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Zu den Niagarafällen zu fahren und dort einen Heiratsantrag zu bekommen, ist sicher etwas Besonderes. Aber einen Heiratsantrag zu bekommen, um die Niagarafälle zu besichtigen – das ist kurios. Dies ist nicht die einzige Kuriosität im Leben von Irina. Sie wächst in den 1970er Jahren in der Sowjetunion auf, ist klug, fleißig, ehrgeizig. Schule und Studium absolviert sie mit den besten Noten. Doch sie will nicht in ihrem Land bleiben. Der »Rote Faden« führt in vielen abgeschlossenen Kapiteln durch die Höhen und Tiefen des Moskauer Alltages in den keineswegs goldenen Westen. In der Bundesrepublik angekommen, müssen Irina und ihr Freund zunächst das Leben von Obdachlosen führen, bis sie erste Hilfsarbeiterjobs und Unterkunft in einer Wohngemeinschaft erhalten. Administrative Hindernisse müssen beseitigt, kulturelle Missverständnisse aufgeklärt werden, damit Irina ihren Platz in der neuen Gesellschaft finden kann. Lakonisch beschreibt Inga Tscherkesowa Merkwürdiges, Bizarres, Lustiges, Trauriges, Tragisches. Aus den kleinen Geschichten fügt sich eine große zusammen. Ein farbiges Lebensbild entsteht.
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Seitenzahl: 188
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Meiner Mutter Galina gewidmet
WG
In Moskau
Unbeflecktes Zeugnis
Ziegen in Moskau
Lisa aus Pjatigorsk
Was für ein Glück!
Hirschjagd
Verspätung
Unter amerikanischer Flagge
Barbarossa
Schablone
Das erste Gespräch
In Bonn
Der Niagara Fall
Der Höhepunkt
Hochzeit auf Deutsch
Der Trick mit dem Sheriff
Entscheidung
Das Geheimnis von Maman Sina
Möbelmesse in Deutz
Alles ist in Ordnung?
Verflixte Brötchen
Die Kunst des Schweigens
Erleichterung
Seegurke auf Französisch
In Paris
... ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehen, irgendwohin, um jeden Preis, eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in all ihren Sinnen. Friedrich Nietzsche
August 1990. Der Zug nähert sich unserem Reiseziel – der Bundeshauptstadt Bonn. Seit einer Stunde sprechen Witali und ich nicht mehr miteinander. Wir halten uns fest an den Händen und sind sehr aufgeregt. Die Bundeshauptstadt mit ihren Botschaften und Konsulaten soll für uns ein Sprungbrett in ein neues Leben werden. Ab dem Bonner Hauptbahnhof beginnt unsere Zukunft.
Witali ist mein Freund.
Und er ist mein Chef.
»Noch Chef«, sage ich lachend zu ihm. »In Deutschland wollen wir nur Partner und gleichberechtigt sein!«
Damit ist er nicht einverstanden. Diese Reise ohne Rückfahrkarten hatte er unseren Arbeitskollegen und auch seiner Frau als Dienstreise verkauft und mich als seine Begleitperson und Dolmetscherin mitgenommen, da er kein Deutsch spricht. Er will weiterhin Chef bleiben, für alle Eventualitäten selbst die Verantwortung übernehmen und die Entscheidungen treffen.
»So wäre es einfacher und es gäbe weniger Diskussionen«, meint er.
Vor rund einem Jahr hatte ich mich bei ihm als Sportlehrerin in seiner Theaterschule beworben. Als Vizerektor stellte er das Personal ein. Nach einem zweiminütigen Vorstellungsgespräch und ohne meine Unterlagen näher durchzulesen, hatte er meine Bewerbung für eine halbe Stelle bewilligt. Später erzählte mir Witali – damals für mich noch Witali Nikolajewitsch Buderov –, dass er Angst hatte, ich könne es mir noch anders überlegen und die Bewerbung zurückziehen.
Bis zu jenem Tag hatte es an der Theaterschule keinen Sportunterricht gegeben. Nun aber hatte die Direktion entschieden, dass die Studenten mindestens einmal pro Woche Sport zur Haltungs- und Gesundheitsförderung treiben sollten. Man überließ mir die Leitung dieses Projekts in Absprache mit Witali Nikolajewitsch. Als damals Dreiundzwanzigjährige fühlte ich mich sehr geschmeichelt, mit dieser wichtigen Aufgabe betraut worden zu sein. Einige aus der Schulleitung waren skeptisch, ob ich den Anforderungen gewachsen wäre, da ich noch wenig Berufserfahrung hatte. Als Probezeit wurden drei Monate festgelegt. Ich legte mich ins Zeug. Alle Studenten sollten jetzt regelmäßig schwimmen, die Basiselemente in Turnen und Akrobatik lernen und leichtes Fitness- sowie Krafttraining absolvieren. Im Frühling würde draußen Tennis und Volleyball gespielt werden, in den Schulferien ein Sportcamp mit Schwerpunkt Reiten in einem der Moskauer Dörfer stattfinden.
In Sachen Sport scheute Witali Nikolajewitsch keine Ausgaben: So konnten wir sogar stundenweise das Olympische Schwimmbecken neben dem Metro Prospekt Mira und die Olympische Turnhalle mieten. Auf meine Anregung hin durften auch Dozenten und Administration der Theaterschule in ihrer Arbeitszeit an der Gesundheitsförderung teilnehmen. Einmal pro Woche reservierte ich zusätzlich die Sauna. Das war die Krönung. Die Studenten waren hellauf begeistert, die Dozenten und Verwaltungsmitarbeiter sprachen von einer »Sportrevolution«. Meine halbe Stelle wurde am Ende der Probezeit prompt zu einer unbefristeten ganzen.
Im November war ich bei Witali Nikolajewitsch, um die Planung für das bevorstehende Wintercamp in Balabanovo abzusprechen. Wieder wurden alle meine Wünsche mit Ja abgesegnet. Als wir fertig waren und er auch die letzte Rechnung ohne hinzuschauen unterschrieben hatte, legte er seine Hand auf meine und bat mich um ein Gespräch, am besten sofort. Wir könnten doch gleich zusammen zu Mittag essen. Etwas überrascht willigte ich ein. Ich nahm an, dass wir eine Etage tiefer in die Schulkantine gehen würden, wo Personal und Studenten zusammen aßen. Er jedoch forderte telefonisch seinen Dienstwagen, einen schwarzen Volga, mit Fahrer an. Kurz darauf fuhren wir zum Restaurant Slavjanskij Bazar.
»Es gibt etwas Wichtiges zu besprechen«, erklärte er mir, »aber ich möchte vermeiden, dass uns meine Studenten oder das Personal der Schule sehen.« Wir setzten uns in die hinterste Ecke des Lokals.
»Seit dem ersten Zusammentreffen bin ich in dich verliebt«, eröffnete mir Witali Nikolajewitsch. Ich schaute verdutzt auf seinen breiten Ehering aus Gold.
Er bemerkte es und erzählte: »Gerade vor sechs Monaten habe ich zum dritten Mal geheiratet, und das, obwohl ich in Larissa nicht verliebt war und bin. Das war ein Fehler. Aus Gutmütigkeit, weil Larissa mein Leben schon seit dem ersten Semester unseres gemeinsamen Journalistikstudiums liebevoll begleitet hat. Sie war auch nach dem Scheitern meiner ersten beiden Ehen für mich da, noch immer in mich verliebt. Diese Ausdauer – immerhin dreizehn Jahre unerwiderte Liebe – hat mich vor sechs Monaten dazu gebracht, Larissa zu heiraten. Wenn ich geahnt hätte, dass du mir bereits drei Monate nach dieser unspektakulären Heirat ohne Hochzeitsfeier, Blumen und Hochzeitsreise begegnen würdest, hätte ich nicht geheiratet. Jemanden ohne Liebe zu heiraten, ist einfach falsch. Das spüre ich inzwischen und werde mich daher scheiden lassen, ganz gleich, ob du meine Gefühle erwidern kannst oder nicht.«
Seine dunkelblauen Augen forschten in meinem Gesicht. »Wie kann man im gestreckten Galopp einen Borschtsch essen? Bei einem so wichtigen Gespräch an der roten Bete kauen?«, dachte ich und lächelte. Er hielt mein Lächeln für ein Ja und ließ Sekt kommen.
Seitdem trafen wir uns regelmäßig. Witali wollte Larissa nicht verletzen und erzählte ihr nichts von unserer Beziehung. Er wollte die Scheidung durchführen, ohne den wahren Grund zu nennen. Die Scheidung hätte Larissa allerdings entschieden abgelehnt.
Im Frühling kam Witali die Idee, einfach Russland zu verlassen und gemeinsam ein neues Leben jenseits der roten Flagge aufzubauen. Von anderen, die das schon geschafft haben, hörte man in der Sowjetunion immer wieder, zwar nur im Flüsterton, aber diese Geschichten wurden immer lauter und häufiger.
So sitzen wir nun mit 200 DM in diesem Zug, der jetzt langsamer wird, und warten darauf, in den Bonner Hauptbahnhof einzufahren.
In Moskau waren keinerlei Informationen zu bekommen, welche Voraussetzungen bei einer Auswanderung zu erfüllen sind. Zwar hatte man gehört, dass Australien, die USA und Südafrika noch Einwanderer aufnehmen, aber wie und was man dafür benötigte, konnte uns niemand sagen. Die nächsten Wochen würden daher in jeder Hinsicht sehr spannend für uns werden.
Kaum auf dem Bahnsteig, sperren wir unsere Rucksäcke in ein Schließfach und fangen mit der Umsetzung unseres Plans an: zunächst einen Stadtplan besorgen, im Telefonbuch die Adressen der drei Botschaften finden und sie dann nach und nach besuchen. Als erstes Ziel stehen die USA auf dem Plan, die USA, unser Traumziel Nummer eins!
Auf zu Fuß nach Bad Godesberg, um das Geld für die Straßenbahn zu sparen! Früher als gedacht sehen wir die vielen Sterne der amerikanischen Flagge vor dem Botschaftsgebäude. Das Land der Einwanderer, der unbegrenzten Möglichkeiten, der Initiative grüßt und lockt. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt, Witali dreiunddreißig. Das beste Alter zum Auswandern, zwei Akademiker, Nichtraucher, beide zu jeder Arbeit bereit. Kann da jemand nein zu uns sagen?
Mit klopfenden Herzen nähern wir uns dem Symbol der Freiheit und sehen: Die Botschaft hat leider schon geschlossen. Macht nichts! Morgen um neun werden wir wieder hier sein. Bei Würstchen und Coca Cola zum Abendessen verbringen wir einige Zeit in der Godesberger Innenstadt. Witali entscheidet, dass wir beim Geld für das Schließfach sparen sollen, denn jedes Öffnen und Schließen kostet fünf Mark, und die wollen wir nicht öfter als ein Mal am Tag ausgeben. Dumm nur, dass wir lediglich T-Shirts tragen und keine Jacke, keinen Pulli dabeihaben. Als der Abend kommt und dann die Nacht, wird es feucht und eisig kalt. Auf einer Parkbank am Rhein lege ich den Kopf auf Witalis Schoß und versuche zu schlafen. Es gelingt mehr schlecht als recht; um sechs Uhr morgens sind wir hellwach, gehen zitternd zum Bad Godesberger Bahnhof und kaufen uns einen heißen Kaffee.
Pünktlich um 9 Uhr betreten wir die Botschaft. Seit drei Monaten haben wir uns auf das Gespräch und mögliche Fragen vorbereitet, aber ich hätte mir meinen Englischkurs sparen können. No, no, no, it’s impossible! und No, no, thank you, the next, please! hätten wir auch ohne Sprachkurs verstanden.
Ich koche innerlich und bin wütend. Ob die Amerikaner wohl früher die einheimischen Indianer gefragt haben, ob sie einwandern dürfen? Wie können sie uns nach ihrer eigenen Vergangenheit so bestimmt und so endgültig abweisen?
Am selben Tag noch, leider auch mit demselben Ergebnis, besuchen wir die Botschaften von Südafrika, Australien, Neuseeland und Frankreich. Die Franzosen machen es sich leicht, sie behaupten kein Englisch zu verstehen. Ihre Frage hingegen, warum wir nach Frankreich einwandern wollen, wenn wir kein Französisch sprechen, habe ich genau verstanden.
Die zweite Nacht – es hat auch noch angefangen zu regnen – verbringen wir am Bonner Hauptbahnhof. Warum dieser Ort »Bonner Loch« genannt wird, erfahren wir erst ein paar Wochen später.
Eine Übernachtung im Hotel können wir uns nicht leisten.
Plan A – auswandern in die weite, weite Welt – hat nicht funktioniert. Also schalten wir auf Plan B um. Weil wir hier sind und dafür immensen Aufwand betrieben haben, gehen wir jetzt als Notlösung »Deutschland« an.
Witali hat eine Abneigung gegen Deutschland – wegen der Sprache zum Beispiel, die für seine Ohren sehr grob klingt, und auch wegen der deutschen Touristen, die auf dem Roten Platz unabhängig vom Wetter kurze Hosen in Kombination mit ungebügelten verwaschenen T-Shirts tragen. Er selbst hat sich in Moskau immer sehr elegant angezogen, egal ob privat oder dienstlich. Für Deutschland hat er aber extra eine kurze Hose eingepackt. »Aus Rache« will er sie auf dem Bonner »Roten Platz« – wo auch immer der sein mag – zusammen mit einem verwaschenen T-Shirt tragen.
An unserem dritten Tag in Bonn suchen wir das Ausländeramt auf – die Institution für Einwanderungsfragen. Aber auch Deutschland zeigt uns die kalte Schulter. Wir können hier mit unserem Touristenvisum nur maximal drei Monate bleiben.
Jetzt also Plan C: Wir bleiben, solange es irgend geht und unser Geld reicht, genießen in der Zeit die Freiheit, die Ungebundenheit und das recht hübsche Städtchen. Was danach kommt, ist uns egal. Wenn wir hier rausgeschmissen werden, müssen wir jedenfalls nicht für die Rückreise sparen.
Genau darauf richten wir uns ein. Um den Aufenthalt angenehmer und länger gestalten zu können, wollen wir nach Unterkunft und Jobs suchen.
Im Moment führen wir ein echtes Vagabundenleben. Wir waschen uns im Rhein und essen vorwiegend Currywurst. Die ist billig und schmeckt. Langsam gewöhnen wir uns an die Umgebung und das Pennerleben im Freien.
Eingekauft wird in dem größten Supermarkt der Stadt, dem Kaufhof. Wir wissen, dass es in kleinen Läden teurer ist als in großen Kaufhäusern. Von den Preisen im Kaufhof sind wir trotzdem schockiert. Selbst bei sparsamsten Einkäufen werden unsere 200 DM wohl nicht lange reichen, auch wenn wir lediglich Mineralwasser, Milch, Brot und Wurst holen. Als vitaminreiche Ergänzung pflücken wir täglich Brombeeren am Straßenrand.
Wir sind glücklich miteinander, kämpfen für unsere Zukunft, laufen durch Innenstadt und studieren die Jobanzeigen, die direkt an den Türen der Läden, Hotels, Kneipen und Restaurants aushängen. Wir klopfen an und fragen, fragen, fragen. Fast alle wollen eine Arbeitserlaubnis sehen, andere lehnen uns ohne Begründung direkt ab. Wir geben nicht auf und suchen weiter.
Schließlich, am vierten Tag, ist der Besitzer eines kleinen Ladens am Bahnhof einverstanden, mich zweimal pro Woche dort putzen zu lassen. Seine letzte Putzfrau hat ihn sitzen lassen und er hat keine Lust, diesen Job mit seiner Frau selbst zu machen. Glück für uns!
Zweimal die Woche zwei Stunden, fünf Mark pro Stunde, macht 20 DM pro Woche! Der Durchbruch! Das erhöht unsere Überlebenschancen wesentlich. Bezahlt wird bar auf die Hand. Das ist es doch! Am gleichen Tag noch, sofort nach Ladenschluss, soll ich zur Probe putzen. Der Besitzer hat auch nichts dagegen, dass Witali mir dabei hilft. Aufmerksam beobachtet er uns. Ich habe keine Ahnung vom Putzen, bin langsam und ungeschickt. Bei uns zu Hause hat immer Mutter geputzt. Ich war ständig mit Schule, Hausaufgaben, zusätzlichem Sprachunterricht und Sport beschäftigt. Für Haushalt hatte ich nie Zeit.
Aber Witali – mein Chef, der Krawattenträger – erweist sich als Putzkanone! Von dieser Seite kannte ich ihn noch gar nicht. Er war für mich eher nicht für »einfache« Arbeit zu haben, sondern Büromensch, Anzugträger, der sich im Dienstauto chauffieren lässt und so wenig wie möglich bewegt.
Jetzt stehe ich neben dem Ladeninhaber, und gemeinsam bewundern wir Witalis Geschicklichkeit. Die Regale sind voll mit teurem Geschirr, die Durchgänge zwischen den Regalen sehr schmal. Witali ist übergewichtig und groß wie ein Bär. Es gleicht einem Wunder, wie geschickt er sich zwischen den Regalen auf engstem Raum bewegen kann; mit welch rasanter Geschwindigkeit er Tassen und Teekannen aus hauchdünnem Porzellan geräuschlos hin und her schiebt; wie er einem Wirbelwind gleich den Staub mit dem feuchten Lappen aus jeder Ecke herauswischt!
Nach einer 40-minütigen Putzorgie gibt mir (!) der Ladenbesitzer 20 DM auf die Hand und erklärt ausdrücklich sein Einverständnis, wenn Witali mir auch in der Zukunft beim Putzen hilft. Er wird das Doppelte vom ursprünglich Ausgemachten zahlen. Dabei verzichtet der nette Herr auf weitere Fragen, woher, warum oder wieso, und lädt uns zu einer Tasse Kaffee ein, kauft dazu zwei Schokocroissants und heißt uns feierlich in seinem Land und in seinem Bonn willkommen. Erfreut stoßen wir mit unseren Kaffeetassen auf die russisch-deutsche Freundschaft an. Vor längerer Zeit war er mal in Moskau und Sankt Petersburg; dort haben ihn die Russen herzlich empfangen und sogar in ihre engen Privatwohnungen eingeladen, wo sie für ihn und seine Frau Blini gebacken und russische Lieder gesungen haben.
Während seiner Russlandsreise hat er keine Vorbehalte gegen sich oder Anfeindungen wegen des vergangenen Krieges bemerkt und freut sich nun, uns beiden Russen mit der gleichen Freundlichkeit in seinem Land begegnen zu können.
Dies ist das erste Willkommen in Deutschland. Endlich werden wir nicht wie Aussätzige behandelt. Das bedeutet uns viel mehr als der heiße Kaffee, die Croissants und 20 DM.
Zur Feier dieser Verbesserung unserer Lage kaufen wir Orangensaft, ein gegrilltes Hähnchen und ein Baguette. Bei dem anschließenden Festmahl am Rhein frage ich Witali, wie es kommt, dass er so gut putzen kann.
»Drei Jahre als Matrose bei der russischen Marine, da lernst du putzen!«, sagt er. »Bei den Kontrollgängen der Offiziere durfte sich in keinem Spalt, in keiner Ecke und hinter keiner Kante auch nur die kleinste Verschmutzung für ihr schneeweißes Taschentuch finden lassen.«
Der fünfte Tag in Bonn bringt mir meinen zweiten Job: als Zimmermädchen in einem Hotel in der Nähe vom Marktplatz. Auch hier ist das ältere Besitzerpaar sehr diskret, stellt wenig Fragen. Arbeiten muss ich jeden Tag von 8 bis 12 Uhr, und auch hier für 5 DM pro Stunde, also 20 DM am Tag, ab sofort. Außerdem kann Witali in der Küche aushelfen, dreckige Töpfe und Pfannen reinigen und daneben allerlei handwerkliche Arbeiten erledigen, die in einem großen Hotel und Restaurant anfallen. Dass er kein Deutsch spricht, macht den Besitzern nichts aus. Auch er soll 5 DM pro Stunde bekommen und dieselben Arbeitszeiten haben wie ich. Von Fall zu Fall soll er auch noch abends helfen, wenn das Restaurant voll ist und die Pfannen und Töpfe häufiger gespült werden müssen.
Zum perfekten Glück fehlt jetzt nur noch ein vernünftiger Platz zum Schlafen. Von Übernachtungen auf den Drahtbänken am Bonner Hauptbahnhof habe ich trotz eines Schlafsackes als Polster am ganzen Körper blaue Flecken. Die Nächte werden länger und kälter und auch die Bahnhofspolizei schaut uns schon ein wenig schief an. Gott sei Dank wurde bisher noch nicht nach Dokumenten oder Visa gefragt.
Am sechsten Tag stehen wir vor dem Schwarzen Brett am Uni-Hauptgebäude. Es quillt über von allen möglichen Anzeigen für Jobs, Sprachunterricht im Tandem, Tausch-, Kauf- und Verkaufsangeboten. Es gibt auch Wohnungsanzeigen.
Anhand eines Taschenwörterbuches, das ich immer dabeihabe, versuchen wir, all die Kürzel in den Wohnungsangeboten zu entziffern.
1 Z K B Kaltmiete 200 DM bedeutet: ein Zimmer, Küche, Bad – klar!
2 Z K B K G könnte bedeuten: zwei Zimmer, Küche, Bad, Keller, Garage oder Garten, je nachdem.
Bei preiswerten Angeboten wiederholt sich das Kürzel WG, und darüber gibt mir mein Diktionär mit vergilbten Seiten, Zeitgenosse des zweiten Weltkriegs, keine Auskunft, was es bedeuten könnte.
Vielleicht hat ein besonders günstiges Zimmer einen Winter-Garten (WG)? Oder heißt es »Wohnen mit Gartennutzung«? »Wohn-Garten«? Wir lassen unsere Fantasie spielen, aber wieso sind diese Wohnungen dann billiger als die ohne Garten? Ist vielleicht die Gartenpflege Teil des Mietvertrages und Aufgabe des Mieters? Das wäre dann schon ein entscheidender Nachteil und würde die Preisdifferenz logisch erklären. Die ganze Welt spricht schließlich von den verrückten Deutschen, die ihr Gras im Vorgarten mit einer Nagelschere schneiden. Und vielleicht nimmt man sich ja heutzutage für solche Arbeiten Personal, Ausländer wie uns zum Beispiel. Wir sind uns einig: weniger Geld für weniger Komfort, absolut gerecht.
Etwas anderes als »Garten« allerdings fällt uns zu dem Buchstaben G in diesem Zusammenhang nicht ein. G ohne W ist eindeutig »Garage«, was auch den höheren Mietpreis rechtfertigt. Und G mit W davor müsste demnach irgendeinen Nachteil haben. Irgendwas aus dem Alltag, etwas Unbequemes, wofür man als Vermieter dann auch nur weniger Miete verlangen kann. Wir haben uns bereits für ein zentral gelegenes 10 qm-WG-Zimmer entschieden, als Witali plötzlich eine Eingebung hat: »Ich weiß, was das Kürzel bedeutet, nämlich Wasserklosett im Garten. Ein Manko? Selbstverständlich!«
Wir denken beide an herkömmliche russische Datschas mit Plumpsklos aus Holz. Im Winter sind die ziemlich kalt, im Sommer stinkt es dort, und dazu muss man den Aufnahmebehälter leeren. Das erklärt den Preisnachlass für den Mieter.
»Ach, weißt du, den ekligen Plumpsklo-Job übernehme ich alleine«, bemerkt Witali. »Bei dem Preis kann man doch gar nicht nein sagen. Und glaub mir, bei der Marine musste ich mich mit Schlimmerem beschäftigen, das hat mir damals auch nichts ausgemacht. Abgesehen davon: In Deutschland gibt es sowieso keinen richtigen Winter, sodass ein Klo im Garten ohne Heizung gar nicht so tragisch sein kann. Wer weiß, vielleicht steht in diesem Garten noch ein Apfel- oder Birnbaum neben dem Klohäuschen, dann hätten wir auch noch frisches Obst umsonst!«
Ich reiße die Telefonnummer ab.
Witali ist sehr stolz auf sich. Er und nicht seine Irina mit ihren deutschen Sprachkenntnissen hat die wohl einzig plausible Erklärung für die Abkürzung »WG« gefunden. Auf dem Weg zur nächsten Telefonzelle treffen wir auf ein Pärchen in unserem Alter, das freundlich und offen aussieht. Ich kann es mir nicht verkneifen, sie einfach zu fragen, ob »WG« in einer Wohnanzeige tatsächlich »Wasserklosett im Garten« heißt. Doverjaj no proverjaj, Vertrauen ist gut, aber Kontrolle besser.
Beide lachen schallend. Wir müssen erst einmal warten, bis sie wieder einigermaßen in der Lage sind, mit uns zu sprechen.
»Wie seid ihr um Gottes Willen auf diese Idee gekommen?«, fragt uns die Frau erstaunt.
Ich erkläre ihr unsere Situation, erzähle vom Schwarzen Brett in der Uni, von den Abkürzungen, und dass wir auf der Suche nach einem Zimmer oder irgendeiner provisorischen Unterkunft sind. Nach diesem Gespräch und einem Moment des Überlegens bietet uns Rosi, die junge Deutsche, an, dass wir erstmal umsonst bei ihr wohnen könnten. Wir brauchten dafür weder zu putzen noch sonst irgendwas zu erledigen; sie bietet es »einfach so« an.
Aber sie sagt, sie möchte uns jetzt noch nicht verraten, was »WG« bedeutet. Das will sie sich für später aufheben und uns die Lösung des Rätsels direkt in ihrer Wohnung vorführen.
Während wir noch nebeneinander stehen, äußert Klaus, ihr Begleiter, heftige Bedenken: »Bist du eigentlich total verrückt? Willst du dir wirklich zwei ausländische, stinkende Penner mit nach Hause nehmen? Betrügen werden sie dich, beklauen, ausrauben und vielleicht sogar umbringen!«
Er scheint wirklich entsetzt, Rosi jedoch lächelt nur und hält an ihrer Entscheidung fest.
»Außerdem«, sagt sie, »werde ich noch heute Abend etwas typisch Deutsches für uns und die beiden kochen.« Und danach, zu Klaus gewandt: »Dann brauchst du dir auch keine Sorgen mehr zu machen, dass die mich vor Hunger umbringen!«
Von all dem kann ich Witali nur einzelne Sätze, teilweise nur bruchstückhaft übersetzen, kann ihm aber klar machen: »Die Frau ist nett, will uns helfen, während der Mann uns für Banditen hält.«
Kaum hat Witali die Situation erfasst, da bricht ein Satz aus ihm heraus, den wir hier in Deutschland schon zigmal an den Eingängen von Geschäften gelesen haben. Etwas traurig, sehr brav, fast gehorsam sagt er: »Wir müssen draußen bleiben, ja?«
Lauter als wir andern drei zusammen lacht Klaus jetzt los. Das Eis zwischen uns ist gebrochen. Klaus willigt ein, will nun doch auch mit zu Rosi kommen, ihr sogar beim Kochen helfen und ausreichend Hefeweizen für die Stimmung besorgen.
Was für ein fliegender Galoppwechsel, denke ich.
Wir machen uns auf den Weg zu Rosis Wohnung; allerdings, so Rosi durchaus wohlwollend, könne uns eine warme Dusche nicht schaden. In der Wohnung angekommen klärt Rosi das Rätsel mit »WG« auf: »Wenn mehrere Leute zusammen wohnen, ohne verwandt zu sein, dann nennt man das in Deutschland ›Wohn-Gemeinschaft‹, WG! Ihr beide und ich, wir sind jetzt eine WG!«
»Und wo ist das Klo?«, fragt Witali etwas verhalten.
Rosi öffnet die Tür zu einem mit blütenweißen, großformatigen Fliesen bis zur Decke ausgestatteten Badezimmer. Schmale Ornamente aus sandfarbenen Natursteinen in Augenhöhe und am Badewannenrand, echte tropische Meeresmuscheln, grüne Glaskugeln und ein mit polierten Kokosnussschalen eingerahmter Spiegel verleihen dem Bad einen Hauch von Karibik. Die letzten Zweifel bei Witali verschwinden.
Rosi kann nicht ahnen, dass sie nur einige Jahre später in Moskau die Blini meiner Mutter essen und trotz ihrer kurzen Hose und des verwaschenen T-Shirts von Witali im schwarzen Mercedes zum Roten Platz gefahren werden wird. Doch davon später.
Bilder aus der Vergangenheit tauchen auf: mehr oder weniger deutliche Erinnerungen an eine Zeit, in der mein jetziges Leben noch »Zukunft« hieß.
In jedem Klassenzimmer hängt ein Portrait von ihm, dem großen Lenin. Er soll uns Schülern als Vorbild dienen. Jeder weiß: Lenin hatte in der Schule immer die besten Noten. Im Eingang wird man von seinem übergroßen Portrait begrüßt, daneben hängen die kleinen Fotos von Schülern, die es geschafft haben, sich durch Bestnoten auszuzeichnen.