Lebenskünstler - Rolando Villazón - E-Book

Lebenskünstler E-Book

Rolando Villazón

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Beschreibung

«Rolando Villazón, der zurzeit berühmteste Tenor der Welt, hat ein sehr ernsthaftes Stück Literatur geschrieben», meinte «Die ZEIT» über Villazóns ersten Roman «Kunststücke». Sein zweiter Roman "Lebenskünstler" zeigt, wie konsequent Villazón seinen literarischen Weg weitergeht. Mit dem ihm eigenen Sinn für Sprachmelodie beschreibt er Menschen, deren Herz mehr für die Kunst und die Phantasie schlägt als für den Erfolg und die Ökonomie. Der Opernstar und Autor Rolando Villazón kennt die Welt der Künstler und Lebenskünstler, mit ihrem Glanz und ihren Schattenseiten, von der er erzählt, sehr genau. Sie philosophieren, zeichnen, komponieren, erfinden Geschichten, falten Origami, arbeiten an der Oper hinter den Kulissen: Seine Lebenskünstler stehen nicht im Rampenlicht, aber ihre Träume sind groß. Ihr Anführer ist ein Spiele-Erfinder, der sich in eine geheimnisvolle stumme Frau verliebt. Auf einer für ihn gestalteten Schatzsuche mit Palindromen und anderen sprachlichen Rätseln, die er lösen muss, erfährt er nach und nach so einiges über die Frauen, über sich selbst und über das Leben im Allgemeinen. Ein poetischer, sprachspielerischer zweiter Roman eines großen Künstlers, metaphernstark und berührend.

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Rolando Villazón

Lebenskünstler

Roman

Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Rolando Villazón, der zurzeit berühmteste Tenor der Welt, hat ein sehr ernsthaftes Stück Literatur geschrieben», meinte «Die ZEIT» über Villazóns ersten Roman «Kunststücke». Sein zweiter Roman «Lebenskünstler» zeigt, wie konsequent Villazón seinen literarischen Weg weitergeht.

Mit dem ihm eigenen Sinn für Sprachmelodie beschreibt er Menschen, deren Herz mehr für die Kunst und die Phantasie schlägt als für den Erfolg und die Ökonomie. Der Opernstar und Autor Rolando Villazón kennt die Welt der Künstler und Lebenskünstler, mit ihrem Glanz und ihren Schattenseiten, von der er erzählt, sehr genau.

 

Sie philosophieren, zeichnen, komponieren, erfinden Geschichten, falten Origami, arbeiten an der Oper hinter den Kulissen: Seine Lebenskünstler stehen nicht im Rampenlicht, aber ihre Träume sind groß. Ihr Anführer ist ein Spiele-Erfinder, der sich in eine geheimnisvolle stumme Frau verliebt. Auf einer für ihn gestalteten Schatzsuche mit Palindromen und anderen sprachlichen Rätseln, die er lösen muss, erfährt er nach und nach so einiges über die Frauen, über sich selbst und über das Leben im Allgemeinen.

 

Ein poetischer, sprachspielerischer zweiter Roman eines großen Künstlers, metaphernstark und berührend.

 

 

«Der schreibende Startenor bringt mit ‹Lebenskünstler› bereits seinen zweiten Roman heraus. Und wieder zeigt Rolando Villazón sein Faible für Phantastisches, Verspieltes und Komisches – in einem Buch voller schräger, einsamer und verliebter Zeitgenossen.»

(Kathrin Hasselbeck, BR Klassik)

 

«Ein phantasievoller Roman mit unbändigem sprachlichen Wildwuchs.»

(Katharina Wappel, Wiener Zeitung)

 

«‹Lebenskünstler› ist (…) nicht nur ein intellektuelles Spielchen mit clever verschachtelten Handlungssträngen und Bedeutungsebenen, sondern auch ein beeindruckendes Ideenfeuerwerk. Und bei all dem versprüht der Roman jede Menge Charme. Genau wie sein Autor.»

(Desirée Löffler, SWR2)

Über Rolando Villazón

Rolando Villazón wurde 1972 in Mexiko-Stadt geboren, als Enkel des Wieners Emilio Roth. Villazón besuchte die deutsche Schule in Mexiko-Stadt und begann seine künstlerische Ausbildung am dortigen Konservatorium. 1999 hatte er seinen internationalen Durchbruch und wurde zu einem der bedeutendsten und beliebtesten Sänger seiner Generation. Neben seiner Gesangskarriere arbeitet er auch als Opernregisseur und ist für sein zeichnerisches Talent bekannt. Rolando Villazón lebt in Paris und ist Mitglied des Collège de Pataphysique. Von ihm erschien der Roman «Kunststücke».

Für Lucía, immer.

und für Darío und Matéo, die Spielgefährten.

1.Spiele

Das Wetter nach dem Regen mochte er am liebsten. Gerade ging ein gleichmäßiger Sprühregen zu Ende, so als schüttelten die Wolken das Wasser ab wie Hunde. Er spazierte ohne Eile, die Hände in den Taschen des grünen Regenmantels. Einen Schirm hatte er nicht dabei.

Eine Pupille brennt in den dunklen Augen des Asphalts, dachte er beim Anblick des Spiegelbilds der blassen Sonne in den Pfützen der Straße am Ende dieses kalten grauen Nachmittags. Eine brennende Pupille in den dunklen Augen des Asphalts.

Die Leute kamen von der Arbeit. Schuhe stapften entschlossen über das nasse Pflaster, unbekümmert ob der Glätte oder des Lehms, der erneutes Putzen nötig machen würde. Die Menschen strebten ihren Häusern zu, um der Nässe und der Kälte zu entkommen, um Abendessen zu machen, eine heiße Dusche zu nehmen, sich die Vorabendserie im Fernsehen anzuschauen, noch ein letztes Mal in die virtuelle Welt einzutauchen, dann gute Nacht und ab ins Bett. Sie waren in Eile. Sie hatten Regenschirme dabei.

Die Ameisen haben ihr Tagewerk beendet, dachte er und wartete, dass die Straßen leerer wurden, damit er den Gegenstand verstecken konnte, den er in der Manteltasche in der Hand hielt. Zu viele Ameisen. Zu viele potenzielle Zeugen. Die Revolution wird warten müssen.

Er betrat ein Café, sein Körper war dankbar für die Wärme darin. Er bestellte einen schwarzen Kaffee und kaufte ein Lotterielos mit der Endziffer fünf. Außer ihm waren nur noch der mürrische Wirt da und ein Mann mit einer blauen Baskenmütze auf einem auffallend kantigen Schädel.

Er zog seine Taschenuhr hervor, klappte den abgegriffenen Silberdeckel auf und schaute, wie spät es war. Für Sekunden spürte er den Gang des Uhrwerks auf seiner Handfläche und lauschte dem leisen Ticken des alten Schmuckstücks, bevor er den Deckel zuklappte und die Uhr wieder einsteckte. Dann ging er zur Toilette.

Im Urinal klebte ein farbloses, formloses Stück Kaugummi, das ihn ekelte. Da ging er lieber in die Kabine. Während er die Sekunden zählte, die der helle gelbe Strahl bis zum Versiegen brauchte, entdeckte er ein Schräubchen auf dem Boden. «Siebenundzwanzig Sekunden», sagte er, als er fertig war und den Reißverschluss hochzog. Beim Verlassen der Kabine las er einen in die Tür geritzten Spruch: KEINER MAG MÄNNER!

Der Hilferuf eines einsamen Verzweifelten, dachte er. Die Menschen sind eben verschieden. Manche schleppen ihre Einsamkeit wie einen Anker mit sich und reißen die Eingeweide der Erde auf, über die sie schreiten.

Er wusch sich die Hände und versuchte vergebens, die billige Seife zum Schäumen zu bringen. Er befeuchtete sich das Gesicht. Sein Bild im Spiegel war bleich, in die Länge gezogen und ernst. Gespenstisch irgendwie. Und ungekämmt. Er hatte das Gefühl, die Gesamtheit der einzelnen Erscheinungen (die Botschaft an der Tür, das Schräubchen neben der Kloschüssel, die Dauer seines Strahls) bildeten eine Gleichung, deren Auflösung von ihm verlangt wurde. Oder die er erfinden musste. Denn das Ganze war ein Spiel, und mit Spielen kannte er sich aus.

Er zog zwei Papierhandtücher aus dem Spender, und noch ehe er sich die Hände trocken gerieben hatte, spürte er ein beglückendes Kribbeln in den Schläfen: Er hatte es gefunden. Oder erfunden. Er hatte die Gleichung gelöst! Er hob das Schräubchen vom Boden auf und begann, in die Tür zu ritzen. Das MAG verlängerte er zu MACHT. Das M von Männer wurde durchgestrichen und durch ein L ersetzt, das zweite N wurde zu einem G. Dann kam noch die Klammer hinzu. Und wo vorher KEINER MAG MÄNNER gestanden hatte, las man jetzt: KEINER MACHT LÄNGER (27 Sekunden).

Er legte das Schräubchen wieder dorthin, wo er es gefunden hatte, damit andere die Botschaft um ihre Version ergänzen konnten. Dann ging er zurück an die Bar.

Sein Kaffee war kalt geworden. Er trank ihn in einem Schluck, suchte nach Münzen zum Bezahlen, tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab. Das alles tat er mit der rechten Hand. Die andere steckte schon wieder in der Manteltasche und umschloss den Gegenstand, über dessen unregelmäßige Oberfläche er ab und zu mit der Daumenkuppe strich.

«Der Grenadier …», murmelte er so leise, dass niemand ihn hörte. Nicht einmal der Mann mit der blauen Baskenmütze, der Nachrichten in sein Handy tippte, während er offensichtlich darauf wartete, dass im Fernsehen die Ergebnisse des letzten Pferderennens bekannt gegeben wurden. Weiterhin mit der Rechten steckte er das Lotterielos mit der Endziffer fünf ein, legte die Münzen auf den Tresen und trat hinaus auf die Straße. Immer noch fleißige Ameisen überall, dachte er. Geschwind und gehorsam eilen sie ihren Bildschirmen entgegen, um mit dem virtuellen Ameisenhaufen zu kommunizieren. Jede Ameise einsam für sich, hungrig nach Klatsch und neuen Nachrichten, süchtig nach Bildern, die sie alle selbst propagieren, jede eine Königin der niemals abbrechenden Kommunikation. Abendliches Vogelgezeter in den Bäumen. Nein danke. Ich nicht.

Er ging an einer Mauer entlang, deren groben Steine und Fugen er mit der freien Hand abtastete. Schließlich fand er, was er suchte: einen langen, tiefen Spalt, in dem er den Gegenstand verstecken konnte, den er in der Manteltasche trug. Die Höhle des Grenadiers, dachte er, doch da sind immer noch zu viele Augen. Ziellos schlenderte er weiter, sein unbekümmerter Gang unterschied sich deutlich von der entschlossenen Eile der anderen.

Er kam an einem kleinen Supermarkt vorbei, vor dessen automatischer Eingangstür eine Mutter zu ihren Töchtern sagte, sie sollten hier auf sie warten, bis sie die Einkäufe fürs Abendessen getätigt habe. Kaum hatte sie den Laden betreten, holten die Mädchen ein Tablet hervor, steckten die Köpfe zusammen und begannen zu spielen. Die Spielefalle, dachte er und blieb stehen, um eine im Bau befindliche Mauer als mögliches Versteck für den Grenadier zu begutachten. Nach einem prüfenden Blick erschien sie ihm jedoch zu auffällig. Er hob einen feuchten, porösen Ziegelstein auf. Hinter sich hörte er die Stimmen der Mädchen.

«Pass auf, da kommt ein Zombie. Mach ihn fertig!»

«Erledigt. Jetzt sprenge ich das Haus in die Luft und setze den Wald in Brand.»

«Da kommt noch einer. Hau ihm den Kopf ab, schnell!»

«Ah … mich hat’s erwischt.»

«Guck mal, das neue Spiel da, sieht super aus. Und gar nicht teuer. Wir fragen Mama, ob sie es uns kauft.»

Mit einem tiefen Atemzug sog er die kalte Luft ein und damit den Geruch von Zement und Gras, von Abfall und Metall, den der Regen gemischt und verdichtet hatte. Die Zeit nach dem Regen erinnerte ihn an die Nachmittage seiner Kindheit, wenn er, nachdem der Regen endlich aufgehört hatte, auf die Straße durfte, raus aus dem Haus und mit erfundenen Freunden losziehen, deren Namen er sich für seine Mutter ausdachte, damit sie ihm nicht verbot, allein im Viertel herumzulaufen. Damals lernte er, frei zu sein. Damals bastelte er sich Spiele, ohne dass jemand zusah, ohne dass ihm jemand dreinredete oder ihn zur Rechenschaft zog. Damals las er manchmal Lyrik. Und war frei.

Auf dem gegenüberliegenden Gehweg durchstöberte ein Hund einen Mülleimer und riss einen grünen Plastiksack in Fetzen. Hinter einer Straßenecke verborgen und darauf bedacht, von dem Mann im grünen Regenmantel nicht entdeckt zu werden, belauerte ein Zwerg unter breiter Hutkrempe jede Bewegung des Grünen.

«Oh nein!», jammerte eines der Mädchen verzweifelt. «Die Batterie ist leer.»

«Scheiße!», sagte ihre Schwester und starrte entsetzt auf das schwarze Display. «Was machen wir jetzt?»

Er spürte das Gewicht des Ziegelsteins in seiner Hand, lauschte den ärgerlichen Seufzern der Mädchen in seinem Rücken, starrte auf den feuchten Asphalt, schwarz wie ein erloschenes Display, und wusste, dass ihn eine neue Gleichung erwartete. Er würde das Rätsel lüften müssen. Oder eine Lösung erfinden.

Auf der anderen Straßenseite kam der Mann mit dem Quadratschädel aus dem Café. Er sah enttäuscht aus, weil vermutlich das Pferderennen nicht wie erhofft ausgegangen war. Als er sich die Jacke zuknöpfte und die blaue Baskenmütze in die Stirn zog, bemerkte er den Typen im grünen Regenmantel, der vom Straßenpflaster hypnotisiert zu sein schien. Ihm war kalt, er zog sein Handy hervor und ging in Richtung Cava de los Espejos, wo er sich mit einem Whisky oder zweien aufzuwärmen gedachte. Er ging – ohne ihn zu bemerken – an einem Zwerg mit breitkrempigem Hut vorbei, der sich hinter einer Hausecke verbarg und das Tun jenes seltsamen Typen beobachtete, der einen feuchten Ziegelstein in der Hand hielt, der stillen Beichte des Asphalts zu lauschen schien und aussah wie ein Grashüpfer im Regenmantel. Und ungekämmt.

 

«Palindromus», sagte Calcas und legte eine frisch geknetete Brotkrümelkugel auf den Tisch.

«So heißt er», ergänzte Mopsos, «auch wenn er eigentlich anders heißt.»

Golondrina schaute ihnen interessiert zu, nippte an ihrem Wein und steckte sich ab und zu einen Mandelkern in den Mund, den sie aus einer großen Tasche ihres großen bestickten Pullovers holte. Sie saßen an einem Tisch in der Cava de los Espejos, die ihren Namen von den Spiegeln hatte, die an den Wänden des Lokals vom Fußboden bis zur Decke reichten. Zwei Frauen führten den Laden, die Skylla und Charybdis genannt wurden, wegen all der tapferen Geister, die jeden Abend in ihrem Lokal strandeten. Calcas und Mopsos beschrieben Golondrina die Mitglieder der Gruppe, die sie ihr an diesem Abend oder spätestens morgen vorstellen wollten. Von sich selbst hatten sie ihr schon berichtet, die Kollegen Hellseher (wie sie sich nannten), obwohl sie von ihrer Irrenhaus- und Seemannsvergangenheit nur wenig preisgegeben hatten. Später, versicherten sie, würden sie ihr die ganze Geschichte erzählen. Gesprochen hatten sie schon über Vilma, die Schatzgräber-Amazone (wie sie sie nannten), die als Kulissenschieberin im Teatro de la Opera arbeitete und regelmäßig wertvolle Requisiten mitgehen ließ, die sie später im Park vergrub. Dann zeichnete sie wunderschöne Schatzkarten, nach denen man sie finden konnte. Auch von Sandrine hatten sie erzählt, der Globetrotter-Artistin (wie sie sie nannten), die als Clownin in den gefährlichsten und verrücktesten Weltgegenden arbeitete und wegen der sie sich alle hier in der Cava de los Espejos treffen würden am nächsten Tag, denn da käme sie von ihrem letzten Abenteuertrip zurück. Noch nicht erwähnt hatten sie Mô, den Unbesiegbaren (wie sie ihn nannten), und jetzt erzählten sie gerade die Geschichte von dem, der die Gruppe zusammengebracht hatte: Palindromus, der Spielende Ritter (wie sie ihn nannten).

«Und warum heißt er so?», stellte Calcas die rhetorische Frage, wobei er eine weitere Brotkrümelkugel zwischen Daumen und Zeigefinger drehte.

«Warum, das fragen Sie sich doch, meine geheimnisvolle junge Dame?», fragte Mopsos Golondrina, die mit zweimaligem raschen Kopfnicken antwortete.

«Wir haben nämlich zwei Versionen.»

«Zwei, wie Ihr zweimaliges Kopfnicken, mit dem Sie meine Frage beantwortet haben.»

Charybdis, die hinter der Theke Gläser abtrocknete, warf ihnen argwöhnische Blicke zu. Die drei am Tisch und der Mann mit der blauen Baskenmütze, der nachdenklich am Tresen lehnte und einen Whisky trank, waren zurzeit die einzigen Gäste. Auf Mopsos’ Rückenlehne saß eine grüne Fliege; auf der von Calcas eine schwarze. Keine der Fliegen bewegte sich.

«Tomas Mot hieß er in der ersten Version.»

«Ovid Redoko in der zweiten.»

«Die Geschichte ist in beiden Varianten mehr oder weniger die gleiche. Die Namen und ein paar Vorkommnisse verändern sich; aber das Ergebnis bleibt das Gleiche.»

«Wie in der Politik.»

«Wie in der Wirtschaft.»

«Wie in der Ehe.»

«Er kam in eine neue Schule, wo er feststellte, dass alle Klassenkameraden Spitznamen hatten. Das fand er furchtbar, und er beschloss – egal wie schrecklich oder großartig der Spitzname sein mochte, den sie ihm unweigerlich verpassen würden –, weder negativ noch positiv, noch auf irgendeine andere Weise darauf zu reagieren. Seine Strategie bestand also darin, sie mit der Waffe des Gleichmuts zu schlagen. Sie versuchten es mit allen möglichen Spitznamen. Sie nannten ihn Schlappohr, Lulatsch, Triefauge.»

«Und sein Gleichmut machte sie rasend.»

«Sie nannten ihn Besenstiel, Bohnenstange, Spinner.»

«Und sein Gleichmut machte sie rasend.»

«In der ersten Version hatten sie an einem heißen Sommertag Schwimmunterricht, und die Klassenkameraden versteckten Tomas’ Flipflops. Kaum hatte er auf dem Weg zum Schwimmbecken die ersten Schritte barfuß auf den heißen Steinplatten getan, begann er hektisch zu hüpfen und mit komischen kleinen Sprüngen zum Wasser zu rennen. Das ließ die erwartete Heiterkeit ausbrechen und ihren Höhepunkt erreichen, als einer der Schüler rief, der Neue tanze la Salsa wie kein Zweiter. Dies wurde sein zweitletzter Spitzname: la Salsa.»

«In der zweiten Version bewirkte die Gleichgültigkeit des neuen Schülers allen Spitznamen gegenüber, dass man ihn für einen eingebildeten Snob hielt, und einer seiner Klassenkameraden – dessen Vater ein passionierter Theaterbesucher war – bemerkte dazu, dieses arrogante Früchtchen sei nicht nur ein Snob, sondern ein unerträglicher Divo. So kam er zu seinem zweitletzten Spitznamen: der Divo.»

«Aber auch hier half die Waffe des Gleichmuts dem neuen Schüler Ovid – in der zweiten Version –, nicht auf den Spitznamen zu reagieren.»

«Und Tomas desgleichen in der ersten Version.»

«In der Klasse gab es einen stillen, belesenen Jungen, der in beiden Versionen eine Brille mit runden Gläsern trug, die ihm ständig auf die Nasenspitze rutschte und die er ebenso ständig mit dem Zeigefinger wieder hochschob. Einer Eingebung folgend, schrieb dieser strebsame Junge den Namen sowie den letzten Spitznamen des neuen Schülers in sein Schulheft.»

«Tomas – la Salsa – Mot in der ersten Version.»

«Ovid Redoko – der Divo, in der zweiten.»

«Und als er feststellte, dass zutreffend war, was er sogleich geahnt hatte, als er den neuen Spitznamen hörte, dass dieser nämlich in Verbindung mit dem Vor- und Familiennamen des Neuen sowohl von links nach rechts, als auch von rechts nach links gelesen werden konnte, schob er sich mit triumphierender Geste die Brille bis zur Nasenwurzel hoch und verkündete mit jubelnder Stimme vor der ganzen Klasse:

‹Das ist ein Palindrom. Du bist ein wahrer Palindromus!›

Das klang so nach Mikrobe einerseits und nach mythologischer Bestie andererseits, dass der Neue nun doch die Geduld verlor.»

«Später, als er auf das Diktum des Internatsdirektors wartete, erinnerte er sich, dass ihm seine Faust wie ein von fremder Hand geschleuderter Stein erschienen war; einer Hand, die nicht seine sein konnte, da seine ja der Stein gewesen war, der die Brille des stillen, belesenen Jungen getroffen hatte, sodass dieser samt seiner zerbrochenen Brille auf dem Hosenboden landete.»

«Auf dem Hintern halt.»

«Genau. Und da er jetzt die Waffe der Gleichgültigkeit aus der Hand gegeben hatte, nahm er zähneknirschend den neuen Spitznamen an. Und hat ihn bis heute behalten.»

«Ein Spitzname, der sich findigen Wortspielen verdankt.»

«So wie eine Schlange mit einem Kopf an jedem Ende.»

«Ein Spiel, wie gesagt. So eines wie das, sein Äußeres mit dem einer Grille oder eines Grashüpfers zu vergleichen.»

Einer der großen Taschen ihres großen bestickten Pullovers entnahm Golondrina ein Blatt Papier. Die beiden Erzähler weiterhin mit großen Augen anschauend, begann sie, mit flinken Fingern das Papier zu falten und zu falzen.

«Erstaunlicherweise identifizierte sich Palindromus mit der Zeit mehr mit seinem Spitznamen als mit seinem richtigen Namen, wie das Mönche ja auch tun, und als sich ihm eine Gelegenheit bot – mit bürokratischen Tricks und ein paar Scheinen unterm Tisch –, nannte er sich sogar um, tauschte seinen Namen gegen den Spitznamen und nannte sich nicht mehr so, wie er hieß, sondern hieß so, wie er sich nannte.»

Golondrina strich mit der Handkante eine letzte Falte glatt, dann stellte sie das Blatt vor sich hin, das jetzt zu einem Grashüpfer aus Papier geworden war.

«Palindromus», sagte Calcas und legte ein Brotkrumenkügelchen neben das Origami.

«So heißt er», fügte Mopsos mit bewunderndem Blick auf den Grashüpfer hinzu, «auch wenn er eigentlich anders heißt.»

 

 

Nachdem er die Lösung gefunden (oder erfunden) und der Gleichung ihr Geheimnis entrissen hatte, zeichnete Palindromus mit dem Ziegelstein einen breiten, sich lang über das Pflaster schlängelnden Weg. Am Ende des Weges linierte er mit wenigen Strichen den Umriss einer Burg. Er merkte, dass die beiden Mädchen ihm neugierig zuschauten. In einer der Kurven zog er einen Kreis und malte darin eine böse Fratze mit spitzen Zähnen. Dann warf er den Stein auf die Erde, dass er in drei Stücke zersprang. Er drehte sich zu den Mädchen um und lud sie mit ausgestreckten Händen zum Mitspielen ein. Sie betrachteten ihn misstrauisch, kamen jedoch zögernd und neugierig näher und hörten zu, wie er seine spontan erfundenen Spielregeln erklärte.

«Jedes Stück Stein ist der Held oder die Heldin, die auf diesem Weg die Burg erreichen müssen. Man geht den Weg, indem man seinen Stein mit dem Fuß vorwärtsstößt. Rollt der Stein über die Wegbegrenzung, darf der nächste Spieler weitermachen. Landet ein Stein in der Höhle des Menschenfressers», er deutete auf die zähnefletschende Fratze, «muss der Spieler an den Anfang zurück.»

Die Mädchen schauten sich wortlos an, suchten Zustimmung in den Augen der anderen. Schließlich nahm eine – die Jüngere, wie Palindromus schien – ein Stück des Steins und malte, als nähme sie auf dem improvisierten Spielfeld eine Korrektur vor, mehrere gekreuzte Linien in eine andere Kurve des Weges.

«Das ist ein Brunnen», erklärte sie. «Wer da reinfällt, muss ein Mal aussetzen.»

Nun nahm die ältere Schwester ihren Stein und malte auch etwas auf das Straßenpflaster.

«Wer diesen Zaubertrank berührt», sagte sie und zeigte auf die Flasche, die sie gezeichnet hatte, «der darf ein Mal vom Weg abkommen und trotzdem weitermachen.»

«Und wer diesen Stern berührt», fuhr die Jüngere fort und malte schon wieder, «der verwandelt sich in einen Frosch.»

«Und wer auf diese Wolke kommt, der muss durch eine Pfütze laufen.»

Sie erfanden noch weitere Symbole, Belohnungen und Strafen, und als das Spiel in ihren Augen komplett war, legten alle ihre Steine auf die Startlinie und machten sich bereit anzufangen. Doch dazu kam es nicht. Denn es erklang die erboste Stimme der Mutter, die mit vollen Einkaufstüten aus dem Supermarkt kam und in einer Hand noch das Tablet schwenkte, das auf dem Bürgersteig liegen geblieben war.

«Was machen Sie da mit meinen Töchtern?»

«Wir wollten gerade anfangen zu spielen, gnädige Frau.»

Die Frau warf ihren Töchtern einen zornigen Blick zu.

«Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt nicht mit Fremden sprechen? Und wieso lasst ihr das Tablet auf dem Gehweg liegen? Wisst ihr, wie teuer das war? Spiele und Filme gibt’s jetzt erst mal keine mehr.»

Die Mädchen bekamen feuchte Augen.

«Und Sie lassen gefälligst meine Töchter in Ruhe!»

«Sie haben ein neues Spiel erfunden», sagte Palindromus und fuhr sich mit den Fingern durchs ungekämmte Haar.

«Sie sollten sich schämen!»

«Warum denn?»

«Weil Sie pervers sind.»

«Und Sie – bei allem Respekt – sind eine Ameise, die eine völlig falsche Vorstellung von Grashüpfern hat.»

«Trottel!», brummte die Frau und nahm die Tüten auf, die sie neben dem Menschenfresser abgestellt hatte.

«Nein, meine Gnädige, Palindromus. Das ist mein Name.»

Die Frau wandte sich wütend ab, zerrte die Mädchen mit der freien Hand hinter sich her und hörte nicht auf zu zetern.

«Warum hat er dich eine Ameise genannt, Mama?», fragte eine der beiden und bekam zur Antwort einen Klaps in den Nacken.

Palindromus zündete sich eine Zigarette an, füllte den Mund mit Rauch und versuchte, mit dem ersten Ausatmen einen Rauchring zu formen. Er misslang. Eigentlich war der Schreck der Mutter gerechtfertigt gewesen. In den Nachrichten wurde ohne Unterlass von einem Würger berichtet, der immer noch frei herumlief. Zwar hatte es seit mehreren Wochen keine neuen Opfer gegeben, dennoch herrschte im öffentlichen Bewusstsein Alarmzustand. Angst lag in der Luft. Er stieß ein weiteres Mal den Rauch aus, und dieses Mal schwebte sanft ein wabernder Ring vor seinen Augen. Er kniff ein Auge zusammen und betrachtete die Straße durch das schwebende Rund, und es wollte ihm scheinen, als habe die von einem Rauchring umrahmte Wirklichkeit etwas von einem Traum. Bevor sich der Ring auflöste, schwirrte ein lärmender Käfer hindurch. Palindromus öffnete das Auge, das er geschlossen hatte, um schärfer sehen zu können, und glich damit die vergrößerte, staunende Sicht des anderen Auges aus. Er hatte ein Gefühl von Lichtern im Bauch. Das Geräusch des fliegenden Käfers war das gleiche gewesen wie das, welches er in einem seiner Träume gehört und von dem er geglaubt hatte, es käme von einem Hubschrauber. Aber nein, es war nicht das Geräusch von Hubschraubern gewesen, sondern von metallischen Hummeln. Durch das Insekt war er darauf gekommen. Er schob die Einzelteile in seinem Hirn hin und her, um den Traum zu rekonstruieren. Gleich würde er es geschafft haben. Er strengte sich an.

Die Idee zu diesem Spiel verdankte er Sandrine. Sie waren alle zum Park gegangen und lungerten am See herum. Sandrine jonglierte mit flachen Kieseln, die sie Palindromus zuwarf, der sie übers Wasser hüpfen ließ. Mô hatte sich den Hut ins Gesicht gezogen und hielt ein Mittagschläfchen. Vilma saß rittlings auf einem Ast und bewarf die Kollegen mit Kiefernzapfen, was Calcas damit beantwortete, dass er von Mopsos abgelutschte Olivenkerne zurückwarf.

«Mehr Munition!», schrie Calcas, einem Zapfen ausweichend, und Mopsos legte beim Kauen einen Gang zu.

«Ich mache mir Sorgen», bemerkte Palindromus und warf einen Kiesel, der dreimal übers Wasser hüpfte.

«Und worüber?», fragte Sandrine, ihm einen länglichen Stein zuwerfend, der nur ein Mal hüpfte.

«Ich kann mich nicht an meine Träume erinnern.»

«Na und?»

«Träume sind heutzutage der einzige Raum, in den niemand außer einem selbst hineinschauen kann. Sie sind die letzte Zuflucht des Privaten; das Bollwerk, das dem unerbittlichen Ansturm der Ameisenheere noch standhält. Und ich hasse es, mich nicht an meine Träume erinnern zu können.»

«Du erinnerst dich an gar nichts?»

«Nur an wenig. Geschmäcker, Geräusche, Gerüche, aber nicht ein einziges Bild.»

«Es könnten Puzzleteile sein», sagte Sandrine und gab ihm den nächsten Kiesel, der fünfmal übers Wasser sprang und in der Nähe einer Ente unterging. «Warum versuchst du nicht, sie zusammenzufügen?»

Palindromus bekam glänzende Augen. Er gab Sandrine einen zärtlichen Kuss, was ihr Jonglieren unterbrach, und warf einen Stein, der sofort im Wasser versank. Zwei Tage später hatte er das erste Bild eines seiner Träume vollständig zusammen. Überglücklich berichtete er darüber in der Cava de los Espejos, und die Freunde beglückwünschten ihn; nur Sandrine war schon wieder fort, ihre Kunststücke in einem anderen Land vorzuführen.

Und jetzt? Würde es ihm hier draußen in der feuchten Luft gelingen, die Bilder seines letzten Traums zusammenzubringen? Unruhig lief er hin und her, seine Hand krampfte sich immer fester um den Gegenstand in der Tasche seines Regenmantels. Mit einem Mal blieb er stehen. Er hatte am Himmel eine Wolke entdeckt, die wie ein Wal aussah.

«Ich hab’s!», rief er aufgeregt.

Er zog seine Taschenuhr hervor und schaute, wie spät es war. Ungeduldig wartete er darauf, dass Kälte und Dunkelheit endlich dafür sorgten, dass alle Ameisen in ihre Häuser verschwanden. Er hatte es jetzt eilig, wollte so schnell wie möglich den Grenadier verstecken und dann unverzüglich zur Cava de los Espejos, um seinen Freunden den Traum zu erzählen. Die saßen sicher schon alle da, tranken und spielten. Sein Herz hüpfte vor Freude. Es war die Freude über einen belanglosen Triumph. Die Freude eines Außenseiters. Die blödsinnige Freude eines Schiffbrüchigen.

Er betrachtete die Zeichnung auf dem Boden. Mit drei Fußtritten stieß er die Ziegelsteinstücke zur Seite. Dann rieb er sich die Hände, breitete die Arme aus wie ein Seiltänzer, der sich anschickt, über das Seil zu balancieren, und folgte – einen Fuß vor den anderen setzend – dem schlängelnden Weg und wieder zurück, ohne ein einziges Mal auf die Seitenbegrenzung zu treten. Zurück am Anfang, zog er ein letztes Mal an seiner Zigarette, blies einen perfekten Rauchring und warf treffsicher die erlöschende Kippe hindurch.

Ganz in der Nähe im Schatten verborgen, ließ ihn der Zwerg mit dem breitkrempigen Hut nicht aus den Augen.

 

 

Die Tür des Bar-Restaurants wurde geöffnet, frische Luft wehte herein, die Spiegel an den Wänden vibrierten. Golondrina schaute in der Hoffnung zum Eingang, Palindromus zu erblicken, doch war nicht er es, sondern zwei Pärchen, die eintraten. Sie setzten sich direkt neben ihre Spiegelbilder in eine Ecke, zückten ihre Smartphones und begannen, mit Mund und Fingern zu kommunizieren. Kurz darauf kamen drei Arbeiter herein, begaben sich an die Theke, ohne ihre feuchten Jacken auszuziehen, bestellten Bier und zeigten sich auf ihren iPhones laute Witzvideos.

«Sehen Sie sich die an, Kollege!», sagte Mopsos und deutete auf die Neuankömmlinge. «Auf ihre elektronischen Kästchen fixiert, spielen sie alle dasselbe Spiel, immerzu und überall.»

«Dabei sind sie es, mit denen gespielt wird», sagte Calcas.

«Das Leben ist ein Spiel, hat schon Calderón de la Barca gesagt», erwiderte Mopsos und legte eine weitere Brotkrümelkugel auf den Tisch.

«Seien Sie kein Esel, Kollege Mopsos. Ein Traum. Das Leben ist ein Traum, kein Spiel. Und Sie haben sich nicht nur beim Zitat geirrt, sondern auch bei der Behauptung. Das Leben ist kein Spiel, Kollege Mopsos, das Leben ist eine ernste Sache.»

«Und wer sagt, dass das Spiel keine ernste Sache ist, Kollege Calcas? Glauben Sie, dass Schachspieler ihre Partie als Witz begreifen?»

«Nein, natürlich nicht.»

«Oder dass Kinder, die sich in Tiger, Ritter, Polizisten oder Außerirdische verwandeln, das mit einem Augenzwinkern zum Himmel hinauf tun?»

«Auf keinen Fall.»

«Spielen, Kollege Calcas, ist eine ernste Sache.»

«Zugegeben, aber es ist nicht das Leben.»

Golondrina drehte den Kopf von einem zum andern, als verfolge sie ein Tischtennismatch. Sie hoffte, das Gespräch würde sich bald wieder Palindromus zuwenden.

«Das Leben», bemerkte Skylla, die ein Salzfass auf den Tisch stellte, «ist ein Wettlauf ins Nichts.»

Und sie schritt lächelnd davon.

«Wenn das so wäre, Kollege Mopsos, hätte Palindromus vor uns allen einen Vorsprung von sechzehn Minuten.»

«Sechzehn, exakt, Kollege Calcas.»

Golondrina hob die Hände und zog die Augenbrauen hoch zum Zeichen, dass sie eine Erklärung einforderte.

«Palindromus, mein liebes Kind», sagte Mopsos und beugte sich über den Tisch, «ist seinen Mitmenschen im Leben sechzehn Minuten voraus.»

Die Tür ging wieder auf. Kalte Luft wehte herein. Die Wandspiegel vibrierten. Die drei schauten zum Eingang, doch auch diesmal war es nicht Palindromus, der hereinkam, sondern drei Büroangestellte, die von ihren Handys aufschauten, sich im Lokal umsahen und einem der hinteren Tische zustrebten. Skylla brachte ihnen die Speisekarte.

«Die erste Armbanduhr in seinem Leben bekam Palindromus von seinem Vater geschenkt, Senator Cobalt, der eine Stimme wie ein Erdbeben hatte.»

«Eine Donnerstimme, Kollege Mopsos.»

«Wie eine Gerölllawine?»

«Donner.»

«Eine Höllenstimme jedenfalls. ‹Damit du verantwortlich mit deiner Zeit umgehen kannst, Junge›, sagte der Senator mit Donnerstimme zu seinem Sohn. ‹Pünktlichkeit ist die Grundlage für ein geordnetes und erfolgreiches Leben.› Und Palindromus, der damals noch nicht Palindromus, sondern Tomas hieß …»

«Oder Ovid …»

«… band sich das Geschenk seines Vaters ans linke Handgelenk und versprach dem Senator, stets pünktlich zu sein. Als er sich am selben Tag zum Abendessen an den Tisch setzte, war er dort der Einzige. Er schaute auf seine neue Armbanduhr und stellte fest, dass sie 20:00 Uhr zeigte. Also wartete er. Minuten vergingen, und er blieb immer noch der Einzige, der an dem für die ganze Familie gedeckten Tisch saß. Er hielt sich die Uhr ans Ohr und hörte sie ordentlich ticken. Er wartete.»

«Fünfzehn Minuten wartete er.»

«Und nach sechzehn Minuten kamen sie im Gänsemarsch ins Zimmer, Mama Primorosa, Papa Cobalt und als Letzte seine kleine Schwester Manzanilla, die ihm die Zunge herausstreckte.»

Golondrina trank einen Schluck Wein, dehnte den Kopf zur Seite und ließ die Nackenwirbel knacken.

«‹Zu früh kommen ist genauso unpünktlich wie zu spät kommen. Habe ich dir nicht eine Uhr geschenkt, damit das nicht passiert?›, fragte Vater Cobalt», sagte Calcas.

«‹Aber ich …›», sagte Mopsos mit der Kinderstimme eines verwirrten Palindromus, «‹aber ich, Papa …›»

«Sagte Palindromus verlegen», fuhr Calcas fort. «‹Nichts da!›», brüllte Calcas dann mit Donnerstimme. »‹So wird nie etwas aus dir, verstehst du? Nie!›«

«Donnerte Senator Cobalt», murmelte Mopsos.

Die grüne Fliege krabbelte auf der Rückenlehne von Mopsos’ Stuhl ein Stück weiter; die schwarze Fliege auf Calcas’ Rückenlehne ließ die Flügel schwirren, flog aber nicht davon.

«Nach dem Abendessen», sprach Calcas weiter, «hörte Palindromus die Zeitansage im Radio und stellte fest, dass seine Uhr sechzehn Minuten vorging. Er stellte die Zeiger richtig, ging schlafen, und am nächsten Morgen setzte er sich geduscht, gekämmt und angekleidet um Punkt 07:30 an den Tisch, um mit der Familie zu frühstücken, bevor er ins Gymnasium ging.»

«Das er seit kurzem besuchte und in dessen Pausenhof er an diesem selben Tag dem armen stillen, belesenen Jungen die Brille zerdeppern sollte.»

«Als um Punkt 07:46 Uhr auf Palindromus’ Zeitmesser Mama Primorosa, Vater Cobalt und die kleine Schwester Manzanilla ins Zimmer traten und den Sohn wieder früher als alle anderen am Tisch sitzen sahen, erwütete der Senator.»

«Erwütete?», fragte Mopsos belustigt. «Was für eine Art zu reden ist das denn, Kollege Calcas?»

«Brauste er also auf und sagte, das sei jetzt nicht mehr nur Unpünktlichkeit, sondern eine Beleidigung, eine bewusste Verletzung seiner Autorität, so ein Sohn habe seinen Platz im Hause des geachteten Senators Cobalt verwirkt. Es folgte der Vorfall mit der zerbrochenen Brille, der das Fass zum Überlaufen brachte, sodass Palindromus in ein von ordentlichen, pünktlichen und jungen Männern zugetanen Mönchen geführtes Internat geschickt wurde. Tauschen wir die Stühle, Kollege Mopsos?»

«Tauschen wir!»

Sie standen auf, gingen um den Tisch und setzten sich jeder auf den Stuhl, auf dem vorher der andere gesessen hatte. Zugleich flogen die Fliegen auf, schwirrten in einem großen X über den Tisch und tauschten die Rückenlehnen.

«Palindromus’ Vater gab dem Sohn nie Gelegenheit zu erklären, dass seine Unpünktlichkeit weder etwas mit Unbotmäßigkeit noch Beleidigung, noch mit Respektlosigkeit zu tun hatte, sondern mit der mutmaßlichen Fehlfunktion seiner Armbanduhr. Und da er von dieser Uhr jetzt nichts mehr wissen wollte – nicht Stunden noch Minuten, noch Sekunden, nicht mal ihr Ticken –, so wie er später auch nichts mehr von seinem Taufnamen, das heißt, von seiner Familie wissen wollte, versetzte Palindromus sie in einem Pfandhaus und kaufte sich von dem Geld, das er dafür bekam, eine billige Quarzuhr, die nie mehr vorgehen sollte.»

«Aber auch sie ging vor.»

«Ja. Und wieder setzte er sich zu früh zum letzten Frühstück, welches er in seinem Elternhaus einnehmen sollte.»

«Zu früh erschien er auch im Arbeitszimmer seines Vaters, um Abschied zu nehmen.»

«Und zu früh stand er auf der Straße und wartete auf das Taxi, das nach Palindromus’ Uhr mit sechzehn Minuten Verspätung eintraf, nach der Uhr des Taxifahrers jedoch pünktlich.»

«Da kam ihm ein Verdacht.»

«Palindromus kam der Verdacht, dass es gar nicht die Uhren waren, die vorgingen. Und der Verdacht bestätigte sich, als er nach ein paar Tagen im Internat einen Mitschüler bat, die Armbanduhren zu tauschen, und sich herausstellte, dass Palindromus’ Uhr am Handgelenk des anderen die korrekte Zeit angab, während die des Mitschülers an Palindromus’ Arm schon wieder sechzehn Minuten voraus war.»

«Und so», sagte Calcas mit feierlicher Stimme und hob sein Weinglas sowie seinen aller Illusionen beraubten Blick in die Höhe, «so fand Palindromus heraus, dass seine Seele des Morgens sechzehn Minuten vor den Hähnen erwacht, der Schlaf ihn sechzehn Minuten früher als andere müde Menschen erreicht und ihn der Sensenmann wohl auch sechzehn Minuten früher holen wird als all die anderen Wettläufer ins Nichts.»

Schweigend schauten die drei zum Eingang des Lokals. Die Tür blieb geschlossen.

«Heute kommt Palindromus wohl nicht mehr», sagte Mopsos melancholisch. Golondrina senkte den Blick.

Die beiden Fliegen putzten ihre Flügel.

 

 

Gerade waren die Straßenlaternen angegangen. In den Pfützen spiegelte sich die Sichel des eben aufgegangenen Mondes. Die Straße war menschenleer. Nur er war noch da und auf der anderen Straßenseite der streunende Hund, der an einem Knochen nagte, den er in einem aufgerissenen Müllsack gefunden hatte. «Die Ameisen haben sich verkrochen, die Stunde der Nachtgestalten hat geschlagen», sagte er zu sich und dachte an die Prügel, die er als Kind bezogen hatte, wenn er abends zu spät nach Hause kam, erregt und voller Abenteuer, von denen er seinen Eltern nie etwas erzählte. Nach dem Regen, das Gesicht noch nass, taten die Ohrfeigen besonders weh. Wozu dieses tote Gelump der Vergangenheit dem Reißzahn der Erinnerung ausliefern?

Er nahm den Gegenstand aus der Manteltasche und drehte ihn zwischen den Fingern. Es war ein kleiner, liebevoll angemalter Plastiksoldat, ein Grenadier. Vorsichtig, um ihn nicht zu beschädigen, steckte er ihn in den Spalt, den er im Mauerwerk entdeckt hatte. Er schaute sich um, ob ihn jemand beobachtete, und atmete erleichtert auf.

«Das ist meine Revolution», sagte er, als wäre er einer dieser dunklen, geschlechtslosen Comichelden; sagte es zu dem zotteligen Hund – dem einzigen Zeugen –, der von seinem Knochen aufblickte, als er den Klang der Stimme vernahm. «Der einzige Zweck meiner Spiele ist es, sie zu erfinden, sie zu spielen und zu vergessen. Inmitten dieses immer gleichgültigeren, unpersönlichen, allein vom Nützlichkeitsdenken bestimmten Ameisenhaufens sind diese von allen Ameisenabsichten befreiten Spiele meine Grashüpferrevolution.»

Es hätte ihm gefallen, wäre der Satz von einem dramatischen Donnerhall begleitet und mit einem zuckenden Wetterleuchten verabschiedet worden, doch nichts dergleichen geschah. Der Hund gähnte und wandte sich wieder seinem Knochen zu.

Jemand stieß eine Blechbüchse vor sich her. Palindromus stellte sich mit dem Rücken vor das Versteck des Grenadiers. Nach dreimaligem weiteren Scheppern erstarb der blecherne Lärm. Einige Sekunden lang blieb er bewegungslos stehen, hörte nur noch den Wind, häusliche Geräusche aus den Fenstern und die knackenden Kiefer des den Knochen abnagenden Hundes. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, und ging weiter. Als er an einer der Plastikmülltonnen vorbeikam, stieß sein Fuß an einen alten, zerbeulten Kaffeekocher, dem der Gittereinsatz fehlte, durch die der Kaffee gepresst wird. Es war eines dieser italienischen Kaffeekännchen in Form einer Sanduhr, die durch die neuen großen Kaffeemaschinen demnächst vermutlich überflüssig gemacht würden. Nutzlos bald, doch in seinen Augen ebenso schön wie seine Spiele. Er beschloss, es Vilma mitzubringen, sie konnte es als Schatz verwenden. Es bereitete ihm Freude, sie mit solchen Dingen zu beglücken, wie einmal, als er sie auf dem Weg zur Theaterprobe traf und Calcas und Mopsos sich als blinde Bettler an einer Straßenecke postiert hatten.

«Ich habe hier», hatte er damals gesagt und das Päckchen, das er dabeihatte, hinter dem Rücken verborgen gehalten, «eine Spezies der Vergangenheit, die viel spricht, aber nichts sagt.»

«Einen Politiker», vermutete Calcas.

«Ein Promi-Interview», sagte Mopsos.

«Ein Wörterbuch», riet Vilma und nahm glücklich wie ein Kind das dicke gelbe Taschenbuch entgegen.

Mit gesenktem Kopf kam ein Junge des Wegs und blieb in der Nähe des Mauerspalts stehen. Palindromus beobachtete ihn nicht ohne Sorge. Der Junge kratzte sich am Kopf, schaute sich um, dann urinierte er an die Wand (fünfzehn Sekunden) und setzte seinen Weg fort, ließ den Daumen geschickt über das Display seines Handys huschen.

Palindromus nahm das Lotterielos mit der Endziffer fünf aus der Manteltasche, warf es in eine der Mülltonnen und steckte dafür den unbrauchbaren Kaffeekocher ein. Dann machte er sich auf den Weg zur Cava de los Espejos, um seinen Freunden von den wiedergewonnenen Bildern seines Traums zu erzählen. Hinter sich vernahm er das Kratzen von Pfoten mit harten Krallen auf dem Straßenpflaster und drehte sich um.

Der herrenlose Hund einer unbestimmbaren zotteligen Rasse hatte seinen Knochen abgenagt und trottete mit heraushängender Zunge die Straße entlang, schnüffelte an den Wänden und trank aus Pfützen. An der Mauer blieb er dort stehen, wo der Spalt war, richtete die Ohren auf, stellte sich auf die Hinterbeine, drückte die Schnauze in den Mauerspalt und wühlte mit der Zunge so lange darin herum, bis er den Plastiksoldaten mit den Zähnen zu fassen bekam. Mit der Figur im Maul trottete er weiter.

«Mist», murmelte Palindromus, «jetzt muss ich erst der diebischen Schnauze folgen. Komm her, Hundchen!», rief er, hinter dem Tier hertrabend, seine lockenden Worte mit freundlichen Pfiffen begleitend.

Der Zwerg folgte den beiden in sicherer Entfernung, schob vorsichtig seine Gestalt durch die diesige Luft.

 

 

Skylla stellte ihnen ein randvolles Schälchen mit gesalzenen Erdnüssen hin. Sie fixierte jeden Einzelnen, und an der Linie ihres Blicks rieselten wie Perlen an einer Schnur die lautlosen Worte auf sie nieder: Heute-nichts-da-mit-irgendwelchem-Unfug-wie-neulich-erst. Mopsos las die perlenden Worte und verzog das Gesicht zu einem dümmlich nervösen Grinsen. Calcas nickte still. Golondrina entnahm ihrer großen Pullovertasche einen Mandelkern und steckte ihn in den Mund. Als Skylla hinter die Theke zurück zu Charybdis ging, fragte Mopsos Golondrina:

«Und weißt du, was passiert ist, als Palindromus nach drei Jahren vom Gymnasium flog?»

«Natürlich weiß sie das nicht, Kollege Mopsos. Das kann sie doch gar nicht wissen. Selbst wenn sie eine Zauberin wäre.»

«Aha. Und wenn sie eine ist?»

Golondrina unterdrückte ein lautloses Kichern; ein Kichern, das nicht für die Kollegen bestimmt war.

«Vielleicht ist sie eine Fee.»

«Oder eine Sirene.»

«Oder eine Nymphe.»

«Oder eine Schamanin.»

«Oder ein Frosch.»

«Ein Frosch?»

Die Fliegen ließen unruhig ihre Flügel sirren.

«Quaak, quaak.»

«Nun ja. Jedenfalls weißt du nicht, was passiert ist, stimmt’s?»

Golondrina bewegte den Kopf ganz langsam von links nach rechts und von rechts nach links und bedachte sie mit einem rätselhaften Blick.

«Also, das beweist, dass du weder eine Zauberin bist noch eine Schamanin, noch eine Fee.»

«Und kein Frosch.»

«Bevor er vom Internat flog, erhielt Palindromus nämlich einen Brief und ein Päckchen. Das ist passiert.»

«Er hatte einen Onkel, der war groß und breit, mit einem Gesicht voller Falten und einer samtheiseren Stimme. Er war Pfeifenraucher und Weltreisender. Sein Name war Baobab. Er war Opernsänger, Bassbariton, nicht mehr der Jüngste, hatte eine weltweit beachtete Karriere hinter sich. Palindromus hat ihn nur ein Mal im Leben gesehen, als er noch ein Kind war. Onkel Baobab hatte damals seinen Verwandten, Senator Cobalt, besucht. Sobald er das Haus betrat, füllte es sich mit dem rauchigen Vanilleduft seiner Pfeife und seiner dröhnenden Gegenwart. Seine knotigen Finger massierten das Haar des kleinen Palindromus, und das vulkanische Gelächter, seine mächtige Stimme, deren Klang tief und harmonisch war, hinterließ bei dem Jungen eine fröhlich aufgekratzte Erinnerung.»

«Als Palindromus das Internat verlassen musste, wurde Onkel Baobab von einem unerbittlichen Lungenkrebs des Lebens verwiesen. Die Tage des großen Bassbaritons waren gezählt.»

«Wie die aller Menschen.» Mopsos vollführte eine Handbewegung, die sämtliche Gäste des Lokals umfasste. Golondrina duckte sich.

«Ja, aber Onkel Baobabs Tage konnte damals ein Mädchen zählen, das gerade Rechnen gelernt hatte.»

«So wenige nur?»

«So wenige. Der Brief und das Päckchen, die Palindromus bekam, waren von dem angezählten Onkel. Und weißt du, was in dem Brief stand und sich in dem Päckchen befand?»

«Oh, bitte, Kollege Mopsos! Waren wir nicht so verblieben, dass Golondrina weder eine Wahrsagerin noch eine Zauberin, noch eine Sirene ist?»

«Natürlich, das waren wir. Also, in dem Brief berichtete Onkel Baobab, in einem kürzlichen Gespräch mit seiner Nichte Manzanilla habe diese über das Pech ihres Bruders geklagt, der wegen einer fehlerhaften Armbanduhr aus dem Pfandhaus, die stets sechzehn Minuten vorging, in diesem unseligen Internat gelandet war, aus dem er jetzt wegen unverbesserlicher Unzuverlässigkeit entlassen werden sollte. Dann berichtete Onkel Baobab, wie er Einzelheiten über besagte Uhr in Erfahrung gebracht und schließlich begriffen habe, dass die Genetik ein übles Spiel mit der Familie spielte, da sie den Defekt des Onkels auf den Neffen übertragen hatte, nur in umgekehrter Weise.»

«Das heißt», wandte sich Calcas an Golondrina, die ein verständnisloses Gesicht machte, «dass der berühmte Onkel Baobab sein Leben lang genau sechzehn Minuten später dran war als alle seine Mitmenschen.»

«Und darum», sagte Mopsos und erhob sein Glas mit elegischer Geste, «wehte der Herbst des Patriarchen dem alten Sänger den Laubsturm seiner verlorenen Illusionen sechzehn Minuten später entgegen als …»

«Schon gut, schon gut», unterbrach ihn Calcas, gar nicht elegisch.

«Und auch der Tod würde ihn sechzehn Minuten später holen als andere denkende und verzweifelte Zweibeiner.»

«Der Glückliche!»

«So glücklich auch wieder nicht, Kollege Calcas, denn die Schmerzen, mit denen dieser verfluchte Krebs ihn malträtierte, waren mittlerweile so furchtbar, dass der Bassbariton Baobab verlangte, eingeschläfert zu werden. Das ist das gnädige Verfahren, das wir unseren geliebten Haustieren angedeihen lassen, wenn sie vor Altersschwäche nicht mehr können, das wir unseren geliebten Mitmenschen jedoch verweigern, wenn ihre quälende Krankheit nur noch eine dornige Abwärtsspirale ist, an deren Ende unweigerlich Tod und Verwesung warten.»

«Da der Onkel aber in einem Land auf dem Sterbebett lag, in dem Euthanasie verboten war, kam der Tod zu ihm wie der Frühling nach dem Winter.»

«Wie die herabsinkende Nacht.»

«Wie ein quälend sich hinziehender Nachmittagstee mit abgespreiztem kleinen Finger; wie ein schäbiges Frühstück.»

«Mit sechzehn Minuten Verspätung eben.»

«Da er wusste, dass es zu Ende ging, schrieb er den Brief, den Palindromus in Händen hielt, als er des Internats verwiesen wurde. Er erklärte ihm darin nicht nur ihre genetische Besonderheit, sondern auch die Geschichte dessen, was er in dem Päckchen vorfinden würde: eine Taschenuhr, die er dem widerspenstigen und ungeliebten Jungen als Erbe hinterließ.»

«Als diese Antiquität, schrieb der Onkel in seinem Brief, noch keine Antiquität, sondern ein frisch aus dem Werk gekommenes Schmuckstück war, wurde es von einem ebenso tapferen wie glücklosen russischen Hauptmann getragen, der in der heroischen Schlacht von 1812 sein Leben verlor; jener berühmten Schlacht, der der große Tschaikowski ein musikalisches Denkmal gesetzt hat. In dem Brief schrieb er, besagte Taschenuhr habe besagtem Hauptmann in besagter Schlacht das Leben gerettet.»

«Aber nur um sechzehn Minuten.»

«Ja, denn das direkt auf sein Herz gerichtete feindliche Bajonett wurde von der Uhr, die der Hauptmann in seinem Uniformrock trug, um einige Millimeter abgelenkt und verlängerte sein Leben um sechzehn Minuten, in denen er eine letzte Liebeserklärung an seine Frau diktierte, die zu Hause auf ihn wartete und die er nie mehr wiedersehen sollte.»

«Der tapfere Soldat, in dessen Armen unser Hauptmann sein Leben aushauchte, bewahrte jedes Wort in seinem Herzen und nahm das Schmuckstück an sich, das dem sterbenden Hauptmann jene sechzehn Minuten verschafft hatte, in denen er seine Abschiedsworte sprechen konnte. Dann kämpfte der Soldat weiter, überlebte den Krieg und suchte danach die Witwe des Hauptmanns auf, der er die Taschenuhr und die Nachricht überbrachte.»

«Und in die er sich, nebenbei gesagt, verliebte. Nachdem das Jahr der Trauer vorbei war, heirateten die beiden.»

«Man muss seine Trauer erlöschen lassen können, Kollege Mopsos.»

«Keine Frage.»

«Sie bekamen eine Tochter, welche die Taschenuhr stets als den Ursprung ihres Daseins betrachtete, da sie dem Hauptmann die sechzehn Minuten seines verlängerten Lebens verschafft hatte, in denen er seine liebenden Abschiedsworte gesprochen und so die Begegnung ihrer Eltern ermöglicht hatte. Sie erbte die Uhr. Die Tochter wuchs heran, versuchte erfolglos, die stets sechzehn Minuten nachgehende Uhr reparieren zu lassen, lebte ein Leben, wie die Frauen jener Zeit es eben lebten, und starb vergessen wie alle anderen. Die Uhr vermachte sie ihrer ältesten Tochter, der Enkelin der Hauptmannswitwe, die gar nicht erst den Versuch unternahm, die Uhr reparieren zu lassen, und sie ihrer Tochter schenkte, der Urenkelin der Witwe, die …»

«So wurde sie von Generation zu Generation weitervererbt, bis sie in die Hände der letzten Nachfahrin gelangte, einer Dame, die weder zur Uhr noch zu dem russischen Hauptmann eine gefühlsmäßige Beziehung für sich beanspruchte, wohl hingegen zu dem berühmten Bassbariton Baobab, der die gesamte Sankt Petersburger Damenwelt zu Tränen rührte, wenn er mit makelloser Stimme den gütigen, edelmütigen Fürsten Gremin sang. Diese Dame nun schenkte die ewig nachgehende und mit familiärer Bedeutung beladene Uhr dem Bassbariton zum Zeichen ihrer immerwährenden Liebe.»

«Eine immerwährende Liebe, die gerade so lange hielt, bis der Tenor, der in derselben Oper den Lenski sang, sie umgarnte und schließlich ins Bett seiner Kaisersuite im Ritz entführte.»

«Onkel Baobab half sich mit viel Wodka und noch mehr Kaviar über die Unbill hinweg und behielt die Uhr, die bis an sein Lebensende zweiunddreißig Minuten nachging; die sechzehn Minuten ihrer Mechanik und die sechzehn Minuten seines genetischen Defekts.»

«Am Ende des Briefes hieß es, der letzte Empfänger dieser alten Taschenuhr solle er, Palindromus, sein, der ihr – so die Hypothese des Onkels – aufgrund seiner genetisch bedingten sechzehn Minuten Vorsprung im Leben die chronometrische Genauigkeit zurückgeben würde, die ihr zwei Jahrhunderte lang vorenthalten worden war. Und so ist Palindromus jetzt im Besitz dieser Taschenuhr, die für ihn die gleiche Greenwich-Zeit anzeigt wie alle anderen Uhren.»

«Unklar bleibt allerdings», sagte Calcas nachdenklich, während er Golondrinas Weinglas auffüllte, nachdem er sich selbst eingeschenkt hatte, «ob Palindromus dem Schmuckstück die sechzehn Minuten zurückgegeben hat oder das Schmuckstück sie ihm.»

Die Tür des Lokals ging zum vierten Mal auf. Zum vierten Mal wehte kalte Luft herein, zum vierten Mal vibrierten die Spiegel, und zum vierten Mal wandten sich die Köpfe der drei dem Eingang zu. Und dieses Mal … diesmal war es auch nicht Palindromus, der hereinkam. Tatsächlich kam niemand herein. Die Tür fiel lautlos wieder ins Schloss.

«Das war der Geist von Onkel Baobab», sagte Calcas.

«Der Seufzer des Hauptmanns», sagte Mopsos.

Es war die Nacht, sagten Golondrinas Augen. Sie steckte sich eine Mandel in den Mund.

 

 

Hunde ausführen wäre keine schlechte Arbeit, dachte Palindromus, während er hinter dem Plastiksoldatendieb hertrabte. Eine andere Wahl wäre der Friedhofswärter, dessen Stelle in der Zeitung angeboten wurde. Auf keinen Fall aber würde er noch einmal den Studenten der Kunstakademie Modell stehen.

An einem Baum blieb der Hund stehen und hob sein Bein, um einen rauschenden Strahl abzusetzen. Elf Sekunden. Dann trottete er weiter.

Er war jetzt schon mehrere Tage ohne Arbeit. Es wurde Zeit, dass er eine fand. Ohne Arbeit wurde das Spiel zur einzigen konstanten Beschäftigung und verlor allmählich seinen insulären Charakter, der es frei, außergewöhnlich und begehrenswert machte. Darum suchte er stets nach Arbeiten, für die man keinen Lebenslauf brauchte, keine besonderen Kenntnisse, die einfach zu verrichten waren und keine Aufstiegsmöglichkeiten boten.

Er hatte das Gefühl, verfolgt zu werden, und blieb stehen. Man musste vorsichtig sein. Der Würger lief immer noch frei herum, und diese seltsam diesige Nacht mochte er zur Verschleierung seines Tuns benutzen. Palindromus setzte seinen Weg fort, drehte sich aber alle drei oder vier Schritte um. Der Hund hockte sich auf den Gehweg und kratzte sich wild die Flanke, wobei er den Rücken krümmte und einen Hinterlauf hoch in die Luft streckte. Doch allein mit den Krallen kam er dem Floh offenbar nicht bei und musste den Soldaten fallen lassen, um die Zähne zu Hilfe zu nehmen. Ohne nachzudenken, spurtete Palindromus los, hielt nicht inne, als er an dem Hund vorbeikam, sich rasch bückte wie einer, der eine Bowlingkugel wirft, und mit sicherer Hand das vollgesabberte Figürchen ergriff. Ohne sich noch einmal umzusehen, lief er weiter. Als er um die nächste Straßenecke bog, stellte er verwundert fest, dass er sich an derselben Mauer befand, in der er den Spielzeugsoldaten ursprünglich versteckt hatte. Er hörte den Hund herankommen. Es war keine Zeit zu verlieren. Hastig suchte er nach dem Spalt, und als er ihn gefunden hatte, schaute er sich um, ob ihn jemand beobachtete, dann stopfte er den Grenadier wieder in sein altes Versteck. Er nahm eine Handvoll feuchtes Laub und verdeckte damit die Lücke. An der Straßenecke tauchte der Hund gleich einem hungrigen Wolf aus dem Nebel auf. Doch roch und sah er nichts. Zufrieden pfeifend ging Palindromus seiner Wege. Wolken legten sich wie ein dichter Schleier vor den Mond, und in der neuen Dunkelheit folgte der Hund nun dem Pfeifenden. Als dessen Liedchen leiser wurde und schließlich in der Ferne verklang, trat der Zwerg aus seinem Versteck hervor, ging zum Mauerspalt, pulte mit einem Zweig die feuchten Blätter heraus und bemächtigte sich des Grenadiers.

Unauffällig, gemessenen Schritts und im Hochgefühl seines Sieges schob sich Mô, der Zwerg, lachend den Hut ins Genick.

 

 

«Ich hab’s!», rief Palindromus, als die Tür des Lokals zum fünften Mal aufschwang und er – und nicht der Geist von Onkel Baobab, nicht der Seufzer des russischen Hauptmanns und nicht die neblige Nacht – die Cava de los Espejos betrat und die Wandspiegel vibrieren ließ. Er hängte den feuchten Regenmantel an einen Haken, knöpfte seine verknitterte Jacke auf, setzte sich an den Tisch zu seinen Freunden und warf einen forschenden Blick auf das Mädchen, das bei ihnen saß.

Die speisenden und trinkenden Gäste im Lokal sahen neugierig auf. Die theatralische Gestik des eben Eingetretenen erregte ihre Aufmerksamkeit, doch sobald er Platz genommen hatte, wandten sich alle wieder ihren Getränken, ihren Unterhaltungen und ihren kommunikativen Apparaturen zu.

«Meine Herren», sagte Palindromus, betrachtete dabei interessiert die Heuschrecke aus Papier und diejenige, die sie gefaltet hatte, «meine Dame, heute um Punkt achtundzwanzig Minuten nach sechs – Palindromuszeit –», er zog die Taschenuhr hervor, warf einen raschen Blick darauf und lächelte, was Golondrina mit einem kleinen Lippenschwung begleitete, «habe ich einen meiner Träume wiedergefunden.»

«Das ist Palindromus, der Spielende Ritter», stellte Mopsos vor. «Der mit den sechzehn Minuten Vorsprung.»

«Und dies ist Golondrina», stellte Calcas vor. «Die mit den flinken Fingern.»

Palindromus ergriff feierlich ihre Hand; so feierlich, dass die Geste alle Eleganz verlor und bloß noch als scherzhafte Reminiszenz aufgefasst werden konnte. Seine Lippen hielten nur einen Wimpernschlag von der warmen, nach Mandeln duftenden Hand entfernt inne und küssten sie, ohne sie zu berühren. Golondrina zog die Augenbrauen hoch, ließ ihre Wangen jedoch nicht erröten.

«Palindromus erinnert sich nie an die Bilder seiner Träume», erklärte Mopsos, «nur an Geschmäcker, Farben und Klänge, von denen er jeden Morgen eine Liste anfertigt. Manchmal gelingt es ihm dann im Lauf des Tages, mit diesen Einzelteilen die Bilder seines onirischen Puzzles zusammenzufügen.»

«Und heute», verkündete Palindromus stolz und füllte das Weinglas, das Skylla ihm hingestellt hatte, «heute ist eines dieser manchen Male gewesen. Stoßen wir darauf an!»

Golondrina hob ihr Glas begeistert hoch, alle vier stießen an und tranken.

Der Mann, der an der Theke seinen dritten Whisky schlürfte, glaubte, den zuletzt Eingetretenen schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Er nahm seine Mütze ab, kratzte sich den kantigen Kopf und ließ die Eiswürfel in seinem Glas aneinanderklirren.

«Und jetzt den Traum», bat Calcas, sich die Hände reibend.

Golondrina hielt die Finger ineinander verschlungen und hatte die gleiche hungrige Aufmerksamkeit in ihrem Blick wie Mopsos und Calcas.

«Ich bin mitten in einer Menschenmenge, das sagt mir das Stimmengewirr um mich herum. Aber ich verstehe nicht, was gesagt wird. Es ist wie das Gesumm in einem Bienenstock oder wie ein Heer von Wanderameisen. Wohin ich mich auch wende, überall riecht es nach Achselschweiß, manchmal zart, manchmal sehr intensiv, manchmal säuerlich. Hinterher werde ich einen Geschmack von trockenem Lehm auf der Zunge haben. Das erste Bild formt sich nun: Ich bin umgeben von Insektenmännern und -frauen, die sich durch das Bewegen ihrer Kinnladen und Reiben ihrer aus dem Kopf wachsenden Fühler untereinander verständigen. Alle – ich eingeschlossen – halten Tonschalen in den erhobenen Händen. Ich bin umringt von ihren erhobenen Armen, ihren riechenden Achseln. Wir warten. Auf was? Aus der Höhe dringt ein metallisches Knirschen, gefolgt von einem frischen, milchigen Geruch und einem Geräusch, als würden dicke Tropfen auf einen Hohlkörper schlagen. Dann ist das Bild da: Unter dem Dach haben sich Metallklappen geöffnet, aus denen in Stücke geschnittene Erdbeeren und Schlagsahnetropfen herabregnen. ‹Das haben uns die Drohnen beschert!›, ruft eine Stimme. Wir versuchen, so viel wie möglich in unseren Tonschalen aufzufangen. Das Geräusch von scharrenden Füßen wird lauter, die Insektenmenschen bilden mit ihren gefüllten Schalen in Händen mehrere