand sich eine Tür von kostbarer, durchbrochener Eisenarbeit. Dahinter lag ein breiter, mit Marmorplatten belegter Hauseingang, der in einen gepflasterten Hof führte. Dort standen in großen Kübeln blühende Pflanzen, deren Duft bis zu mir drang.
Die Tür war verschlossen, obgleich sie doch wohl den Zugang zu den viel besuchten Geschäftsräumen bildete. Ich bewegte den Klopfer. Durch eine selbsttätige Vorrichtung wurde sie geöffnet, ohne dass jemand erschien.
Im Flur sah ich rechts und links je eine Tür. Ein Messingschild sagte mir, dass die Tür rechts die richtige für mich sei. Als ich da eintrat, befand ich mich in einem ziemlich großen Raum, der sein Licht durch mehrere Türen empfing, die nach dem Hof offen standen. Schreiber waren hier an Pulten beschäftigt. An einem langen Tisch im Hintergrund des Zimmers stand ein hagerer Mann und sprach unfreundlich mit einem ärmlich gekleideten Menschen.
Ich wendete mich an den mir zunächst Sitzenden und fragte nach Señor Tupido. Die Antwort bestand in einem stummen, kurzen Wink nach dem Hageren. Da dieser Mann beschäftigt war, blieb ich wartend stehen und wurde Zeuge der Unterhaltung zwischen den beiden.
Der Señor hatte scharfe Züge und einen stolz-verschlagenen Gesichtsausdruck. Den dunklen Bart trug er nach hiesiger Sitte so, dass er in einen spitzen Zipfel auslief.
Der Mann, mit dem er sprach, schien zu der ärmsten Volksklasse zu gehören. Er war barfuß. Die vielfach zerrissene und notdürftig geflickte Hose reichte ihm kaum bis über die halbe Wade. Die ebenso schäbige Jacke mochte einst blau gewesen sein, war aber jetzt ganz verschossen. Um die Hüfte trug er einen zerfetzten Poncho, aus dem der Griff eines Messers hervorblickte. In der Hand hielt er einen zerbeulten Strohhut. Sein Gesicht war tief gebräunt, seine Haut lederartig und die etwas vorstehenden Backenknochen ließen vermuten, dass zum Teil indianisches Blut in seinen Adern floss, eine Ansicht, die durch das dunkle, schlichte, lang und straff bis auf die Schulter reichende Haar bestätigt wurde.
Tupido schien meinen Eintritt gar nicht bemerkt zu haben. Er stand halb von mir abgewendet und fuhr den anderen hart an:
„Schulden und immer wieder Schulden! Wann soll das einmal ausgeglichen werden? Wahrscheinlich in alle Ewigkeit nicht! Arbeitet fleißiger! Die Yerba wächst allenthalben. Sie ist überall zu finden, man braucht nur zuzugreifen. Ein Faultier wird es freilich zu nichts bringen!“
Der andere zog seine Brauen leicht zusammen, sagte aber doch höflich:
„Ich bin kein Faultier. Wir haben fleißig gearbeitet, monatelang. Wir mussten im Urwald leben und mit den wilden Tieren um unser Leben kämpfen und sind Tag und Nacht an der Arbeit gewesen. Wir freuten uns auf den Ertrag unseres Fleißes und der Entbehrungen. Nun aber machen Sie unsere Freude zunichte, weil Sie Ihr Versprechen nicht halten.“
„Das brauche ich nicht, denn die Lieferung traf um zwei Tage zu spät hier ein.“
„Zwei Tage! Señor, ist das eine so bedeutende Zeit? Haben Sie irgendeinen Schaden davon?“
„Natürlich, denn wir liefern infolgedessen auch zu spät und müssen uns deshalb einen Abzug bis zu zwanzig Prozent gefallen lassen.“
„Soll ich das wirklich glauben?“
„Frechheit!“, brauste Tupido auf. „Ihr müsst es mir Dank wissen, dass ich euch nicht mehr als meinen Verlust abziehe. Ich versprach euch zweihundertvierzig Papiertaler für den Pack Tee. Zwanzig Prozent gehen ab, macht hundertzweiundneunzig; zwei Taler Schreibgebühr, bleiben hundertneunzig Papiertaler. Multipliziert damit die Zahlen der Ballen, die ihr geliefert habt, so werdet ihr finden, dass ihr uns gerade noch zweihundert Papiertaler schuldet. Ihr habt uns nicht den Wert des Vorschusses und der Lebensmittel geliefert, die ihr erhieltet.“
„Wenn Sie uns solche Abzüge machen, Señor, so ist Ihre Rechnung allerdings richtig. Aber ich bitte, zu bedenken, dass ich einen Ochsen für hundert Papiertaler bekomme, während Sie uns das Stück mit hundertfünfzig berechnet haben. Einen ähnlichen Aufschlag haben Sie uns in allen übrigen Produkten auch gemacht. Da können wir zu nichts kommen. Anstatt Geld ausgezahlt zu erhalten, bleiben wir in Ihrer Schuld. Ich habe keinen einzigen Peso in der Tasche. Nun stehe ich hier für meine Gefährten und soll ihnen Geld bringen. Sie warten mit Schmerzen darauf. Statt Geld bringe ich ihnen neue Schulden. Was soll daraus werden?“
„Fragt nicht so albern! Abarbeiten müsst ihr es!“
„Dazu haben wir nicht länger Lust. Wir haben beschlossen, uns einen anderen Unternehmer zu suchen.“
„Mir auch recht. Ich finde genug Teesammler, die gern für mich arbeiten. In diesem Fall müsst ihr aber die zweihundert Papiertaler zahlen, und zwar sofort!“
„Das kann ich nicht. Ich habe gesagt, dass ich ohne alle Mittel bin. Und ich bitte Sie zu bedenken, dass wir auf die bisherige Weise nie so weit kommen können, unsere Schuld abzutragen. Was Sie uns liefern, wird uns zu höchsten Preisen angerechnet, und wenn wir die Früchte unserer Arbeit, bei der wir fortgesetzt das Leben wagen, zur Stadt bringen, dann gibt es regelmäßig so bedeutende Abzüge wie heute. Wir treten aus Ihrem Dienst.“
„Dagegen habe ich gar nichts, nur müssen die zweihundert Taler sofort bezahlt werden. Dort sitzt der Kassierer! Wer so auftreten will wie ihr, der muss auch Geld haben!“
Der arme Teufel sah verlegen vor sich nieder. Ich fühlte Mitleid mit ihm. Er war ein Teesammler. Ich hatte gelesen, welch beschwerliches und gefährliches Leben diese Leute führen. Er und seine Genossen sollten um den Lohn ihrer Arbeit betrogen werden, nur um sie in größere Abhängigkeit von dem reichen Unternehmer zu bringen. Dieser Señor Tupido war jedenfalls ein würdiger Genosse meines hinterlistigen Yankee.
Der Teesammler legte sich aufs Bitten. Er gab gute Worte, ihm den kleinen Betrag nachzulassen. Vergebens.
„Das Einzige, wozu ich mich verstehen kann, ist die Gewährung einer Frist“, erklärte Tupido schließlich. „Zahlt ihr die zweihundert Pesos bis heute Abend, dann gut; wenn nicht, so müsst ihr bis auf weiteres in meinem Dienste bleiben, um die Schuld abzuarbeiten. Das ist mein letztes Wort. Und nun geht!“
Der Arme schlich betrübt davon. Als er an mir vorüberkam, raunte ich ihm zu:
„Draußen warten!“
Er warf einen schnellen überraschten Blick auf mich und verschwand. Ich aber schritt auf den Herrn des Hauses zu. Er musterte mich scharf und forschend, kam mir dann einige Schritte entgegen, verbeugte sich tief und fragte:
„Was verschafft mir die Ehre dieses überraschenden Besuches, Señor?“
Es war klar, dass auch er mich für einen anderen hielt. Ich schlug einen nicht übermäßig höflichen Ton an.
„Mein Besuch ist für Sie nicht ehrenvoller als jeder andere. Ich bin ein Fremder, der diesen Brief abzugeben hat.“
Er nahm den Brief, las die Anschrift, betrachtete mich abermals und sagte mit einem Lächeln, das pfiffig sein sollte:
„Aus New York von meinem Teilhaber! Stehen Señor bereits mit ihm in geschäftlicher Beziehung? Es hätte mich unendlich gefreut, vorher von Ihnen durch eine Voranzeige unterrichtet zu werden.“
„Als ich Ihren Teilhaber zum ersten Mal sah, wusste ich von Ihnen noch gar nichts.“
Das machte ihn in seiner Überzeugung irre. Er schüttelte den Kopf, brach den Brief auf, ohne zu bemerken, dass das Siegel vorher verletzt worden war, und las ihn. Sein Gesicht wurde lang und immer länger; sein Blick flog zwischen mir und den Zeilen herüber und hinüber. Endlich faltete er das Schreiben wieder zusammen, steckte es in die Tasche und sagte:
„Höchst sonderbar! Sie sind also ein Deutscher, der Mann, von dem dieses Empfehlungsschreiben handelt?“
„Ich darf allerdings vermuten, dass in diesem Brief von mir die Rede ist.“
„Sie werden mir darin warm empfohlen und ich stelle mich Ihnen in jeder Beziehung zur Verfügung.“
„Danke, Señor! Es ist nicht meine Absicht, Ihnen Mühe zu bereiten.“
„Oh bitte, von Mühe kann keine Rede sein! Sie sahen mich gewissermaßen erstaunt. Das war infolge einer bedeutenden Ähnlichkeit, die Sie mit einem sehr bekannten Herrn der besseren Kreise besitzen.“
„Darf ich erfahren, wer dieser Herr ist?“
„Ich meine Oberst Latorre, von dem Sie vielleicht gehört oder gelesen haben.“
„Ich kenne allerdings den Namen dieses Offiziers, an den sich gewisse Zukunftshoffnungen zu knüpfen scheinen. Seien Sie versichert, dass meine Ähnlichkeit mit ihm nur rein äußerlich ist. Ich bin ein einfacher Weltreisender und besitze weder für Politik noch für Kriegskunst die geringste Lust oder Begabung.“
„Das sagt Ihre Bescheidenheit. Mein Teilhaber dagegen unterrichtet mich, dass Sie sich jahrelang bei den nördlichen Indianern aufgehalten haben. Eine Art kriegerischen Sinn müssen Sie also doch besitzen. Hoffentlich habe ich das Vergnügen, von Ihren Abenteuern zu hören. Würden Sie mir die Ehre erweisen, heute Abend bei mir das Essen einzunehmen?“
„Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.“
„So bitte ich Sie, sich um acht Uhr in meiner Privatwohnung einzustellen, die Sie auf dieser Karte verzeichnet finden. Kann ich Ihnen sonst in etwas dienen?“
„Ja, wenn ich bitten darf. Ich möchte Ihnen dieses Papier zustellen.“
Ich nahm seine Besuchskarte und gab ihm den Sichtwechsel. Er prüfte ihn, schrieb einige Ziffern darauf und reichte ihn mir mit den Worten zurück:
„Dort ist die Kasse, Señor! Für jetzt empfehle ich mich Ihnen. Auf Wiedersehen heute Abend!“
Er wendete sich ab und verschwand durch eine Tür, der durchtriebene Kerl. Ein Blick auf den Zettel genügte, mich zu überzeugen, dass ich geprellt werden sollte.
„Señor!“, rief ich ihm nach. „Bitte, nur noch für einen Augenblick!“
„Was noch?“, fragte er, sich wieder umdrehend. Sein Gesicht hatte alle Freundlichkeit verloren und seine Stimme klang scharf und befehlend.
„Es ist da wohl ein kleiner Irrtum unterlaufen. Der Wechsel lautet auf eine höhere Summe.“
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