Reinhard K. Sprenger
An der Freiheit des anderen kommt keiner vorbei
Das Beste von Reinhard K. Sprenger
Mit Illustrationen von Daniel Balzer
Campus Verlag Frankfurt/New York
Über das Buch
Kein deutscher Autor hat das Management in den letzten zwanzig Jahren so geprägt wie Reinhard Sprenger. Im Kern seines Denkens steht die Einsicht, dass der Mensch ein Freiheitswesen ist. Was das für ein gelingendes Leben, beruflichen Erfolg, Mitarbeiterführung und das Management von Unternehmen bedeutet, hat Sprenger in zahlreichen Bestsellern eindrucksvoll beschrieben.
Dieses Buch ist eine inspirierende neue Zusammenstellung seiner wesentlichen Gedanken – und eine Einladung an alle Neugierigen, Sprenger kennen zu lernen.
»Der wirkmächtigste deutsche Managementdenker der Gegenwart.«
Hamburger Abendblatt
»Deutschlands Managementautor Nr. 1.«
Handelsblatt
Über den Autor
Dr. Reinhard K. Sprenger, promovierter Philosoph, gilt als profiliertester Management-Berater und Führungsexperte Deutschlands. Er wurde 1953 in Essen geboren und wohnt heute bei Zürich und in Santa Fe, New Mexico. Zu seinen Kunden gehören internationale Konzerne und nahezu alle Dax-100-Unternehmen. Sprenger ist bekannt als kritischer Denker, der nachdrücklich dazu auffordert, neues Denken und Handeln zu wagen.
INHALT
Vorwort von Reinhard Sprengers Verleger
Freiheit
Einleitung
Die Macht der Wahlfreiheit
Der Mythos der Sachzwänge
Ist Willensfreiheit eine Illusion?
Freiheit – »dennoch!«
Selbstgewählte Aufgaben
Die konkrete Utopie: Freiheit
Selbstverantwortung
Einleitung
Selbstbestimmt leben
Die Vorbild-Falle
Selbstverantwortung
Gehen Sie aus dem Weg!
Führen zur Selbstverantwortung
Coaching – oder wie man aus Unternehmen Kindertagesstätten macht
Vertrauen
Einleitung
Warum Vertrauen?
Vertrauen Sie ihnen!
Wie praktiziere ich Vertrauen?
Aktive Wahrhaftigkeit
Vertrauen statt Misstrauen
Motivation
Einleitung
Der Impuls aus der Praxis
Der kurze Hebel der Motivierung
Verdacht als Unternehmenskultur
Sisyphos: Belohnen und Bestechen
Motivation ist nur eine Voraussetzung für Erfolg
Kontakt ist wichtiger als Lob
Fordern statt verführen
Quellen
Register
VORWORT VON REINHARD SPRENGERS VERLEGER
Freiheit, Selbstverantwortung, Vertrauen ein praxisgerechtes Verständnis von Motivation: Das sind die vier Säulen des Denkens von Reinhard Sprenger, wobei er die Freiheit über alles andere stellt und die Notwendigkeit von Selbstverantwortung und Vertrauen daraus ableitet – deshalb der Titel dieses Buches. Durch diese Herleitung und Kombination, geschrieben im einzigartigen Sprenger-Stil, unterscheiden sich seine Inhalte von denen aller anderen Management- und Führungsdenker und machen seine Einmaligkeit, seine Unverwechselbarkeit, seine Wichtigkeit und Relevanz aus.
Entsprechend sind Freiheit, Selbstverantwortung, Vertrauen und Motivation auch die vier Säulen dieser Auswahl der besten Passagen aus Reinhard Sprengers Werken. Für uns bei Campus ist es ein Privileg, sie ihm zu seinem 60. Geburtstag vorzulegen und überhaupt mit ihm zusammenzuarbeiten. Er ist ein in jeder Hinsicht herausragender Autor.
Unsere Zusammenarbeit kam dadurch zustande, dass ich ihn wegen eines Zeitschriftenbeitrags angeschrieben habe. Daraus entstand im Jahr 1991 sein erster Bestseller mit dem Titel Mythos Motivation, |7|ein Standardwerk bis auf den heutigen Tag. In den seither vergangenen mehr als 20 Jahren haben wir weitere sieben Bücher von ihm verlegerisch betreut (von den dazugehörigen Hör- und elektronischen Büchern ganz zu schweigen). Gekrönt wurde diese Erfolgsserie von seinem letztjährigen Bestseller Radikal führen.
Campus und ich haben Reinhard Sprenger viel zu verdanken, auch über den wirtschaftlichen und profilbildenden Erfolg seiner Bücher hinaus. In unserer Verlagspraxis und in der vieler anderer Unternehmen haben sich seine Prinzipien bewährt: Mitarbeitern ein Maximum an Freiheit zu geben und ihnen Vertrauen entgegenzubringen. Auch wir versuchen, das von Sprenger postulierte Prinzip Selbstverantwortung mit dem Leitmotiv »Die Entscheidungskompetenz folgt der Sachkompetenz« zu leben. Unsere Entscheidungswege, die Wege eines konzernunabhängigen, inhabergeführten Verlags, sind kurz, damit die Vernunft nicht auf der Strecke bleibt. Wir halten viel von Vertrauen, von Freiheit, davon, Menschen die Wahl zu lassen, von Verhandlungen – obwohl autoritäre Lösungen manchmal leichter zu sein scheinen. Auch deshalb sagen oft Besucher, die in die Verlagsräume kommen: »Bei euch ist es lebendig, man spürt die Neugier und das Interesse über den eigenen Aufgabenbereich hinaus.« Das ist ein großes Kompliment und nicht zuletzt Reinhard Sprengers Prinzipien zu verdanken.
Jedes der Werke von Reinhard Sprenger hat mir helle Lichter für meine Unternehmenspraxis aufgesetzt. Für mich ist es eine Ehre, Ihnen diese Auswahl aus seinen |8|Werken vorzulegen – vom unstrittig wichtigsten Experten für Mitarbeiter- und Unternehmensführung im deutschsprachigen Raum.
Thomas Carl Schwoerer Frankfurt, im Mai 2013|9||10|
FREIHEIT
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Wovon träumen Sie? Vom nächsten Urlaub, von der nächsten Gehaltserhöhung, von der neuen Liebe, die so ganz anders wäre als die alte? Die Antwort auf Fragen wie diese fällt meistens leicht. Es genügt ein Blick in die Werbe-Einblendungen des Vorabendprogramms, um ein Bild davon zu gewinnen, wovon die meisten Menschen träumen: von dem, was sie nicht haben. Warum aber leben sie ein Leben, das sie offenbar nicht leben wollen? Auch darauf fällt die Antwort selten schwer: weil eben die Umstände so sind, wie sind; weil man morgens eben zur Arbeit muss und wegen der Kinder und so fort. Die Entfernung zwischen dem Leben, wie es sein könnte, und dem, wie es ist – für viele ist sie so groß wie die Entfernung vom Andromeda-Nebel zur Erde.|11||12|
Dies gilt besonders für die Arbeitswelt. Wie anders ist es zu erklären, dass die Umfragen zur Zufriedenheit im Job alljährlich zu erschreckenden Ergebnissen kommen: Jeder Zweite macht nur Dienst nach Vorschrift, jeder Dritte hat innerlich gekündigt, die Chefdiffamierungsbücher boomen. Die Unternehmen scheinen von Zombies bevölkert, die Tag für Tag an ihrem Arbeitsplatz erscheinen, ohne dort je anzukommen oder innerlich anwesend zu sein.
Bekanntlich ist es der Platonische Sokrates, der die Frage, »wie man leben soll«, erstmals ausdrücklich für sich selbst stellt und es ablehnt, darauf eine generelle, unterschiedslos auf alle Menschen zutreffende Antwort zu geben. Es ist der jeweils individuelle Mensch, der nach seinem Weg im Leben sucht. Wäre es anders, bräuchte von Individuum gar keine Rede zu sein. Doch in einer Gruppe, in der Gesellschaft, so die Theorie, |13|sind Einzelne immer bestrebt, ihr Verhalten den Normen und Erwartungen ihres sozialen und kulturellen Umfeldes anzupassen. Wir folgen deshalb selten unseren eigenen Wegen, sondern stattdessen den Mustern, denen eben alle anderen auch folgen. Das spart Zeit, Nerven und die Auseinandersetzung mit schwierigen Fragen. Es hat aber auch Nachteile.
Die Vervielfachung von Angeboten, die Pluralisierung von Werten vergrößern die Möglichkeiten der Selbstbestimmung, der Individualität. Im Gegenzug erhöhen sie die Anforderungen an die Fähigkeit des Einzelnen, seine Werte zu erkennen und ihnen entsprechend zu handeln. Was würden Sie tun, wenn Sie wüssten, dass Sie nur noch zwei Jahre zu leben hätten? Sie würden sehr wahrscheinlich anfangen, das zu tun, was Ihnen wichtig ist, und die Dinge ignorieren, von denen Ihnen andere gesagt hatten, dass Sie sie tun sollen und dass sie wichtig sind. Sie würden sich bewusst entscheiden, sich ans Steuer Ihres Lebensautos setzen und bestimmen, wohin Ihr Leben »führt«.
Jede Wahl, die wir treffen, ist ein Zeugnis für unsere Autonomie, für unser Gefühl der Selbstbestimmung. Fast jeder Politik-, Sozial- oder Moralphilosoph in der abendländischen Tradition seit Platon hat solcher Autonomie eine besondere Bedeutung eingeräumt. Und mit jeder neuen Ausweitung der Wahlmöglichkeiten erhalten wir noch mehr Gelegenheit, unsere Autonomie auszuüben und damit unseren Charakter unter Beweis zu stellen. Wir können heute im Vergleich zu früheren Generationen weitaus freier über unser Leben bestimmen, wissen aber nicht mehr genau, was für eine Art Leben wir führen wollen. Hier beginnt das Problem |14|mit der Freiheit. Denn jede Entscheidung für das eine ist zugleich eine Entscheidung gegen das andere. Was man tut, kann man auch unterlassen. Das ist eine Entscheidung – und sie liegt bei jedem Einzelnen. Zugespitzt haben es die Existenzialisten so formuliert: Der Mensch ist zur Freiheit verdammt.
Was den »freien Menschen« ausmacht, ist nicht die Maximierung seiner Möglichkeiten, sondern das Bewusstsein seiner Wahlentscheidungen und die Bereitschaft, Verantwortung für die Konsequenzen dieser Entscheidungen zu übernehmen, die Kosten, die mit jeder Wahl verbunden sind, anzuerkennen. Während äußere Freiheit eine Größe ist, die sich aus rechtlichen, sozialen und politischen Umständen zusammensetzt, beschreibt innere Freiheit einen Zustand, in dem der Mensch seine eigenen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzt, um auszuwählen. Darin liegt seine Freiheit. Und mit ihr die Voraussetzung für ein gelingendes Leben.|15|
DIE MACHT DER WAHLFREIHEIT
Ein Tag wie jeder andere
Mittwochmorgen. Sie sind gerade aufgestanden, und das einzig Ausgeschlafene in diesem Moment ist die »Einen wunderschönen guten Morgen!«-Stimme der Radiomoderatorin, die das heutige Telefonspiel erklärt. Eine Reise nach Mauritius können Sie gewinnen, wenn Sie jetzt ganz schnell anrufen und den Werbespruch des Senders vorsingen. Auf Mauritius, tja, da wäre es jetzt wärmer. Dort bräuchten Sie nicht den Bericht zu schreiben, den der Chef Ihnen gestern zur »Überarbeitung« wieder auf den Schreibtisch gelegt hat. Und es würden nicht diese gelben Klebezettel an der Tür hängen: »Stromrechnung überweisen!«, »Leere Flaschen wegbringen!« Der Wasserhahn tropft, und Sie erinnern sich dunkel, dass Sie sich schon vor drei Wochen darum kümmern wollten.
Ein Tag, nicht besser oder schlechter als die meisten in Ihrem Leben. Wenn Sie nach Hause kommen, werden Sie auf die immer gleiche Frage »Wie war’s heute im Büro?« die gleiche Antwort wie gestern und an den Tagen zuvor geben: »Wie immer.«
Vielleicht haben Sie sich früher einmal alles anders |16|vorgestellt. Aber das ist lange her. Es hat sich halt so ergeben. Fast wie von selbst. Inzwischen wissen Sie, dass »man sich nach der Decke strecken muss«. Sie funktionieren. Nur manchmal, wenn zusätzlich der Wagen nicht anspringt, der Mantel sich in der Autotür verklemmt und der Hausmeister Sie zum zehnten Mal daran erinnert, das Garagentor zu schließen, möchten Sie das alles abschütteln wie ein nasser Hund den Regen. Von wegen Mauritius!
Neben vielen kleinen Dingen, die einem das Leben schwer machen, gibt es noch die wirklich belastenden Probleme: Vor Kurzem ist auch in Ihrem Unternehmen der Begriff Stellenabbau gefallen. »Sie wissen ja, wir sind in unserem Unternehmen eine große Familie. Und nun hat unser Familienoberhaupt einen Beschluss gefasst: Sie werden bald das Nest verlassen müssen.« Wen wird es zuerst treffen? Welche Zukunft erwartet Sie, wenn Sie den Schwarzen Peter ziehen? In diesen Zeiten scheint es auf jeden Fall klug, sich ruhig zu verhalten und nicht unangenehm aufzufallen. Vielleicht hätten Sie vor einem Jahr die Stelle in München annehmen sollen, die Ihnen angeboten worden war. Damals dachten Sie aber an die Kinder, denen Sie einen Umzug nicht zumuten wollten (sie hatten sich gerade gut eingewöhnt, die lang ersehnten Freunde gefunden – es ging einfach nicht!). Außerdem war da das Häuschen, das Sie wenige Jahre zuvor gekauft und gerade fertig eingerichtet hatten.
Vielleicht sind es auch andere Lebensumstände, die Sie beschäftigen: Sie hetzen von einer Verpflichtung zur anderen und reiben sich auf. In Ihrer Beziehung kriselt es schon seit längerer Zeit. Die Kredite auf das Haus |17|müssen abbezahlt werden. Die Schwiegermutter ist ein Pflegefall. Auf die Pflegestation eines Altenheims wollen Sie sie nicht abschieben, aber Sie haben schon länger keinen richtigen Urlaub mehr gemacht. Da sind möglicherweise die Folgen einer früheren Heirat. Die Unterhaltszahlungen. Als Alleinerziehende: Kochen, Waschen, Kinder betreuen, Geld verdienen. Vielleicht macht es Ihnen auch einfach zu schaffen, dass Sie die großen Ziele aufgegeben haben und Ihre Lebensträume nun im Kino verwirklicht sehen.
»Ja, wenn …«, fangen Sie dann an und zählen all die Umstände, Sachzwänge, Verpflichtungen auf, aus denen die Routine Ihres Alltags besteht und auf die Sie am liebsten sofort verzichten würden. Eine lange Liste? Und eins passt irgendwie zum anderen? Bis Sie am Ende wieder überzeugt sind, dass das alles so sein muss und Sie gar nicht anders können? Nicht, weil Sie es so wollen, sondern weil »die Umstände« so und nicht anders sind?
Ich möchte Ihnen einen Gedanken zumuten, der – anstelle einer Antwort, wie Sie dieses oder jenes Detail in Ihrem Leben abändern könnten – auf den Ausweg verweist und Ihnen das zurückgibt, was Sie brauchen, um der Unzufriedenheit zu entkommen: Wahlfreiheit. Dieser Gedanke lautet: Sie haben Ihr Leben, so wie es jetzt ist, frei gewählt. Diesen Alltag, diesen Job, diesen Chef, diese Kollegen, diese Wohnung, diese Stadt, diesen Partner (oder auch Ihr Single-Dasein) – all das und alle anderen Umstände sowie Begleitumstände Ihres Lebens: Sie haben sie gewählt. Dafür sind Sie verantwortlich. Und nur Sie. Egal, welche Motive Sie hatten, einerlei, was Sie bewog: Sie haben es sich ausgesucht. |18|Sie haben alles, was jetzt ist, entschieden und damit selbst gewählt – und Sie können all dies auch wieder abwählen. Dafür wäre dann wieder ein Preis zu zahlen. Wie hoch der ist, entscheiden nur Sie selbst.
So lässt sich unsere Wahlfreiheit zusammenfassen:
Sie können alles tun.
Alles hat Konsequenzen.
Einfache, klare Sätze. Aber offenbar schwer verdaulich. Ich habe bis heute nahezu ausschließlich Menschen kennen gelernt, die zwar – einerseits – alles tun wollen, aber – andererseits – den Preis dafür nicht zahlen wollen. Mit jeder Wahl sind aber zwangsläufig bestimmte Auswirkungen verbunden, die wir gleichzeitig mitwählen. Es gibt keinen Trick in der Welt, der es uns erlaubt, diesen Konsequenzen auszuweichen. Aber genau das scheinen alle zu erwarten. Und wenn das nicht gelingt, nicht gelingen kann, fangen sie an zu jammern.
Ein wunderbares Geschenk
Jede Ameise weiß, was sie zu tun hat, sobald sie dem Ei entschlüpft ist. Sie hat – wie alle Tiere – ein festes Programm, nach dem sie lebt. Sie hat einen Instinkt, der ihr auf jeden Reiz unverrückbar die Reaktion vorgibt.
Anders der Mensch. Er folgt keinem Schema F. Er wird nicht einfach von Instinkten gesteuert. Er ist frei – das heißt, er kann wählen, was er in einer bestimmten Situation tut. Ein Tier verhält sich, der Mensch handelt. Eigentlich ein wunderbares Geschenk, oder?|19|
Das Problem ist: Die meisten Menschen haben vergessen, dass sie wählen. Sogar täglich wählen. Sie vergessen einfach, dass sie sich für diese Lebensumstände täglich neu entscheiden. Dass sie sie auch abwählen könnten, wenn sie wollten, und es aus Gründen nicht tun, für die nur sie selbst verantwortlich sind. Dass sie diesen Ehepartner, der vielleicht schon länger nicht mehr ihre Leidenschaft entfacht, jeden Tag wieder und wieder wählen. Dass sie zu diesem Chef, über den sie sich mit periodischer Regelmäßigkeit bis zur Weißglut ärgern, jeden Tag Ja sagen. Ebenso zu dem Stau, in dem sie jeden Morgen stehen. Die Vereinskollegen, die so furchtbar lahm sind und überhaupt nicht aus den Sträuchern kommen – sie wählen sie täglich. Ihr Übergewicht, auch das wählen sie täglich. Das Gehalt, das natürlich immer ein wenig zu niedrig ist, auch das wählt jeder Einzelne von uns an jedem Letzten oder Ersten des Monats.
Ein Beispiel: Sie sollten eigentlich die Unterlagen für die Versicherung bearbeiten, die schon vergangene Woche angemahnt wurden. Stattdessen lesen Sie dieses Buch. Was Sie momentan eigentlich tun wollen, ist – dieses Buch zu lesen! Wenn Sie etwas »eigentlicher« wollten, würden Sie es tun. Mehr noch: Es gibt in Ihrem Leben im Augenblick nichts Wichtigeres, als dieses Buch zu lesen.
Eine etwas vollmundige Behauptung? Prüfen Sie den Gedanken: Wenn es etwas Wichtigeres gäbe, würden Sie es schlicht tun. Sie würden keine Sekunde zögern. Sie würden jetzt das Buch zur Seite legen. Niemand könnte Sie aufhalten. Wenn Sie also weiterlesen, dann haben Sie Preise verglichen, sich entschieden, es sich ausgesucht.|20|
Das, was Ihr Leben im Moment ausmacht, ist der Weg, den Sie gewählt haben. Es gibt immer auch einen anderen Weg, etwas zu tun. Meistens auch mehr als einen. Doch viele halten an einer Methode fest, ein Ziel zu erreichen oder ein Problem zu lösen. Sie kommen gar nicht auf die Idee, einen anderen, vielleicht den eigenen, den besonderen Weg zu gehen. Statt es auf eine alternative Weise anzugehen, verdoppeln sie ihre Anstrengungen. Und wenn es dann nicht funktioniert, resignieren sie. Schließlich geben sie auf. Dabei liegt die Wahl immer in ihrer Hand.
Hinter selbst gewählten Gittern
Viele Angestellte rechtfertigen beispielsweise ihre Versetzung in eine andere Stadt oder gar in ein anderes Land gegenüber ihrer Familie oft damit, dass sie »keine andere Wahl« gehabt hätten. Ich will nicht Entscheidungsprozesse verharmlosen, die persönlich oft als dramatisches Wechselbad der Gefühle erlebt werden. Ich kenne diese innere Zerrissenheit aus eigener Erfahrung und weiß, wie belastend sie ist. Wenn sie sich aber so entschieden haben und was immer sie dabei auch empfinden: Sie haben die Ansprüche ihrer Familie abgewählt zugunsten der Ansprüche ihres Unternehmens.
Vielleicht bedroht diese Klarheit ihr Rollenverständnis vom guten Vater oder von der guten Mutter. Schließlich wollen sie als fürsorglicher Elternteil gelten. Da ist es naheliegend, auf einen bekannten Trick zurückzugreifen: Die anderen werden Verständnis haben, wenn |21|sie erzählen, dass sie doch letztlich keine Wahl hatten. Doch! Die hatten sie. Sie wollen aber für ihre Entscheidung nicht geradestehen. Wie Kinder, die glauben, nicht gesehen zu werden, wenn sie die Augen schließen.
Auf einer Zugfahrt kam ich mit einem städtischen Beamten ins Gespräch, der sich über die weitaus besseren Verdienstmöglichkeiten in der Wirtschaft beklagte. Ich wandte ein: »Als Sie Beamter wurden, wussten Sie doch, dass Sie mit dieser Wahl das Gelübde auf lebenslange Armut abgegeben haben. Außerdem können Sie doch jederzeit Ihren Beamtenstatus aufgeben und sich einen Job in der Wirtschaft suchen.« »Aber die Arbeitsplatzsicherheit, der Leistungsdruck, die Pension …«
»Darf ich es in meinem Leben so haben, wie ich es gerne hätte?« Sie haben es so! Auch wenn es sich noch so hart anhört: Sie sind nicht gezwungen worden, Ihr Leben in der gerade praktizierten Form zu leben. Dem liegen Entscheidungen und damit abgelehnte Alternativen zugrunde. Mögen diese auch noch so abwegig sein. Immer dann, wenn Sie anfangen, über etwas zu lamentieren – dann haben Sie vergessen, dass Sie es sich ausgesucht haben.
Preisvergleich
»Ich möchte dich gerne heiraten«, sagt die Frau zu ihrem Geliebten. »Glaube mir, ich wünsche mir nichts sehnlicher auf dieser Welt. Aber ich kann mich nicht von meinem Mann trennen. Er würde es nicht überstehen. Er braucht mich. Ohne mich kann er nicht |22|leben.« Worte, die in so manchem Liebesdrama fallen und die Sie so ähnlich vielleicht auch schon einmal gehört haben. Jedoch: Kann sich diese Frau nicht trennen? Ist es nicht die Loyalität gegenüber ihrem Mann und ihre Sorge um sein Wohlbefinden, die sie bei ihm bleiben lassen? Hat sie sich nicht für bestimmte Werte und gegen andere entschieden?
Alle Menschen wollen ein gutes, ein gelungenes Leben führen. Aber nur wenige sind bereit, den Preis zu zahlen, der in der Regel dafür fällig ist. Sie sind nicht bereit, das Opfer zu bringen. Sich anzustrengen. Etwas anderes hintanzustellen. Eventuell sogar Regeln zu brechen, die ihnen Tradition und Erziehung mit auf den Weg gegeben haben. Wie oft träumen wir davon, alles stehen und liegen zu lassen: das langweilige Vorstadtdasein, die freudlose Arbeit, den Chef, der nicht sieht, was wir leisten, und stattdessen permanent Druck macht. Wäre es nicht toll, einfach einen Schnitt zu machen? Noch einmal völlig neu anzufangen? Am besten an einem anderen Ort? Wir spüren, welche Potenziale noch in uns schlummern und wie viel Energie wir freisetzen würden, wenn wir genügend Freiraum hätten.
Gerade Menschen in der Lebensmitte leiden häufig unter einer Art »Festlegung«: Wenn nichts Entscheidendes geschieht, werde ich die mir verbleibenden Lebensjahre auf die immer gleiche Weise verbringen. Alle Entscheidungen sind getroffen. Meine Ehe ist so, wie sie ist; mein Beruf steht ebenso fest … Zweifel nagen: War das alles richtig so? Hätte ich Besseres erreichen können, wenn ich mich anders entschieden hätte? Ist es jetzt zu spät, die Weichen neu zu stellen? War das jetzt schon alles?|23|
Auch wenn es sich seltsam anhört: In jeder Sekunde unseres Lebens sind wir frei, alles über den Haufen zu werfen und neu zu beginnen. Dennoch schöpfen die meisten Menschen diese Freiheit nur selten aus, ja sie sind sich ihrer Freiheit gar nicht bewusst. Der Preis scheint zu hoch. Aber sind die Folgen einer Neuentscheidung wirklich so schrecklich? Was würde schlimmstenfalls passieren, wenn Sie einen Strich zögen und zum Beispiel Ihren Job hinwerfen würden? Erwartet Sie die Arbeitslosigkeit? Fürchten Sie Statusverlust, einen Karriereknick? Würden Sie die Selbstachtung verlieren, weil Sie glaubten, versagt zu haben? Hätte das Wohlleben ein Ende? Müssten Sie vielleicht Ihr Auto verkaufen?
Oder was würde geschehen, wenn Sie jemandem die Freundschaft aufkündigten? Wenn Sie ihm in aller Deutlichkeit sagten, dass Sie mit ihm nichts mehr zu tun haben wollen? Oder: Was, meinen Sie, wären die Folgen, wenn Sie etwas täten, das niemand in Ihrem Freundeskreis oder Ihrer Familie von Ihnen erwartet hätte? Fürchten Sie Liebesverlust? Dass die anderen Sie nicht mehr mögen? Wenn das zutrifft, dann ist es Ihnen wichtiger, als Ihr eigenes Leben zu leben. In Ordnung, dafür haben Sie sich entschieden.
Ich argumentiere hier nicht moralisch. Mir geht es um die Definition des Preises. Niemandem steht es an, für jemand anderen zu definieren, dass dieser oder jener Preis höher oder niedriger zu bewerten sei. Das ist ausschließlich eine Frage der persönlichen Einschätzung.
Wofür der eine seinen Job kündigt, ringt dem anderen nur ein müdes Lächeln ab. Wofür der eine sein Leben hingibt, gilt dem anderen nichts. Auch wer sich |24|umbringt, wählt die – aus seiner Sicht – bessere Alternative. Wenn Sie aber mit allen Gegebenheiten in Ihrem Alltag leben können, nur zum Beispiel nicht mit der Tatsache, dass Ihre Wohnung an einer viel befahrenen Straße liegt, dann gibt es Hunderte von Wohnungen, die ruhiger gelegen sind. Sie können dort hinziehen. Dafür ist dann ein Preis fällig. Auch wenn Sie mit allen Umständen in Ihrem Job leben können, nur nicht mit der Tatsache, dass Sie zu wenig Geld verdienen, dann gibt es zahlreiche Alternativen, die Ihnen ein Vielfaches einbringen. Auch dafür ist dann ein Preis fällig. Der neue Job ist vielleicht nicht so angenehm oder liegt in einer anderen Stadt und setzt sogar die Trennung von Ihrer Familie voraus. Vielleicht verlangt er Ihnen auch ab, sich die Hände schmutzig zu machen oder gar Ihre Haut zu Markte zu tragen. Das wollen Sie nicht? Dann ist es Ihnen auch nicht wichtig genug, mehr Geld zu verdienen. Dann haben Sie sich dagegen entschieden.
Grundsätzlich gilt:
Wer sagt: »Ich kann nicht«, der will nicht.
»Das ist doch Theorie!« Ist es das? Alles nur Theorie? Das Argument trifft daneben, wobei ich weit entfernt bin, jemandem zu empfehlen, er solle seinen Job aufgeben. Viele Menschen indes haben sich im Laufe der Jahre derart im Wohlstand eingerichtet, dass schon allein die Verlustangst zur Zwangsjacke und die Freiheit der Wahl vergessen wird.
Konsequent gedacht: Man ist nicht bereit, die Annehmlichkeiten zu opfern, auf der anderen Seite aber |25|bereit, täglich zu einem verhassten Arbeitsplatz zurückzukehren und sich schikanieren zu lassen. Dieser Preis wird gezahlt, der andere nicht. Das ist die Entscheidung. Sie hätte auch anders getroffen werden können.
Die kalten Duschen des Lebens
Oft erscheint nichts schwieriger, als eine klare, bewusste Entscheidung zu treffen. Wir werden kaum alle Auswirkungen unserer Entscheidung gedanklich vorwegnehmen können. Wir sind fast immer gezwungen, aufgrund unvollständiger Informationen zu wählen. Die vielen Möglichkeiten liegen gewissermaßen hinter einer Milchglasscheibe. Oder, wie der Philosoph Immanuel Kant es einst ausdrückte: »Die Notwendigkeit zu entscheiden übersteigt die Möglichkeit zu erkennen.« Warten auf uns vielleicht hinterher noch mehr Probleme als vor unserer Entscheidung?
Außerdem sind wir natürlich äußeren Einflüssen ausgesetzt. Wählen ist natürlich nur im Rahmen der Naturgesetze möglich; wir können das Gravitationsgesetz nicht außer Kraft setzen. Und die wenigsten von uns leben einsam auf einer Insel. Wir sind soziale Wesen und brauchen andere, um unsere Ziele zu erreichen. Nicht zuletzt stoßen uns Ereignisse zu, die nicht im Bereich unserer Kontrolle liegen: politische, wirtschaftliche, gesundheitliche. Oft tun wir uns auch einfach nur schwer mit den Konsequenzen unserer Entscheidungen. Sie sind nicht immer vorhersehbar und |26|vor allem nicht immer angenehm. Ja, es gibt sie, die kalten Duschen des Lebens. »Das habe ich nicht gewählt«, protestieren wir dann, »das ist mir zugestoßen!« Mag sein.
In einem erweiterten Sinne haben Sie aber die Konsequenzen Ihrer Wahl der Möglichkeit nach alle mitgewählt. Das Leben ist immer lebensgefährlich. Der Philosoph Martin Heidegger schreibt: »Wenn der Mensch geboren ist, ist er bereit zu sterben.« Wenn ich bei einem Erdbeben von der herabstürzenden Zimmerdecke erschlagen werde, so geht dem – so absurd es zunächst auch klingen mag – die Wahl voraus, in überdachten Räumen zu leben. (Einige Naturvölker weigern sich deshalb, Häuser zu betreten.) Oder die Klage über den sogenannten »Zufall«, dass jemand an der nächsten Straßenecke überfahren wurde. So tragisch und traurig das im Einzelfall sein mag: Wenn jemand gewählt hat, am Straßenverkehr teilzunehmen, hat er grundsätzlich auch die Möglichkeit mitgewählt, überfahren zu werden.
Das mag manchem zu allgemein und grundsätzlich sein. Aber Sie werden sich kaum dem Gedanken verschließen können, dass Sie zumindest verschiedene Wahlmöglichkeiten haben, auf die Ereignisse zu reagieren. Dass Unvorhersehbares auftritt, mag nicht Ihre Wahl sein. Wie Sie darauf reagieren, schon.|27|
DER MYTHOS DER SACHZWÄNGE
Wer sitzt am Steuer?
Wer sitzt am Steuer Ihres Lebensautos? Sie selbst oder Ihr Chef? Sie oder Ihr Ehepartner? Sie selbst oder das Geld, das Schicksal, die Verhältnisse? Lassen Sie »die Umstände« steuern? Oder sind Sie gar Opfer einer mächtigen internationalen Verschwörung mit dem Namen »die anderen«?
Sachzwänge scheinen besonders geeignet, der Freiheit eine Absage zu erteilen. Denn wer sich dem Sachzwang beugt, tut, was zu tun ist, beziehungsweise lebt so, wie alle leben. Man will ja kein Außenseiter sein. In der Tat ist der Weg der Notwendigkeit viel gebahnter als der der Freiheit. Das ist vertrautes Gelände, die Sicherheit des Bewährten. Aber gibt es Sachzwänge wirklich? Ist der Hinweis darauf nicht vielmehr eine Denkfaulheit, Bequemlichkeit, ein vorgeschobenes Argument? Meine These ist:
Es gibt keine Sachzwänge.
»Ich hatte doch damals keine Wahl!«, heißt es empört, und schnell sind sie zur Stelle: Familie oder Immobi|28|lie. Vielen ist einfach nicht bewusst, dass sie gewählt haben. Sie bauen sich über Jahre und Jahrzehnte ihre Lebensumstände zusammen, als deren Opfer sie sich danach erleben. Richtig aber ist: Alles, was im Augenblick ist und geschieht, ist die Folge von Entscheidungen, die Sie irgendwann vorher in Ihrem Leben getroffen haben – ob Ihnen das nun gefällt oder nicht. Sie haben vielleicht nicht auf genau dieses Ergebnis gezielt, das mag sein. Aber dennoch ist es eine Konsequenz Ihrer früheren Entscheidung. Vielleicht haben Sie diese Entscheidung auch nicht sehr bewusst, nicht sehr aufmerksam, nicht in klarer Sicht der Alternativen getroffen und halten sie deshalb nicht für eine Entscheidung. Oder die abgewählte Alternative erschien Ihnen so absurd, dass Sie sie nicht wirklich in Erwägung gezogen, nicht wirklich ernsthaft geprüft haben. Diesem »Nicht-wirklich-in-Erwägung-Ziehen« ist aber schon immer eine Wahl vorausgegangen, die meist eine Entscheidung für ganz bestimmte Werte oder Lebensweisen beinhaltete. So wurde Ihre Berufswahl vielleicht vom Gedanken beeinflusst: »Bei einem anderen Job droht mir später doch die Arbeitslosigkeit.« Das schien Ihnen keine »wirkliche« Alternative, die Sie hätten wählen können, weil Sie zuvor schon eine Entscheidung für ein Leben »jenseits der Sozialhilfe« getroffen hatten.
Ein Bekannter erzählte mir, er sei als kleiner Junge fasziniert von der Seefahrt gewesen. Das Meer, die großen Schiffe, die weite Welt hätten auf ihn eine ungeheure Anziehungskraft ausgeübt. Seine Eltern erzählten aber allen Bekannten schon seit er drei Jahre alt war, dass er sicher einmal Mediziner würde und die elterliche Praxis übernähme. Nach dem Abitur lieb|29|äugelte er tatsächlich kurzzeitig mit der Idee, zur See zu fahren. Die Nachricht von der drohenden Medizinerschwemme bewegte ihn stattdessen, noch eben das Studium anzuhängen. Im Urlaub am Meer, den er sich nach dem Studienabschluss gönnte, ergriff ihn wieder die Sehnsucht. Doch als er zurückkehrte und der Universitätsprofessor ihm nachdrücklich zur Promotion riet, begrub er seinen »unrealistischen« Traum endgültig. Heute, mit gut gehender Praxis, erscheint ihm der Gang der Dinge irgendwie »natürlich« und »vernünftig«. Heimlich bedauert er, das Seemannsleben nie ausprobiert zu haben. Er hat aber auch nicht das Gefühl, dass jemals wirklich eine Entscheidung anstand. Was er nicht sieht: Er hat eine Wahl getroffen. Er hat sich früh entschieden, den Kampf mit den Eltern nicht aufzunehmen. Er hat sich für die Fortsetzung der Familientradition entschieden sowie für Wohlstand, soziales Ansehen und Sicherheit. Gleichzeitig hat er die Möglichkeit eines aufregenden, spannenden, abenteuerlichen Lebens, das mit vielen Unwägbarkeiten einhergeht, abgewählt. Und er wählt sie jeden Tag erneut ab. Darüber zu urteilen steht niemandem an. Aber weil er die Alternative nicht ernsthaft geprüft hat, erinnert er sich nicht mehr, dass er gewählt hat und wählt.
Für viele gehört der Sachzwang einfach nur zu jener Diagonale des Erfolgs, die von links unten nach rechts oben verläuft. Viele haben sich ihren Sicherheitscontainer so luxuriös ausmöbliert, dass es ihnen geradezu absurd erscheint, etwas davon aufs Spiel zu setzen. Die Ketten aus Gold binden ebenso wie die Ketten aus Eisen. Das führt dann zu der bekannten Verfettung der Herzen und der Bankkonten.|30|
Und in der Tat kann der Preis aus der Sicht des Einzelnen außerordentlich hoch sein. Doch darum geht es mir hier gar nicht, denn keineswegs will ich jemandem leichtfertig nahe legen, seinen Wohlstand und die Sicherheit stabiler materieller Verhältnisse zu opfern. Das Problem ist, dass viele nicht bereit sind, für die Auswirkungen ihres Festhaltens Verantwortung zu übernehmen, sie als Resultat ihrer Entscheidung anzuerkennen und die Unbeweglichkeit als Preis zu zahlen.
Je mehr Dinge Sie haben, desto mehr haben die Dinge Sie.
Jeder Komfort muss bezahlt werden. Es heißt ja nicht zufällig »Immobilie« – sie macht immobil. Und so kenne ich zahlreiche Menschen, die bereit sind, in ihrem Arbeitsleben täglich Abwertungen und Respektlosigkeiten hinzunehmen sowie ihre Würde und ihren aufrechten Gang zu opfern, die aber nicht bereit sind, auf ihren Sechszylinder zu verzichten. Dazu entscheiden sie sich täglich. Das ist ihre Wahl.
Gehen wir ins Extrem und jeder prüfe sich selbst: Wer hindert Sie, den Traumjob als Segellehrer in der Karibik anzunehmen? Wer hindert Sie, die fehlende Ausbildung nachzuholen, die Arbeitsgenehmigungen zu beantragen, die Einreisebestimmungen zu prüfen? Sie selbst ganz allein. Sonst niemand. Sie wollen auf die Annehmlichkeiten Ihres vollklimatisierten Sicherheitscontainers nicht verzichten. Das will ich keineswegs kritisieren. Aber beschuldigen Sie nicht Ihre Familie, die Umstände … All das können Sie abwählen, wenn Sie wollen. Wenn Sie es nicht wollen und weiter so leben wie bisher, dann tun Sie es in dem Bewusstsein, |31|diese Umstände gewählt zu haben. Sie haben die Wahlfreiheit! Damit entfällt jede Grundlage der Schuldzuweisung. Und damit entfällt jede Grundlage des »Ich kann ja nicht, weil …«
Opfer der Umstände?
Ich erinnere mich noch gut an die Reaktion meines Vaters, als wir über den Gedanken der Wahlfreiheit sprachen. Väterlich milde und seine ganze Lebenserfahrung ausspielend, meinte er: »Das hast du wohl auf der Universität gelernt. Das Leben, das sieht doch ganz anders aus.« Zum Beweis verwies er auf seine Erinnerung an die NS-Zeit: »Man hätte uns doch damals an die Wand gestellt.« Bums! Da war es, das Mega-Argument, von denen ich später in meinem Berufsleben noch so viele ähnliche hören sollte (neuerdings: »Ich kann da als Politiker nichts machen, ich folge nur den Vorschriften aus Brüssel!«). Das Rädchen-Gerede der Manager, die Befehlsnotstands-Entschuldigung der Elterngeneration: Man verliert sich in der Bodenlosigkeit extremer existenzieller Bedrohungen, um das Prinzip der Wahlfreiheit zu widerlegen.
Es steht Kindern niemals an, die Motive ihrer Eltern zu bewerten. Dazu haben sie kein Recht. Und auch mir steht es nicht zu, die Entscheidung meines Vaters, sich nicht dem Widerstand gegen Hitler angeschlossen zu haben, zu kritisieren. Aber es gab Menschen, die haben sich »an die Wand stellen lassen«. Es war wählbar. Ich sage nicht, dass das eine moralisch hochstehend, das |32|andere feige ist. (In dieser Hinsicht sollten wir Zeitgenossen uns an die eigene Nase fassen.) Ich sage nur: So hoch der Preis auch sein mag, für die Konsequenzen seiner Entscheidung trägt mein Vater die Verantwortung.
Die Freiheit ist ein wundersames Ding. Die meisten von uns sehnen sich danach, schätzen sie als höchstes Gut. Gleichzeitig aber erschreckt sie viele Menschen zu Tode. Weil aus ihr auch Schuld resultieren kann. Schauen wir uns beispielsweise an, wie in modernen Gesellschaften Verbrechen reflektiert werden. Der Bildungsbürger führt sie auf die Gräuel desolater Familienverhältnisse, auf seelische Defekte und soziale Missstände zurück. Da müsse man ja geradezu »zwangsläufig« kriminell werden! Menschelnd werden die Dinge ins Gegenteil verkehrt: aus Tätern werden Opfer. Sie sind von vornherein unmündige Personen; ihr Rechtsbruch insofern verstehbar, ein Unfall. Der Unhold gehört dann in die Gesellschaft der Kranken, Armen und Ausgestoßenen, denen fürsorglich und therapeutisch zu begegnen ist. Ähnlich wie Krankheit heute kaum mehr der körperlichen Verfassung und der individuellen Lebensführung zugeschrieben wird, sondern dem Stress, dem Leistungsdruck oder anderen bösen Mächten, so werden Verbrechen entkriminalisiert: »Die Verhältnisse« sind schuld, nicht der Verbrecher.
Der Zweck dieser Umwidmung ist offensichtlich: Freiheit, Verantwortung und Schuld sollen ausgelöscht werden. Indem man das Böse zur seelischen Entgleisung verniedlicht und den Täter zum gestrauchelten Mitmenschen inmitten widriger Umstände verharmlost, ist letztlich niemand mehr für die Tat dingfest zu machen. Außer |33|natürlich: »die Verhältnisse«. Dabei hält dieser Trick nicht einmal der einfachsten logischen Prüfung stand. Wie viele Menschen weisen ähnlich misslungene Biografien auf, ohne kriminell zu werden? Wie viele Menschen fristen ein trostloses Dasein, ohne andere zu schädigen?
Für unsere Gesellschaft hat der Verweis auf »die Verhältnisse« katastrophale Folgen: Indem man Täter zu Opfern einer biografischen Fehlentwicklung umtauft, lädt man dazu ein, sich selbst als Opfer zu fühlen. Der Einzelne mag sich fragen: Habe ich nicht auch ein Handicap, weil meine Eltern sich trennten, als ich erst vier Jahre alt war? Bin ich nicht auch benachteiligt, weil ich nicht studiert habe? Darf ich mich nicht jetzt – im Umkehrschluss – schadlos halten am Staat, an den Sozialversicherungen, den anderen?
Vielleicht können sich noch einige von Ihnen an Plakate aus der Zeit des Kalten Krieges erinnern: »Stell dir vor, es gibt Krieg und keiner geht hin.« Sie mögen über die freche Wendung geschmunzelt haben – worauf hier so überraschend und provokant hingewiesen wurde, war die Tatsache, dass nicht Generäle, Verteidigungsminister oder der »militärisch-industrielle Komplex« den Krieg diktieren. Es ist jeder Einzelne, der sich entscheidet, in den Krieg zu ziehen. Niemals kämpft »eine Nation« oder »ein Volk«. Auch wenn es sich sehr unbequem anhört: Es sind die Einzelnen, die die Wahlentscheidung für oder gegen den Krieg treffen. Damit sage ich nicht, dass ein Krieg geführt oder nicht geführt werden sollte. Ich sage, dass Kriege geführt werden, weil Individuen sich entschieden haben, die Uniform anzuziehen und das Gewehr zu schultern. Individuen, keine Nation oder eine Gruppe von Nationen. Das gilt |