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Julia Gärtner ist Anfang dreißig und als Eventmanagerin erfolgreich. Doch der Job überfordert sie. Der Arzt verordnet ihr eine Auszeit auf dem Land. Julias Mann Carsten akzeptiert, dass sie diese Zeit der Erholung allein verbringen sollte. In der abgelegenen Pension trifft Julia ihre frühere Spielgefährtin Anabel, die Tochter der Wirtin, nach fast zwanzig Jahren wieder. Beide erneuern ihre Freundschaft und verbringen gemeinsam eine schöne Zeit. Als Anabel eines Tages ihre Liebe zu Julia gesteht, ist das für alle Grund zum Nachdenken. Julia muss eine schwere Entscheidung treffen. Sie fühlt sich zu der jungen Frau, die sie innig liebt, hingezogen – doch sie ist verheiratet. Wenig später, als Anabel einen Unfall hat, weiß sie, dass in ihrem Traum der ersten Nacht hier eine tiefere Bedeutung liegt.
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Seitenzahl: 522
Veröffentlichungsjahr: 2021
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SANDY LEE
Anabel
— Eine ungewöhnliche Liebe —
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei Sandy Lee
Titel-Hintergrundbild: www.pexels.com
Ornamente und Clipart: © Corel Corporation Titel-Hauptbild und Titelgestaltung: © Sandy Lee
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
D er Tag war viel zu heiß für Anfang Mai. Die Sonne stand hoch am tiefblauen Himmel und sandte ihre Strahlen auf die belebten Straßen. Die Großstadt probte den Sommer. Menschen hatten ihre T-Shirts hervorgeholt, um die winterblassen Körper ein erstes Mal der Wärme auszusetzen. Sie fühlten sich sichtlich wohl, obgleich sie dabei einen Sonnenbrand riskierten.
Im Büro waren die Jalousien herabgelassen. Das Licht fiel in Streifen auf die Schreibtische an den Fenstern. Es gab viele Schreibtische in diesem Büro. Genau genommen waren es zwölf – plus den vom Chef. Der behauptete stets, nicht abergläubisch zu sein. Dennoch hatte seine Ehe nur sieben Jahre gehalten. Das verflixte siebente Jahr …
Julias Tisch befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft von Georgs. Georg Hassethal – das war der Chef der Eventagentur ›Highlife‹, in der Julia arbeitete. Sie war eine der leitenden Eventmanagerinnen und als solche eine gefragte Frau. Sowohl Städte, Firmen, Vereine und Gesellschaften, aber auch Privatpersonen buchten Eventmanager zur Ausgestaltung ihrer Veranstaltungen. Und der Trend ging nach oben. Immer mehr entdeckten die bequeme Art, sich zu gegebenem Anlass nicht mehr selbst um alles kümmern zu müssen. Die Branche litt keine Not an Aufträgen.
»Geht das Grossmann-Jubiläum klar?«
Georg sah Julia an, die gerade einen Kunden am Telefon hatte. Sie bat kurz um Geduld und schaltete das Mikrofon stumm.
»Ja. Die Band ist gebucht. Samstag ist ähnliches Wetter wie heute angesagt. Wir haben auf dem Festplatz sechs Tafeln für je zwanzig Personen bereitgestellt. Sollte es wider Erwarten doch regnen, steht der kleine Saal des Kongresszentrums zur Verfügung. Der Catering-Service bringt morgen die Menüvorschläge. Die Firma Grossmann kann ihrem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum beruhigt entgegensehen.«
Der Chef nickte zufrieden.
»Und die Hochzeit Warneke? Hat es mit dem ›Lindeneck‹ geklappt?«
Julia zeigte auf den Hörer in der Hand. Dann suchte sie auf ihrem Tisch eine Mappe heraus und reichte sie Georg.
»Ist alles geklärt. Schau es dir bitte selbst an!«
Nun war sie wieder für ihren Kunden da.
»Natürlich richten wir den fünfundsiebzigsten Geburtstag ihrer Mutter gern aus. Wie viele Personen werden etwa erwartet?«
Eine Eventagentur ist wie ein Bienenstock. Es geht sehr rege, doch geordnet zu. Drinnen gibt es jede Menge Arbeit, und wenn die Mitarbeiter ausschwärmen, erwartet sie am Auftragsort wieder Arbeit. So war es auch hier. Oft kam Julia abends nach Hause und war erschöpft von der Arbeit. Doch sie hatte Freude daran, wenn sie den Kunden ein unvergessliches Ereignis bereiten konnte. Als sie sich für diesen Beruf entschied, hatte sie keine Vorstellung, welche Vielzahl an verschiedenen Partnern sie zu manchen Veranstaltungen koordinieren musste, damit alles perfekt lief. Gastronomische Versorgung, kulturelle Ausgestaltung, Lokalitäten, Dekorationen, Fahrdienste, Ämter und Behörden – die Liste ließe sich weit fortsetzen. Bis jetzt hatte sie ihre Entscheidung nicht bereut.
Carsten Gärtner hatte, gleich nachdem er nach Hause gekommen war, ein Bier aus dem Kühlschrank genommen und sich damit in seinen geliebten Sessel versenkt. Die heutige Zeitung lag auf dem Tisch. Das abendliche Lesen des Blattes bei einem Glas erfrischenden Gerstensaft war für ihn eine Art Ritual, der Abschluss eines langen Arbeitstages.
Carsten war Immobilienmakler und als solcher pendelte er zwischen dem Büro und den angebotenen Häusern und Wohnungen. In diesem Punkt glichen sich die Tätigkeiten von ihm und seiner Frau Julia. Und bei beiden erstreckte sich die Arbeitszeit oft weit über das übliche Maß hinaus. Das war der Preis für ein Leben in gehobenem Standard.
Gerade war er bei der Sportseite angelangt, als Julia zur Tür hereinkam. Sie streifte die Schuhe ab, stellte ihre Tasche auf die kleine Kommode im Flur und betrat das Wohnzimmer.
»Hallo Schatz! Hattest du einen guten Tag?«
»Wie man’’s nimmt. Zwei Abschlüsse, dazu ein neues Angebot. Das Schlimmste ist immer die Erstellung dieser Portfolios. Wie ich die Computerarbeit hasse!«
»Wäre es dir lieber, wenn du alles in die Schreibmaschine tippen dürftest, um dich dann bei jedem Fehler zu ärgern? Ich mag den ganzen Bürokram auch nicht, bin lieber draußen vor Ort. Doch das eine gibt es ohne das andere nicht.«
»Du hast ja recht. Und wie war dein Tag heute?«
»Mein Chef geht mir seit Wochen mit diesem Grossmann-Firmenjubiläum auf die Nerven. Hoffen wir nur, dass das Wetter so schön bleibt. Sonst gibt es noch Stress in letzter Minute.«
Julia ließ sich auf die Couch fallen.
Carsten schaute seine Frau an.
»Du siehst müde aus. Wir sollten am Wochenende mal etwas richtig Schönes unternehmen.«
»Geht nicht. Da ist doch dieses verflixte Jubiläum. Erstens muss ich wegen der Koordination dort sein, und zweitens hat mich Grossmann persönlich eingeladen. Bliebe also nur der Sonntag.«
Julias Mann runzelte die Stirn.
»Du rackerst dich für deine Agentur ab, bis du nicht mehr kannst. Du solltest etwas kürzer treten.«
Sie konterte: »Das muss mir ausgerechnet einer wie du sagen. Einer, der seine angebotenen Wohnungen besser als die eigene kennt. Du hättest es genauso nötig.«
Carsten nickte bedächtig. Er wusste, dass etwas mehr Ruhe beiden wohltun würde. Doch die musste man erst einmal erstreiten. Je höher man in einer Firma wie diesen angebunden war, desto weniger Zeit blieb am Ende für einen selbst.
»Also, nur Sonntag. Was hältst du von einem Essen im ›Hubertus‹? Zarter Rehrücken? Und anschließend Shiatsu? So eine Massage wird dir gut tun.«
Julia winkte ab: »Ich weiß nicht. Diese Knochenbrecher? Du fühlst dich hinterher doch nur entspannt, weil der Schmerz nachlässt.«
»Dann schlag du etwas vor! Sag, was du möchtest!«
»Wie wäre es mit einer Bootsfahrt? Einfach raus auf den Kranichsee und dann die Seele baumeln lassen.«
»Wenn es dich glücklich macht«, brummte Carsten.
Julia kannte diesen Ton.
»Du scheinst nicht besonders begeistert zu sein. Ich glaube, wir beide haben einigermaßen unterschiedliche Vorstellungen von Erholung.«
»Ehrliche Antwort?« Er fragte, obwohl das vollkommen überflüssig war. Julia war immer für absolute Offenheit.
»Du kennst meine Ansicht darüber«, war dann auch die Erwiderung.
»Ich verbringe so viel Zeit am Schreibtisch, dass ich es sehr entspannend finde, mich mal richtig zu verausgaben. Seinen Körper spüren, wenn er belastet wird. Ein Tennismatch, oder Schwimmen. Meinetwegen auch Golf. Das bringt mich runter von der Arbeit.«
Seine Frau konnte das verstehen. Doch es war eben nicht ihre Welt.
»Ich habe so viel Lauferei am Tag. Da brauche ich keinen zusätzlichen Sport. Ein schönes Buch lesen, sich kreativ betätigen – malen oder …« Sie unterbrach ihre Gedanken, als sie den Ausdruck von Desinteresse auf Carstens Gesicht sah.
Eine Weile blieb es still. Es gab ab und zu solche Momente, in denen jeder seinen eigenen Vorstellungen nachhing. Die beiden hatten vor fünf Jahren geheiratet, obwohl sie damals schon feststellen mussten, dass sie nicht das klassische Liebespaar waren, welches sich findet und nur noch zusammensein möchte. Carsten war dreißig gewesen, ein attraktiver Mann von fast athletischem Äußeren. Sein volles dunkles Haar, die braunen Augen – das verlieh ihm einen südländischen Ausdruck. Und Julia, zu der Zeit sechsundzwanzig, hatte gerade ihr Studium beendet und suchte einen Job als Eventmanagerin. Grünäugig mit einer langen Lockenmähne in Brünett, das leicht ins Rötliche schimmerte, musste sie jedem Mann auffallen. Sie erweckte den Eindruck einer Frau, die weiß, was sie will, und die das auch durchzusetzen versteht. Und genau diese Willensstärke hatte Carsten fasziniert. Eine Katze, die schmusen kann, aber im nächsten Moment ihre Krallen ausfährt.
Das war über fünf Jahre her. Bereits nach sechs Monaten hatten sich die beiden zur Hochzeit entschlossen. Sie kalkulierten damals wohl schon ein, dass es momentan sehr schön war, so zusammenzugehören, dass dies aber nicht für alle Zeiten sein müsste. Bisher hatten sie sich auch noch nicht für ein gemeinsames Kind entscheiden können. Einer hätte dann seine Arbeit aufgeben müssen, wobei Julia sich ihren Carsten schlecht in der Rolle des treusorgenden Vaters vorstellen konnte.
Und nun saßen beide im Wohnzimmer und schwiegen sich an. Näherten sie sich jetzt schon dem Punkt, an dem es gemeinsam nicht mehr weiterging? Waren ihre Auffassungen von dem anderen so verschieden geworden, dass dies für die Zukunft zu zweit nicht mehr reichte?
»Wie wäre es mit Reiten?«
Julia hatte einen Kompromiss gesucht und war zu diesem Ergebnis gekommen.
»Wir könnten doch in den Nachbarort fahren. Dort gibt es einen Reiterhof. Das ist sportlich, aber gleichzeitig entspannend. Was meinst du?«
Carsten konnte dem Gedanken einiges abgewinnen.
»Also gut – reiten wir.«
Julia stand auf.
»Ich brauche jetzt erst einmal ein Bad. Ich bin total durchgeschwitzt. Danach gibt es Abendessen.«
Kurz darauf hörte man das Plätschern von Wasser, während Carsten sich Bier nachschenkte.
Georg Hassethal hatte schlechte Laune. Der DJ, der bei der Hochzeit der Warnekes für die musikalische Unterhaltung sorgen sollte, war verhindert. Er hatte einen Radunfall, bei dem es zu einer Karpaltunnelklemmung gekommen war. Damit konnte er für die nächste Zeit keine Platten mehr auflegen.
Als Julia das Büro betrat, sah sie dem Chef den Missmut schon von weitem an. Oje, dachte sie, wenn er so drauf ist, gibt es wieder zusätzliche Arbeit. Und damit lag sie vollkommen richtig.
»Julia, der Warneke-DJ hat eine kaputte Hand. Wir brauchen dringend Ersatz.«
Die junge Frau setzte sich an ihren Arbeitsplatz und holte sich die Datei mit den Musikunterhaltern auf den Monitor. Verflixt – die meisten waren auf Wochen verbucht. Wo sollte sie jetzt etwas Gleichwertiges herbekommen? Die Hochzeitsfeier war nächste Woche Samstag, es musste schnell eine Lösung gefunden werden.
Plötzlich kam ihr eine Idee. Ihre Schwester Jenny hatte von einem ehemaligen Klassenkameraden berichtet, der mit Freunden eine Band gegründet hatte. Viel konnte so eine Gruppe angehender Musiker nicht kosten – es kam nur darauf an, wie ihr Repertoire war.
»Julia, hast du was gefunden? Wer kann die Sache übernehmen?« Georg steckte voller Unruhe. ›Dein Leben möchte ich nicht geschenkt bekommen‹, dachte Julia für sich. Laut sagte sie: »Ich muss noch mal nachfragen, aber ich denke, ich kann’’s richten.«
Sie sah auf die Uhr. Es ging auf halb neun. Jenny war Lehrerin an einer Grundschule. Halb neun war kleine Pause. Sie musste es versuchen.
Julia stützte den Kopf mit den Händen. In letzter Zeit hatte sie häufig das Gefühl, sich abzumühen und dennoch nicht von der Stelle zu kommen. Dann überkam sie eine lähmende Müdigkeit. Nicht die normale, bei der einem die Augen irgendwann zufallen – nein, ihr Körper fühlte sich schwer und träge an, jede Bewegung erforderte Kraft. Vielleicht sollte sie sich einmal untersuchen lassen?
Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch. Es war drei nach halb neun. Julia griff zum Telefon, wählte die Nummer ihrer Schwester.
»Hallo Schwesterherz! Ich habe einen kleinen Anschlag auf dich vor.«
Am anderen Ende der Leitung lachte Jenny.
»Aus welchem Grund rufst du mich um diese Zeit an? Das machst du doch nur, wenn die Hütte am Brennen ist.«
Bei dem Ausdruck musste auch Julia schmunzeln.
»Jenny, du hast mir doch einmal von einem deiner Klassenkameraden erzählt, der jetzt in einer Band spielt.«
»Ach, du meinst Harry! Ja, der ist Gitarrist bei ›Harry & The Handicaps‹. Das sind vier Jungs, die so richtig losrocken.«
»Was spielen sie denn so für Musik?«
Jenny merkte, worauf die Sache hinauslief.
»Du suchst wohl eine Band? Und das sollen ausgerechnet die Jungs sein?«
»Na ja, wir hatten einen DJ für eine Hochzeit. Doch der ist ausgefallen. Und alle anderen, die in Frage kämen, sind ausgebucht. Also sag schon, was für eine Richtung haben sie drauf?«
»Ist das Brautpaar in guter Verfassung? Harry ist Vollblut-Rock-’’n’’-Roller. Keine Musik, bei der sich die Tanzpaare aneinander festhalten.«
Julia schaute in ihre Unterlagen.
»Ich glaube, sie sind Mitte zwanzig. Das dürfte gelenkig genug für eine heiße Sohle sein.«
»Und wann brauchst du sie?«
»Nächste Woche Samstag, so gegen Mittag. Fragst du sie bitte? Und ruf mich gleich an, wenn du mit ihnen gesprochen hast!«
»Oh, Mist! Jetzt haben wir die gesamte Pause verquatscht. Ich muss los. Tschüss, Schwesterchen.«
Julia legte das Telefon zur Seite.
»Georg! Wie stehst du zu Rock ’’n’ Roll?«
Der Chef schaute von seinen Papieren auf.
»Machst du Witze? Was soll die Frage?«
»Ich kann als Ersatz für den DJ wahrscheinlich eine junge Rock-’’n’’-Roll-Band bekommen. Wenn das die Hochzeitsgesellschaft aushält …«
»Wo hast du die denn aufgetrieben? Aber frag lieber selbst nach! Du hast doch die Nummer.«
»Das hätte ich sowieso getan. Ich warte nur noch auf die endgültige Zusage.«
»Ach, das ist noch nicht sicher?« Georg rutschte wieder etwas in sich zusammen.
»Es sind private Kontakte. Da muss ich erst nachhaken. Meine Schwester kennt die Leute.«
»So so, deine Schwester. Sag mal, die ist doch meines Wissens auch noch nicht verheiratet. Richte ihr aus: Wenn sie die Sache hinbekommt, erhält sie zu ihrer Hochzeit die Musik gratis!«
»Oh, wie nobel. Wie lange gilt der Deal?«
Julia wandte sich wieder lachend ihrer Arbeit zu.
»Wir haben hier eine offene Maisonette-Wohnung mit einhundervierundzwanzig Quadratmetern. Die Küche ist in den Wohnraum integriert, das Bad natürlich separat. Die Treppe führt zum halboffenen Obergeschoss, von dem Schlaf- und Kinderzimmer abgehen. Dazu ein zweites Bad. Nun, wie gefällt Ihnen das, Frau Dr. Lehnert?«
Die Angesprochene war eine äußerst attraktive Frau Mitte dreißig – eine blonde Schönheit mit Pagenkopf. Dr. Simone Lehnert, Psychologin – das stand auf ihrer Visitenkarte, die sie Carsten übergeben hatte. Der Makler hoffte, einen richtig großen Fisch am Haken zu haben. Solche Wohnungen verkauften sich nicht jeden Tag. Und die Dame machte einen sehr zufriedenen Eindruck.
»Doch, die Wohnung hat etwas. Ich liebe diese Weite. Nichts ist schrecklicher als ein Flur mit einem halben Dutzend Türen nach beiden Seiten. Hier hat man alles im Blick.« Sie stieg die Treppe hinauf.
»Schön, sehr schön. Einmal der Blick nach unten in den Wohnbereich, und dann der schöne Ausblick von der Sitzecke hier oben nach draußen.« Sie ging ans Fenster.
Carsten öffnete die Zimmertüren, um die Räume zu zeigen. Beim Kinderzimmer erklärte die Psychologin nach einem prüfenden Blick: »Das wird mein Arbeitszimmer. Wissen Sie, an Kinder kann ich im Moment noch nicht denken. Ich bin beruflich sehr engagiert, da bleibt wenig Zeit für Familie.«
›Noch so eine Überstrapazierte‹, dachte Julias Mann. ›Die Welt scheint nur noch aus Berufsidealisten zu bestehen.‹
»Also nehmen Sie die Wohnung?«, stellte er die entscheidende Frage.
»Aber ja! Solch ein Angebot erhält man nicht oft. Bereiten Sie die Papiere vor. Das Geschäft steht.«
Sie hielt ihm ihre schlanke Hand hin.
»Dann gilt das Geschäft.« Carsten besiegelte den Deal mit einem galanten Händedruck.
»Ach, Herr Gärtner. Wie wäre es, wenn wir auf den erfolgreichen Abschluss ein Gläschen miteinander trinken würden? Sagen wir – acht Uhr in der ›Orion‹-Bar? Passt es Ihnen?«
Carsten wurde auf einmal heiß. Die kühle Blonde hatte doch nicht etwa Absichten? Andererseits gehörte es für sie anscheinend zum Geschäft dazu. In diesem Fall konnte er schlecht nein sagen.
»Ja, ich denke, das lässt sich einrichten«, versicherte er der Dame. Jetzt bloß nicht kleinlich sein. Hier ging es um eine Menge Geld. Julia würde das sicher verstehen.
Carstens Frau wartete zuhause. Sie wartete auf den Anruf ihrer Schwester. Die Sache war zu wichtig, als dass sie langen Aufschub duldete. Normalerweise versuchte Julia, keine Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Doch das hier war eine Privatinitiative.
Es war jetzt nach sechs Uhr. Wo ihr Mann nur blieb? Um diese Zeit war er meist da, und kam doch etwas dazwischen, rief er wenigstens an. Sie hatte auf dem Heimweg Brathähnchen für das Abendessen mitgebracht. Falls er noch lange ausblieb, musste sie das Geflügel erst wieder aufbacken.
Na endlich! Die Wohnungstür öffnete sich. Carsten gab Julia, die gerade in die Küche gehen wollte, einen Kuss.
»Wo warst du nur so lange? Ich habe Hähnchen zum Abend. Die werden kalt.«
Carsten hatte sich schon eine Antwort zurechtgelegt.
»Du, ich habe ein großartiges Geschäft in Aussicht. Ein Käufer für die Maisonette in der Hollmannstraße. Der Deal ist fast perfekt. Wir wollen uns heute Abend noch einmal besprechen und alles festhalten.«
»Heute Abend? Ist das nicht eine ungewöhnliche Zeit? Könnt ihr das nicht auch morgen aushandeln?«
»Der Käufer hat mich eingeladen. Was sollte ich machen? Dafür bringe ich dir einen richtig guten Abschluss mit.«
Julia schaute ihren Mann an. Es schien ihm wirklich wichtig, diesen Verkauf möglichst schnell abzuwickeln.
»Na gut. Aber lass solche späten Ausflüge bitte nicht zur Gewohnheit werden! Der Arbeitstag ist lang genug. Und ich möchte doch auch noch etwas von meinem Mann haben.«
Sie lächelte und gab ihm den Kuss zurück.
Während sie in der Küche die Hähnchen zurechtmachte, Brot aufschnitt und für sich einen Tee aufgoss, zog sich Carsten ins Wohnzimmer zurück. Die Zeitung konnte er heute nur überfliegen, mehr Zeit war nicht.
Julia brachte ihrem Mann ein Bier vorbei.
»Ach, übrigens – Peter hat angerufen. Er fragt, ob du am Freitag zum Bowling kommst. Sag ihm doch bitte Bescheid!«
Carsten schaute von der Zeitung hoch.
»Peter! Ich hab’’s glatt verschwitzt. Er hatte sich vorgestern schon gemeldet. Ich ruf ihn sofort an. Danke, mein Schatz.«
»Kommst du dann zum Essen! Du hast wenig Zeit.«
Peter war ein alter Freund von Carsten. In ihren Sturm- und Drangjahren hatten beide zusammen mit anderen die Straßen auf ihren Motorrädern unsicher gemacht. Das war fast zehn Jahre vor Julias Bekanntschaft. Die Gang gab es nicht mehr, doch die Freundschaft der beiden hatte die Zeit überstanden.
Gleich nach dem Essen meldete sich Carsten bei seinem Freund.
»Peter, entschuldige, ich hatte dich total vergessen. Natürlich komme ich am Freitag. Gleiche Zeit, gleicher Ort. Wir brauchen doch beide ein bisschen Ausarbeitung.«
»Das musst gerade du sagen. Wer von uns beiden spaziert denn andauernd von einem Haus zum anderen? Ich sitze ja nur am Computer vor meinen Plänen und Modellen.«
»Dann wird es erst recht Zeit, dass du in Bewegung kommst. Also dann, bis übermorgen.«
Julia rief aus der Küche: »Carsten, schau zur Uhr!«
Verdammt! Es ging schon auf halb acht zu. Er musste sich noch umziehen, ein wenig Toilette machen. Zum Glück war es nicht weit bis zum ›Orion‹.
Das Thema sollte er mal mit Peter besprechen. Peter Frantz kannte sich mit den kleinen und größeren Ausreden aus. Schließlich hatte er, nicht ganz unschuldig, schon eine Ehe hinter sich.
Carstens Augen mussten sich einen Moment lang anpassen, als er von der Helligkeit der Straße in die abgedunkelte Atmosphäre der Bar trat. Hier herrschte immer dieses Dämmerlicht, welches die Erscheinung der Besucher aufs Angenehmste aufbesserte. All die kleinen Unzulänglichkeiten, die jedem Einzelnen eigen waren, verschwammen, lösten sich gleichsam auf. Der Alkohol tat sein Übriges dazu, und so kam die große Ernüchterung meist erst am nächsten Morgen.
Carsten schaute sich um. Zuerst glaubte er, dass er zu früh sei, doch dann entdeckte er seine Verabredung an einem Tisch im Halbdunkel der Tiefe des Raumes. Er rückte die Krawatte zurecht, dann ging er auf den Tisch zu.
»Es tut mir furchtbar leid, dass Sie warten mussten«, versuchte er eine Entschuldigung. Doch Frau Lehnert winkte ab.
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich bin schon vor der Zeit hier gewesen. Entgegen aller Anstandsregeln bevorzuge ich es, mich vor so einer Verabredung etwas mit der Lokalität vertraut zu machen. Aber nehmen Sie doch Platz!«
Er setzte sich auf einen Stuhl, welcher sein Gesicht dem Anblick eintretender Gäste verbarg. Es konnte ja sein, dass sich jemand hier einfand, der ihn kannte.
Carsten wollte gerade etwas sagen, als die Dame der Bedienung ein Zeichen gab, worauf diese zu ihnen eilte.
»Sie trinken doch auch ein Glas Champagner?«
Diese Frage war rein rhetorisch gestellt, denn sie bestellte die Getränke im gleichen Moment. Dann wandte sie sich an den Makler: »Es ist sehr nett hier. Genau der richtige Rahmen für den gegebenen Anlass.«
Carsten hörte die Zweideutigkeit der Bemerkung heraus. Schnell versuchte er, die Situation zu entschärfen.
»Ja. Große Abschlüsse sollte man wohl in gehobener Umgebung feiern.«
Der Champagner kam. Frau Lehnert nahm das Glas und ging auf das eben Gehörte ein.
»Auf ein gutes Geschäft.«
»Auf Ihre neue Wohnung, Frau Doktor.«
Sie schaute ihn ermunternd an.
»Nun lassen Sie den Doktor beiseite! Simone.«
»Carsten.« Die Antwort entfuhr ihm automatisch, war so gar nicht gewollt. Er musste höllisch aufpassen, um sich nicht im Handumdrehen von ihr einwickeln zu lassen.
Beide tranken, sie mit Genuss – er, weil seine Kehle trocken war. Im Hintergrund spielte schmeichelnde Musik. Simone hatte sich eine Zigarette angezündet und blies die kleinen Rauchwölkchen in das Licht der Kerze auf dem Tisch. Sie bestellte noch zwei Gläser Champagner.
»Wissen Sie, Carsten – ich habe nicht oft solche Abende, an denen ich mich von allen Problemen lösen kann, die ich einfach nur genieße. Vor einem Jahr habe ich meine eigene Praxis eröffnet. Vorher war ich in einem Therapiezentrum. So ein Schritt bringt zwar Freiheiten, verlangt jedoch eine große Selbstdisziplin. Wenn Sie sich da gehen lassen, sind Sie ganz schnell wieder raus. Auf diese Weise bin ich zu einem ganz ordentlichen Patientenstamm gekommen, doch privat blieb nicht viel übrig. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich musste die Gelegenheit einfach wahrnehmen, einmal wieder auszubrechen. Und da schien mir der heutige Anlass gerade richtig.«
Ihr Gegenüber versuchte es mit Ehrlichkeit.
»Simone – Sie als Psychologin kennen doch sicher die tiefere Bedeutung dieses kleinen Ringes hier?« Er zeigte seine rechte Hand.
»Oh ja, den habe ich schon in der Wohnung bemerkt. Dabei ist die Ehe nur die logische Fortsetzung der Zuneigung, später der Liebe. Es ist einfach eine Willensbekundung, sich ausschließlich einem Partner zu widmen. Das Verlassen der freien Wildbahn, könnte man sagen. Wissen Sie, was das Seltsame an der Sache ist? Männer machen sehr gern auf diese Bindung aufmerksam, sind aber letztlich die, denen der ›Jagdtrieb‹ immer noch innewohnt. Wenn Frauen nicht auf unüberwindliche Hindernisse stoßen, fühlen sie sich lange bei ihrem Partner geborgen. Männer sind weit weniger auf eine Partnerin fixiert. Sie sondieren, testen – nennen Sie es, wie Sie wollen. Eine genetische Erbsünde.«
Carsten hörte sich den Vortrag an. Wollte ihn die Frau gegenüber ermuntern, einen kleinen Fehltritt zu begehen? Fast klang es, als ob sie ihm psychologische Absolution für einen geplanten Seitensprung erteile.
»Sie wollen also sagen, dass wir - wenn es zu einer ›Entgleisung‹ kommt, gar nichts dafür können. Also eine Art eheliche Unzurechnungsfähigkeit?«
»Ein sehr guter Ausdruck. Ja, den sollte ich mir merken. Eheliche Unzurechnungsfähigkeit. Kommen Sie! Ich möchte tanzen.«
Was blieb Carsten übrig? Als er der Verabredung zusagte, musste er mit mehr als einem Dank in Form von Champagner rechnen. Vor allem musste er sich eingestehen, dass diese Simone ihre Reize hatte – und sie spielte mit ihnen. Die Art, wie sie das tat, brachte Männer wirklich dazu, eine Dummheit zu begehen und sich dessen nicht einmal bewusst zu sein.
Er erhob sich und hielt der Dame seine Hand hin. Beide gingen zur Tanzfläche, auf der die Lichtpunkte einer altmodischen Spiegelkugel ihre Bahn zogen. Es ist schon eigenartig, wie dieses Relikt aus der Disco-Ära der siebziger Jahre auf Menschen wirkte – auch heute noch. Diese Illusion von Sternenhimmel hatte etwas Romantisch-Verklärtes. Etwas, dass es viel leichter machte, sich dem anderen zu nähern.
Jetzt erst sah Carsten Simones Kleid genauer. Es war nicht einfach ein schwarzes Cocktailkleid. Von der linken Schulter zog sich ein gesticktes Ornament herab und umspielte das Dekolleté. Der Blick folgte automatisch diesen Ranken bis zum Ausschnitt. Da die Stickerei ebenfalls schwarz war, fiel sie nur aus der Nähe richtig auf.
Simone ließ sich gut von ihrem Tanzpartner führen. Sie hatte ihre Hand auf seine Schulter gelegt und wiegte sich im Rhythmus der Musik. Und das konnte sie so gut, dass es keinen Mann kalt ließ. Der Tanz mit ihr war wirklich ein Erlebnis.
Dann wechselte die Musik. Ein verträumt-langsames Lied erklang. Und auf einmal lagen ihre Arme um seinen Hals. Sie lehnte sich an seine Schulter, so dass er das glatte blonde Haar mit seiner Wange berührte. Seine Hände umfassten ihre Taille, ein warmer Schauer durchrann ihn. Er kam sich vor, wie das hypnotisierte Kaninchen vor der Schlange. Wehrlos ließ er alles zu.
»Es ist schön mit dir«, hauchte Simone. »Halt mich fest!«
Seine Hände streichelten ihren Rücken, er lehnte seinen Kopf gegen ihren.
»Ja, es ist ein wunderbarer Abend.«
Simone sah zu ihm hoch. Er senkte den Blick, und dann fiel er in diese Augen die auf ihn schauten – tiefer und tiefer. Die Welt um ihn herum rückte in weite Ferne, er suchte ihren Mund und küsste sie.
»Du bist sehr schön«, flüsterte er ihr zu. Er war berauscht von dem Augenblick, befand sich in einer Welt, die niemanden duldete außer sie beide. Unter dem Einfluss dieser Sinnesdroge bemerkte er nicht einmal, dass die Musik bereits verstummt war.
Julia fühlte sich nicht besonders erholt, als sie am Morgen erwachte. Sie hatte gestern vergeblich auf einen Rückruf ihrer Schwester gewartet und war – als Carsten auch ausblieb – gegen zehn Uhr zu Bett gegangen. Einmal wurde sie wach, es musste nach Mitternacht gewesen sein. Da lag ihr Mann schlafend neben ihr. Sie schlief auch wieder ein, hatte jedoch einen bösen Traum. In dieser Vorstellung war sie unterwegs zu Carstens Büro. Sie sah ihn aus dem Haus kommen und winkte, damit er sie bemerke. Er aber überquerte die Straße, wo auf der anderen Seite eine junge Frau wartete. Sie lächelte ihm zu, er trat an sie heran und küsste sie. Dann gingen sie gemeinsam fort. Julia blieb unbemerkt stehen.
Carstens Frau sagte sich an diesem Tag wiederholt, dass es nur ein Traum gewesen sei und man für sein Unterbewusstsein nichts könne. Doch es machte sie verrückt, dass sie den Traum gerade in der Nacht hatte, als ihr Gatte abends lange wegblieb. Es gab nur zwei Wege, damit fertigzuwerden. Entweder sie gab nichts auf ihre Schlafgedanken und bemühte den Zufall als Auslöser der Hirngespinste. Oder sie glaubte an eine Art Vorsehung, was zur Folge hätte, dass sie Carsten nach dem gestrigen Abend befragen müsste.
Georg bemerkte, dass Julia nicht recht bei der Sache war.
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Ja. Wieso fragst du?«
»Du siehst so abwesend aus. Als ob dir irgendetwas Sorgen bereitet.«
»Ach nein. Es ist nur, weil ich immer noch auf den Rückruf meiner Schwester warte. Sie hat sich gestern nicht gemeldet.«
Ihr Chef zeigte aufs Telefon.
»Dann ruf du sie an! Vielleicht hat sie es vergessen.«
Julia schüttelte den Kopf.
»Vergessen? Nein. Das passiert Jenny nicht. Wenn sie sich noch nicht gemeldet hat, dann hat sie noch keinen Bescheid von der Band.«
»Mir ist gleich, ob du oder sie. Aber komm bitte mit deinen Gedanken auf die Erde zurück, hier in dieses Büro!«
›Okay‹, dachte Julia. ›Dann muss ich es eben noch einmal versuchen.‹ Sie griff zum Telefon und wollte gerade die Verbindung suchen, als es klingelte. Jenny rief an.
»Meine liebe Jenny, du hast mich ganz schön sitzen lassen. Der Chef wartet ungeduldig auf eine Zusage, und ich wollte eben selbst bei dir anrufen.«
»Und ich bin dir zehn Sekunden zuvorgekommen! Nein, im Ernst. Es könnte klappen, wenn deine Hochzeitsgesellschaft bis zwei Uhr warten kann. Die Jungs sind vormittags unterwegs, müssen dann noch abbauen, zu euch kommen und alles wieder aufstellen. Sag mal, wo findet die Festlichkeit überhaupt statt?«
»Kennst du das ›Lindeneck‹ draußen in der Vorstadt?«
»Natürlich. Dort hatte ich doch meinen Abiball. Erinnerst du dich nicht mehr?«
»Ja, stimmt. Also dort im Saal ist die Feier. Ich frag mal schnell, ob zwei Uhr recht ist. Ich ruf dich zurück.«
Georg hatte das Gespräch zum Teil gehört und schaute nun fragend auf seine Mitarbeiterin.
Julia bemerkte trocken: »Wenn die Gesellschaft sich bis zwei Uhr anders unterhalten kann, klappt es mit der Band.«
»Na ja, vorher wird wohl nicht viel Musik gebraucht. Erst die Trauung, dann Glückwünsche, Mittagessen. Frag aber die Auftraggeber persönlich!«
»Bin schon dabei.«
Simone hatte den Makler zum Vertragsabschluss in ihre neue Wohnung gebeten. Also erschien Carsten mit Aktenkoffer und einem Blumenstrauß in der Hollmannstraße. Das Gebinde kam vom Maklerbüro, eine Aufmerksamkeit beim Kauf größerer Objekte.
Er schloss die Tür auf und betrat die noch leeren Räume. Da es keine Möglichkeit zum Sitzen gab, streifte er durch die Wohnung, um alles auf seinen ordnungsgemäßen Zustand zu überprüfen. Er hätte sich das schenken können, da es sowieso seine Pflicht war, vor dem Kauf mit der neuen Besitzerin alle Räumlichkeiten zu inspizieren, um eventuelle Mängel aufzunehmen.
Als er sich gerade im oberen Bereich befand, stoppte ein Wagen vor der Tür. Carsten schaute aus dem Fenster auf die Straße. Simone fuhr ein schnittiges Sportcabrio, ein Traum für alle Autofans ohne Familie. Sie war heute ganz Geschäftsfrau – ein cremefarbenes Kostüm mit Blazer unterstrich diesen Auftritt. Dazu trug sie einen braunen Seidenschal und eine Sonnenbrille. Sie sah sich kurz um, blickte zu den Fenstern hoch und betrat das Haus.
Der Makler ging zur Wohnungstür, öffnete und wartete. Die Schritte im Treppenhaus wurden lauter, bis Simone schließlich vor ihm stand.
»Guten Tag Simone.«
Sie hatte die Sonnenbrille abgenommen und sah ihn mit erwartungsvollen Augen an.
»Hallo Carsten! Schön, dich zu sehen.«
Er trat zur Seite, um sie einzulassen. Dann holte er seinen Koffer und ging zum Fenster im Wohnbereich.
»Der einzige Platz, um etwas abzulegen«, entschuldigte er sich.
Simone verfolgte sein Tun mit Gelassenheit. Sie hatte Zeit, viel Zeit.
»Ich konnte den Termin heute kaum erwarten. Ging es dir ebenso?«
Sie schien gewillt, den gestrigen Abend fortzusetzen. Und er konnte nicht behaupten, diese Verabredung sei spurlos an ihm vorübergegangen. Nein, diese Frau hatte etwas, das Lust auf mehr hervorrief, eine geheimnisvolle Anziehungskraft.
»Kommen wir erst einmal zum Geschäftlichen. Wir schauen uns noch einmal die Wohnung an, und du prüfst, ob alles seine Ordnung hat.«
Er deutete an, dass sie ihm folgen möge. Raum für Raum arbeiteten sie sich durch die ganze Maisonette. Am Ende standen nur einige Kleinigkeiten auf Carstens Checkliste.
Sie begaben sich wieder zum Fenster. Carsten holte den Kaufvertrag hervor.
»Wenn jetzt keine weiteren Probleme bestehen, unterzeichne bitte hier!«
Er zeigte mit dem Stift auf die betreffende Stelle. Simone nahm das Schreibgerät und signierte beide Ausführungen.
»So, damit wäre das jetzt meine Wohnung.«
»Genau. Ich gratuliere dir zu deinem neuen Zuhause.« Er bemerkte sein Versäumnis, lief noch einmal Richtung Tür und kam mit den Blumen zurück.
»Als kleine Aufmerksamkeit.«
Carsten überreichte ihr den Strauß. Sie hielt lächelnd die Hand auf.
»Die Schlüssel, bitte!«
Der Makler holte mit fahrigen Bewegungen den Schlüsselbund aus der Tasche.
»Natürlich. Entschuldige.«
Es musste ihr auffallen, dass er nicht bei der Sache war, und das war ihm jetzt schrecklich peinlich. Doch Simone schmunzelte nur über die Panne.
»Komm! Hilfst du mir?«
Sie holte ein Messingschild mit ihrem Namen aus der Tasche und gab es Carsten.
»Das kleben wir jetzt an die Tür.«
Beide gingen zum Eingang. Er öffnete die Wohnungstür.
»Wo möchtest du es hin haben?«
Simone stellte sich etwas zurück, um sich ein Bild zu machen. Dann deutete sie etwa in Schulterhöhe auf den Punkt, wo das Namensschild sitzen sollte. Carsten zog den Schutzstreifen vom Klebeband ab, postierte sich und nahm Maß, damit alles waagerecht saß.
»So?«
»Perfekt!«
Er drückte das Schild kräftig an die Tür.
»Das wäre es dann.«
Er machte Anstalten, seine Aktentasche zu holen, doch sie hielt ihn an der Schulter fest.
»Du wirst doch jetzt nicht gehen? Zuerst weihen wir die Wohnung ein.«
Simone zog eine Flasche Champagner aus der Tasche, dazu zwei Partygläser, unzerbrechlich.
»Machst du sie bitte auf!« Sie reichte ihm die Flasche.
Er entkorkte den edlen Tropfen, und als der überschäumte, hielt sie schnell die Gläser hin.
Beide stießen an.
»Auf deine neue Wohnung.«
»Auf uns.«
Carsten schaute sie verwirrt an.
»Auf uns? Wie meinst du das?«
Da war wieder dieser entwaffnende Blick von ihr.
»Nun, ich habe meine Wohnung, du deinen Abschluss. Das meine ich. Wir haben heute beide einen guten Tag.«
Die Erklärung war mehr als doppeldeutig – was immer für Frau Dr. Lehnert ein guter Tag sein mochte.
»Was wirst du jetzt tun? Ziehst du gleich ein?«
»Als erstes werde ich mir von einem Küchenstudio die Einbauküche anpassen lassen. Bis die fertig ist, sollten auch die anderen Möbel hier sein. Du bist natürlich eingeladen, wenn ich meine Einzugsparty gebe.«
»Natürlich …«
»Na klar. Aber jetzt schenke erst mal nach! Ich lasse dich nicht weg, bevor die ausgetrunken ist.«
»Simone, bitte …«
»Keine Widerrede. Für den Rest des Nachmittags gehörst du mir! Die Zeit hast du doch sowieso eingeplant.«
Sie stellte ihr Glas auf der Fensterbank ab.
»Warte einen Moment! Ich bin gleich zurück.«
Mit diesen Worten entschwand sie kurz aus der Wohnung. Carsten trat ans Fenster, sah sie den Kofferraum ihres Wagens öffnen und eine größere Tasche herausholen. Dann kehrte sie zurück.
»Hast du deine Sachen gleich mitgebracht?«, fragte er mit Blick auf das Gepäckstück.
»Das hier? Nein. Ich finde es nur unbequem, alles im Stehen zu tun.«
Sie holte eine flauschige Decke und zwei Kissen heraus, breitete alles im Wohnbereich aus und setzte sich.
»Na komm! Das ist doch viel schöner so.«
Carsten ließ sich auf dem zweiten Kissen nieder. Simone hatte sie so gelegt, dass beide sehr eng nebeneinander saßen.
»Anders herum! Du musst dich so setzen, dass wir uns sehen können.«
Gehorsam drehte er sich auf dem Kissen um. Jetzt blickten sie sich gegenseitig an – sehr nah.
»Sag mir ehrlich – wie gefällt dir diese Wohnung?«, fragte sie unverhofft nach einigen Blicken von dieser Position aus.
»Ehrlich?«
»Vollkommen ehrlich.«
»Na ja, die Wohnung hat schon Flair, doch ist es für mich eine Kategorie zu weit oben. Wenn ich einen großen Gewinn gemacht hätte, dann könnte ich mich vielleicht für so etwas entscheiden. So muss ich etwas kleinere Brötchen backen.«
»Bist du eigentlich glücklich? Ich meine, abgesehen von den Finanzen.«
Simone stellte diese Frage, als ob sie sich nach dem Wetter erkundige.
»Glück. Wie definiert man Glück? Ist Glück, alles zu haben, was man sich wünscht? Oder bedeutet es, wenig zu haben, aber dafür Menschen an seiner Seite zu wissen, die einem vertrauen, mögen, helfen? Weißt du, Glück bedeutet für mich, in den Spiegel zu schauen und mir sagen zu können: Ich habe alles, was ich brauche – oder ich kann es erreichen. Für den einen sind das materielle Werte, für den anderen menschliche Charakterzüge. Und ich denke, dass ich glücklich bin.«
»Auch jetzt, in diesem Augenblick?«
Simone ließ sich nach hinten fallen und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Sie schaute Carsten aus dieser Position mit einer recht eindeutigen Miene an.
Der Mann im Makler konnte diesem Anblick nicht widerstehen. Er stellte sein Glas beiseite, fuhr ihr sanft durchs Haar. Seine Hand streichelte ihren Nacken, und als sie an der Schulter angelangt war, zog er Simone an sich und küsste sie leidenschaftlich.
»Warte!«, hauchte sie. Dann entledigte sie sich des Blazers und Schals, öffnete ihre Bluse. Auch Carsten warf Jackett und Krawatte beiseite, knöpfte das Hemd auf. Wieder lagen sie sich in den Armen.
Einmal in diesen Minuten, ein einziges Mal, tauchte bei ihm der Gedanke auf: Was mache ich hier eigentlich? Doch Simones Hingabe spülte ihn hinweg. Übrig blieb nur der Moment, das, was gerade geschah. Kein Platz für Julia, kein Platz für das schlechte Gewissen.
Julia hatte die Band engagiert. Das Brautpaar fand den Life-Act sogar noch besser als Musik aus der Konserve. Damit war wieder ein Problem vom Tisch. Doch bei Georg Hassethal gab es keine Erholung. Schon flatterte eine neue Anfrage auf den Tisch.
»Sieh dir das mal an! Hier wollen welche so eine Art Woodstock-Revival veranstalten. Im Sommer, zwischen Freitagabend und Sonntagabend. Bühne mit Campingplatz in der Nähe. Amateur- und Profigruppen mit Konzertauftritten, Ton- und Lichttechnik. Catering, Toiletten, Waschmöglichkeiten. Volles Programm.«
»Das ist ’’ne ziemlich harte Nuss. Woodstock lief zum großen Teil spontan, und da ging auch etliches schief. Inzwischen sind die Ansprüche gestiegen. Ich werde eine Liste der Service-Anforderungen erstellen, nach der wir dann durchkontaktieren können.«
›Und ich glaubte, die hatten vor fünfzig Jahren genug von solchen Ereignissen‹, dachte sie. Sie erinnerte sich eines Filmes, den sie mal gesehen hatte. Die Massen völlig außer Kontrolle, das Wetter absolut bescheiden. Aber freie Liebe, Drogen und wirklich gute Musik.
Wieder fühlte sich Julia müde. Es war, als ob man im Meer ohne Atemgerät taucht. Kaum ist man oben, um Luft zu holen, da schlägt die nächste Welle über einem zusammen, und es fehlt an ausreichendem Sauerstoff. Die einzige Abhilfe: Raus aus dem Wasser! Dazu braucht man ein Boot. Das jedoch suchte sie noch.
Während sie so sinnierte, fielen Julia die Augen zu. Die Sonne schien zum Fenster herein und erzeugte ein wohliges Gefühl auf der Haut. Sie sah sich auf einer Wiese mit Feldblumen liegen. Schmetterlinge tanzten in der warmen Sommerluft. Von fern drang das Muhen der Kühe auf der Weide, der betörende Duft eines blühenden Rapsfeldes erfüllte diese Traumwelt. Und da war noch ein anderer Geruch nach – Kaffee, frisch gebrühtem Kaffee …
Julia schreckte aus dem Schlaf hoch. Georg hatte ihr eine Tasse des anregenden Getränkes hingestellt.
»Na, wieder zu den Wachen zurückgekehrt? Hier, trink erst mal! Du brauchst eine Pause! Seit Tagen beobachte ich, dass du sehr erschöpft aussiehst. Geh einfach nach Hause, mach Schluss für heute! Keine Widerrede, verstanden!«
Julia nickte: »Du hast recht. Letzte Nacht habe ich schlecht geschlafen, aber auch so fühle ich mich ständig matt. Ich habe schon überlegt, ob ich mal ein, zwei Monate aussetzen sollte.«
Georg trug diese Nachricht mit Fassung.
»Das wäre zwar nicht gut für mich, aber deine Gesundheit ist natürlich wichtiger. Ich müsste dann weniger Aufträge annehmen, um alles zu schaffen.«
»Du hättest Erholung genauso nötig wie ich. Noch scheinst du fit zu sein, doch kann es dich jederzeit ebenso erwischen.«
»Ich weiß. Meine Frau wirft mir andauernd vor, dass ich zuhause nur noch meine Ruhe haben will. Tja, das ist das Schicksal so einer Agentur. Sie unterhält andere auf Kosten des Privatlebens der Mitarbeiter.«
Julia stand auf. Sie nahm ihre Sachen.
»Also dann – bis morgen.«
Auf dem Weg zum Auto rief sie Linda an. Linda war ihre beste Freundin. Sie hatten sich bei einem Event der Agentur kennengelernt. Die drei Jahre ältere Vertraute, die als Malerin und Gestalterin arbeitete, könnte sie jetzt gut gebrauchen.
»Hi Linda! Hast du im Augenblick sehr viel zu tun? Nicht? Können wir uns sehen? Bei mir? Gut, ich warte auf dich.«
Julia setzte sich in ihren Wagen. Sie wollte nur noch nach Hause.
Linda Schwarz war gelernte Grafikerin. Sie hatte keinen Mann, dafür aber einen fünfzehnjährigen Sohn – Hinterlassenschaft eines Typs, der nach Bekanntwerden der Schwangerschaft kalte Füße bekommen hatte. Linda trauerte ihm keinen Tag nach. Sie liebte ihren Sohn, und sie liebte ihren Beruf. Wer nicht beides akzeptieren konnte, gehörte nicht in ihr Leben.
Gerade saß sie über einen Auftrag der Stadt. Sie sollte die Giebelfront eines Hauses gestalten, die nach dem Abriss des Nachbargebäudes nun freilag. Das war ein wirklich ›großer‹ Auftrag. Immerhin ging es hier um eine Fläche von rund zehn mal fünfzehn Metern. Es gab verschiedene Themenbereiche zur Auswahl: Heimatmotive, Familie und Freizeit, Stadtentwicklung heute … und so weiter.
Linda konnte sich ihre Zeit selbst einteilen, deshalb hatte sie auch keine Probleme mit Julias ›Notruf‹. Denn so hörte sich ihr Telefonat an. Sie teilte das Los aller besten Freundinnen – Sammelbehälter für deren Sorgen zu sein. Doch sie tat das gern, denn Julia gewährte ihr die gleichen Privilegien.
Es war halb drei Uhr, als Julia anrief. David war gerade aus der Schule gekommen und hatte gegessen. Jetzt saß er über seinen Aufgaben. Linda schaute kurz in seinem Zimmer vorbei und erklärte: »Ich muss mal schnell zu Julia. Ich glaube, sie braucht mich.«
»Ist gut, Mama. Fili kommt dann vorbei. Das geht doch in Ordnung?«
»Solange ihr nichts anstellt, ja.«
Für sich dachte Linda: Fili ist doch ein nettes Mädchen. Die könnte ich mir auch als Schwiegertochter vorstellen. Nur noch nicht so bald. Fili – das war der Rufname von Sophie Martin, einer Klassenkameradin und guten Freundin von David. Die beiden passten wirklich gut zusammen.
Linda nahm ihre Tasche packte eine Flasche Kognak hinein und ging zum Bus. Sie hatte das Gefühl, als wäre ein Schluck Alkohol in der zu erwartenden Situation angebracht. Und der Bus brachte sie direkt von Haustür zu Haustür.
Carsten hatte das Haus in der Hollmannstraße verlassen. Selbst fahren konnte er jetzt nicht, dazu hatte er zu viel getrunken. Nach Hause wollte er noch nicht – seine Gedanken waren wirr und er musste sie erst sortieren. Deshalb hatte er sich entschlossen, auf gut Glück bei seinem Kumpel Peter vorbeizuschauen. Peter war Architekt; falls er nicht gerade in einer Konferenz saß, bestanden gute Chancen, ihn über seinen Entwürfen anzutreffen.
Es blieb Carsten nichts anderes übrig, als sich ein Taxi zu rufen. Peter wohnte draußen in der Vorstadt, der Weg dahin war weit. Dafür hatte er ein großes Grundstück mit viel Grün und seine Ruhe.
Das Taxi hielt. Carsten stieg hinten ein, nannte die Adresse und gab sich seinen Gedanken hin.
Was war da oben in der Maisonette passiert? Er war fünf Jahre mit Julia verheiratet, fünf wirklich schöne Jahre. Und nun kam diese Frau und brachte sein Leben durcheinander. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Der zweite Teil bestand in der Selbstverständlichkeit, mit der er die Annäherungsversuche Simones annahm. War also seine Ehe wirklich so gut, wie er glaubte? Oder hatte sie sich schon unbemerkt etwas abgenutzt? Diese neue Bekanntschaft war so erfrischend, so anders – auch, weil Simone sehr dominant sein konnte. Vielleicht steckten psychologische Tricks dahinter, die sie sicher kannte und gut einbauen konnte. Momentan sah es jedenfalls so aus, dass er den Rat eines Freundes brauchte. Er sah sich außerstande, die Tatsachen selbst vorurteilsfrei zu bewerten. Dafür steckte er schon zu tief in der Angelegenheit drin.
»Zwölf Euro fünfzig.« Das Taxi hatte angehalten. Carsten reichte dem Fahrer fünfzehn Euro hin und stieg aus.
Hier draußen war es wirklich ruhig. Die Hektik und den Lärm der Innenstadt hatte er zurückgelassen. In der Vorstadt atmete man Beschaulichkeit. Bäume säumten die Straße und spendeten Schatten. Grün, wohin man blickte. Hier zu leben, wäre ihm zehnmal lieber als in der Hollmannstraße. Was beide Adressen gemeinsam hatten, war der Preis für so ein Heim.
Carsten klingelte am eisernen Tor. Einige Sekunden, dann summte der Türöffner. Er drückte die Pforte auf und trat ein. Peter war zuhause.
Der Freund erschien an der Haustür. Erstaunt fragte er: »Wir hatten doch erst für morgen einen Termin. Was bewegt dich also heute schon hierher?«
Carsten versuchte einen Scherz.
»Ich glaube, es war ein Taxi. – Nein, im Ernst. Ich habe mich auf etwas eingelassen und brauche deinen Rat.«
»Na, dann komm mal herein!«
Auf dem Weg ins Wohnzimmer kamen sie an seinem Arbeitsraum vorbei. Durch die offene Tür sah Carsten einen Entwurf auf dem Brett.
»Das neue Einkaufszentrum?«
»Ja - dachte ich zumindest. Doch mittlerweile habe ich Zweifel, ob es in diesem Rahmen wirklich passt. Ich spiele mit dem Gedanken, es eher konservativ anzulegen. Weniger Glas und Stahl, mehr Stein. Wir haben inzwischen jede Menge solcher ›Aquarien‹ in der Stadt herumstehen. Ich finde, wir brauchen mehr echte Substanz.«
Die beiden Männer warfen sich in die Sessel im Wohnzimmer. Peter langte nach einer Flasche in der Hausbar.
»Nein, nichts Hochprozentiges. Ich habe schon einiges intus. Vielleicht, wenn du ein Bier hättest?«
Der Freund erhob sich noch einmal und holte zwei Flaschen aus dem Kühlschrank.
»Also, wo drückt der Schuh?«
»Peter, du hast doch damals die ganze Sache mit Marion durchgemacht. Du weißt doch, wie es angefangen hat. Ach, was rede ich herum! Junge, ich stecke in der Scheiße.«
Sein Kumpel öffnete die Flaschen und prostete Carsten zu.
»Aus der Ecke weht der Wind! Wie bist du denn da rein geraten?«
»Eine Wohnungskäuferin. Sehr attraktiv, und sehr einnehmend. Ich habe keine Ahnung, wie das alles passiert ist. Es ging so … automatisch.«
Peter nickte zustimmend.
»›Automatisch‹ ist zwar nicht das richtige Wort, aber ich weiß, was du meinst. Du kommst dir vor wie ein Spielzeug. Du glaubst zwar, noch die Kontrolle zu haben, doch in Wirklichkeit hat sie die schon übernommen.«
»Genau das meine ich. Sieh mal, erst lädt sie mich wegen des Abschlusses in eine Bar ein. Wir haben miteinander getanzt, und schon waren wir beim Du. Als wir heute den Kaufvertrag gemacht haben, kam sie mit einer Flasche Champagner. Und – stell dir vor – das Erste, was sie in die Wohnung brachte, waren eine Kuscheldecke und zwei Kissen. Darauf haben wir gesessen und getrunken. Was dann kam, kannst du dir denken.«
»Oh ja, das ist schlüssig, sehr schlüssig. Sie hat das Spiel eröffnet, du hast erst zögernd mitgespielt, und letztlich warst du süchtig danach. Das gleiche Schema wie bei jedem Glücksspiel. Nur geht es hier nicht um Geld, sondern um Gefühle.«
»Ja. Wir haben über Glück geredet, und sie fragte mich, ob ich in diesem Moment glücklich sei. Und – verdammt – ich konnte nicht guten Gewissens ›nein‹ sagen. Ich war irgendwie glücklich. Auf eine vollkommen andere Art als mit Julia, aber auch glücklich.«
»Es sieht so aus, als ob du dabei bist, dich zwischen zwei Stühle zu setzen. Du weißt, was dann passiert. Rück auf den einen oder den anderen, sonst landest du auf dem Arsch!«
»In dem Fall hätte ich nichts außer Schmerzen.«
»Auf den Punkt gebracht, ja. Du bist doch jetzt schon – warte … es sind fünf Jahre, richtig – mit Julia verheiratet. Ihr kennt euch, und ich hoffe, du weißt noch, warum du sie damals geheiratet hast. Frag dich mal, ob all das, was euch je verbunden hat, noch da ist! Überlege dir, ob ihr miteinander oder schon mehr nebeneinander lebt. Wenn du diese Fragen alle positiv beantworten kannst, dann sollte dir deine neue Bekanntschaft nichts bedeuten. Wenn du gerade jetzt, wo es passiert ist, immer noch an eine Zukunft mit deiner Frau glaubst, dann war es nur ein Ausrutscher, der nicht geschehen sollte, aber doch kann. Wenn du jedoch so ein eigenartiges Gefühl hast, dich wieder und wieder zu der Neuen hingezogen zu fühlen, weil du Perspektiven siehst, die dir bei Julia nie in den Sinn gekommen sind, dann ist die Sache ernst. Dann ist es Zeit abzuwägen. Was hast du an deiner Frau, und was erwartest du von der anderen? Welche von beiden hat mehr in die Waagschale zu werfen? Wenn du es aber nur aus Lust und Laune getan hast, dann bist du ein Strolch und solltest schnell damit aufhören! Denn das verdient deine Ehe nicht und Julia schon gar nicht.«
Carsten schluckte. Das war eine Ansage – lang und belehrend. Er hatte den Rat des Freundes gesucht – er hatte einen Rat bekommen. Eigentlich war es ein ganzes Bündel Ratschläge.
»Bist du unter die Therapeuten gegangen, dass du alles so haarklein weißt?«, konnte er sich nicht enthalten zu fragen.
»Nein. Das sind alles nur Erfahrungswerte. Erfahrungen, die mir ziemliche Schmerzen bereitet haben. Und die möchte ich dir ersparen. Darum kläre die Fronten, sonst gerätst du dazwischen. Oder abgewandelt: Wer keines Menschen Freund ist, ist aller Feind!«
»Peter, bitte hol doch die Flasche aus der Bar!«
Carsten hatte das Gefühl, einen Brand mit Benzin löschen zu wollen.
Der Bus stoppte zwei Häuser von Julias Wohnung entfernt. Linda ging zielstrebig zur Haustür, um sich mit dreimal kurzem Klingeln anzumelden. Dann verschwand sie im Treppenhaus.
Julia stand schon in der Tür, als die Freundin auf dem Treppenabsatz anlangte.
»Schneller ging’’s wirklich nicht.«
Sie ließ sich umarmen, dann gingen beide ins Wohnzimmer.
»Setz dich! Es tut so gut, dass du gleich kommen konntest.«
Linda wählte die Couch.
»Ich habe doch an deiner Stimme gehört, dass du ziemliche Sorgen haben musst. Hier ist dein Container – wirf sie hinein!«
»Weißt du, Linda – ich glaube, ich bin mit meinem Beruf überfordert. Das Verrückte ist, dass ich genau das immer tun wollte. Es hat mir auch die ganzen Jahre Spaß gemacht. Aber momentan bin ich an einem Punkt angelangt, wo ich früh schon müde zur Arbeit komme. Ich fühle mich oft abgeschlagen und matt, mir fehlt der Pep, den ich immer hatte. Jedes neue Event, das wir planen, bringt mich tiefer in die Krise. Heute bin ich im Büro beim Überlegen einfach eingeschlafen, und ich wollte gar nicht wieder aufwachen. Weißt du wie schrecklich das ist – diese Ohnmacht gegenüber dem eigenen Körper?«
»Ehrlich, das klingt nicht gut. Du solltest mal einen Arzt aufsuchen. Ich kenne mich da nicht so aus, aber entweder hast du irgendwelche Mangelerscheinungen oder du bist ausgebrannt - Burnout. Und das ist richtig schlimm. Ich habe davon gelesen, dass manche Menschen dann nie wieder in ihrem Beruf arbeiten konnten. Bei dir ist das vielleicht nicht so arg, denn du bist ja kein Lokführer oder Pilot, wo es um Menschenleben geht. Doch ich bitte dich, das nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.«
»Ich verstehe. Mein Chef hat mich auch gleich, als ich wieder zu mir gekommen bin, nach Hause geschickt. Und ich habe ihm erzählt, dass ich eventuell mal ein, zwei Monate aussetzen sollte, um mich zu regenerieren.«
Linda schaute ihrer Freundin ins Gesicht.
»Du siehst wirklich nicht gut aus. Deine Augen glänzen nicht, sie bewegen sich unruhig. Du bist blass. Ich fürchte, wenn es an dem ist, werden zwei Monate nicht reichen. Ich würde eher auf ein halbes bis ein Jahr tippen.«
»So lange? Glaubst du, ich brauche wirklich ein Jahr, um mich zu erholen?«
Die Freundin zuckte mit den Schultern.
»Es geht nicht nur ums Erholen. Du musst deinem Körper von Grund auf wieder neue Energie geben – so viel, dass er auch Belastungen aushält. Der Zustand hat sich wahrscheinlich über Jahre hin aufgebaut. Nun braucht es auch entsprechend lange, um das alles wieder zu stabilisieren. Wie gesagt, das ist meine Meinung. Die ersetzt dir natürlich nicht die Diagnose eine Arztes. Ich an deiner Stelle würde nächste Woche gleich einen aufsuchen.«
»Linda, danke, dass du mir das gesagt hast. Selbst will man so etwas immer nicht glauben. Ich hätte mir sicher etwas vorgemacht und mich weiter jeden Tag ins Büro gesetzt. Wahrscheinlich hätte mein Chef auch etwas gesagt. Doch der sollte besser gleich mit mir mitkommen. Weil wir uns so gut kennen, dass wir uns ehrlich die Meinung sagen, ist dein Rat so wichtig für mich.«
Linda holte den Kognak aus der Tasche.
»Hast du Gläser? Den habe ich als medizinische Erstversorgung mitgebracht.«
Das Wetter hatte ausgehalten. Der Samstag wurde ein Traumtag. Es war nicht mehr ganz so warm, doch für zwanzig Grad reichte es allemal. Etwas Besseres konnte der Firma Grossmann für ihr Jubiläum gar nicht passieren.
Hartmut Grossmann, Chef des Unternehmens, hatte zum Fest gebeten. Und die fünfzig Mitarbeiter mit ihren Partnern – soweit vorhanden – waren erschienen. Dazu kamen Vertreter der Stadt, die Presse und geladene Gäste. Es sollte ein großer, ein unvergesslicher Tag werden. Und er sollte die Angestellten dazu motivieren, auch weiterhin ihr Bestes für die Firma zu geben.
Unter den geladenen Gästen befand sich neben der Bürgermeisterin, dem Vizepräsidenten der Industrievereinigung und anderen Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft auch Julia. Sie hatte das Event maßgeblich arrangiert, deshalb war es selbstverständlich, sie auch einzuladen. Es kam im Übrigen nicht selten vor, dass der zuständige Eventmanager Gast der Veranstaltung war.
Da die Feier mit dem Mittagessen auf dem geschmückten Festplatz begann, wurde auf Abendgarderobe verzichtet. Die Herren erschienen im zwei- oder dreiteiligem Anzug, die Damen führten ihre Frühjahrskleider vor. Julia trug ein aprikotfarbenes schulterfreies Kleid mit Paillettenstickerei, welches einen sehr schönen Kontrast zu ihrem dunklen Haar gab. Das hatte sie, die es sonst oft der Einfachheit halber mit einer Spange zusammenhielt, heute modisch hochgesteckt. Auf diese Weise präsentierte sich die Agentur auch optisch im besten Licht. Es war schließlich davon auszugehen, dass es Bilder von der Veranstaltung in der örtlichen Presse geben würde.
Bevor es zu Tisch ging, hatte Hartmut Grossmann eine Ansprache vorbereitet. Zusammen mit dem Vorstand und den geladenen Gästen hatte er an der querstehenden Tafel am Kopfende der Gesellschaft seinen Platz. Jetzt erhob er sich und ging mit festem Schritt zu dem Mikrofon, das vor dem Tisch aufgestellt war. Er hüstelte kurz, setzte seine Brille auf und nahm die Notizen aus der Jackentasche.
»Liebe Gäste. Ich möchte nicht viele Worte machen, damit wir bald das vorzügliche Mahl genießen können. Lassen Sie mich nur kurz auf das eingehen, was uns heute hier zusammengeführt hat. Seit fünfundzwanzig Jahren gibt es Grossmann. Mein Vater hat in einem alten Lagerhaus die Firma aus der Taufe gehoben. Er hatte sich damals sicher nicht träumen lassen, dass wir einmal zu einem gefragten Hersteller von Präzisionsteilen für den Anlagenbau werden sollten. Diese Entwicklung vom kleinen Handwerksbetrieb zur renommierten mittelständischen Firma ist nicht im Selbstlauf vor sich gegangen. Wir haben hart arbeiten müssen, um uns einen Namen in der Branche zu machen …«
Julia hörte sich den Vortrag gelangweilt an. Bisher hatte jeder Redner, der ›nicht viele Worte‹ machen wollte, einen längeren Monolog geliefert. Sie war hungrig, und ihr kam es vor, als ob es immer heißer wurde. Es war zwar ihre Aufgabe, die Agentur zu vertreten, doch gedachte sie nicht, dies bis zum Abend auszudehnen.
»… und dass unser heutiges Jubiläum zu einem vollen Erfolg wird, ist vor allem Verdienst der Eventagentur ›Highlife‹, deren Mitarbeiterin, Frau Julia Gärtner, ich die Ehre habe, als Gast zu begrüßen. Darf ich Sie kurz nach vorn bitten!«
Während Julia sich erhob und von der einen Seite um die Tafel herum zum Mikrofon ging, erhielt der Chef von der anderen Seite ein Bukett gereicht.
»Frau Gärtner, ich möchte Ihnen stellvertretend für alle Beteiligten an der Ausgestaltung dieses wunderbaren Festes diese Blumen als Dank überreichen.«
Julia nahm den Strauß entgegen. In ihren Ohren begann es zu rauschen, immer lauter und lauter. Mit einem aufgesetzten Lächeln wollte sie wieder zu ihrem Platz gehen, doch ihre Knie wurden weich. Die Hitze in ihr wurde unerträglich, die Welt um sie herum rückte in die Ferne, verschwamm. Das Kleid beengte sie, sie spürte ihr Herz im Halse schlagen, sie taumelte, dann wurde es dunkel.
»Frau Gärtner! Um Himmels willen, Frau Gärtner!«
Herr Grossmann eilte zu ihr, um sie im Fall aufzufangen. Andere sprangen hinzu.
»Schnell, ruft einen Krankenwagen! Wir brauchen einen Arzt!«
Einer der Gäste hatte eine Serviette im Eiswasser des Sektkühlers getränkt und brachte den kalten Umschlag.
Ein anderer drängte sich durch die herumstehenden Menschen. Grossmann erkannte ihn.
»Macht bitte Platz für Dr. Winter! Lasst den Arzt durch!«
Dr. Winter war Vertragsarzt bei Grossmann, deren Angestellte er neben denen anderer Firmen medizinisch betreute. Er beugte sich zu Julia herab, fühlte ihren Puls, kontrollierte die Pupille.
»Wie sieht es aus?« Grossmann war sichtlich erregt.
»Es scheint nichts Bedrohliches zu sein. Kreislaufinsuffizienz, akute Erschöpfung, Überreizung – so etwas in der Art. Trotzdem muss sie schnell zu einem gründlichen Check in die Klinik, um Komplikationen auszuschließen.«
Durch das Gewirr der Stimmen um die junge Frau herum hörte man den Klang des Sondersignals. Der Krankentransport näherte sich.
»Ich bitte Sie, meine lieben Gäste – gehen Sie wieder zu ihren Plätzen! Es besteht keine Gefahr. Würden Sie bitte den Weg für die Ambulanz freimachen!«
Hartmut Grossmann versuchte, die Menschenmenge zu besänftigen. Währenddessen arbeiteten die Presseleute auf Hochtouren. Das würde eine Schlagzeile geben: ›Organisatorin des Grossmann-Jubiläums bricht zusammen!‹
Endlich erschienen die Helfer von der Ambulanz. Eine Ärztin untersuchte Julia noch einmal, dann wurde sie zum Fahrzeug gebracht.
Während das Martinshorn sich entfernte, zog langsam Ruhe in der versammelten Gesellschaft ein.
»Wo bin ich? Was war los?«
Julia versuchte sich umzusehen.
»Bleiben Sie bitte ruhig liegen! Sie befinden sich in einem Krankenwagen. Es ist nichts Ernstes, aber Sie müssen dringend in der Klinik untersucht werden. Sie sind auf einer Feier zusammengebrochen.«
Die Frau, die das sagte, beugte sich über sie.
»Ich bin Dr. Sabine Walter. Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«
»Julia Gärtner.«
»Wie alt sind Sie?«
»Einunddreißig.«
Die Ärztin zeigte ihre Hand.
»Wie viele Finger sehen Sie?«
Julia strengte sich an. Es fiel ihr schwer, sich auf die Hand zu konzentrieren.
»Drei, glaube ich …«
Die Ärztin hatte zwei Finger ausgestreckt.
»Es ist alles so verschwommen, und schwindlig ist mir auch.«
Dr. Walter beruhigte sie.
»Das vergeht bald. Trinken Sie ausreichend?«
»Wohl eher zu wenig, denke ich. Die Arbeit …«
Die Ärztin hatte das schon angenommen. Sie legte eine Infusion.
»Frau Gärtner. Sie sind dehydriert. Ich führe Ihnen jetzt erst einmal Flüssigkeit zu. Das ist eines Ihrer Probleme.«
»Was noch?«
»Darüber reden wir nach der Untersuchung.«
Der Wagen hielt an. Die Tür wurde geöffnet, die Sanitäter brachten die junge Frau in die Notaufnahme.
Dr. Walter kam hinterher. Sie instruierte einen Assistenzarzt.
»EKG, EEG, Blutbild! Kreislaufinsuffizienz, Wahrnehmungsstörungen, Dehydration.«
Julia lag noch immer benommen da. Sie fühlte sich jedoch schon wieder etwas besser. Die Infusion zeigte Wirkung.
»Ihr Blutdruck ist zu niedrig. Wir müssen ihn stabilisieren, dann sehen wir weiter.«
Während Dr. Walter das sagte, prüfte sie verschiedene Reflexe. Der Assistenzarzt nahm ihr inzwischen eine Blutprobe ab und verschwand ins Labor. Die Ärztin selbst nahm eines der bereitliegenden OP-Hemden.
»Ich helfe Ihnen jetzt, sich aufzurichten. Sie müssen aus Ihrem Kleid heraus.«
Sie griff um Julias Schulter und schob den Oberkörper langsam hoch. Dann öffnete sie den Reißverschluss und ließ ihre Patientin wieder auf die Trage hinab.
»Sie haben Glück, dass das Kleid schulterfrei ist. Das erspart uns eine Menge Umstände.«
Mit Julias Hilfe gelang es schließlich, das Kleidungsstück abzustreifen.
Der Assistenzarzt kam zurück. Dr. Walter legte die Elektroden für das EKG an.
»Nun, Herr Kollege, was sagen die Werte?«
Der Arzt bediente das Gerät. Er warf einen Blick auf den Ausdruck.
»Keine Auffälligkeiten. Nur ein schwaches Leistungsdefizit.«
Die Ärztin kontrollierte den Streifen. Sie nickte.
Julia versuchte, dem Gespräch zu folgen. Doch sie fühlte sich sehr müde, und außerdem wusste sie mit den Fachbegriffen nicht viel anzufangen.
Dr. Walter half ihr in das OP-Hemd.
»Wir werden Sie zwei, drei Tage hier behalten. Wenn wir alle Untersuchungen abgeschlossen haben, können wir über ihre Zukunft sprechen. Was ich jetzt noch wissen möchte: Was für Arbeit gehen Sie nach, und wie viele Stunden sind sie tätig – pro Tag, pro Woche?«
»Ich arbeite in einer Eventagentur. Die Feier haben wir gemanagt. Und wenn man alles zusammenrechnet, kommen sicher sechzig, manchmal vielleicht auch siebzig Stunden in der Woche heraus.«
»Frau Gärtner, eines kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Das dürfen Sie Ihrem Körper nicht länger antun! Gewöhnen Sie sich an den Gedanken, dass Sie weniger arbeiten werden.«
Julia nickte. Sie hatte verstanden.
Das Telefon klingelte. Carsten meldete sich.
»Hier ist die Seebach-Klinik, Dr. Walter. Sind Sie der Ehemann von Julia Gärtner?«
Carsten wurde unruhig.
»Ja. Was ist mit meiner Frau? Ist etwas passiert?«
»Ihre Frau ist bei uns in Behandlung. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie hatte einen Zusammenbruch auf einer Feier, es besteht jedoch keine Gefahr. Können Sie es einrichten, hier vorbeizukommen? Sie muss mindestens bis Montag in der Klinik bleiben. Wenn Sie ihr einige Sachen bringen könnten, auch etwas Bequemes zum Anziehen.«
»Natürlich komme ich sofort. Wo finde ich sie?«
»Melden Sie sich bitte am Empfang! Dort wird man Ihnen die Zimmernummer sagen können.«
Die Ärztin hatte aufgelegt. Carsten überlegte fieberhaft. Julia war auf diesem Firmenjubiläum gewesen. Und dort musste es passiert sein. Aber wieso? Er hatte doch nicht bemerkt.
Egal. Carsten schnappte sich eine Tasche, packte die nötigsten Dinge ein, suchte im Kleiderschrank Unterwäsche, Jeans und ein Shirt und verstaute die Sachen ebenfalls. Dann setzte er sich ins Auto. Die Seebach-Klinik lag am anderen Ende der Stadt. Es war Samstagnachmittag. In der Innenstadt war jetzt bestimmt die Hölle los. Carsten entschloss sich, die Ringstraße zu benutzen. Dort war mit einigermaßen flottem Vorwärtskommen zu rechnen.
Eine Viertelstunde später erreichte er den Parkplatz der Klinik. Er riss die Tasche vom Beifahrersitz und ging mit schnellen Schritten zum Haupteingang.
»Entschuldigung. Können Sie mir sagen, auf welchem Zimmer ich Julia Gärtner finde? Sie ist heute eingeliefert worden.«
Die Frau am Empfang gab den Namen in den Computer ein.
»Zimmer 211. Da ist der Lift, oben geht es nach links.«
Carsten wandte sich um, brummelte noch ein »Danke« und war schon am Aufzug. Der war gerade angelangt. Er ließ einer älteren Dame den Vortritt und betrat die Kabine.
»Welche Etage darf ich für Sie drücken?«
Die Frau blickte ihn an.
»Die zweite, wenn Sie so nett wären.«
»Das trifft sich. Da muss ich auch hin.«
Als sie den Lift verließ, wandte sie sich nach rechts. Carsten nahm die andere Richtung. Zweihundertneun, zweihundertzehn, zweihundertelf. Er klopfte an, dann öffnete er die Tür.
Im Zimmer gab es zwei Betten. Vorn lag eine Frau, die in den Fünfzigern sein mochte. Julia hatte das Bett am Fenster.
»Schatz, was machst du denn für Sachen?«
Julia lächelte.
»Carsten! Wie kommst du denn hierher?«