An zwei Meeren - Rüdiger Preuss - E-Book

An zwei Meeren E-Book

Rüdiger Preuss

0,0

Beschreibung

Nach dem Tod ihrer Mutter reist Dagmar an die Nordspitze Dänemarks, nach Skagen. Vor über hundert Jahren entdeckte eine Gruppe von Künstlern diesen Ort mit seinem magischen Licht, das durch das Zusammenströmen von Nord- und Ostsee entsteht. Hier, wo sich die zwei Meere treffen, vermischen sich für Dagmar Werden und Vergehen, Ankunft und Abschied, Vergangenheit und Gegenwart.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 104

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Prolog

Die Stadt Skagen liegt an der nördlichsten Stelle Dänemarks. Der Name ist altnordisch und bedeutet Landspitze. Im Sommer ist die Stadt ein gut besuchter Urlaubsort mit seinen breiten Stränden und idyllisch gelegenen Ferienhäusern in den Dünen. Besonders im alten Kern der Stadt, in Gammel-Skagen, gibt es noch viele der typischen kleinen Steinhäuser mit ihrem gelben Putz, ihren roten Ziegeldächern und den weißen Dachfugen, die in früheren Zeiten den Fischern zur Orientierung dienten.

Etwas nördlich der Stadt liegt Grenen. Hier treffen sich die zwei Meere. Ostsee und Nordsee. Grenen bedeutet „Zweig“ und wie ein schmaler Zweig aus Sand, immer wieder umgeformt von Wind und Wellen, ragt er ins Meer. Der Ort ist in den Sommermonaten neben der versandeten Kirche, der riesigen Wanderdüne Råbjerg Mile und dem Museum der Skagen-Maler das beliebteste Ziel für die Touristen.

Unzählige Besucher haben sich hier schon ihrer Schuhe und Socken entledigt, die Hosenbeine aufgekrempelt und sich in das seichte Wasser begeben, die Zehen von nassem Sand umwölkt. So steht man gleichzeitig in zwei Meeren. Dann winkt man fröhlich in die Ferienkamera. Das ist natürlich erlaubt. Verboten hingegen ist das Baden und Schwimmen, denn dort, wo sich die Meere treffen, gibt es gefährliche Strömungen mit einem tödlichen Sog.

Gut sichtbar stehen einige Warnschilder am Strand. In drei Sprachen.

Vorsicht, Lebensgefahr!

Dazu eine schlichte Zeichnung, wie ein Mensch in angedeuteten Wellen mit aufgerissenem Mund hilfesuchend die Arme gen Himmel streckt.

Lange vor den Sommergästen und Touristen, Ende des 19. Jahrhunderts, kamen die Maler. Diese Maler waren es, die jenen Landstrich für sich entdeckten, die kleine Stadt und Brøndums Hotel, eine Pension, in der sie abstiegen und wo sie die Zimmermiete oft mit ihren Bildern bezahlten.

Sie malten in den Dünen und am Strand, sie malten die einfachen Menschen, die Fischer und Bauern, alte Frauen und Kinder. Und sie fanden das Licht, das strahlende Licht der Sommermonate, wenn das Meer und der Himmel eins waren in leuchtenden Blautönen, wenn alles wie erfüllt war von diesem Licht, der feine Sand der Dünen, das Gras und die vorbeiziehenden Wolken. In allem war dieses besondere Licht und die Maler fanden es in den Farben und gaben ihm einen Rahmen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

1

Dort, wo der Maler aufwuchs, gab es kein strahlendes Licht, nur das Glühen der Kohlen im Eisenofen und das graue Tageslicht hinter schmutzigen schmierigen Scheiben, die auch diese Helligkeit in rußigen Nebel verwandelten. Für den Jungen war es, als sei die Welt unter ständigem Dunst gefangen und würde sich nie daraus befreien können. Seine Mutter, seine arme Mutter, jung, aber früh gekrümmt und verloren, war wie ein winziges Staubkorn in einem riesigen Raum voller Staub. Staub, in dem die Schreie verschluckt wurden, um als angstvolles Gestammel wieder aus den Körpern hervorzubrechen. Körper, die von Leinenhemden, Lederriemen und Beinfesseln niedergehalten wurden. Körper, die wie besessen zuckten und gegen Mauern stießen, und die von den Ärzten mit einer Mischung aus wissenschaftlicher Neugierde und religiösem Grauen beobachtet und untersucht wurden. Ärzte, die sich hilflos abwandten und alles Weitere den Pflegern und Hilfskräften überließen, groben Männern und Frauen.

Ein Kerl, mit kurz geschorenen Haaren und schwer wie eine Tonne voller Branntwein, kümmerte sich besonders um die Mutter des Jungen, die zu der Zeit noch nicht seine Mutter war, sondern nur eine hübsche junge Frau, die aus dunklen Gründen heraus seltsam wurde.

Man vermutete nächtliche Schandtaten und Verfehlungen, unbeweisbar, unbewiesen; eine junge Frau, die vielleicht aus Trotz und Eigensinn gegen alle Gebete und angezündeten Kerzen war, unempfänglich in den kirchlichen Seitengängen und Beichtstühlen. Eine Frau, die zudem häufig die Kontrolle über Nerven und Muskeln verlor und dann, wie und wo es ihr gerade passte, einen ekstatischen Tanz hinlegte, in holprigen nächtlichen Gassen, wo sie die alten Steine mit fliegendem Schaum schmückte und mit den Fingern Löcher in den Nachthimmel riß. Mit verzerrtem Gesicht, aber schönen glatten Gliedern, wurde sie weggebracht, dorthin, in einen Keller, wo der Pfleger sich fürsorglich ihrer schwellenden Reize annahm und sie auf seine Art zur Ruhe brachte, unter dem selben Himmel und dem selben Mond, unter dessen Licht sie vorher noch getanzt hatte, oben auf der Erde.

So wurde in der Dunkelheit ein Junge empfangen und in einer anderen Dunkelheit zur Welt gebracht, der Dunkelheit des Vergessens. In einem Haus der Schreie, ohne das Licht, das jedem Neugeborenen scheinen sollte, ein vom Schöpfer gesandtes Licht, das Licht, das immer neu geboren wird, das Licht, in dem der Sohn Gottes über die Erde wandelte. Würde auch dieses verfluchte Haus einst unter dem Beben Gottes einstürzen wie einst der Tempel über der sündigen Stadt? Sicher nicht, dachte der Junge, er wusste bald, er musste fliehen, hinaus in das Licht, aber konnte er die Mutter allein lassen?

Die Tage kamen und gingen wie eine lange Eisenkette, die in das Meer der Zeit hinunterführte.

Er entkam durch die Hilfe eines Arztes, einer mitfühlenden Seele. Ein Mensch, der in seinem verzweifelten Versuch, den anderen Menschen in den Zimmern zu helfen, ziellos durch die Schlafräume und trüben Gänge der Anstalt irrte. Er sah den Jungen in einer Ecke sitzen und bei äußerst spärlichem Licht etwas mit einem Bleistiftstummel zeichnen. Was zeichnete er? Der Arzt beugte sich herab und besah sich die Bilder, während der Junge ängstlich zu ihm hoch sah. Er besah sich die Seiten, es waren herausgerissene Seiten aus irgendeinem Protokollheft, das die Pfleger führten. Sie alle zeigten eine Welt außerhalb der Dunkelheit, eine Welt, die hinter den Mauern lag, Zeichnungen von Bäumen und Flüssen, von Tieren auf der Erde und Vögel am Himmel. Woher kannte der Junge das? Vielleicht von kurzen Spaziergängen in der Stadt, vielleicht aus Erzählungen der Mutter, möglicherweise aus Büchern, von denen es einige in der Anstalt gab. War schon das Licht in diesen Kinderzeichnungen zu finden? Der Arzt wusste es nicht, aber für ihn war es, als hätte die junge Hand des Künstlers in ihm selbst ein Licht entzündet, und schon am nächsten Tag sorgte er dafür, dass der Junge außerhalb der Anstalt zu einer Pflegefamilie und in eine Schule kam. Seine Mutter begriff zuerst gar nichts, schüttelte Mähne und Kopf wild umher, verzog das Gesicht, ahnte den nahenden Verlust und jammerte, während der Junge vor ihr stand, an der Hand des Arztes, und ebenfalls weinte.

Die Mutter schien gerade einen besonders qualvollen Tanz hinlegen zu wollen, da spürte sie, wie etwas in ihr zur Ruhe kam, sie wurde still, strich ihrem Jungen über die Wangen und lächelte sanft. Ja, sagte sie dann und nickte einige Male, ja, ja. Sie winkte dem Arzt und ihrem Sohn hinterher und sie winkte noch, ganz in Träumen und Trauer versunken, als die beiden längst den Raum verlassen hatten, den Hof überquerten und durch das Tor ins Freie gingen.

Der Pflegevater des Jungen war ein gelehrter und aufmerksamer Mann. Als er mit seinem Pflegesohn durch die Strassen der Stadt ging, an den vielen Kaufmannsläden vorbei, wurde ihm gewahr, dass der Junge besonders lange vor einem Kellerladen mit Zeichenmaterial stehenblieb. Auf die Frage, was er sich denn so lange ansehe, antwortete der Junge: den Malkasten.

Er besaß diesen Malkasten noch, als er längst erwachsen und ein bekannter Maler geworden war.

2

Der Maler hatte das Schiff gewählt, um nach Skagen zu kommen. Einige Zeit hatte er überlegt, den Landweg zu nehmen, aber die Aussicht auf eine Fahrt in einer unbequemen Pferdekutsche, für viele Stunden auf engem Raum mit anderen Fahrgästen, hatte ihn abgeschreckt. Die Aussicht, auf dem Meer zu segeln, erfüllte ihn zudem mit einer freudigen Neugierde.

Aber auf dem Schiff ging es rau zu und es war schmutzig. Der Maler betrachtete die Seeleute wie Fremde aus einer anderen Welt, diese Männer in ihren löchrigen Wollpullovern, Regenjacken und Stiefeln. Sie rochen nach engem Schlafraum unter Deck, nach Schweiß und Arbeit. Der Maler verbrachte so viel Zeit wie möglich an Deck, stand an der Reling und sah zu, wie das Schiff durch die Wellen pflügte, wie sie am Rumpf entlang brachen, wie der Wind in die Segel fuhr und wie unter seinen Füßen das Meer tobte.

Er zeichnete einige der Seeleute, ihre harten Gesichter, ihre Körper, die in den Wanten hingen, ihre Hände, die Taue griffen und blitzschnell Knoten knüpften. Er füllte einige Blätter und ließ sie dann, enttäuscht vom Ergebnis, irgendwo liegen. Einige Männer an Bord sahen sich die Zeichnungen an und waren beeindruckt von der Ähnlichkeit.

Einer war so begeistert, dass er immer wieder rief: Das bin ich, seht ihr, ich bin das. Er verstaute die Zeichnung unter der Matratze, um sie seiner Frau und seinen Kindern mitzubringen.

Das Schiff ankerte schließlich einige hundert Meter vom Strand entfernt und ein Fischer ruderte zu ihnen herüber, um den Maler zu holen. Der Fischer war sehr freundlich und hilfsbereit, verstaute die sperrige Staffelei in seinem Boot, den ledernen Koffer, half dem Maler selbst, seinen Platz auf der Holzbank im Boot einzunehmen, winkte den Kameraden an Bord des großen Schiffes zu und stemmte sich in die Ruder.

Am Strand half der Maler halbherzig. Er mühte sich ab, das Boot weit auf den Strand zu ziehen. Die Arbeit war ungewohnt, er schwitzte stark und schwieg verbissen.

Sie zogen mit einem beladenen Handkarren einen sandigen Weg entlang Richtung Stadt. Die Räder des Karrens blieben einige Male im Sand stecken.

Der Maler sah Felder und Dünen. Eine Einöde, fand er. Er sah Menschen auf den Äckern, Pferdewagen und Ochsenkarren. Er sah eine ärmliche Hütte mit Hühnern und Enten im Staub, ein Kind, das ebenfalls im Staub saß, mit nackten Beinen und schmutzigem Gesicht.

Der Maler hatte das Heimweh in den Augen. Sein Heimweh überschattete sein Fernweh. Der Schmerz zeigte sich auch in den eingefallenen Wangen, den müden Augen und der etwas gebeugten Haltung.

Der junge Mann atmete tief durch. Für ihn, der von der Universität kam, war das eine vollkommen fremde Welt, fremd wie das Leben auf den Booten, in den Hütten der Fischer und Bauern, auf den Strassen und engen Gassen, fremd wie die Herzen dieser Menschen, mit ihren Leidenschaften, Sorgen und Krankheiten. Wartete etwa hier eine Zukunft auf ihn, eine unerschöpfliche Zukunft, wie sie jeder junge Mensch erwartet, mit dem Drängen in die Welt hinein? Aber war das hier die Welt? Was tat er nur hier? Was oder wen sollte er hier malen? Wie sollte er hier arbeiten?

Warum hatte er sich nur von seinem Professor überreden lassen, den Sommer in diesem Ort zu verbringen, in dieser gottverlassenen Gegend? Warum war er nicht auf seiner friedlichen, gepflegten Universität geblieben mit ihren Rasenflächen und Backenbärten? Oder, noch besser, warum war er nicht gleich nach Kopenhagen gegangen, um dort in den bunten belebten Gassen zu bummeln, in Kaffeehäusern zu sitzen und Museen zu besuchen? Er dachte an die wuchtigen, schützenden Mauern der Universität, an die hohen Glasfenster, an die reiche Bibliothek. Er dachte an die jungen Mädchen in den Theatern und Varietés, an ihre seidenen Kleider und raffinierten Frisuren, und er dachte an all die herrlichen Bilder der großen Meister, die es zu studieren galt und die nun in weiter Ferne für ihn lagen.

Er seufzte. Der modrige Gestank von faulem Fisch und beißendem Rauch drang ihm in die Nase und über ihm in der Luft schrieen die Seevögel. Aber er hatte auch die Worte seines Professors im Ohr, wie eine eindringliche Litanei. Sie durchdrangen auch jetzt seinen Widerwillen und seine Müdigkeit.

Unbedingt, er müsse unbedingt und ohne Umschweife in den Norden fahren, nach Skagen, nur dort könne er finden, was ihm fehle.

Er werde ihm eine Adresse geben, die Adresse einer Pension, Brøndums Hotel.

„Sie haben Talent, junger Mann, ohne Frage, großes Talent, mehr als andere, aber das ist nicht alles, wissen Sie“, sagte sein Professor eindringlich und ernst.

„Es kann nicht alles sein. Wenn Sie wirklich ein großer Maler werden wollen, ein Künstler, dann müssen Sie dort hinauf.“

„Dort hinauf, in die Provinz?“ hatte der junge Mann gefragt und etwas herablassend gelächelt. Sogleich bedauerte er dieses Lächeln, denn er war ein junger Mann, der sich immer gelehrig gezeigt hatte und den Älteren immer mit Respekt, wenn nicht gar Ehrfurcht, begegnet war.

Da schien es ihm auch, als straffte sich die ganze Gestalt des alten Professors und als bekämen seine Augen einen kämpferischen Glanz, und der alte Mann nickte einige Male energisch.