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Salzburg ist im Festspieltaumel, Mozarts "Don Giovanni" wird geprobt. Der junge Mexikaner Vian Maurer träumte davon, Opernsänger zu werden, scheiterte aber an seinem strengen Vater und seinen Gesangslehrern, die sich darüber stritten, ob er Tenor oder Bariton sei. So hat er es nur zum Statisten gebracht. In "Don Giovanni" darf er nun als einer der Teufel auftreten. Vian bewundert Mozart, er liest alles über ihn, was ihm in die Hände fällt. Mit seiner Freundin Julia, die er bei den Proben kennen gelernt hat, zieht er durch Salzburg und entdeckt den Zauber er Festspielstadt. Zur Premiere von "Don Giovanni" reist der strenge Vater aus Mexiko an und will den verträumten Sohnemann wieder nach Hause holen. Doch Vian hat andere Pläne... Einer der berühmtesten Mozartinterpreten und -kenner unserer Zeit schreibt über eine Herzensangelegenheit. Mit viel Humor und in unvergesslichen Szenen entwirft er eine Figur, die man einfach lieben muss. Die schönste Hommage an den berühmten Komponisten und seine Heimatstadt, die man sich wünschen kann.
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Seitenzahl: 523
Rolando Villazón
Amadeus auf dem Fahrrad
Roman
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
Salzburg 2015. Die Stadt ist im Festspieltaumel, wie jedes Jahr verbringen die größten Künstler der Welt den Sommer singend und spielend in Mozarts Geburtsstadt, einem magischen Ort zwischen Bergen und Salzach.
Auch der junge Mexikaner Vian Mauer reist nach Salzburg. Es ist ein Sommer der Entscheidung für ihn, denn er hat lange selbst davon geträumt, ein großer Künstler zu werden. Ein paar Monate lang lebt Vian nun im Zentrum der Musikwelt, auf der Suche nach seiner Zukunft. In der flirrenden Hitze der Festspielstadt wird er zum Überlebenskünstler. Er hat aufregende und gefährliche Begegnungen, erlebt herzzerreißende Enttäuschungen, und lernt trotzdem, sich immer wieder neu zu finden. Und einer wird ihm zum Freund fürs Leben: Mozart selbst.
Rolando Villazón erzählt voll Magie und Poesie von Kunst und Leben, von Zwängen und Freiheit und vom Ende der Jugend. Seine kraftvolle Sprache zeichnet ein lebendiges Bild von Salzburg, Mozart und der Macht der Musik.
Rolando Villazón wurde 1972 in Mexiko-Stadt geboren, als Enkel des Wieners Emilio Roth. Villazón besuchte die deutsche Schule in Mexiko Stadt und begann seine künstlerische Ausbildung am dortigen Konservatorium. 1999 hatte er seinen internationalen Durchbruch und wurde zu einem der bedeutendsten und beliebtesten Sänger seiner Generation. Neben seiner Gesangskarriere arbeitet er auch als Opernregisseur und ist für sein zeichnerisches Talent bekannt.
Rolando Villazón lebt in Paris und ist Mitglied des Collège de Pataphysique. Seit 2019 ist Rolando Villazón Intendant der Salzburger Mozartwoche. Dies ist sein dritter Roman.
Willi Zurbrüggen, geboren 1949 in Borghorst, Westfalen. Er übersetzte u. a. Antonio Muñoz Molina, Luis Sepúlveda und Fernando Aramburu aus dem Spanischen. Ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis des spanischen Kulturministeriums und dem Jane-Scatcherd-Preis.
Für Lucía immer
Und für Darío und Mateo –
großartige Mozart’sche Geister
«All children, except one, grow up.»
Peter Pan, J.M. Barrie
«Don’t never forget
your true and faithful friend
Wolfgang Amadé Mozart»
W.A. Mozart in Joseph Franz von Jacquins Stammbuch
Als ich aus dem Lärm des Bahnhofs ins Freie trat, hob ich als Erstes den Blick und suchte nach der Burg auf dem Berg. Mein Vater erwähnte sie jedes Mal, wenn er von seinen Reisen in diese Stadt erzählte. Ich sah nichts als Wolken, Dächer und den fernen Schatten der Berge. Die Sonne brannte. Aus irgendeinem Grün drang Vogelgesang zu mir. Eine Frau fächelte sich mit dem Programmheft der Sommerfestspiele Kühlung zu. Ein tiefer Atemzug. Ich war angekommen.
Ich kam nach Salzburg, um ein doppeltes Vorhaben zu verwirklichen: das Versprechen einlösen, das ich meinem Vater ins unbewegte, hinter dem Qualm seiner Zigarre nur zu erahnende Gesicht geschrien hatte, und zugleich den aus diesem Versprechen erwachsenen Traum zu begraben, der heute, nach all den Jahren beharrlichen Strebens, ein ganz anderer – fader, kümmerlicher – ist als der pralle herrliche, den zu genießen ich mir einmal vorgestellt hatte.
Mein Vater besuchte jeden Sommer abwechselnd die weltbekannten Festspiele in der Geburtsstadt Mozarts sowie die ebenso berühmten Bayreuther Festspiele. Begonnen hatte er mit dieser Tradition schon als lediger Mann, sobald er über ein Einkommen verfügte, welches ihm erlaubte, sich die kostspieligen Ausflüge von Mexiko nach Europa zu leisten. Nach seiner Heirat besuchte er mit meiner Mutter weiterhin die Opernsommer – wie er sie nannte –, und auch durch die Ankunft der Kinder wurden diese Reisen nicht unterbrochen. Uns ließen sie in Süddeutschland auf dem Bauernhof der deutschen Verwandten zurück, damit wir unsere deutsche Grammatik festigten sowie die Liebe zur Natur und dem einfachen Leben lernten, derweil sie perlenden Wein tranken, in verfeinerten Soßen serviertes Wild verspeisten und ihre Seelen mit der Musik der Unsterblichen erweiterten – sowie ihren Anekdotenschatz, mit dem sie die Gäste noch beim Dinner zu Hause beeindrucken konnten. Erst nach dem Tod meiner Mutter, als ich ein Jugendlicher war, ließ mein Vater seine Opernsommer zunehmend öfter ausfallen, bis er eines Tages gänzlich Abstand davon nahm.
Zwölf Jahre sollte das richtige Alter sein, hatte er beschlossen, um auch die Kinder in die Tradition einzuführen. Zwei Monate nachdem mein älterer Bruder an seinem zweiten Opernsommer teilgenommen hatte und während meine Schwester sich auf ihren ersten vorbereitete, wurde ich geboren. Die Schwangerschaft meiner Mutter kam spät und war nicht geplant. «Ein Unfall», sagte mein Vater, mir das Haar verstrubbelnd, in einem leutselig herablassenden Tonfall, den ich verabscheute. Bei der Bemerkung kam ich mir vor wie ein gebrochenes Bein, wie ein Gesicht mit einem Auge oder ein umgekipptes Glas Wein. Und während die Familie zu den Festspielen ging, verbrachte der «Unfall» die Sommer auf dem langweiligen Bauernhof der Verwandten unter trippelnden Hühnern und gemächlich widerkäuenden Kühen und träumte davon, nach Salzburg zu fahren. Ich glaube, eine CD mit der Musik Mozarts, die meine Mutter mich während der Hausaufgaben hören ließ, war die Ursache dafür, dass ich die Mozartstadt der Wagnerstadt vorzog. Ich wollte, dass mein erster Opernsommer mich nach Salzburg führte. Als ich jedoch ein gewisses arithmetisches Bewusstsein erlangte und meine kleinen Finger nutzen lernte, um die Jahre zu zählen, die mir bis zu meinem Zwölften noch fehlten, sowie die Abfolge der Festspieljahre zu errechnen, stellte ich wohl zum ersten Mal in meinem Leben fest, dass eines Menschen Wünsche nur selten mit dem zusammenfallen, was die Wirklichkeit bereithält. In dem Jahr meines zwölften Geburtstags würde die Reise nach Bayreuth gehen. Ich seufzte, lernte, mich damit abzufinden, blieb jedes Jahr auf dem Bauernhof, und schließlich – viele Kühe und Hühner später – kam der Sommer meines Eintritts in die Tradition.
Mein Vater hätte gern Rheingold oder den Fliegenden Holländer gesehen; beide von perfekter Dauer, um den kleinen «Unfall» in die Welt der Oper einzuführen. Doch in dem Jahr – 1999 – wurde keine der beiden gegeben. Mein Vater erwog die Möglichkeit, mein Eintreten in die Familientradition zu verschieben. Obwohl das bedeutet hätte, dass das Ziel meiner ersten Reise Salzburg gewesen wäre, konnte ich keine Kühe und Hühner mehr ertragen und brannte darauf, die Familie zu begleiten. So ungestüm war mein Flehen, so überzeugend mein Versprechen, mich gebührend vorzubereiten, dass mein Vater schließlich einwilligte, mir die CD der Oper überreichte, die ich zum ersten Mal sehen würde, und ich ihn nicht zu enttäuschen schwor.
Tristan und Isolde. Fünf Stunden Musik.
Ich beschloss, mir jeden Abend vor dem Einschlafen einen Akt anzuhören. Über mehrere Wochen legte ich jedes Mal vorm Zubettgehen eine andere CD ein. Die Aufnahme, hatte mein Vater mich gleich wissen lassen, sei legendär: Furtwängler am Pult, Flagstad und Suthaus in den Hauptrollen und der junge Fischer-Dieskau als Kurwenal. Die Namen der anderen Interpreten nannte mein Vater nicht, wohl aber den einer außergewöhnlichen Sopranistin, Elisabeth Schwarzkopf, die, so hieß es, auf Wunsch der Flagstad die zwei hohen Töne beisteuerte, die diese aufgrund ihres Alters nicht mehr zustande brachte – die aber für eine vollständige Schallplattenaufnahme der Isolde notwendig waren.
Anfangs machte mich diese ausufernde Musik ratlos, war für mich ein einziger Klangwirrwarr, der mein Verständnis überstieg; zugleich jedoch erlebte ich dabei angenehme und unerwartete Stimmungssprünge, die meine Neugier beflügelten. Ich versuchte, weniger zu verstehen und mich stattdessen auf diese kleinen Gefühlsexplosionen zu konzentrieren. Das war gut so, und bald schon begann ich, die Musik zu genießen, mich auf die Wechselwirkung zwischen ihr und mir zu freuen. Dass ich irgendwann immer einschlief (stets an den gleichen Stellen der Aufnahme), störte mich nicht. Ich war überzeugt, dass ich mir die Musik und ihre Geschichte auch im Schlaf aneignen konnte.
In den Nächten des ersten Aktes entflammte die Ouvertüre meine Brust und rief die ersten Träume hervor. Ich lauschte ihr, den Blick zur dunklen Zimmerdecke gerichtet. Die Schatten schienen lebendig zu werden und sich zu bewegen, sich einander zu nähern, sich zu vereinen, zu tanzen und lustvoll mit dem sanften Strom der melodischen Flut zu verschmelzen. Dann trat Stille ein. Die ferne, schwebende Stimme des jungen Seemanns lullte mich ein; doch das plötzliche Ungestüm Isoldes, das verderbliche Stürme beschwor, weckte mich wieder auf. Und weiter lauschte ich dem prahlerischen Kurwenal, der Erregung Isoldes, während sie Brangäne den unerschütterlichen Blick Tristans beschrieb; an der Stelle jedoch, als Brangäne den ritterlichen Tristan beschwor, Isolde aufzusuchen, schlief ich ein.
In den Nächten des zweiten Aktes überwältigte mich der Schlaf nach den Warnungen Brangänes und dem Duett der Liebenden, die dem nahenden Tag trotzig entgegensahen. Und in den Nächten des dritten Aktes fiel ich gerade dann in Schlaf, wenn Tristans Tod sich ankündigte. Gegen Ende der Aufnahme aber, wenn die Flagstad des Liebestods erhabene Worte wogen ließ, erwachte ich weinend, tief gerührt.
So verbrachte ich die Nächte vor der Reise, lauschend, träumend, mit wachsender Ergriffenheit mein Dabeisein am ersten Opernsommer bereitend. Ich ließ mich gefangen nehmen von dieser geschmeidigen, melodienreichen Musik, die sich wie eine gewaltige, leuchtend schöne Schlange aufrichtete; eine unsichtbare Anaconda, die meinen Leib zusammenpresste, sich zärtlich sanft und mörderisch entschlossen um mich schlang, bis sie mir einen Seufzer abrang, eine Träne, mir die Sinne schwanden.
Endlich kam der Tag der Abreise. Zum ersten – und letzten – Mal würde die gesamte Familie nach Bayreuth fahren. Meine Geschwister machten mürrische Gesichter; sie reisten mehr meinem Vater zu Gefallen als aus eigenem Wunsch. Am Flughafen überreichte mein Vater mir meinen Reisepass. Es war das erste Mal, dass er mir das Dokument anvertraute. Dieser Vertrauensbeweis rührte mich und bestätigte mir meinen Eintritt in die Musiktradition.
Wir passierten die Sicherheitskontrolle, frühstückten grüne Enchiladas in einem mit bunten Pappmachéfiguren und Mariachihüten dekorierten Restaurant und schauten uns die Läden an. Als es Zeit zum Einsteigen war, mussten wir am Gate unsere Reisedokumente vorzeigen. Eifrig wollte ich meinen Pass aus der Tasche ziehen und stellte erschrocken fest, dass er nicht mehr da war, wo ich ihn hingesteckt hatte. Mein Vater begann zu schimpfen und Verwünschungen auszustoßen und nannte mich einen verantwortungslosen Esel. Meine Geschwister wohnten der Szene mit einer gewissen Hoffnung bei, dass die Reise möglicherweise ausfallen könnte. Meine Mutter ergriff mich am Arm und zerrte mich nervös zum Restaurant, wo wir zu meinem Glück den Pass in der Sitzecke des Tisches fanden, an dem ich meine Enchiladas verschlungen hatte. Wir waren die Letzten, die an Bord gingen. Für den Rest der Reise nahm mein Vater den Pass in Verwahrung.
Am Tag der Vorstellung steckten sie mich in einen Smoking, in dem ich wie ein herausgeputzter Zwerg aussah. Die Fliege drückte mir den Hals zusammen, die Jacke kniff unter den Armen, und das Gel, das meine Haare bändigen sollte, verströmte einen unangenehmen Geruch. Doch nichts davon kümmerte mich; die Erregung, die ich in diesem Augenblick empfand, ließ mich alle Unannehmlichkeiten ertragen.
Wir nahmen unsere Plätze ein. Das Orchester stimmte die Instrumente, mein Herz pochte vor Aufregung. Der einstimmige Akkord des Orchesters löste sich auf in individuelle Skalen, einzelne Noten und pizzicato, dann in Stille. Die Lichter verloschen. Aufgeputscht von der erwartungsvollen Elektrizität eines glanzvollen Ereignisses, das für mich bereits Wirklichkeit war, begann ich zu klatschen. Ich wusste nicht, dass der Dirigent in diesem Theater nicht mit dem Applaus begrüßt wird, mit dem man ihn überall sonst empfängt.
«Noch passiert ja nichts, beherrsch dich», flüsterte mein Vater mit der Selbstgefälligkeit des Kenners, der spontane Aufwallungen nur widerwillig erträgt. Er irrte sich, denn für mich passierte eine ganze Menge, alles, und wenn seine Bemerkung mich auch erröten und meinen ignoranten Applaus verstummen ließ, pulste in meinen Adern doch weiterhin eine stürmische Freude, die mich übermannte.
Ein paar Minuten vergingen, und dann ließ Daniel Barenboim aus dem Dunkel und der Stille diesen ersten unvergesslichen Akkord des Stückes erstehen und begann mit der Inspiration und Weisheit, die nur den Großen gegeben ist, das gewaltige Gerüst des musikalischen Monuments zu errichten. Und das Monument war in der Vorstellung viel größer, viel eindrücklicher und wundervoller, als ich es von der Aufnahme kannte, und die Anaconda, in die es sich verwandelte, umschlang nicht nur meine, sondern die Brust eines jeden im Saal, und wir alle wurden zu einem einzigen, genussvoll erstickenden, bewegten, verzauberten Körper. Am Ende der Ouvertüre rutschte ich auf die Kante meines unbequemen Sitzes vor, damit mein Vater die Träne nicht sah, die mir aus dem Auge quoll. Weit vorne sang der junge Seemann, und seine Stimme war samtener und klang ferner als auf der Aufnahme. Isolde seufzte sehnsuchtsvoll den Sturm herbei. Ich hörte Waltraud Meiers wunderbare Stimme nicht nur, mein ganzer Körper nahm diesen Klang auf, vibrierte mit dem Gesang und dem Orchester. Und all das passierte hier und jetzt, in diesem einzigartigen Augenblick, und nicht in einem Studio vor vielen Jahrzehnten. Ich kleiner Mensch war ein Resonanzraum, der dazu beitrug, dem Augenblick Lebendigkeit zu verleihen.
Kurwenal sang seinen Protest, es folgte der Dialog zwischen Brangäne und Isolde und danach die Bitte an Tristan, Isolde aufzusuchen. Doch plötzlich verloren die Sänger auf der Bühne ihre Farben, wurden zu gleitenden Schatten ähnlich denen, die an der Decke meines Zimmers getanzt hatten. Mein Verstand benebelte sich, meine Lider wurden schwer, und im selben musikalischen Moment wie während meiner vorbereitenden Nächte sank ich in einen nicht aufzuhaltenden Schlaf. Vergebens waren die verhaltenen Rippenstöße und das heimliche Zwicken, mit denen meine Mutter mich aufzuwecken suchte. Ich erwachte vom Applaus am Ende des ersten Aktes.
Während des Essens in der Pause stichelten meine Geschwister über den kleinen Schläfer, meine Mutter streichelte mir hin und wieder über das vom parfümierten Gel starre Haar, mein Vater sparte sich jeden Kommentar.
Bevor wir unsere Plätze für den zweiten Akt wieder einnahmen, ging ich zur Toilette, befeuchtete mein Gesicht mit kaltem Wasser, klopfte mir auf die Wangen, bis sie sich röteten, und kehrte wacher als eine Eule an meinen Platz zurück. Die Lichter erloschen, und mein Vater flüsterte mir ins Ohr:
«Träum was Süßes.»
Meine Wangen waren jetzt nicht mehr das einzige Rot auf meiner Haut. Mein ganzer Körper brannte vor Zorn. Ich biss mir auf die Lippe, bis ein Tropfen Blut hervortrat. Der zweite Akt begann. Mein Vater würde schon sehen, wie sehr ich diese Musik zu schätzen wusste. Besser jedenfalls als er, der diese Vorstellungen mehr ihres Bombasts wegen besuchte, der ihm reichlich Material für seine späteren Angebereien lieferte, als aus Liebe zur Kunst. Dies hier wurde zu einem Kampf zwischen dem natürlichen, erst frisch in die Kunst eingeführten Liebhaber und dem vor lauter ausgestelltem Wissen unsensibel gewordenen, prahlerischen Musikkenner.
Die Minuten vergingen, ich verfolgte jeden Moment des Geschehens, ohne zu blinzeln, mit durchgedrücktem Rücken, die Fingernägel in meine Schenkel vergraben. Brangäne warnte vor den Gefahren des anbrechenden Tages, die Liebenden ignorierten das heraufziehende Licht, meine Lider fielen zu, mein Kinn sank herab, mein Kopf kippte nach hinten.
Als ich vom Schlussapplaus des zweiten Aktes geweckt wurde, blickte ich in das spöttische Gesicht meines Vaters und auf seinen Finger, der anklagend auf meine Schulter zeigte. Und nachdem er gesehen hatte,, wie ich den Speichelfleck entdeckte, den mein offener Mund auf meiner Jacke hinterlassen hatte, stand er lachend auf und ging zum zweiten Essensgang hinaus.
Am Tisch gab es weiteren Spott von Seiten der Geschwister, weitere entschuldigende Fürsprache meiner Mutter, weitere väterliche Gleichgültigkeit.
Ob ich im dritten Akt einschlafen würde, kümmerte mich nicht mehr, ich erwartete es beinahe. Doch diesmal fielen mir nicht nur die Augen zu, sanken nicht nur Kopf und Kinn herab; zu der Schande des Schlafens fügte ich noch die des Schnarchens hinzu. Geweckt wurde ich dieses Mal nicht von den sanften Rippenstößen meiner Mutter oder vom begeisterten Applaus des dankbaren Publikums, sondern von dem Ellbogen meines Vaters, der mir einen so rohen Stoß an den Oberarm versetzte, dass dieser blau anlief und noch mehrere Tage schmerzte. Den Rest der Vorstellung verbrachte ich schläfrig nickend, geschlagen und gedemütigt, bis die glorreiche Waltraud Meier den Liebestod zu singen begann. Jedem Satz des Monologs folgte ich mit wachsender Erregung, war der Wachste von allen. Ihre Stimme drang mit jedem Satz, mit jedem vom makellosen Kristall der Vokale verbundenen Konsonanten in die Poren meines Körpers. Mein Arm schien vor Schmerz zu bersten, aber noch mächtiger war die Explosion meiner Seele, und nichts kümmerte mich, als allein die Stimme der Meier, der gestaltgewordenen Isolde, und das planvolle Dirigat Barenboims, der jeden Takt bedachtsam an den nächsten reihte, in einer Wolke von Klängen, das viel mehr als ein Netz von Noten wob; dies war die klingende Ewigkeit reinen, bewegenden Ergreifens. Ich wurde zum Quell. Ich weinte haltlos, versuchte nicht einmal, meine Tränen zurückzuhalten, im Gegenteil, sie waren der erste Ausdrucks eines Glücks, wie ich es noch nie empfunden hatte. Ich wurde zum Sturzbach, schluchzte laut. Niemand wagte es jetzt, mich zum Schweigen zu bringen.
Mein Vater sollte später die Bedeutung meiner Tränen herunterspielen. Wer immer auf die Sache zu sprechen kam, dem würde er verkünden, dass ich vor Schmerz über seinen Armhieb zum Wohl der Aufführung und des Publikums geschluchzt hätte. Ich versuchte erst gar nicht, seine falsche Begründung richtigzustellen. Denn ich ahnte, dass er unfähig war, eine Verzückung zu verstehen, die er selbst nie empfunden hatte.
In den Tagen darauf wurde nicht mehr über die Angelegenheit gesprochen, und ich ertrug stoisch meine ungerechtfertigte Schande. Zurück in Mexiko entschloss ich mich jedoch, mit der Komödie des «Nichts-passiert» Schluss zu machen und meinem Vater zu erklären, dass ihm in meiner Musikerziehung ein Fehler unterlaufen sei, indem er zugelassen habe, dass mich Opernmusik des Nachts einlullte, denn so sei es dazu gekommen, dass ich jedes Mal an einer bestimmten Stelle jedes Aktes eingeschlafen sei.
Ich fand ihn Zigarre rauchend im Wohnzimmer, wo er hinter einer Qualmwolke Zeitung las. Ich begann mich zu entschuldigen (wofür?) und versprach ihm, dass so etwas im nächsten Jahr in Salzburg nicht passieren würde.
«Quäl dich nicht, Junge», unterbrach er mich, den Blick von der Zeitung und die Zigarre aus dem Mund nehmend, «ich sollte dir nicht meinen Geschmack aufzwingen. Nächstes Jahr werden deine Geschwister nicht mitfahren. Freu dich, du auch nicht. Wir haben beschlossen, dich in ein Feriencamp nach Boston zu schicken, damit du dein Englisch verbesserst, das doch einiges zu wünschen übrig lässt.»
Ich protestierte, stieß stammelnde Erklärungen hervor, und als ich erkannte, dass seine Entscheidung getroffen war, begann ich zu flehen. Er sagte dann, mit der Zeit würde ich schon lernen, meinen kindlichen Wunsch, ihm zu gefallen, nicht mit echtem ästhetischem Interesse zu verwechseln; das Verlieren meines Reisepasses im Flughafen sei ein deutliches Signal meines Unterbewusstseins gewesen; in Wirklichkeit hätte ich gar nicht mit ihnen verreisen wollen.
«Aber Papa …»
«Aber nichts da.»
Mein Vater widmete sich wieder seiner Zigarre und seiner Zeitung. Eine aus dem Mund quellende Rauchwolke verschleierte sein Gesicht. Die Sprechstunde war zu Ende. Das Urteil war gesprochen.
Ich verspürte denselben Zorn wie bei der Demütigung, als mein Vater mir vor Beginn des zweiten Aktes «süße Träume» gewünscht hatte. Ich stampfte auf den Teppich.
«Mir egal!», stieß ich atemlos hervor. «Dann werde ich eben selbst ein großer Opernsänger und komme nach Salzburg nicht als Besucher, sondern um den Applaus des Publikums entgegenzunehmen, und dann» – hier zeigte ich anklagend mit dem Finger auf ihn – «wirst du dich daran erinnern, wie ungerecht du heute zu mir gewesen bist.»
Normalerweise blieb ich stumm, wenn ich mich ärgerte; ich war selbst überrascht von diesem übertriebenen, beinahe opernhaften Ausbruch. Hinter der Qualmwolke schaute mein Vater teils mit Neugier, teils mit Zorn auf mich. Er zog die Augenbrauen hoch, betrachtete forschend den «Unfall», der ihm mit frecher Kühnheit ein so melodramatisches Urteil entgegengeschleudert hatte. Langsam nahm er die Zigarre aus dem Mund, stieß eine weitere Qualmwolke aus und sagte:
«Opernsänger ist nichts, was zu werden man entscheidet. Entweder hat man das Talent dazu, oder man hat es nicht. Wer das Talent an sich entdeckt, hat einen beschwerlichen Weg mit viel Arbeit, viel Disziplin und Mut vor sich und braucht noch viel Glück dazu. Einem Talentierten unter tausend gelingt es, das Singen zu seinem Beruf zu machen. Wir werden sehen, Kleiner» – dabei vollführte mein Vater ein paar etwas verächtliche, kreisende Bewegungen mit seiner Zigarre – «wir werden sehen, ob du einer von denen bist.»
Es folgte eine drückende Stille. Sein ernster, forschender Blick hinter dem Rauchschleier ließ meine Knie zittern. Ich musste schlucken. Ich war wie betäubt. Die Gewissheit, mit der ich meinen Satz gesprochen hatte, war verflogen.
«Kommst du, um mir zu applaudieren, wenn dieser Tag Wirklichkeit wird?», fragte ich und wunderte mich, dass meine Stimme beinahe wie ein Schluchzen klang. Mein Vater zog eine Grimasse, ließ den Zigarrenrauch durch gespitzte Lippen entweichen, und ich würde nie erfahren, ob dieses Luftlachen Ausdruck von Zärtlichkeit, Spott oder Widerwillen war.
Sechzehn Jahre später war dieser Tag Wirklichkeit geworden.
Ich schleifte meinen Koffer zur Haltestelle der Busse, die in die Altstadt fuhren. Einer war schon voller Fahrgäste und stand mit laufendem Motor bereit. Ich begann zu rennen, stolperte über einen rosafarbenen Koffer, erreichte die Tür, und als ich den Fuß hob, um einzusteigen, ging die Schiebetür vor meiner Nase zu. Bevor der Autobus sich in Bewegung setzte, erblickte ich im Glas der Schiebetür einen Moment lang mein Gesicht, die ungläubige Überraschung in meinen noch verschlafenen kleinen blauen Augen, den Schweiß auf meiner breiten Stirn, meine bebenden Nasenflügel.
Falls mich jemand während der zehn Minuten beobachtete, bis der nächste Bus kam – und ich bin sicher, dass es jemand tat, es gibt immer jemanden, der mich beobachtet –, muss er gedacht haben, dass ich unter Bewegungsmangel litt oder ein Boxer war, der sich für den Ring aufwärmte. Ich hatte zwar kein Bewegungsproblem, aber das mit dem Boxer war nicht ganz falsch. Es deutete sich ein Kampf zwischen meinen Schatten an, den vergangenen, den üblichen also, und den zukünftigen. Doch das war nicht der Grund, weswegen ich in die Knie ging, von einem Bein aufs andere hüpfte, den Oberkörper nach hinten bog und meine Hüften kreisen ließ, während ich auf den Bus wartete. Eine Wespe flog drohend um meinen Kopf, und ich versuchte – vergeblich – ihr auszuweichen. Der Bus kam, die Wespe blieb draußen, für mich begann das letzte Wegstück zur ersehnten Stadt.
Kurz vor dem Abitur teilte ich meinem Vater mit, dass ich ins Nationale Konservatorium für Musik eintreten und nicht die Universität besuchen würde, wie er es wünschte. Er nahm es gefasst auf und antwortete nicht gleich, und als er es tat, sprach er ohne Zorn und ohne zu gestikulieren, mit der Sicherheit dessen, der weiß, dass er die Macht hat. Er schwor, mir jede finanzielle und moralische Unterstützung zu entziehen, und drohte sogar damit, mich aus dem Haus zu werfen, wenn ich darauf beharrte, diesen absurden Weg zu gehen. Er versicherte mir mit der Selbstgefälligkeit des Erwachsenen, der einem Kind die Gründe erklärt, warum es die Hände nicht ins Feuer halten darf, dass eine akademische Ausbildung die Grundlage für mein Berufsleben sei und dass es dem Bau eines auf Dauer viel zu schwachen und instabilen Fundaments gleichkäme, diese entscheidenden Jahre einer ungewissen künstlerischen Laufbahn zu widmen. Er machte eine Pause und legte seine schwere Hand auf meine Schulter. Vielleicht sollte das eine warmherzige Geste sein; doch für mich war dieser Arm eher eine schwere Zugbrücke, die zwar den Weg zur Festung freimachen, aber ebenso gut jeden Versuch eines Einspruchs gegen die Meinung des Burgherrn niederschmettern konnte. Nach einem Seufzer begann die Festung wieder zu sprechen:
«Und damit du nicht glaubst, ich sei ein herzloses Ungeheuer, verspreche ich, deine gesangliche Berufung zu fördern, falls du am Ende deines Studiums – mit dem Diplom in der Hand – immer noch eine solche verspürst.»
Er schaute mir dabei in die Augen, die Brücke über dem Abgrund, der uns zeitlebens getrennt hat, war herabgelassen. Er erwartete eine Antwort. Eine Stimme des zwischen Bergen brausenden Windes befahl mir, mich nicht von meiner Entscheidung abbringen zu lassen. Ein paar Sekunden lang stellte ich mir den Kampf vor, den zu entfachen ich im Begriff stand, die Ungewissheit, in die ich gestürzt würde, und ich spürte schon den schrecklichen Rausch der Freiheit. Eine andere Stimme, die einer kleinen, zitternden Ratte, empfahl mir versöhnlich, den Vorschlag meines Vaters anzunehmen; wenn es ein universitärer Abschluss war, den er brauchte, um an mein Talent zu glauben, brauchte ich den doch bloß zu machen, und alle Probleme wären ausgeräumt. Der Druck der Hand auf meiner Schulter verstärkte sich; sie war nicht bereit, den ganzen Tag zu warten. Ich schluckte, hielt die Luft an, und dann nahm ich – zögernd zuerst und angesichts des durchdringenden Blicks der Festung schließlich mit unterwürfiger Überzeugung – den Vorschlag an. Zufrieden zog sie die Brücke hoch und ließ mich allein.
Ich begann ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Iberoamerikanischen Universität; doch parallel dazu und ohne meinem Vater etwas davon zu sagen, suchte ich mir Gesangslehrer, um mich auf das vorzubereiten, was ich als meine wahre Berufung betrachtete. Vier Jahre später hatte ich mein Diplom, wenngleich nur ein mittelmäßiges. Mein Vater verbarg seine Enttäuschung nicht, hielt aber sein Versprechen und sagte, er werde mich ein Jahr lang unterstützen. Diese Zeit hätte ich, um meinen Traum ohne finanzielle Sorgen zu verfolgen, um festzustellen, dass er eine Schimäre sei, fügte er noch hinzu.
Mehr als alles wollte ich ein großer Tenor werden; doch so eifrig ich auch meine Lektionen lernte und Tonleitern übte, so oft ich meine Lehrer und Techniken wechselte, wie viele Stunden ich mir auch die Aufnahmen der berühmtesten Tenöre anhörte, um ihre Geheimnisse zu ergründen, trotz aller meiner Anstrengungen gelang es mir nicht, die hohe Stimmlage zu erreichen. Manchmal schaffte ich mit etwas Glück ein anständiges A, doch nach dem B brachte ich kaum mehr als gestützte Schreie, vibratolose oder kratzige Töne hervor, pfeifende Geräusche. Ich ließ mich jedoch nicht entmutigen und war überzeugt, dass meine beharrliche Arbeit Früchte tragen, ich am Ende meine Technik beherrschen und die stimmlichen Höhen erreichen würde, nach denen ich mich so sehnte. Um meine Fortschritte vor Publikum zu testen, sang ich auf Hochzeiten von Freunden, Bekannten und Verwandten nicht sehr hochstimmige Kirchenlieder; und auf einem dieser Feste erkannte ich unter den Gästen Professor Murillo, den bekanntesten Gesangslehrer der recht überschaubaren mexikanischen Opernwelt und Direktor der Gesangsklasse der Escuela Nacional de Música. Später sprach ich ihn an, wir tauschten Meinungen aus, tranken ein Glas von dem unsäglichen Wein, der zum Abendessen ausgeschenkt wurde, und als wir uns verabschiedeten, schlug er mir zu meiner Freude und Bestätigung, dass ich zum Gesang berufen sei, vor, Unterricht bei ihm zu nehmen.
Dreimal die Woche ging ich in sein Studio, mein Vater zahlte widerwillig die Unterrichtsstunden. In der vierten Woche gemeinsamer Arbeit sagte mir der Professor, der Grund für meine Probleme mit der hohen Stimmlage sei, dass ich eigentlich eine Baritonstimme habe und kein Tenor sei. Mir sank das Herz in die Hose. Bariton! Was wusste ich von dieser tiefen, verführerischen Stimme? Nur wenig, so gut wie nichts. Ich konnte kein Bariton sein; die ganze Theorie meiner Persönlichkeit basierte darauf, Tenor zu sein. Ich wollte, dass Mimi und Violetta und Carmen ihre letzten Seufzer in meinen Armen hauchten; ich wollte die Tode von Werther, Edgard, Lenski und Cavaradossi singen; ich wollte meine Stimme in den Triumphen Nemorinos und Almavivas aufgehen lassen. Nur wer singt, weiß, wie sehr die Stimmlage die Persönlichkeit eines Sängers bestimmt. Die Stimmlage zu wechseln, heißt nicht nur, ein neues Repertoire zu lernen und eine neue physische Stellung der Stimme zu entdecken. Es bedeutet auch einen neuen Aufbau der Persönlichkeit und der Idee davon, wie ein Sänger sich als Mensch sieht. Professor Murillos wegen hätte ich einen Psychologen aufsuchen müssen. Die ohnehin stets düsteren Wolken über meiner Seelenlandschaft waren schwärzer denn je. Ich wusste nicht einmal, was ich dem Professor sagen sollte; ich verabschiedete mich stammelnd, verließ sein Studio und kehrte nicht mehr zurück. Tagelang vergrub ich mich in meine Gedanken und verlor mich in Grübeleien. Ich war nicht bereit, zurückzugehen und meine Stimmtechnik umzubauen, hatte nicht die seelische Kraft, diesen Rückschritt überhaupt in Erwägung zu ziehen. Ich beschloss, auf meine Berufung zu verzichten; noch war es Zeit, mein Streben in eine neue Richtung zu lenken.
Ich sprach mit meinem Vater. Er tröstete mich von seinem Gipfel aus, von dem er immer schon die Schimäre gesehen und gewusst hatte, dass das alles nichts als eine kindische Obsession gewesen war. Seine schützenden Mauern umfingen mich. Er besorgte mir eine Anstellung in einer Beratungsfirma, in der ich mit der Zeit und mit seiner Hilfe auf der Karriereleiter vorankommen könnte. Ich fühlte mich sicher und beschützt, zugleich aber leer und verzweifelt. Die Tage vergingen, einer war wie der andere. Ich hörte mir keine Aufnahmen mehr an. Von Gesang und Oper hielt ich mich fern, vermisste sie aber. Meine Seufzer brachten meinen Vater zur Verzweiflung. Eines Tages traf ich ihn im Büro an, wo er sich mit dem Firmenchef unterhielt, der mich eingestellt hatte, und wir gingen alle drei zum Essen. Wir sprachen über Oper, und mein Vater berichtete von meinem Versuch, Tenor zu werden, von meiner Begegnung mit Professor Murillo und wie ich vom Traum meiner Kindheit Abstand genommen hatte. Aus seinem Mund klang die Geschichte wie ein langer lustiger Witz, den wir alle mit Lachen und erhobenen Gläsern quittierten; doch in meinem Innern regte sich der zornentbrannte Krieger. Das war eine klare Kränkung. Ich hatte meine Berufung und meine mühselige Ausbildung zum Sänger nicht aufgegeben, damit mein Vater sich darüber lustig machte und die Geschichte als drollige Anekdote erzählte. Wenn meine Berufung wahrhaftig war, erkannte ich, dann müsste ich alle Hindernisse überwinden, jeden Spott ertragen, allen Widrigkeiten trotzen. Wenn meine Stimmlage Bariton war, dann musste ich daran arbeiten, bis ich sie beherrschte und sogar ihre Möglichkeiten lieben lernte, um meiner künstlerischen Bestimmung vollkommen genügen zu können. Ich legte den Rückwärtsgang ein und begann von neuem. Ich nahm den Unterricht bei Professor Murillo wieder auf, der entzückt war, mich erneut bei sich zu haben, mitfühlend und glücklich, für meinen Unterricht wieder Honorar zu kassieren. Meinem Vater sagte ich nichts. Ich brauchte ihn nicht mehr, konnte die Gesangsstunden von meinem Gehalt bezahlen, und von dem, was übrigblieb, sparte ich, so viel ich konnte. Ich hatte einen Plan, und ich setzte ihn um. Meine Zielrichtung hatte sich geändert, ich wurde Bariton.
Ein Jahr mit harter Arbeit war vergangen, als ich meine Stellung kündigte. Ich schrieb meinem Vater einen langen Brief, vermied es jedoch, mit ihm zu sprechen, um ihm keine Gelegenheit zu geben, mich umzustimmen. Ich bestieg ein Flugzeug nach Europa, wo ich zum Vorsingen antreten wollte. Er sollte ruhig lachen. Wenn alles so lief, wie ich es erwartete, würde ich auf dem alten Kontinent bleiben und das Singen zu meinem Beruf machen.
Die Fahrgäste unterhielten sich in verschiedenen Sprachen. Ich suchte immer noch den Horizont ab, um die Burg zu finden. Ich kannte sie nicht einmal von Fotos. Jedem Abbild war ich bisher aus dem Weg gegangen, weil mein erster Eindruck der sein sollte, den meine eigenen Augen mir vermittelten, wenn ich davorstand. Ich fühlte mich, als hätte ich kein Auge zugetan, seit ich in München in den Zug gestiegen war. In meiner Brust stritten Erwartung, schmerzhafte Vorfreude und Zweifel miteinander. Das letzte Abenteuer meiner Jugend hatte begonnen, und ich wollte keine Einzelheit davon verpassen, so unbedeutend sie auch scheinen mochte. Hiermit wurde die Akte meiner fehlgeschlagenen Suche nach Ruhm in der Welt der Oper zugeklappt, dies war der letzte Gesang meines gescheiterten epischen Gedichts. Ich übertreibe nicht, wenn ich die angetretene Reise als Odyssee bezeichne, obgleich ich damals noch nicht wusste, dass ich sie als eine solche erleben sollte. Als meine Odyssee. Odysseus’ Rückkehr nach Ithaka war jedoch sein Sieg, während die Aussicht, am Ende des Sommers nach Mexiko zurückzukehren, nachdem ich in Europa vier Jahre lang um einen Platz auf der Bühne gekämpft hatte, meine Niederlage war.
Zu meinem ersten Vorsingen fuhr ich nach Prag. Vor dem Betreten des Staatstheaters ließ mich der leere Blick eines gesichtslosen Gespenstes innehalten. Es saß an einer Ecke des Gebäudes, eingehüllt in einen Umhang aus dunkler, grünspaniger Bronze. Die verborgenen Hände ruhten gelassen auf seinen Oberschenkeln und waren von den harten Falten des Umhangs nicht zu unterscheiden. Wo das von der Kapuze umrahmte Gesicht hätte sein sollen, war ein Loch, eine schrecklich abgründige Höhle; stehender Wind, der starrte. Die Skulptur von Anna Chromy schaute mich an mit dem zwingenden Nichts ihres leeren Gesichts vor dem Gesang. Ich las ihren Namen: Il Commendatore, wie der steinerne Gast in Don Giovanni. Ich riss mich los von diesem Gesicht aus dunklem Hauch, verscheuchte die düstere Vorahnung, die es in mir weckte, und trat durch den Künstlereingang ins Theater.
Mit anderen Sängern, die hin und her liefen und mit geschlossenem Mund Stimmübungen machten, wartete ich in einem kalten Flur, bis ich an die Reihe kam. Ein junger Mann mit verschmierten Brillengläsern, fettglänzendem Gesicht und verdrießlicher Miene rief meinen Namen auf und geleitete mich zur Bühne. Ich übergab dem Pianisten meine Noten und machte mich bereit, zu singen, wie ich noch nie gesungen hatte. Ich hatte vier Arien vorbereitet, singen ließen sie mich drei. Meine Nervosität verwandelte sich in Begeisterung. Das Interesse der vier Juroren war deutlich zu erkennen. Sie flüsterten oft miteinander, während ich sang. Am Ende baten sie mich, wieder im Flur zu warten. Ich sah einen Sänger nach dem anderen eintreten und die meisten von ihnen mit gesenktem Kopf wieder herauskommen, nachdem sie nur ein einziges Stück gesungen hatten. Dann kam der Pianist heraus, der in sein Telefon sprach; der Junge mit der Brille und dem fettglänzenden Gesicht ging gähnend an mir vorbei; drei von denen, die mich angehört hatten, hasteten an mir vorüber, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Als ich den vierten der Juroren herauskommen sah, sprach ich ihn einigermaßen verzweifelt an und erinnerte ihn daran, dass man mich zu warten gebeten hatte. Er erkannte mich nicht gleich; dann warf er den Oberkörper zurück und sog mit einem lautlosen «Ah» die Luft ein, legte die Hände zusammen und bedankte sich für meine Interpretation, leider müsse er mir aber mitteilen, dass es keine Rolle für mich gäbe, und wenn auch allen, die zugehört hätten, meine künstlerische Qualität sehr zugesagt habe, so seien sie doch einhellig der Meinung gewesen, ich hätte unnötigerweise versucht, meine klare und von Natur aus brillante Stimme künstlich dunkler klingen zu lassen.
«Sie sind kein Bariton. Sie sind Tenor», schloss er und ging davon, ohne mir die Hand zu geben. Wie versteinert blieb ich mit offenem Mund mitten im Flur stehen. Ich überwand die Enttäuschung, ignorierte die Bemerkung und stellte mich darauf ein, die restlichen Gesangsproben zu absolvieren, die ich geplant hatte. Doch meine anfängliche Begeisterung litt jetzt unter einer chronischen Zweifelsinfektion. Ich sang unsauber in München, wenig inspiriert in Mannheim, textvergessen in Berlin, ohne Tiefe in Paris und mit Grippe in London. Niemand kommentierte etwas, und ich bekam auch keine einzige Rolle.
Meinem Vater sagte ich, drei meiner Gesangsproben seien erfolgreich gewesen. Ich erfand Kurse und Opernwerkstätten. Er verzieh mir nicht, gegangen zu sein, ohne ihm ins Gesicht gesehen zu haben, wünschte mir Glück und bot mir keinerlei finanzielle Hilfe an. Ich fand Arbeit als Kellner in einem mexikanischen Restaurant in Berlin, und danach fotokopierte ich Partituren in einer Musikschule. Ich trainierte meine Stimme wieder bei neuen Lehrern. Einer versicherte mir, ich sei Bariton; der andere, meine Stimme sei die eines Tenors. Was ich am Ende erreichte, war eine gewaltige, lähmende Verwirrung. Meinem Traum vom Künstlerdasein kam ich am nächsten, wenn ich bei Opernaufführungen als Komparse eingesetzt wurde. Ich, der ich geglaubt hatte, zum Singen geboren zu sein, trottete stumm über die Bühne, wie ein Schatten, wie eine von Schreien erfüllte Stille. Meinem Vater schickte ich Fotos mit meinen Kostümen und berichtete ihm, ich singe kleine Rollen in Opern, stiege in meiner Künstlerkarriere Stufe um Stufe die Leiter hinauf. Ich begeisterte mich für meine Lügen, als wären sie in einer Parallelwelt Wirklichkeit geworden. Ich genoss diese Fiktion. Auf einem der Fotos, die ich ihm schickte, war ich als römischer Soldat zu sehen. Meinem Vater schrieb ich, ich spiele die Rolle des Flavio in Norma. In Wirklichkeit stand ich bei dieser Produktion mit fünfzehn anderen Komparsen am Anfang und am Ende der Oper da und schob einen Stuhl zur Seite, damit der Vorhang frei herunterfallen konnte. Dem Bühnenregisseur war der Mexikaner, der den Stuhl verschob, wohl sympathisch, und er lud mich ein, bei seiner neuen Produktion von Don Giovanni in Salzburg mitzumachen. Ich sagte sofort zu; glücklich, mein kindliches Versprechen wahrmachen zu können. Meinem Vater sagte ich, man habe mich in Salzburg für die Rolle des Masetto in Don Giovanni verpflichtet, und falls der Sänger erkrankte, würde ich an seiner Stelle singen. «Ein Debüt in Salzburg, Papa. Stell dir vor!» Er reiste unangekündigt nach Berlin und saß eines Nachmittags in meinem Zimmer, das ich gemietet hatte.
«Hältst du mich für blöd, Vian?»
Ich rechtfertigte mich, warf ihm Polizeimethoden vor, versicherte ihm, alles sei wahr, alles entwickle sich phantastisch, er würde schon sehen, wie gut es für mich lief. Ich hob die Stimme und fuchtelte mit den Armen. Mein Vater sagte kein Wort, schaute mich nur forschend an, erkundete jedes Stammeln, jede plumpe Erklärung, jeden Schweißtropfen in meinem ertappten Gesicht und schüttelte unmerklich den Kopf. Er nutzte eine Atempause in meiner stolpernden Rede, stand auf und ging dahin, wo meinem Gefühl nach die Welt am Einstürzen war, ließ, wie er es vor Jahren schon getan hatte, die Zugbrücke auf meine Schulter niedergehen.
«Glaubst du, ich bin blöd, Vian?», wiederholte er mit strenger, gebieterischer und vernichtender Stimme; derselben, die mich als Kind den Diebstahl einer Tafel Schokolade hatte gestehen lassen, und genau wie damals brach ich auch diesmal zusammen. Ich gestand ihm die ganze Wahrheit, von jedem ergebnislosen Vorsingen bis zu meiner wahren Rolle als Komparse. Meine wütenden, hilflosen Tränen konnte ich nicht wirklich vor ihm verbergen. Jahrelang hatte ich mich hinter den Lügen versteckt, die ich meinem Vater erzählte, hinter den Fotos, die ich ihm schickte, um weiterträumen zu können. Sein Blick machte mein entlarvtes Scheitern unwiderruflich.
«Es ist an der Zeit, dass du vernünftig wirst und diese absurden Träume hinter dir lässt», sagte er ruhig und bestimmt. «Komm mit mir zurück nach Mexiko, ich kann dir immer noch in irgendeinem Unternehmen eine Stelle besorgen, damit du endlich beginnst, in der Wirklichkeit zu leben.»
Er ließ einige Sekunden verstreichen, und als er merkte, dass ich nichts mehr zu sagen hatte, nahm er seine Hand von meiner Schulter, fuhr mir damit durchs Haar und meinte:
«Unglaublich, dieser ‹Unfall›. Pack deine Sachen», befahl er dann und griff nach seiner Aktentasche, «wir fahren heute noch.»
«Ich kann nicht, ich habe den Vertrag für Salzburg schon unterschrieben», log ich, und nach einem Moment vorwurfsvollen Schweigens seinerseits bat ich mit flehender Stimme: «Bitte, Papa, lass mich dieses Mal nach Salzburg fahren.»
Mir war, als schössen seine Augen giftige Pfeile ab. Er knirschte mit den Zähnen, schnaufte und schlug seine Fäuste auf die Oberschenkel. Mein Vater verlor niemals die Kontrolle über sich.
«Du bist achtundzwanzig Jahre alt, Vian, ein erwachsener Mann», rief er ungeduldig, erbittert. «Mach, was du verdammt noch mal willst; aber wenn du im September noch nicht in Mexiko bist, kannst du jede Unterstützung meinerseits vergessen.»
Bevor er ging, schaute er mir in die Augen und nahm mir das Versprechen ab, Ende des Sommers nach Mexiko zurückzukehren. Wir verabschiedeten uns mit einem Händedruck.
In den folgenden Tagen hatte ich das Gefühl, von einem kraftlosen, unbeständigen Licht umgeben zu sein; in einem Schatten zu leben, der düster und unausweichlich war. Ich schloss meine elende Bleibe ab, fuhr nach München und nahm dort den Zug in die ersehnte Stadt. Während ich die Landschaft am Fenster vorbeiziehen sah, schwor ich mir, mich mit all meinen Kräften an das schwache, unbeständige Licht zu klammern, die kommenden Tage nicht von dem lästigen, unausweichlichen Schatten verdüstern zu lassen und meinen Aufenthalt in Salzburg wie einen Sieg zu feiern.
Erhitzt und gereizt drängten wir Fahrgäste uns in dem holpernd vorankommenden Bus zusammen. An den Fenstern zogen Häuser in matten Farben vorbei, Gelb, Blau und Weiß, Grünflächen, ein Schreibwarengeschäft, Fußgänger in kurzen Hosen und Miniröcken, ein Postamt. Erster Halt. Einer der Fahrgäste nannte den Namen «Mirabell» und deutete auf den Park, an dem wir vorbeigefahren waren. Verkehrsampeln, Plakate mit den Namen von Opern. Zweiter Halt. Mein Herz schlug schneller, denn an genau diesem Tag vor vier Jahren war ich in Mexiko in das Flugzeug gestiegen, das mich nach Europa zu meinen Vorsingen bringen sollte. Meine damalige Erregung war jedoch Ergebnis einer erfrischenden Ahnungslosigkeit gewesen, einer blind machenden Begeisterung vor der Begegnung mit dem Unbekannten; die jetzige hingegen nährte sich aus einer Gewissheit im Angesicht des unwiderruflichen Abschieds.
Der Bus bog nach rechts, ich erblickte eine Bronzeskulptur, die mich an eine zerfließende Schnecke denken ließ, und dann, hinter ihren Windungen, zwischen denen ich ein lächelndes Profil zu erkennen glaubte, sah ich das Haus, in dem die Mozarts gewohnt hatten. Ein großes Metallschild an der grauen Fassade verkündete es: MOZART WOHNHAUS. Dritter Halt.
Das Einzige, was ich über viele Jahre hin von Mozart kannte, war eine Schallplatte mit seinen bekanntesten Stücken, die meine Mutter mich hören ließ, während ich meine Hausaufgaben machte. Jemand hatte ihr erzählt, diese Musik fördere die intellektuelle Entwicklung von Kindern. Meine arme Mutter, so leichtgläubig, so scheu, so tot.
Der Bus bog jetzt auf die Brücke ein, die in die Altstadt führte. An einer der Straßenecken, die hinter uns zurückblieben, sah ich eine Konditorei, in der es die berühmten Mozartkugeln gab. Ich musste lächeln, denn schon lief mir das Wasser im Mund zusammen. Wenn mein Vater von seinen Besuchen in dieser Stadt nach Mexiko zurückkam, pflegte er ausgewählte Gäste zum Abendessen einzuladen. Nach den aufsehenerregenden österreichischen Gerichten ließ er zum Kaffee die Schokoladenkugeln reichen. Und dann – schweren Brandy in der einen, qualmende Zigarre in der anderen Hand – fing der Gastgeber an, seine märchenhaften Anekdoten des Sommers zu erzählen. Mir war es verboten, diese Süßigkeiten zu probieren. Manchmal stahl ich eine und verschlang sie mit einer solchen Wonne, dass ich den Geschmack von Nougat, Marzipan und dunkler Schokolade kaum im Mund behielt; aber mein Vater, der unerbittlich Buch über die Schokoladenkugeln führte, so wie er es über alles tat, was sich in seinem Haus befand, ließ meine Diebstähle nie ungestraft. Mein Vater. So aufgeblasen, so diszipliniert, und ach, so lebendig.
Lange österreichische Fahnen hingen schwunglos an hohen Masten, die sich schlank entlang der Brücke erhoben. Zum ersten Mal hätte ich jetzt die Burg sehen können, wenn mich der Anblick der breiten, grünen, quirligen Salzach nicht abgelenkt hätte. Ich schaute auf und sah ein Bauwerk auf dem Hügel. Sollte das die Burg sein, waren ihre Ausmaße bescheiden; doch dann deutete ein Tourist auf das Gebäude und gab ihm einen Namen. Es war das Museum der Moderne. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch nicht die geringste Ahnung, welche Bedeutung diesem Ort in meinem Leben zukommen würde. Altstadt Zentrum, sagte eine weibliche Stimme vom Band, damit einen vielsprachigen Begeisterungschor auslösend. Vierter Halt. Meiner.
Die Türen öffneten sich, mehrere Leute stiegen aus. Auf dem Bürgersteig versuchte ein großer dicker Mann mit Boxertänzeln umherschwirrenden Wespen auszuweichen. Er hatte meine Anteilnahme. Ich querte eine überdachte Gasse und erblickte zu meiner Rechten ein Hutgeschäft. Meine nicht sehr hochgewachsene Gestalt spiegelte sich im Schaufenster, in dem Baskenmützen, Filzhüte, Melonen, mit Gänsefedern geschmückte Zweispitze und andere Hüte ausgestellt waren. Einer mit hoher Krone schien einen Moment lang auf dem Spiegelbild meines Kopfes aufzusitzen. Ich verließ die schattige Gasse und trat auf den Marktplatz. In der Mitte sprudelte ein Brunnen. Die goldenen Buchstaben eines mittelalterlich anmutenden Transparents aus rotem Stoff verkündeten den Eintritt in die Goldgasse. Ich verharrte auf dem kleinen Platz inmitten der Menschen, die ohne Hast kamen und gingen, lauschte dem Plätschern des Brunnens unter einer Sonne, die die Fassaden weißte, und während einer Minute überschäumender Freude war mir völlig egal, was mit mir werden würde und was bislang gewesen war. Das sich zu Ende des Sommers schließende Kapitel interessierte mich genauso wenig wie die dann anstehende schmerzliche Rückkehr. Ich war hier, das allein zählte, und am nächsten Tag begannen die Proben. Als trüge ich ihn auf dem Kopf, lüpfte ich den Hut mit der hohen Krone, den mein Spiegelbild getragen hatte, und grüßte mit theatralischer Geste die alte, ehrwürdige Stadt.
«Hallo, Salzburg, da bin ich nun.»
Ein paar Schritte von meinem spontanen Gruß entfernt stand ein Mann mit gezwirbeltem Schnauzbart, Tirolerhut, kariertem Hemd, kurzer Lederhose mit Hosenträgern und einer gebogenen Pfeife in der Hand und schaute mich verwundert an. Aus einer Konditorei blinzelte ein lächelnder Mozart herüber. An meinem Gesicht schwirrte eine Wespe vorbei. Ich war angekommen.
Weil ich einem Haufen Pferdemist ausweichen wollte, kam es zu diesem glücklichen Zusammenstoß. Ich war stehengeblieben und las eine Plakette am Haus neben dem Café Tomaselli, in dem Mozarts Witwe mit ihrem zweiten Mann und ihren Kindern gewohnt hatte. Um den dunklen, schwitzenden Pferden einer Kutsche aus dem Weg zu gehen, die mir entgegenkam und aus der drei Touristen ihre Fotos schossen, musste ich zur Seite treten. Als ich der Kutsche hinterherschaute, entdeckte ich zum Glück ein Stück weiter das Salzburg Museum und erkannte, dass ich am Marktplatz falsch abgebogen war. Ich musste eine Straße mit Kolonnaden finden, die an der Stiege endet, welche zum Nonnberg führt. Das Haus, in dem ich die kommenden drei Wochen wohnen würde, lag an der Nonnbergstiege, und die Verwalterin erwartete mich seit einer halben Stunde. Mein Vater hatte mir wiederholt aufgetragen, pünktlich zu sein. Die Hauseigentümer waren Kunden von ihm, und er wollte keinen schlechten Eindruck bei ihnen hinterlassen. Das Haus wurde wochenweise an Künstler vermietet, die bei den verschiedenen Festivals eines Jahres auftraten; da sich aber für diese ersten Sommerwochen noch niemand angemeldet hatte, boten sie es meinem Vater an, und ich konnte es benutzen, ohne Miete zu bezahlen. Ich hätte die Hilfe am liebsten abgelehnt, doch die Leere in meinem Geldbeutel war überzeugender als das Ausmaß meines Stolzes. Ich akzeptierte. Die Frage der Miete war damit fürs Erste zwar geklärt, aber für den Rest der Saison hatte ich noch keine Bleibe; darum würde ich mich später kümmern.
Ich schlug die neue Richtung ein, schleppte weiter meinen Koffer hinter mir her und folgte der Kutsche. Ich betrachtete die Fenster der historischen Gebäude, den strahlend klaren Himmel, den großen Brunnen in der Mitte des Platzes, dem ich mich näherte. Mir war heiß. Die Hufe der müden Pferde klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Das Pochen in meinen Schläfen hörte sich wie ihr Echo an. Das Sonnenlicht bleichte alle Fassaden, Mozarts Name auf der Plakette am Café Tomaselli pochte hämmernd in meinem Kopf. Mir war schwindlig. Ich hätte das Taumelgefühl gern genutzt, um in Mozarts 18. Jahrhundert mit seinen Perücken und gepuderten Gesichtern, seinem ätzenden Humor und den falschen Schönheitsflecken zu entschwinden. Der Wunsch zu träumen allein reichte jedoch nicht. Mein Unwissen stand der Phantasie im Weg, und der Tagtraum reduzierte sich auf ein Sammelsurium unvollständiger Bilder. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und beschleunigte meine Schritte.
Die Kutsche bog ab zu einer Stelle, an der schon andere auf Kundschaft warteten. Ich hatte eine Vorahnung, ein herber Geruch drang mir in die Nase, und die Stimme meines Vaters stieg in meiner Erinnerung auf, erinnerte mich daran, beim Gehen die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen und auf meine Schritte zu achten. Ja, ich neigte zum Stolpern. Doch diesmal warnten mich die Stimmen meiner Erinnerung, der deutliche Geruch und die Vorahnung gerade noch zur rechten Zeit. Ich sah den Haufen Pferdemist, in den zu treten ich im Begriff stand, und tat einen diagonalen Sprung darüber hinweg. Der übertriebene Satz zur Seite war genauso groß wie meine Freude, nicht in den Haufen hineingetreten zu sein. Doch die Freude währte nicht lange. Ihr folgte auf dem Fuß ein Schrei in Italienisch: «Ma che pazzo!», der zu späte Klang einer Klingel, ein harter Schlag in meine Seite und danach ein Ausruf des Schreckens, des Schmerzes und der Überraschung. Ich fand mich auf dem Boden wieder, direkt vor dem nutzlos sich drehenden Rad eines Fahrrads und daneben eine wilde Lockenpracht, die sich aufzurichten suchte. Leute eilten herbei, um der Radfahrerin auf die Beine zu helfen. Ich stand alleine auf, und als ich mich umsah, fand ich die Zahl der Menschenfreunde und der Neugierigen doch etwas übertrieben.
«Ich bin okay, ich bin okay», sagte die Radfahrerin in einem italienisch klingenden Englisch, als sie sich rasch erhob und jene höflich abwies, die ihr zu helfen versuchten. Ich bekam das aus den Augenwinkeln mit. Ich schaute mich um, sah aber nicht, wo mein Koffer gelandet war. Sie trat zu mir.
«E tu, stai bene?»
«Ja, nichts passiert, alles gut», sagte ich errötend, und mir vorgeblich den Staub von der Kleidung klopfend, vermied ich ihren Blick, damit sie mir meine Beschämung nicht ansah. Noch mehr Leute kamen hinzu.
«Are you sure?», beharrte sie ernst und legte eine Hand auf meine Schulter. Ich spürte ihren forschenden Blick. Ich nickte wortlos, und als ich sie nun endlich ansah, wurden meine Augen tellergroß, mein Magen hüpfte. Es war die anerkannteste, die berühmteste Mezzosopranistin der Welt, es war Cecilia Bartoli.
«Es tut mir sehr leid», sagte ich, doch es hörte sich an wie «Ich-kann-nicht-glauben-, dass-ich-mit-Ihnen-spreche-, die-ich-so-sehr-bewundere».
«Ist schon gut», erwiderte sie und setzte sich den Fahrradhelm aufs Haar, das ein loderndes Lockengewitter war. «Uns ist ja beiden nichts passiert. Che pazzo!», rief sie lachend. «Du bist wie ein erschrockener Grashüpfer plötzlich zur Seite gesprungen.»
Jemand brachte ihr das Fahrrad, sie bedankte sich mit einem Lächeln. Die Umstehenden hielten mit einem Mal Mobiltelefone in der Hand und fotografierten. Sie gab ein paar Autogramme. Ich sah einen Mann, der rasch etwas in ein kleines Notizbuch kritzelte, und ein Mädchen, das mich hasserfüllt anstarrte und wütend ihr buntes Eis am Stiel leckte. Eine elegant gekleidete Frau trug einen nutzlosen Regenschirm an diesem heißen, wolkenlosen Tag.
Die Bartoli gab ein letztes Autogramm, schwang sich auf ihr Rad, setzte den Elektromotor in Gang und drehte sich zu mir, wohl um mir arrivederci zu sagen.
«Ich arbeite diesen Sommer auch am Theater», bemerkte ich mit vermutlich viel zu hoher Stimme in dem Bestreben, unsere Begegnung in die Länge zu ziehen. «In der neuen Produktion von Don Giovanni», fügte ich hinzu und spürte die Blicke einiger Neugieriger auf mir.
«Ach ja?», fragte Cecilia interessiert. «Welche Rolle singst du?»
Daraufhin erklärte ich ihr überhastet und mit wirren Worten, dass ich nicht sänge, sondern in der Aufführung von Don Giovanni eine Statistenrolle hätte, eigentlich aber Sänger sei, Gesang studierte, genauer gesagt, dass dies eine große Chance für mich sei und ich deshalb die Rolle angenommen hätte, mehrere Jahre in Berlin gewohnt, aber große Lust hatte, hier in diese Stadt zu kommen, und dass die Begegnung mit ihr schon beweise, dass es sich lohne, bei den Festspielen dabei zu sein, wenn auch nur als Komparse, und, wer weiß, vielleicht würden wir ja eines Tages zusammen auf der Bühne stehen, was natürlich nur ein Traum sei, schließlich könne ich mich als Künstler nicht mit ihr vergleichen, aber, Menschenskind, wenn man nicht träumte, seine Träume nicht bis zur letzten Konsequenz verfolgte, würde man von Anfang an in seelenlosen Büros bei geistlosen Arbeiten versauern, vielleicht sei das mein Schicksal, doch erst mal hätte ich noch dieses Engagement und der Unfall sei vielleicht ein Zeichen, obwohl ich nicht wisse, ob für was Gutes oder was Schlechtes, auf jeden Fall sei es sehr gut, sie kennengelernt zu haben, und mein Vater würde sicher tief beeindruckt sein, wenn …
Cecilia Bartoli folgte meiner labyrinthischen Erklärung mit verständnisloser Miene, als wäre das, was sie zu hören bekam, ein langer, komplizierter, ganz unwahrscheinlicher Zungenbrecher.
«Bene», sagte sie schließlich und richtete erneut den Helm auf ihrem amazonenprächtigen Haar. «Dann sehen wir uns da.» Ihre Hände umfassten den Lenker. «Wie ist dein Name?»
«Vian», antwortete ich.
«In bocca al lupo, Vian», wünschte sie mir mit warmer Stimme und fuhr, allen Umstehenden ein Lächeln schenkend, das wie Seifenblasen oder Sternenkränze war, davon. Sie beschleunigte und grüßte noch einmal munter winkend aus der Ferne. Die Geste wurde von den Umstehenden mit begeistertem Applaus beantwortet. Und dann, als hätte sie auf diesen Augenblick gewartet, trat die Frau mit dem nutzlosen Regenschirm vor die Applaudierenden, breitete die Arme aus – der Regenschirm baumelte an ihrem Unterarm – und begann, jaulende Töne von sich zu geben, die wohl kulminierende Soprantriller sein sollten. Der Applaus verstummte, die Blicke wandten sich von der Diva zu der jaulenden Frau. «Das ist die Verrückte, die singt», sagte jemand, der die Frau schon zu kennen schien. Die komische Dame stieß einen letzten misstönenden Triller aus, der alle Luft aus ihren Lungen sog. Danach Stille. Sie legte ihre kleinen Hände an die Brust, wobei sie den herabgleitenden Schirm geschickt am Griff auffing, grüßte mit einer langsamen, feierlichen Verbeugung und eilte mit trippelnden Schritten glücklich davon. Die Leute zerstreuten sich unter Kommentaren und lauten Bemerkungen. Niemand beachtete mich. Ich hob meinen Koffer auf.
«Entschuldigung, wie sagten Sie, war Ihr Name?», fragte mich der Mann, der eifrig in sein Notizbuch geschrieben hatte.
«Vian», sagte ich, als machte ich eine Aussage unter Eid. «Vian Mauer.»
Einen Moment lang stand ich wie benommen mitten auf dem Platz. Ich hörte Hämmern, eine ferne Geige und das Plätschern des Brunnens. In meinen Schläfen pochte es wieder. Mir war, als träte ich aus einem seltsamen Traum, doch mein schmerzender Körper sagte mir, dass dies alles keine Illusion gewesen war. Was für ein Gesicht mein Vater machen würde, wenn ich ihm erzählte, dass ich mich mit der Bartoli unterhalten hatte! Dann fiel mir die Hausverwalterin ein, die auf mich wartete, und ich marschierte wieder los. Auf dem Spann meines Fußes spürte ich plötzlich etwas Warmes. Der Mann mit dem Notizbuch zauberte ein Mobiltelefon hervor und fotografierte mich. Ich war soeben in einen Haufen Pferdeäpfel getreten.
Ich säuberte meinen Schuh, so gut ich konnte, und war noch keine zehn Schritte gegangen, als ich – aus purer Eingebung – nach oben schaute. Ich hielt meine Hand als Sichtschutz über die Augen. Da sah ich sie zum ersten Mal zwischen zwei gegenüberliegenden Dächern. Schlicht, still, weit entfernt. Mehr breit als hoch. Dort auf dem Berg über der Stadt lag die Burg. Eine zerfasernde Wolke darüber ließ mich an den Rauch der Zigarre denken, die meines Vaters Gesicht einhüllte. An der Fassade blinkte ein rotes Licht. Wie ein schlafloses Auge, das mich beobachtete.
Das Summen meines Telefons riss mich aus der Betrachtung des Gebäudes, von dem ich so oft geträumt, das ich so oft gefürchtet hatte. Sehr passend: Auf dem Display erschien eine Nachricht meines Vaters. Er fragte, wo zum Teufel ich sei, die Hausverwalterin warte schon seit fast einer Stunde auf mich. «Mir ist was dazwischengekommen, Papa», antwortete ich, und um ihm zu imponieren, setzte ich gleich hinzu: «Ich habe Cecilia Bartoli auf der Straße getroffen, und wir haben uns lange unterhalten.» Seine Antwort kam unverzüglich: «Ist mir schnurz, wen du getroffen hast. Sieh zu, dass du zum Haus kommst, wenn du diese Nacht nicht auf der Straße schlafen willst. Und blamier mich nicht länger vor den Leuten.»
Ich antwortete, ich sei schon so gut wie da, und setzte meinen Weg fort. Meine Stimmung verdüsterte sich. Der Kummer über das Scheitern meines Traums kehrte zurück und versetzte der Hochstimmung, mit der ich aus dem Bus gestiegen und in die Altstadt marschiert war, einen spürbaren Schlag. Jetzt ging ich zu einem Haus, das mein Vater mir besorgt hatte, so wie ich Ende des Sommers in ein kleines kaltes Büro gehen würde, das mir ebenfalls mein Vater besorgt hätte. Mein Magen drehte sich um, oder vielleicht rebelliert er auch nur jetzt, da ich diese Zeilen schreibe und erkenne, wie unfähig ich mich fühlte, nach eigenen Lösungen zu suchen; wie leicht ich mich am Ende meiner Versuche von der schützenden, autoritären und vermeintlich wohlwollenden Hand meines Vaters lenken ließ. Ich hörte schon den Flügelschlag und das Krächzen meines Raben. Der verfluchte Rabe, der mich verfolgt, so lange ich denken kann. Wie ein dunkler, rauschender Blitz flog dieser Vogel eines Tages aus meiner umwölkten Seele nach draußen und schlug mit seinem Schnabel die ganze Schwärze der Wolken und seines Gefieders in mein Gemüt. Seitdem folgt er mir. Sein beharrlicher, nie nachlassender Flügelschlag verfinsterte oft meine Stimmung in der Kindheit; sein fauliges Krächzen machte die unerklärlichen Trauerschübe meiner Jugend schier unerträglich, und in jenen Tagen räuberte er in noch giftigerer Dunkelheit, und mit weiteren seiner Art verschlechterte er die ohnehin schwankenden Stimmungen eines Menschen ohne verlässlichen Plan und ohne Gewissheiten.
Ich ging schneller, um dem Raben zu entkommen. Nicht, dass ich ihm entfliehen könnte, ich trug ihn ja in mir; aber die Bewegungsenergie half mir, ihm aus dem Weg zu gehen, seinen Flug umzulenken. Das schlappende Geräusch meiner Schritte und das Scharren der kleine Steinchen zertrümmernden Räder meines Rollkoffers vereinten sich mit dem mein zügiges Vorwärtsschreiten begleitenden Klanggemisch von Lachen, Brunnengeplätscher, einem Flugzeug, das seine weiße Wölkchenspur über den Himmel zog, einer Melodie von Morricone, die ein Geiger gegen den Lärm von Hämmern, Eisen und Brettern auf dem Domplatz durchzusetzen suchte, wo Arbeiter die Bühne für das traditionelle Theaterstück Jedermann errichteten. Am Mozartdenkmal ging ich vorbei, ohne ihm große Aufmerksamkeit zu schenken, und bog nach rechts ab. Ein sonnengebräunter Mann mit einem Radetzkyschnauzbart kam mir dort entgegen und schrie etwas in einem deutschen Dialekt, den ich nicht verstand. Ich betrat eine lange schmale Gasse, danach eine andere. Ich schwitzte. Dann sah ich unter einem hohen Betongewölbe den Geiger vor mir. Ich blieb stehen und schaute mich um. Ich sah weder eine Galerie noch die Treppe, die ich suchte. Irgendwann musste ich falsch abgebogen sein. Ich beschloss zurückzugehen, kehrte dem Geiger den Rücken zu, wurde jedoch am Weitergehen gehindert. Der leere Blick eines gesichtslosen Gespenstes hielt mich zurück, das im Schatten einer Nische hockte. Es war eine andere Version der Skulptur von Anna Chromy, derselben, die mich genauso leer, mit dem gleichen eindringlichen Nichts vor dem Ständetheater in Prag angeschaut hatte. In Salzburg heißt sie nicht Il Commendatore, sondern Die Pietà. Ich war nach Prag gefahren, um zum ersten Mal in dem europäischen Theater vorzusingen, in dem die Oper Don Giovanni uraufgeführt worden war. Nach Salzburg war ich gekommen, um als Komparse in der neuen Produktion der gleichen Oper aufzutreten. Das Schicksal stellte mich bei meiner Ankunft in beiden Städten vor den gleichen Bronzeumhang, die gleiche körperlose Hülle. Aberglaube und Zufall bewirkten, dass ich im leeren Gesicht der Gespenster einen Spiegel aus Luft und Schatten sah, in dem ich die beiden Enden meines Scheiterns erblickte. Das gleiche bronzebedeckte Gespenst am Anfang und am Ende meines Abenteuers vorzufinden, war, als sähe ich den Ausgangspunkt der Linie, die ich in der tschechischen Hauptstadt zu ziehen begann, mit ihrem Ende in der österreichischen Stadt verbunden und so einen leeren Kreis bilden. Das Antlitz der Statue war das Abbild meines vollendeten Scheiterns.
Der Rabe stieß ein betäubendes Krächzen aus. Seine scharfen schwarzen Federn zerrissen die Luft, die mich umgab. Ich musste so schnell wie möglich eine lichte Zuflucht finden. Wenn ich es mir fest vornahm, gelang es mir manchmal, unter den dunklen Wolken meines Zweifels und Kleinmuts einen Raum für Optimismus aufzutun, den ich meine «lichte Zuflucht» nannte. Schon als Kind lernte ich, das Licht dieser inneren Zone zu suchen, ihren Halt, ihre Oasenfrische, in der ich mich für Momente, für Stunden, manchmal für Tage vor den wüsten Angriffen der finsteren Raben verstecken kann.
Erste Strategie: Ich begann, Verse zu deklamieren. Was von den vielen Gedichten übriggeblieben war, die ich als Kind auswendig gelernt hatte. Um meine Raben zu vergessen und mich zu beruhigen, las ich Gedichte und lernte sie auswendig. Je abstrakter, desto lieber waren sie mir; desto öfter fand ich in diesen Worten, die ihre Bedeutung dehnen konnten, um ganz andere Dinge zu sagen, den Freiraum, in dem ich die Hieroglyphen meiner eigenen Worte unterbringen konnte, die meiner ureigenen, noch nicht entzifferten Sprache. Ich lernte viele Gedichte auswendig, habe sie aber alle vergessen. Nur einzelne wenige Verse hüpfen mir manchmal auf die Lippen, wenn ich sie herbeirufe, und wehen als Waisen davon, traurig, weil sie nur ein verstümmeltes Gedicht sind; Stofffetzen eines Banners, das ich in anderen Schlachten flattern ließ. Ich bewegte kaum die Lippen, als ich im Gehen Verse von Mistral, von Poe, von Baudelaire, von Rimbaud deklamierte.