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Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag wird die in Deutschland aufgewachsene Amra in den Kosovo, das Herkunftsland ihrer Eltern, abgeschoben. Sie kennt weder das Land noch die Sprache und findet sich plötzlich ohne Geld, Wohnung und Arbeit in einer völlig unbekannten Welt wieder. Ihr bleibt nur das Leben auf der Straße. Um sich zu schützen schlüpft sie in die Rolle des Jungen Amir, der sich als Müllsammler und Gelegenheitsjobber durchschlägt.
Neben dem alltäglichen Überlebenskampf muss sie sich schon bald auch mit ihrer eigenen Identität auseinandersetzen: Ist sie mehr Amra oder mehr Amir? Mehr Frau oder mehr Mann? Oder muss sie sich vielleicht gar nicht entscheiden?
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Impressum
Texte: © Copyright by Maria Braig, 2021
Umschlag: © Copyright by Maria Braig
Foto (Cover): Pixabay
Cover: Wolf Weddeling
Verlag: Maria Braig
Laischaftsstr. 33
49080 Osnabrück
www.maria-braig.de
Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag zerbrach Amras Welt in kleine Stücke.
Sie hatte eine wilde Party mit ihren Freundinnen und Freunden gefeiert. Achtzehn wurde man schließlich nur einmal im Leben und endlich erwachsen zu sein und über sich selbst bestimmen zu können, das musste gefeiert werden.
Es war ein sehr warmer und trockener Frühsommer in diesem Jahr und so hatten sie sich am Badesee getroffen, wo sie unzählige Nachmittage ihrer Kindheit und Jugend verbracht hatten. Bis zum frühen Abend waren alle geladenen und auch ein paar ungeladene Gäste eingetroffen. Sie heizten den Grill an und schon bald erfüllte ein appetitanregender Duft die ganze Umgebung. Stefans Ghettoblaster dröhnte und spielte eine Play List nach der anderen, fast alle hatten ihre Lieblingsmusik mitgebracht. Sie hatten ihren Stammplatz ganz am Ende des Sees, wo sie nicht zum ersten Mal feierten. Hier fühlte sich niemand durch sie gestört und sie konnten tun und lassen was und wie laut sie wollten.
Die anderen Badegäste, die rund um den See verteilt die Nachmittagssonne genossen hatten, brachen nach und nach auf, um den Abend zu Hause zu verbringen. Schließlich waren nur noch Amra und ihre Freunde und Freundinnen am See. Es gab genug zu essen und zu trinken, alle hatten sie ihre Sixpacks mitgeschleppt, und später zog auch hin und wieder der Duft eines Joints über das Feuer, das sie mit der glühenden Grillkohle und dem Holz, das sich rund um den See fast überall fand, angezündet hatten. Amra war nicht ganz wohl dabei, aber es war ihre große Party und da wollte sie den Freunden den Spaß nicht verderben.
Früher hatte sie wie die anderen auch, gerne und zeitweise sogar ziemlich oft gekifft. Aber dann waren sie alle zusammen ein paar Mal erwischt worden und hatten ziemlich unangenehme Stunden bei der Polizei und vor Gericht verbracht. Gefühlte hundert Mal machte sich Amra auf den Weg, um die Sozialstunden abzuleisten, zu denen sie verurteilt worden war. Sie arbeitete im Altenpflegeheim und sie hasste es. Schlimmer noch als diese Arbeit war aber, dass Amras Mutter, die schon lange unter depressiven Schüben litt, durch den Schrecken tief in eines ihrer schwarzen Löcher gefallen war. Amra hatte sich deshalb geschworen, nie wieder mit Drogen in Berührung zu kommen. Bei den anderen war der erste Schock mit der Zeit eher zu einer Art Kick geworden, und sie rauchten weiterhin, wenn sich die Gelegenheit bot.
Manchmal fühlten sie sich etwas altmodisch in der Clique – Bier und ein bisschen Gras, mehr war bei ihnen nicht gefragt. Auf die modernen Synthetikdrogen, die bei anderen Jugendlichen angesagt waren, hatte hier niemand jemals Lust verspürt. Wo hätte man in ihrer kleinen Stadt die bunten Pillen und was da draußen in der Welt sonst so unterwegs war, auch hernehmen sollen? Vermutlich hätte es irgendwelche Wege gegeben, aber niemand hatte sich je darum bemüht, diese zu finden. Wozu auch? Wenn sie unter sich waren, wenn ihre Clique zusammen war, dann brauchten sie dieses Zeug, um dessen Gefahren sie ziemlich genau wussten, nicht.
Da draußen – da war die große Welt, da wollten sie alle irgendwann hin. Heraus aus der Langeweile und dem Mief ihrer engen kleinen Stadt, in der jeder jeden kannte – und jede jede auch –, und in der nichts wirklich im Verborgenen blieb. Und jetzt, da sie achtzehn wurde, da dieser magische Zeitpunkt direkt vor ihr lag, stand ihrem Weg in die große weite Welt bald nichts mehr im Weg. Noch ein Jahr, dann hätte sie ihre Ausbildung beendet und würde gehen, wie die anderen aus der Clique auch. Hinaus in die Welt, in die Freiheit, ins wirkliche Leben.
Das hatte Amra ihrer Mutter versprochen, dass sie wenigstens ihre Ausbildung abschloss, bevor alles „ganz anders“ werden würde, wie sie ihre Zukunftspläne beschrieb.
Amra hatte recht gehabt. Es sollte nach ihrem achtzehnten Geburtstag nur zu bald alles ganz anders werden. Nicht einmal dieses Versprechen, das sie ihrer Mutter gegeben hatte, konnte sie mehr einlösen, bevor die große Veränderung kam und ihre Welt in Stücke zersprang.
Vor über zwanzig Jahren, als Jugoslawien und seine Menschen in einem Krieg zerbrachen, den die meisten nicht hatten kommen sehen – denn Kriege gab es ja immer irgendwo auf der Welt, aber doch seit 1945 nicht mehr in Europa –, hatten Amras Eltern Flora und Gezim Mekuli ihre Heimat verlassen und waren in einer kleinen Stadt im Norden Deutschlands gestrandet. Sie kamen beide aus Priština, der Hauptstadt des Kosovo, den bis dahin kaum jemand in Deutschland gekannt hatte. Sie wollten nur kurz bleiben, doch der Krieg blieb lange und so blieben sie auch.
Beide fanden sie Arbeit und schlossen schnell auch Freundschaften in der kleinen Stadt, denn Amras Eltern waren allen und allem gegenüber aufgeschlossen und hatten auch zu Hause im Kosovo schon immer ein offenes Haus und ein offenes Ohr für alle gehabt.
Krieg und Flucht hatten tiefe Spuren in den beiden damals noch jungen Menschen hinterlassen. Aber zunächst verdrängten sie diese mit all den Notwendigkeiten und Aufregungen, die die neue Heimat – auch wenn sie nur eine Heimat auf Zeit sein sollte – und das neue Leben mit sich brachten, und begruben die Ängste und Schrecken, die sie durchgestanden hatten, tief in ihrem Inneren. Sie lebten fast so weiter, wie sie es vor dem Krieg gewohnt gewesen waren.
Dann kam Amra zur Welt. Mit ihr zerbrach die äußerste Schutzschicht, die Amras Mutter davor bewahrt hatte, sich den Erinnerungen und Schrecken des Krieges und all seinen Folgen stellen zu müssen.
Aber wie eine Zwiebel besitzt die Seele des Menschen vielerlei schützende Häute, und zerbricht die erste, so blitzt zwar ein kleines Erinnern auf, aber nur kurz, denn da sind ja noch genügend andere, die weiterhin Schutz gewährleisten.
Und dann war da ja nun Amra, dieses kleine Wunder, und die Frau aus dem Kosovo wurde zur Mutter. Sie gab ihre Arbeit auf und widmete sich dem Kind, auf das sie lange gewartet und schon fast nicht mehr gehofft hatte. Sie vergaß bald wieder, dass sich da kurz eine Erinnerung hatte ihren Weg nach draußen bahnen wollen.
Der Mann dagegen blieb Mann und zwischen Mutter und Mann war das Kind – geliebt zwar von beiden, aber der Mann ging weiterhin arbeiten, traf seine Freunde und kam nur nach Hause, um zu schlafen. So blieb er dem Kind ein Fremder und für die Frau, die jetzt nur noch Mutter war, um sich und ihr Kind zu schützen, wurde er ein solcher.
Amras Vater, der nicht wusste, wie Vatersein ging, spürte genau, wie er sich entfernte, wie die Liebe sich davonschlich und wie er sie nicht halten konnte. Er litt darunter, aber er hatte nie gelernt, über diese Dinge zu sprechen. Schon bevor Amra zur Welt kam, hatte das begonnen. Nachdem das Leben in Deutschland zum Alltag geworden war, nachdem er sich eingerichtet hatte und der Krieg nicht enden wollte, begann in ihm langsam etwas zu reißen. Auch in seinem Inneren waren die erlebten Schrecken vergraben und auch er wollte sie nicht ans Licht lassen. Als Amra geboren wurde und der Mann in den Augen der Mutter erkannte, dass sich in ihr etwas seinen Weg nach draußen zu bahnen begann, da ergriff er die Flucht. Flucht in die Arbeit und abends an den Tresen.
Als die Nachricht vom tödlichen Arbeitsunfall Gezims kam, war er für die Mutter schon lange ein Fremder geworden, dessen Tod sie zwar erschreckte und irgendwo in ihr etwas berührte, aber dann drehte sie sich um und das Leben ging weiter.
Amra war drei Jahre alt, als der Vater ums Leben kam. Die Mutter ging wieder zur Arbeit, während Amra im Kindergarten erste Freundschaften schloss.
In Amras Mutter riss beim Tod dieses fremden Mannes, der einmal Amras Vater hatte werden sollen, erneut eine schützende Haut. Sie stürzte sich in die Sorge um ihr vaterloses Kind, das aber ja immer schon vaterlos gewesen war und den Verlust deshalb nicht wirklich bemerkte, und in die Arbeit, um sich selbst zu betäuben.
Amra wurde größer, die beiden erlebten, was alleinerziehende Mütter und alleinerzogene Kinder eben so erleben. Alles in allem ging es ihnen gut und sie fühlten sich geborgen in ihrer kleinen Stadt. Die Mutter zwischen ihren zumeist freundlichen Arbeitskolleginnen und Amra schon sehr bald in ihrer Clique.
Amra ging gerne zur Schule, sie lernte schnell und hatte Spaß daran. Sie verstand sich gut mit den anderen in der Klasse und vor allem war da Nina, die in der Nachbarschaft wohnte und mit der sie befreundet war, seit sie überhaupt denken konnte. Bald schon wurden die beiden Mädchen nur noch im Doppel gesehen. Wann immer die Eltern es erlaubten, übernachtete die eine bei der anderen. Mal Amra bei Nina und mal Nina bei Amra, wie es gerade am besten passte.
Amra aß meistens bei Nina zu Mittag, weil ihre Mutter erst spät von der Arbeit nach Hause kam. Die beiden machten dann gemeinsam ihre Hausaufgaben und hinterher die Gegend unsicher. Fast immer waren sie unterwegs. Im naheliegenden Wäldchen, was eigentlich verboten war. Oder in der kleinen Stadt, was erlaubt war mit bestimmten Vorgaben, die nur selten von den Mädchen eingehalten wurden.
Wo die beiden auftauchten, wurde Amra auf den ersten Blick für einen Jungen gehalten, denn sie hatte sich schon bald eine Igelfrisur zugelegt und sich noch nie so verhalten, wie es die Leute von einem Mädchen erwarteten.
Schnell hatten die beiden Freundinnen herausgefunden, dass es ein schönes Spiel war und so manche Vorteile mit sich brachte, wenn sie sich an Orten, wo man sie nicht kannte, als Bruder und Schwester oder als Liebespaar ausgaben. Sie mussten aber schnell feststellen, dass Bruder und Schwester gewöhnlich besser funktionierte. Über knutschende Kinder wurde meist nur gelacht.
Innerhalb der Clique, die sich schon während der ersten Schuljahre entwickelte, blieb Amra solange das ganz gewöhnliche Mädchen in den Augen der anderen, wie die Aufteilung in Geschlechter noch keine wirkliche Rolle spielte. Als sie älter wurde und die Entwicklung zum Girlie verpasste, die die anderen fast alle unmerklich vollzogen hatten, war sie schon ein so fester Bestandteil der Gruppe, dass es niemandem auffiel. Amra war eben Amra und das blieb sie auch. In manchem ein wenig anders als andere, aber sie wussten ja auch alle, dass Amra es nicht ganz einfach hatte zu Hause. Allein mit einer Mutter, die immer häufiger depressive Phasen durchlebte und in Löcher fiel, aus denen sie ohne ihre starke Tochter nicht wieder herausgefunden hätte.
Amra machte sich notgedrungen stärker, als sie eigentlich war, legte sich eine harte Schale zu und glaubte irgendwann selbst daran, unverwundbar und die Retterin ihrer Mutter zu sein. In dieser Rolle hatte sie sich eingerichtet und fühlte sich zumeist auch ganz wohl damit. Nur selten fiel Amra auf, dass Coolness nicht immer der beste Weg war, um durchs Leben zu gehen, aber das vergaß sie dann ganz schnell wieder und steckte die Hände in die Taschen ihrer Cargohose. Breitbeinig stellte sie sich den Herausforderungen ihres Teenagerlebens entgegen, das sie auf ihre burschikose und straighte Art wesentlich besser zu meistern in der Lage war als in der Rolle des Klein‑Mädchens, wie sich plötzlich die meisten ihrer Freundinnen gaben. Amra wunderte sich, was aus ihnen wurde, fragte sich, was diese Veränderung ausgelöst hatte – und blieb sie selbst: Amra, die Starke, die immer Fröhliche, die Hilfsbereite, die Witzige. Wie es wirklich in ihrem Innersten aussah, das ging ja schließlich niemanden etwas an, vielleicht nicht einmal sie selbst.
Alle mochten Amra, aber nur wenige erkannten auch die empfindsame, leicht zu verletzende und schwache Stelle in ihr, die sie gekonnt hinter ihrem coolen Auftreten verbarg.
Die Tiefphasen ihrer Mutter wurden mit den Jahren immer häufiger, kamen bald regelmäßig und irgendwann konnte Amra das alles allein nicht mehr bewältigen. Sie erzählte Ninas Mutter jedoch erst davon, als diese sie bedrängte, weil Amra immer unglücklicher und zerfahrener wurde. Ninas Mutter sorgte umgehend für eine ärztliche Untersuchung und es folgte schnell eine stationäre Therapie. Während dieser Zeit lebte Amra ganz bei Nina und wurde schnell wieder zum fröhlichen und ausgelassenen Kind, und nur ein Schatten und die so lange eingeübte Coolness blieben zurück.
Dann kam Flora Mekuli aus der Klinik zurück nach Hause, hatte noch immer ihre Abstürze, besaß aber auch die entsprechenden Medikamente für solche schweren Zeiten.
Es war nicht einfach, aber auch nicht mehr so schwer wie zuvor, und Mutter und Tochter fanden im Laufe der Zeit einen gemeinsamen Weg, einigermaßen unbeschadet durch Höhen und Tiefen zu kommen. Amra blieb die Starke, die der Mutter den Mann zu ersetzen suchte, sich selbst aber nicht Vater oder Mutter ersetzen konnte, an die sie sich mit ihren eigenen Schwächen hätte anlehnen können.
Was Amra nicht wusste: Der größte Schub der Depression, der sie letztendlich dazu gebracht hatte, Ninas Mutter alles zu erzählen, war durch einen Brief ausgelöst worden. Einen Brief mit dem Stempel der Ausländerbehörde. Mit knappen Worten wurden sie und ihre Mutter darin aufgefordert, Deutschland innerhalb einer vierwöchigen Frist zu verlassen und in ihr Heimatland, den Kosovo, zurückzukehren.
Schon als sie den Umschlag gesehen hatte, war Flora erstarrt. Es war nicht der erste Brief mit diesem Stempel, sie musste ja immer wieder bei der Ausländerbehörde ihren Aufenthalt in Deutschland verlängern lassen. Aber dieses Mal war etwas anders als sonst, das hatte sie im Gefühl. Endgültiger sah der Brief aus, so kam es ihr vor. Er leuchtete geradezu vor Endgültigkeit, so schien es Amras Mutter.
Ihr psychischer Absturz, der darauf folgte, war genauso endgültig. Die restlichen Zwiebelhäute in ihrem Inneren platzten mit einem Schlag und die Vergangenheit brach durch, verschaffte sich einen Weg an die Oberfläche und ins Bewusstsein.
Flora Mekuli hatte ihre Tochter nie mit der Tatsache konfrontiert, dass sie beide nur geduldete Gäste waren in diesem Land. Sie hatte Amra vieles überlassen, was eigentlich zu viel war für ein Kind, aber an diesem einen Punkt war Schluss gewesen. Sie hatte die Behördengänge stillschweigend allein erledigt, wann immer sie notwendig gewesen waren, ohne Amra damit zu belasten.
Amra wusste nur, dass ihre Eltern nicht in Deutschland geboren waren, dass es in ihrer Heimat einen großen Krieg gegeben hatte und sie deshalb geflohen waren. Mehr wusste sie nicht darüber, sie hatte sich bisher auch nicht wirklich dafür interessiert. Sie selbst war in Deutschland zur Welt gekommen und groß geworden, sie kannte nichts anderes, und ihre Eltern waren eben ihre Eltern – Ausländer waren andere. Pino zum Beispiel, der Italiener, dem Amras Lieblingspizzeria gehörte. Oder der türkische Dönerverkäufer und der Kellner im griechischen Restaurant, in dem sie hin und wieder einmal mit Flora essen ging. Oder auch der französische Austauschlehrer an ihrer Schule.
Ihre Mutter war eben ihre Mutter, und sie, Amra, war eine Deutsche wie alle anderen auch.
Flora Mekuli hatte den Brief schließlich ihrer Therapeutin gezeigt. Diese hatte alles in die Wege geleitet, damit Mutter und Tochter in Deutschland bleiben konnten. Sie hatte den ständigen Behördengängen, immer mit der Angst verbunden, zur Ausreise aufgefordert zu werden, ein Ende gesetzt. Sie hatte Erfolg gehabt, weil Amras Mutter zu krank war, um zurückgeschickt zu werden in ein Land, das schon lange nicht mehr ihre Heimat war, und das sie, sollte sie es wieder betreten, höchstwahrscheinlich wegen der Erinnerungen, die sie dort erwarteten, noch kränker machen würde.
Die Sicherheit, für immer in Deutschland bleiben zu können, machte Amras Mutter ruhiger. Die Medikamente taten ihr Übriges. Sie machten sie ruhiger, dämpften aber nicht nur die bedrohlichen Gefühle. Flora Mekuli würde auch mit Hilfe der Medikamente nie wieder zu der fröhlichen und lebenslustigen Frau werden, die ihre Lebensfreude manchmal gar nicht bändigen konnte, wie sie es zu der Zeit gewesen war, als Amras Vater sich in sie verliebt hatte. Doch Amra kannte diese junge Frau nicht. Sie kannte nur eine Mutter, die ihr Leben gerade so auf die Reihe brachte und nur mit Mühe fröhlich sein konnte, weil sie dies ihrer Tochter gegenüber als Verpflichtung ansah. Und so war die mit Medikamenten neu eingestellte Mutter für Amra schon ein großer Fortschritt. Sie fiel nicht mehr in diese tiefen Löcher, was zuletzt in immer kürzeren Abständen der Fall gewesen war. Sie wurde wieder eine eigenständige und lebenstüchtige Frau, auch wenn sie weiterhin nicht vor Energie sprühte.
Amra wurde in der Folge unabhängiger und sorgte sich weniger. Sie musste nicht mehr darüber wachen, ob die Mutter in irgendwelchen Untiefen verschwand, aus denen Amra sie bisher in unschöner Regelmäßigkeit unter Aufbietung all ihrer Kräfte hatte herausziehen müssen.
Sie wurde zu einer fröhlichen Jugendlichen mit den gewöhnlichen Höhen und Tiefen, die in diesen Jahre auftreten und die sie sich bisher nicht zugestanden hatte. Doch die insgeheime Furcht, das alles könne nur von vorübergehender Dauer sein, es handele sich vielleicht nur um eine zeitlich begrenzte Besserung, ließ sie ihre äußerliche Stärke und Coolness aufrechterhalten, denn das erschien ihr als die beste Art, ohne größere Verwundungen durchs Leben zu kommen.
Amra besuchte die Realschule. Ein Gymnasium gab es in der kleinen Stadt nicht, und jeden Tag eine Stunde mit dem Bus zu fahren war ihr zu anstrengend gewesen, als sie sich mit zehn Jahren entscheiden musste. Außerdem – und das zählte vor allem – war ihre beste Freundin Nina aus der Grundschule in die Realschule gewechselt, und deshalb war für Amra sofort klar gewesen, dass sie das auch wollte.
Hätte sie sich mehr um die Schule gekümmert, wäre Amra eine sehr gute Schülerin geworden. Aber sie las lieber in spannenden Büchern, brachte sich selbst Gitarrespielen bei und schraubte häufig und gerne erst am Fahrrad und später an ihrem Moped herum, das sie sich mit Hilfsjobs hier und da verdient hatte.
Nicht selten kam es dann vor, dass sie mit bis zu den Ellbogen ölverschmierten Armen am Straßenrand neben der alten Kiste kniete und dies und das reparierte – ihr Budget hatte eben nur für ein sehr gebrauchtes Fahrzeug ausgereicht, schließlich hatte sie ja auch noch den Führerschein dazu finanzieren müssen.
„Na, junger Mann“, tönte es dann oft aus einem vorbeifahrenden Auto, „brauchst du Hilfe?“ Amra schüttelte jedes Mal den Kopf, denn Amra brauchte keine Hilfe. Und sie schüttelte auch den Kopf, weil sie sich wunderte, dass an Mopeds Herumschrauben anscheinend für viele immer noch ein männliches Geschlechtsmerkmal war.
Amra brachte die Schule mit einem mittelmäßigen Abschluss hinter sich und bemerkte zu spät, dass sie es wohl einfacher gehabt hätte, wenn sie regelmäßig und mehr gelernt hätte, anstatt sich bei jeder Klassenarbeit Stress und Angst auszusetzen, weil sie erst im letzten Moment und immer nur das Nötigste lernte.
Aber es war, wie es war, und für Amra begann eine neue Zeit, der sie gespannt und voll Freude entgegensah.
Sie wollte Kraftfahrzeugmechatronikerin werden und hatte nach dem Schulpraktikum auch sofort die Zusage der örtlichen Werkstatt bekommen, obwohl der Meister sie erst nicht als Praktikantin hatte annehmen wollen.
„Hier arbeiten nur Männer“, hatte er gebrummt, „und das soll auch so bleiben“.
Normalerweise formulierte er das drastischer: „Hier arbeitet nur, wer im Stehen an einen Autoreifen pinkeln kann“, hieß das gewöhnlich bei Kralle – so wurde der Meister von allen in der Werkstatt genannt. Aber der Besitzerin der Werkstatt gegenüber hatte er es vorgezogen, sich etwas gemäßigter auszudrücken. Frau Brönner stimmte ihn schließlich mit sanftem Druck um. Sie war nun mal die Chefin und Kralle musste Amra als Praktikantin unter seine Fittiche nehmen.
Er machte es ihr nicht leicht. Am Ende des kurzen Praktikums allerdings war dann alles anders gewesen. Der Meister und Amra waren in den zwei Wochen zu einem guten Gespann geworden und ein Ausbildungsplatz war ihr sicher.
„Hier arbeiten nur Männer“, hatte Kralle zum Schluss gebrummt. „Und Amra.“
Das erfolgreiche Praktikum und die Aussicht auf ihren Wunschausbildungsplatz waren ein Ansporn für Amra und so legte sie schließlich einen für ihre Verhältnisse ganz ansehnlichen schulischen Endspurt hin. Dann war es so weit, die Prüfungen waren vorbei, die Ferien wurden zu einer einzigen Partymeile und dann begann – zum wievielten Mal eigentlich? – der Ernst des Lebens. Einige aus ihrer Klasse hatten die Stadt verlassen, um anderswo eine Ausbildung zu beginnen. Zwei wollten erst einmal um die Welt fahren, work and travel nannte sich das. Amra hätte sich niemals getraut, so etwas zu machen, auch wenn es sich nach einem verlockenden Abenteuer anhörte. Aber ganz allein – auch zu zweit war in diesem Fall für Amra ganz allein – unter fremden Menschen in fremden Ländern auf sich selbst gestellt zu sein? Nicht zu wissen, wo sie abends schlafen und wo sie das nötige Geld für die Weiterreise verdienen sollte, das war doch zu viel Abenteuer fand Amra. Und ihr bisschen Schulenglisch … Nun ja, ihr ging es ohne Abenteuer doch auch ganz gut.
Die restlichen Freundinnen und Freunde blieben wie Amra zu Hause und lernten dies und das oder besuchten nun wie Nina und Stefan das Gymnasium in der Nachbarstadt und kamen spätnachmittags wieder. So blieb ein großer Teil der Clique bestehen und sie trafen sich weiterhin regelmäßig in ihrer Freizeit.
Amra war sechzehn, als sie ihre Ausbildung in der Autowerkstatt anfing. Ein halbes Jahr vor ihrem achtzehnten Geburtstag begann sie damit, den Führerschein zu machen. Auch das war ein Teil der Ausbildung und Amra war froh, sich keine Gedanken um das Geld dafür machen zu müssen wie alle anderen, die schon seit Langem auf dieses Ziel hin sparten. Sie bestand kurz vor dem Geburtstag die Fahrprüfung, hatte damit einen weiteren wichtigen Abschnitt ihrer Ausbildung erfolgreich hinter sich gebracht und konnte nun unbeschwert ins Erwachsenenleben hineinfeiern.
Amra
Ich erwachte mit schmerzendem Kopf, fand mich in meinem Schlafsack, die Sonne schien und neben mir rauchten die Überreste eines Lagerfeuers. Für kurze Zeit wusste ich nicht, wo ich mich befand und was geschehen war, aber dann erinnerte ich mich.
Seit heute war ich erwachsen. Achtzehn Jahre alt. Alles würde sich nun ändern für mich, niemand würde mehr über mein Leben bestimmen – nur ich selbst.
Nicht, dass ich bisher ein schlechtes Leben gehabt hätte. Ich hatte zwar schon lange keinen Vater mehr, vermisste ihn aber auch kaum, weil ich damals, als er starb, noch so klein gewesen war. Manchmal war da eine schwache Erinnerung an einen Mann, der mich auf dem Arm hielt oder mich auf einer Schaukel anschubste. Aber immer nur kurz und undeutlich, er war nicht wirklich zu fassen. Er fehlte mir nicht, aber trotzdem war ich manchmal neidisch auf Nina, die nicht nur ihre Mutter hatte, mit der sie alles regeln musste.
Dass meine Mutter so oft krank gewesen war, hatte mich manchmal ziemlich eingeschränkt und ich konnte nicht alles so machen wie die anderen Kinder, aber nun war sie schon lange stabil und so gut wie gesund. Die Medikamente, die sie regelmäßig nehmen musste, machten sie zwar ein wenig langweilig, aber das hinderte mich nicht daran, mein Leben so zu führen, wie ich das wollte. Vielleicht wurde es dadurch sogar einfacher, weil sie mich mehr in Ruhe ließ, als das andere Mütter mit ihren Töchtern und Söhnen taten. Ninas Mutter bestimmte viel mehr, was ihre Tochter zu tun und zu lassen hatte. Manchmal tat Nina mir sogar fast leid.
Aber jetzt war ich achtzehn und alles würde noch viel besser werden. In einem Jahr war meine Ausbildung zu Ende und dann stand mir die Welt offen. Kraftfahrzeugmechatronikerinnen wurden schließlich überall gebraucht und heute hatten es auch Frauen in diesem Beruf nicht mehr so schwer, irgendwo unterzukommen, wie noch vor wenigen Jahren. Nicht alle Meister waren schließlich so alt und stur wie Kralle. Aber selbst der sture Bock hatte sich ja verändert und wir verstanden uns mittlerweile bestens. Ein super Team war aus uns geworden im Laufe der letzten beiden Jahre und wir mochten uns auf eine ganz spezielle Art.
Wir waren Meister und Azubine, da konnte er schon mal so richtig losbrüllen, wenn ich einen halben Tag lang irgendwo rumgeschraubt hatte und der Fehler dann doch nicht behoben war. Ich konnte aber auch zu ihm kommen und mich ausheulen, wenn ich, egal wobei, nicht weiterwusste. „Aber bitte ohne Tränen. So was will ich in meiner Werkstatt nicht sehen“, sagte er immer.
Ein bisschen wurde Kralle auch zu meinem Ersatzvater. Zu steif und ungelenk, um mich im Notfall auch mal in den Arm zu nehmen, was mir sehr entgegenkam. Denn für so etwas Mädchenhaftes war ich zu cool. Er glättete meine Wogen einfach, indem er da war, zuhörte und immer einen guten Rat parat hatte. Ich würde ihn vermissen, wenn die Ausbildung vorüber war. Aber bis dahin war es ja noch ein gutes Jahr und das Brummen in meinem Kopf holte mich jetzt erst einmal zurück in die Realität meines achtzehnten Geburtstages.
Das letzte Bier musste schlecht gewesen sein. Ich konnte mich zwar an alles erinnern – zum Glück; die Vorstellung verlorener Sequenzen in meinem Leben, in denen alles und nichts passiert sein konnte, war ein Alptraum für mich. So weit hatte ich es noch nie kommen lassen. Aber in meinem Kopf schien nun ein Presslufthammer zu arbeiten und ich fragte mich verzweifelt, wie der dort wohl hineingekommen war und vor allem, wie er wieder herauskommen sollte.