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Beschreibung

Die Herausgeber*innen haben ein breites Spektrum an Autor*innen eingeladen, ihre Vorstellungen darüber, wie eine herrschaftsfreie, demokratische Wirtschaft organisiert werden könnte, einmal ganz konkret auszubuchstabieren. Herausgekommen ist ein Band mit Texten von Schriftsteller*innen, Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen über partizipatorische Planwirtschaft, vernetzte Räte und politische Selbstbestimmung bis hin zu rechtlichen Perspektiven, philosophischen Praktiken oder reproduktiven Fragen einer zukünftigen Ökonomie. Der Soziologe Jens Kastner und der Politikwissenschaftler John Holloway thematisieren grundlegende Werte einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Die Soziologin Ilse Lenz berichtet über Gesellschaften, in denen Frauen Macht innehaben, ohne Herrschaft auszuüben, die feministische Politologin Savvina Chowdhury referiert über Reproduktionsarbeit in einer partizipatorischen Wirtschaft und deren Begründer Michael Albert und Robin Hahnel stellen ihre Vision vor. Der Schriftsteller Ilija Trojanow bringt sich ebenso ein wie die Künstlerin Nika Dubrovsky, die mit Noam Chomsky über die Ideen von David Graeber spricht. Allen Beiträgen und Beiträger*innen ist die Hoffnung gemein, der lebendigen und bunten Vielfalt der Möglichkeiten einer herrschaftsfreien Gesellschaft endlich auch in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte Gehör zu verschaffen.

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Seitenzahl: 703

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Thomas Stölner ist Ethnologe, Philosoph, Lehrer und Autor. Sein Interesse gilt der Umsetzung partizipatorischer Inhalte und Fertigkeiten gerade auch für weniger privilegierte Menschen.

Uwe H. Bittlingmayer ist Soziologe mit den Schwerpunkten empirische Gesundheits-, Bildungs- und Ungleichheitsforschung, Kritische Theorie, Afghanistan, Namibia.

Gözde Okcu, geboren 1998 in Izmir, ist Soziologin mit Arbeitsschwerpunkten Gesundheitliche Ungleichheit und soziallagenorientierte Gesundheitsförderung.

Thomas Stölner, Uwe H. Bittlingmayer, Gözde Okcu (Hg.)

Anarchistische Gesellschaftsentwürfe

Zwischen partizipatorischer Wirtschaft,herrschaftsfreier Vergesellschaftungund kollektiver Entscheidungsfindung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Thomas Stölner, Uwe H. Bittlingmayer, Gözde Okcu (Hg.):

Anarchistische Gesellschaftsentwürfe

Zwischen partizipatorischer Wirtschaft, herrschaftsfreier Vergesellschaftung und kollektiver Entscheidungsfindung

1. Auflage, Oktober 2023

eBook UNRAST Verlag, Januar 2024

ISBN 978-3-95405-182-3

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Danke an:

Manfred Renken (Übersetzungen), Doris Englisch-Stölner (Übersetzungen, Korrekturlesen einiger Texte), Lars Stubbe (Übersetzungen), Jan Pauls (Textbearbeitung), Stefan Hilden (grafische Bearbeitung).

Inhalt

Konstantin WeckerVon der Kraft der Ideen – gemeinsam denken, träumen und handeln

Thomas Stölner / Uwe H. Bittlingmayer / Gözde OkcuZwischen Partizipatorischer Ökonomie, Herrschaftskritik und Sozialanthropologie

Teil 1 – Die Wirtschaft und unser Gemeinwesen partizipatorisch organisieren

Michael Albert und Alexandria ShanerPartizipatorische Ökonomie im Überblick: Was, Warum, Wie

Robin HahnelPartizipatorische Investitions- und Entwicklungsplanung

Jason Chrysostomou & Mitchell SzczepanczykOptimierung und Demokratisierung jährlicher Planungsprozesse

Claude KlöcklWarum (nicht) planen? – Proceedings

Anders SandströmAnarchistische Buchhaltung

Stephen R. ShalomEntscheidungsfindung in einer guten Gesellschaft: Ein Fall für verschränkte Räte

Savvina ChowdhuryWie man die soziale Reproduktion in einer partizipatorischen Wirtschaft organisiert und dabei das Patriarchat abbaut

Stefan Meretz, Simon SutterlüttiVerteilte commonistische Planung

Daniel Loick und Jan GroosFreiheit, Souveränität und Recht ohne Gewalt | Ein Gespräch

Simon SutterlüttiParecon: Noch immer Lohnarbeit, noch immer Kapitalismus

Robert HahnelAntwort auf Sutterlütti und den ›Commonismus‹

Teil 2 – Alternative Organisationen zur Überwindung überflüssiger sozialer Herrschaft

Reinhart KößlerNationalstaat und Moderne

Bernd DrückeAnarchismus als gelebte Utopie, Anarchie als Ziel

Ilse LenzFrauenmacht ohne Herrschaft – Überblick und aktuelle Ansätze feministischer Theorie

Hermann AmbornRecht – ein Hort der Anarchie am Beispiel polykephaler Gesellschaften in Afrika

Johann BergmannHerrschaftsfrei die Re_Produktion organisieren

John HollowayAnarchistische Antworten?

Jens KastnerSolidarität zwischen Staat und Anarchie

Teil 3 – Konkrete Formen alternativer Entscheidungsfindungen

Christoph BesemerKonsens mit Tausenden. Entscheidungsfindung in großen Gruppen

Zora WeberGemeinschaftsbildung nach Morgan Scott Peck als Ressource für anarchische Gruppenbildungsprozesse

Peter SeyferthRechtsdurchsetzung in anarchistischen Gruppen

Gerlinde KrehnGemeinschaftsfähigkeit durch Philosophieren

Ausblick

Nika Dubrovsky & Noam ChomskyÜber David Graebers »Pirate Enlightenment«

Ilija Trojanow Von der Notwendigkeit von herrschaftsfreien Räumen zu erzählen

Konstantin WeckerDie Kultur der Anarchie

Den Parolen keine Chance

Was mich wütend macht

Weiterführende Empfehlungen

Die Autor*innen

Die Herausgeber*innen

Anmerkungen

Konstantin Wecker

Von der Kraft der Ideen – gemeinsam denken, träumen und handeln

Ein Vorwort

Wir, die wir keine Machthaber sind und niemals sein wollen, besitzen eine sehr wertvolle Fähigkeit: Wir können unsere Ideen und unsere Leidenschaft für Utopien in die Welt setzen. Und wir sollten es gerade im Angesicht von Krieg und Klimakrise verstärkt tun. Je älter ich werde, desto bewusster wird mir die Bedeutung dieser wertvollen Praxis, gemeinsam zu denken, zu träumen und zu handeln. Und als Künstler und aslter Anarcho fühle ich mich ganz besonders dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die anarchischen Kräfte unserer Ideen und Utopien gerade in schrecklichen Zeiten wie diesen nicht verstummen oder gar aussterben.

Deshalb habe ich mich sehr gefreut, ein Teil dieses wichtigen Buches über anarchistische Gesellschaftsentwürfe sein zu dürfen. Zumal darin so viele spannende und wichtige Denker*innen zu Wort kommen, von denen ich viele seit Jahrzehnten schätze, mit einigen schon lange befreundet bin und wieder andere hoffentlich noch kennenlernen darf.

»Es ist unsere Verantwortung, als Intellektuelle oder einfach als nachdenkliche Menschen zu versuchen, zumindest zu überlegen, wie etwas Besseres aussehen könnte. Und wenn es Leute gibt, die tatsächlich versuchen, etwas Besseres zu schaffen, liegt es in unserer Verantwortung, ihnen dabei zu helfen«, sagte David Graeber über die Bedeutung der »echten Revolution« in Rojava in einem Gespräch mit der Journalistin Pinar Öğünç. Das spricht mir aus der Seele.

Der Anthropologe, Anarchist und Aktivist David Graber ist viel zu früh aus dem Leben gerissen worden. Seit vielen Jahren schätze und lese ich seine so wichtigen Bücher und Texte und bedaure es sehr, dass ich ihn persönlich leider nicht mehr kennenlernen durfte. Umso glücklicher bin ich, dass sein Denken in unserem Buch präsent ist: »David sagte oft, seine Aufgabe sei es, die Aufklärung zu dekolonisieren, unsere Vorstellungen von der Gesellschaft, in der wir leben wollen, zu verändern«, sagt die Künstlerin und Autorin Nika Dubrovsky in dem Gespräch mit dem großen Intellektuellen Noam Chomsky über das erst posthum erschienene Werk ihres verstorbenen Mannes Pirate Enlightenment, or the Real Libertalia, das in diesem Buch zu lesen ist. Das gemeinsame Nachdenken von Dubrovsky und Chomsky ist ein beeindruckendes Beispiel kritischen dialogischen Denkens, das die Bedeutung von Graebers Arbeit und seinen Kampf für eine bessere Welt würdigt.

David Graber ist zum Beispiel persönlich nach Rojava gefahren und hat die Menschen in dieser selbstverwalteten Region in Nordsyrien unterstützt und ihnen bei ihrem Versuch geholfen, »etwas Besseres zu schaffen«. Ich stimme ihm von Herzen zu: Rojava und die kurdische Bewegung gehen uns alle an und die Menschen von Rojava brauchen unsere weltweite Solidarität. Und wir brauchen die Utopie von Rojava, gerade auch wir in den westlichen Metropolen: dieses gesellschaftliche Experiment einer basis- und rätedemokratischen, feministischen, ökologischen und sozial gerechten, multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft in Nordsyrien. Seit Jahren ist das selbstverwaltete Projekt in Rojava ein Hoffnungsschimmer in der gesamten Region für Frieden und eine antirassistische Solidarität gegen Hass und Zerstörung. Für David Graeber ist Rojava eine »echte Revolution«, so wie der Kampf um ein freies, selbstbestimmtes und selbstorganisiertes anarchosyndikalistisches Spanien 1936 für ihn eine war. Sein Vater hatte dort auf der Seite der spanischen Republik gegen den Faschismus gekämpft und kehrte als überzeugter Anarchist zurück.

Es ist eine kluge Idee dieses Sammelbandes über anarchistische Gesellschaftsentwürfe Beiträge zu versammeln und miteinander in Kommunikation zu bringen, die global und regional, abstrakt, groß und zugleich konkret und praktisch denken, forschen und argumentieren. Das spüre und erlebe ich, wenn Ilija Trojanow über die Notwendigkeit nachdenkt, von herrschaftsfreien Räumen zu erzählen, oder wenn Nika Dubrovsky und Noam Chomsky über feministische Praktiken in Kunst, Ökonomie und Politik sprechen oder über die Konkurrenz der Imperien und den Krieg in der Ukraine. Es wird lebendig, wenn Jens Kastner Solidarität als »permanente, kollektive Beziehungsarbeit« diskutiert, Michael Albert und Alexandria Shaner Ideen für eine partizipatorische Ökonomie vorstellen, Christoph Besemer sich Gedanken macht über die Entscheidungsfindung in großen Gruppen anhand konkreter Erfahrungen in Protestbewegungen, Stephen R. Shalom über Möglichkeiten partizipativer Entscheidungsfindung in einer guten Gesellschaft oder sich Zora Weber mit antihierarchischen Gruppenbildungsprozessen und Kommunikationsformen auseinandersetzt, die für die Bildung von anarchistischen Gemeinschaften sinnvoll sind. Um nur einige der Texte beispielhaft anzusprechen.

In meinem Beitrag »Die Kultur der Anarchie« setze ich mich mit der langen Geschichte der Diffamierung anarchistischen Denkens auseinander. Denn Machthaber, Regierungen und reaktionäre Denker wollen uns schon seit Jahrhunderten einreden, dass eine andere, gerechtere, herrschaftsfreie Gesellschaft nicht möglich sei. Wir sollten endlich diese gefährliche Propaganda von der Notwendigkeit staatlicher Gewalt als das entlarven, was sie ist: eine Lüge. Der Mensch ist zu Empathie und Solidarität fähig und somit mitnichten »dem Menschen ein Wolf«, wie es Thomas Hobbes für seine Konstruktion des angeblichen Naturzustandes des Menschen behauptet und benötigt, um dem Staat absolute Macht zu schenken und jede demokratische Selbstbestimmung als Hochverrat zu unterbinden.

Der anarchische Gedanke durchglühte die Menschheitsgeschichte schon lange, bevor das Wort Anarchie zum Schimpfwort wurde. Die Reichen und Mächtigen tun gerade alles dafür, diese Welt für immer zu zerstören. Es bleibt unsere Aufgabe und unsere Fähigkeit, endlich dafür zu sorgen, das angeblich »Unmögliche, nicht Realisierbare« wirklich werden zu lassen.

»Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen«, schrieb der Philosoph Ernst Bloch in seinem Werk Das Prinzip Hoffnung. Utopien sind Prozesse der Bewusstwerdung der Möglichkeit von Veränderung. Und so werden gesellschaftliche Kämpfe maßgeblich von den Hoffnungen der Menschen auf ein besseres Leben und eine gerechtere Welt vorangetrieben. Wir sollten deshalb einfach nur noch das tun, was uns allen ein besseres Leben ermöglicht.

Die herrschenden Verhältnisse sind nie alternativlos, in keinem Moment. Auch wenn uns die Narrative der Macht dies vormachen wollen. Wir könnten unsere Utopien gar nicht denken, wenn nicht schon längst auf der ganzen Welt so ungeheuer vielfältige, kreative und lebendige Momente und Aspekte einer herrschaftsfreien Welt gelebt würden. Durch den alltäglichen Widerstand für Würde, echte Demokratie und Brot, durch Selbstorganisation und durch solidarische Projekte: All diese gemachten Erfahrungen und die Erinnerungen daran und vor allem die selbstorganisierten lebendigen Momente sind »Oasen der Freiheit«, wie es mein Freund Ilija Trojanow in einem gemeinsamen Gespräch so treffend formuliert hat. Ihr könnt unser Nachdenken über Anarchie & Utopien übrigens vollständig sehen in unserem YouTube-Kanal Weckerswelt.

»Wir, die Kinder, haben eine uralte Kultur geerbt, die versteht, dass alles miteinander verbunden ist, dass nichts getrennt ist und dass nichts außerhalb ist. Deshalb sagen sie uns, dass wir alle zusammen gehen, dass niemand zurückbleibt, dass alle alles haben und niemandem etwas fehlt. Und dass das Wohlergehen aller das Wohlergehen von einem selbst ist. Dass Helfen ein Weg ist, zu wachsen und glücklich zu sein. Dass uns der Verzicht zum Wohle des anderen stärkt, dass uns zu vereinen und uns im Ganzen zu erkennen der Weg von gestern, heute, morgen und immer ist, von dem wir nie abgewichen sind.«

Diese Worte stellte der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca an den Anfang seiner richtungsweisenden Rede zu seinem Amtsantritt am 8. November 2020. Wie sehr erinnern mich seine Worte an eine Strophe in meiner deutschen Nachdichtung des Liedes Gracias a la Vida der chilenischen Musikerin Violeta Parra:

Ich danke dem Leben,

den Flüssen, den Reben,

den Winden, den Bäumen,

und ich dank meinen Träumen,

denn sie ließen mich fliegen,

die Starrheit besiegen,

und es ließ mich erkennen:

wir sind nicht zu trennen,

woher wir auch stammen –

wir sind eins und zusammen.

Die uralten indigenen Kulturen haben ihre Erfahrungen und ihre Erkenntnisse bis heute weitergegeben. Sie haben nicht vergessen, dass alles miteinander verbunden ist. Nichts getrennt. Ich möchte es immer und immer wieder hören, denn diese Erkenntnis ist entscheidend für diese so alte und doch so neue Utopie, an der wir uns immer und immer wieder orientieren sollten. Im Gegensatz dazu basiert der Kapitalismus auf Arbeitsteilung und Ausbeutung. Kein Wunder, dass er dieses Wissen von der Verbundenheit aller Dinge und Menschen auslöschen will. Das Gemeinsame verbindet, unterstützt und baut auf, statt zu trennen und zu zerstören.

Es geht also darum, anarchistische Welten zu denken, zu suchen und zu erschaffen. Dafür brauchen wir Mut, den so oft belächelten Weg in eine andere Gesellschaft, in eine liebevolle und respektvolle Gesellschaft der Ordnung ohne Herrschaft für unsere zukünftigen Mitmenschen zu ebnen.

Ich werde deshalb nicht aufhören von einer herrschaftsfreien Welt ohne Krieg und Faschismus zu träumen, von einer grenzenlosen Welt ohne Patriarchat, Rassismus, Unterdrückung und Ausbeutung. Und wir sollten weiter gemeinsam für eine herrschaftsfreie Welt kämpfen. Denn nur eine sozial gerechte Welt solidarischer Menschen wird uns von Kriegen, Klimawandel, Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus befreien.

Wer die Zukunft neu und gerecht gestalten will, muss die Gegenwart verstehen: Und weil wir uns von der sich rasant ausbreitenden Dummheit der Macht nicht weiter dumm machen lassen wollen, brauchen wir heute dringend Utopien und gelebte Versuche, die das Leben für alle Menschen auf der Welt gerechter machen und die uns allen Hoffnung und Mut schenken und uns überleben lassen. Die Suche nach anarchistischen Gesellschaftsentwürfen ist eine aufregende Reise in eine freie Welt voller Sehnsucht und Träume nach einem besseren Leben. Begeben wir uns gemeinsam auf die Suche. In diesem Sinne wünsche ich diesem Buch viele Leser*innen sowie spannende Diskussionen, die wachsen und sich fortsetzen.

Thomas Stölner / Uwe H. Bittlingmayer / Gözde Okcu 

Zwischen Partizipatorischer Ökonomie, Herrschaftskritik und Sozialanthropologie 

Anarchistische Antworten auf die Krise des Nationalstaats

1. Rahmung: Nationalstaaten in der Krise

Obwohl in den anarchistischen Theorietraditionen seit Jahrzehnten um plausible Alternativen gegenüber der aktuellen Vergesellschaftung gerungen wird, lässt sich die etablierte Wissenschaft bislang sehr wenig davon beeindrucken. Das ist umso erstaunlicher, weil die globale gesellschaftliche Ordnung und die sie bildenden Nationalstaaten tief in der Krise stecken. Dabei wird die Einschätzung, dass kapitalistische Ökonomien bzw. Gesellschaften aufgrund vielfacher Unzulänglichkeiten keine Perspektive für eine sozial gerechte und nachhaltig für Menschen und andere Lebewesen bewohnbare Welt bieten, immer breiter geteilt. Darin sind sich fast alle vernünftigen Wirtschaftswissenschaftler*innen einig. Allein der intrinsische Wachstumszwang ist Grund genug, sich um eine andere Form der Gütererzeugung und -verteilung zu kümmern. Die Existenzkrise des Nationalstaats ist insofern keine kühne Behauptung, sondern mehr oder weniger Common Sense in der soziologischen, politikwissenschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen oder philosophischen Auseinandersetzung mit Gegenwartsgesellschaften (vgl. hierzu auch die Beiträge von Albert & Shaner sowie Shalom). In den letzten Jahren ist eine Reihe von klugen Analysen publiziert worden, die sich mit unterschiedlichen Krisensymptomen auseinandergesetzt haben und zu unterschiedlichen prognostischen Einschätzungen gelangen. Als zentrale (aber nicht exklusive) und sehr komplexe Krisenmotive werden in der Regel – unabhängig voneinander – das globale ökonomische Geschehen, mitsamt Weltwirtschaftskrisen, Armutsproduktion und Verteilungsproblematik (I.), die Militarisierung der Außenpolitik (II.) sowie die ökologische Krise (III.) verhandelt. Die drei Krisenmotive sollen im Folgenden ganz knapp und aus großer Flughöhe skizziert werden, um zumindest einen groben Eindruck der aktuellen Lage zu vermitteln. 

I.

Am Beginn der Krisendiagnosen kapitalistischer Gesellschaften steht häufig die Vermutung, dass die demokratisch-repräsentative Organisationsform kapitalistischer Gesellschaften mit Blick auf ihre Regulationsmöglichkeiten ihr Pulver verschossen hat und auf eine Situation zusteuert, die nicht mehr durch die verfügbaren politischen Instrumente bearbeitet werden kann (Streeck 2018). Am anderen Ende der Gesellschaftskritik werden in den westlichen Industriegesellschaften Phänomene angeprangert, die auf ein Zuviel an staatlicher Regulation, auf eine Ausdehnung staatlicher Gewalt gegenüber Bürger*innen hinweisen. Dabei wird auf die Ausdehnung von staatlicher Eingriffstiefe wie sie etwa durch die ›Sozialgesetzreformen‹ in den 2000ern durchgesetzt wurden oder sich in der Ausspähung der ganzen Bevölkerung im Zuge des Einsatzes von sogenannten Bundestrojanern niederschlagen, Bezug genommen und die Gefahr der Etablierung eines digitalen Polizeistaates sichtbar gemacht (Lessenich 2013; Greenwald 2015; Welzer 2017). In der Analyse sozialer Ungleichheit wird die Lage breiter erörtert, aber die These, dass es – weltweit – eine enorme Konzentration des gesellschaftlichen Vermögens gibt und dass das reichste Prozent in den Industriegesellschaften selbst in Zeiten der globalen Wirtschaftskrisen 2008/2009 und 2013/14 noch reicher geworden ist, findet viele Anhänger*innen (vgl. hierzu die Studie von Piketty 2014 und die bis heute anhaltende Diskussion). Es wird sogar die realistisch anmutende Prognose diskutiert, dass sich die Hegemonie eines globalisierten Kapitalismus nachhaltig nach Osten zugunsten Chinas verschiebt und sich damit das immer wieder beschworene natürliche Wechselverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus verabschiedet (Milanović 2020). Die Hoffnung der Neoliberalen, falls sie jemals selbst daran geglaubt haben, dass sich durch den Rückbau staatlicher Regulierungen und die Stärkung marktwirtschaftlicher Selbstregulierung etwas verbessert, ist spätestens seit den letzten drastischen Finanzkrisen 2007/08 und 2013 nicht mehr zu halten. Dennoch ist die neoliberale Programmatik der Landnahme von lange Zeit vor dem Markt geschützter Bereiche wie Gesundheit und Bildung seit Jahrzehnten die Doxa politischen Handelns und es wird bis heute noch immer jenseits irgendwelcher empirischen Evidenzen auf die selbstregulierenden Kräfte des Marktes verwiesen (vgl. u.v.a. Hirsch 1995; Hirsch et al. 2001; Jessop 2016; Demirović 2018; Dörre 2019) – so zuletzt in der Debatte um das Gesetz, das die Heizungen in Gebäuden klimafreundlicher machen sollte. Und das, obwohl Tendenzen zu einer sozialen Polarisierung ebenfalls seit Jahrzehnten allerorts ablesbar sind, die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinanderklaft. An diesem Punkt bietet sich an, die Versprechungen und Vorhersagen der Neoliberalen ernst zu nehmen und sie an den Resultaten zu messen. Denn demnach müssten nach Jahrzehnten der überwiegenden Durchsetzung neoliberaler Maßgaben die Erde ein blühendes Paradies mit durchweg glücklichen, ungestressten Menschen sein, die zudem noch so effektiv und lustvoll arbeiten, dass es einem Thomas Morus die Sprache verschlagen hätte. Dass sich diese Situation anhaltender und sich verschärfender globaler Ungleichheit dann verbessert, wenn die in der Regel unzulänglichen staatlichen Regulationsversuche zugunsten einer umfassenden Marktsteuerung umgeschichtet werden, muss als Ideologie in strengem Sinn verstanden werden, der es vor allem darum geht, keine Alternativen zu diskutieren. 

II.

Das jahrzehntelang konsensuell vertretene Paradigma einer Pazifizierung der Welt durch die Stärkung des globalen Handels – Frieden durch Handel! – ist seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auch im

Westen

Schnee von gestern. In Europa ist die – seit dem Zweiten Weltkrieg weitgehend verdrängte – Gewaltförmigkeit der internationalen Weltordnung durch den Ukraine-Krieg schlagartig präsent geworden und aus der Peripherie vor die eigene Haustür gewandert. Im Jahr 2021, also vor dem durch nichts zu rechtfertigenden russischen Angriffskrieg, zählte die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung an der Universität Hamburg 28 kriegerische Auseinandersetzungen, wobei Afrika und Asien am stärksten betroffen waren (Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg 2023). Diese laufenden kriegerischen Auseinandersetzungen haben tatsächlich kaum Resonanz in Europa erzeugt, erst der brutale Ukraine-Krieg hat in Europa zu der erneuten Einsicht geführt, wie schrecklich und unmenschlich Kriege sind. Die andauernden hitzigen Debatten über die richtigen Reaktionsweisen auf den Ukraine-Krieg, sinnvolle Formen der Solidarität, unerträgliche Formen der Heuchelei usw. deuten an, dass widerspruchsfreie Antworten innerhalb der bestehenden (Macht)Ordnung kaum möglich sind.

[1]

Die hektisch aufgelegten Programme einer verstärkten Militarisierung haben kaum Antworten auf die Frage verfügbar, wie eine bessere Gesellschaft aussähe, in der Gewalt insgesamt geächtet ist (Scherr 2022). 

III. 

Die ökologische Krise ist nunmehr seit einigen Jahren in den Alltagsdiskursen sehr präsent. Bei etwas genauerer Betrachtung ist der Diskurs um die ökologischen Grenzen der vorhandenen Formen der Vergesellschaftung allerdings bis in die 1970er-Jahren zurückzuverfolgen (siehe zum Beispiel den breiten Diskurs um die Grenzen des Wachstums, angestoßen durch Meadows 1972). Zwischen den 1970er- und den 1990er-Jahren fand das statt, was später als »Rio-Prozess« bezeichnet wurde und zu einer – zumindest formalen – Institutionalisierung des Klima- und Umweltschutzes führte. Auf der als »Erdgipfel« benannten Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro wurde von den anwesenden Nationalstaaten die Agenda 21 verabschiedet, ein vor allem mit Blick auf Klima- und Umweltschutz wegweisendes Dokument, das die kooperative Aufnahme des Kampfes der Menschheit gegen Armut und Umweltzerstörung dokumentieren sollte (vgl. Vereinte Nationen 1992). Als zentrale Agenten dieses Kampfes wurden Nationalstaaten angesehen, die sich aber mit NGOs austauschen und mit ihnen bei der Ausrichtung gesellschaftlicher Verhältnisse auf nachhaltige Entwicklung kooperieren sollten. Rund dreißig Jahre später scheint das Konzept, Nationalstaaten als zentrale Schaltstelle der globalen Armutsbekämpfung und des Klima- und Umweltschutzes zu installieren, nicht aufgegangen zu sein. Die in Rio konstatierte gesamtökologische Krise ist nicht schwächer, sondern umfassender geworden. Sie stellt sich aktuell als eine Verschränkung ganz unterschiedlicher Problemkonstellationen dar. Dazu gehören zum Beispiel das Abschmelzen der Gletscher, das Insektensterben, das Waldsterben, die weiter zunehmende Konzentration von klimaschädlichen Gasen in der Atmosphäre, die bereits jetzt messbare Erhöhung des Meeresspiegels, die globale Erwärmung, die fortschreitende Desertifikation oder der Rückgang der Biodiversität (einen Überblick liefern die Beiträge in Thunberg 2022). Während lange Zeit darüber diskutiert wurde, ob es solche einschneidenden Veränderungen auf unserem Planeten gibt, sind mittlerweile die Zweifel am

ob

gewichen. Die Diskussion hat sich dahingehend verlagert,

wie

der Klima- und ökologische Wandel noch so gestaltet werden kann, dass die Konsequenzen für Menschen, Flora und Fauna nicht vollkommen desaströs ausfallen. Hier spielen sogenannte Kipppunkte eine bedeutsame Rolle, die nach Überschreitung unaufhaltsame und unabsehbare ökologische Veränderungen einleiten.

Die hier nur angedeuteten wichtigsten gesellschaftlichen Krisenmotive stehen selbst in Wechselwirkung zueinander. Durch die Zunahme von Umweltkatastrophen, die mit dem Klimawandel und der globalen Erwärmung in Verbindung gebracht werden, steigt die Anzahl der Menschen, die ihre Wohnungen sowie ihr Hab und Gut verlieren und zu Migration gezwungen sind, sodass Armut und Elend weiter zunehmen (Flavell et al. 2019a, 2019b). Klaus Dörre (2021: 61) nutzt den Begriff der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise:

»Dieser Begriff […] hebt hervor, dass sich in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zwei langfristige Entwicklungslinien kreuzen, die beide mit der industriellen Revolution eingesetzt haben: rasches permanentes Wirtschaftswachstum einerseits und beschleunigter Energie- und Ressourcenverbrauch andererseits. Sofern Wirtschaftswachstum überhaupt noch generiert werden kann, zehren die mit ihm verbundenen ökologischen und sozialen Destruktionskräfte den äußerst ungleich verteilten Wohlfahrtsgewinn nicht nur auf, sondern – und das ist historisch neu – sie kumulieren sich bis hin zu Schwellenwerten, an denen eine irreversible Destabilisierung globaler Ökosysteme einsetzt. Zangenkrise besagt somit, dass das wichtigste Mittel zur Überwindung ökonomischer Stagnation und zur Pazifizierung interner Konflikte im Kapitalismus, die Generierung von Wirtschaftswachstum nach den Kriterien des Bruttoinlandsprodukts, unter Status-quo-Bedingungen (hoher Emissionsausstoß, hohe Ressourcen- und Energieintensität auf fossiler Grundlage) ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb gesellschaftszerstörend wirkt.« 

Nun sind kapitalismuskritische Untergangsszenarien nicht neu und die Hoffnung darauf, dass der Kapitalismus aufgrund seiner internen Widersprüche zusammenbricht, besteht seit den Analysen von Marx und Engels. Auch die Debatten in den 1970er- und 1980er-Jahren hatten etwas Apokalyptisches – Ozonloch, Überbevölkerung, Waldsterben, Krise des Individualverkehrs, Vernichtung des Regenwaldes, Verseuchung und Überfischung der Meere waren seinerzeit zentrale Marker in den Diskussionen (vgl. u.v.a. BUND / Misereor; Daly 1991; Pirages 1977; Knaus und Renn 1995; Sachs 1997; Schumacher 1977; Bittlingmayer 2000). Neu ist aber vielleicht ein globalisiertes und massenhaft bestehendes Bewusstsein von der Krisenhaftigkeit des aktuellen sozio-ökonomischen und ökologischen Zustands der Gegenwartsgesellschaften. Aus den hier nur grob skizzierten Szenarien ergibt sich, dass es einen enormen Regulations- und Handlungsbedarf gibt, soll »das Überleben der Gattung Mensch in ihren uns bekannten Formen« (Dörre 2021: 63) nicht riskiert werden. Vermutlich ist die Anzahl der Menschen, die der aktuellen globalen politischen Ordnung eine Bewältigung dieser Vielfach- oder Zangenkrise zutraut, mittlerweile in der Minderheit. Dabei mangelt es nicht an verfügbaren politisch relevanten Dokumenten, in denen sich Nationalstaaten (selbst-)verpflichtet haben, eine gute globale Ordnung zu schaffen. Von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte über die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation bis hin zum Sozialpakt der Europäischen Union finden sich großartige Statements, die, wenn sie umgesetzt würden, nur mit einer anderen Art der Vergesellschaftung als der bestehende realisierbar wären. In dem Moment, in dem sich Fragen nach Gerechtigkeit, ökologisch sinnvoller und nachhaltiger Vergesellschaftung und politischer Selbstbestimmung gegenüber dem kapitalistischen Profitzwang behaupten müssen, bleibt die Logik des Faktischen und der Reproduktion kapitalistischer Ökonomie primär und sind alle Dimensionen, die auf eine bessere Gesellschaft abzielen, nachgelagert.

2. Anarchismustheorie als aktualisierte Politische Ökonomie

Die Reaktionsweisen auf die gesellschaftliche Krise sind überschaubar, es überwiegen Strategien, sowohl staatliche als auch individuelle, die sich mit dem Bestehenden arrangieren. Verbreitet ist die Leugnung, dass es schon nicht so schlimm sein wird, die so lange aufrechterhalten wird, bis man selbst zum/zur Betroffenen von Umweltkatastrophen, Kriegen, Ressourcenmangel usw. wird. Auch Zynismus findet sich häufig, der die Probleme und Krisenphänomene einräumt, aber mit dem allgemeinen Hinweis auf die Schlechtigkeit des Menschen achselzuckend hinnimmt. Davon zu unterscheiden ist die individuelle Ohnmacht, die angesichts des gewaltigen Ausmaßes der Drohung nicht weiß, wo anzusetzen wäre. Es gibt aber auch massenhaft Widerstand, Solidarisierung und die Weigerung, friedlich auf die Katastrophe zuzumarschieren. Dieser Widerstand vor allem der über Jahrzehnte als unpolitisch gescholtenen Jugend ist groß, international und vernetzt. Zur Reproduktionslogik der kapitalistischen Gesellschaft gehört, dass alles, was anders ist, ängstlich diffamiert wird. Die Diffamierung derjenigen, die sich gegen die scheinbar alternativlose nationale bzw. Weltordnung stemmen, ist systemimmanent. Wenn etwa die Fridays-for-Future-Bewegung als bloße und damit naive Jugendbewegung abgestempelt wird, die noch nicht Bescheid wisse über die komplexen Probleme der Welt; wenn Aktivist*innen der Last Generation als Ökoterrorist*innen beschimpft werden, weil sie mit klugen Aktionen zur Einführung eines Tempolimits auf deutschen Straßen beitragen wollen; wenn alternative kollektive Lebensentwürfe wie bei den Zapatista oder der kurdischen Bevölkerung in der türkisch-syrisch-irakischen Grenzregion weitgehend unsichtbar gemacht werden, oder wenn pazifistische und militärkritische Positionen angesichts realer Angriffskriege als naiv und idiotisch diffamiert werden, dann weil mit ihnen Alternativen verbunden werden können, die außerhalb des zulässigen Denkrahmens fallen (Ilija Trojanow geht in seinem Beitrag noch ausführlicher auf diese Haltung ein).

Zu dieser systematischen Ausblendung oder Verunglimpfung von gesellschaftlichen Alternativen gehört die Unsichtbarmachung von alternativen Theorien und Ansätzen im akademischen Feld, die im Spektrum dessen liegen, was als anarchistische Theorie und Praxis gilt. Allerdings ist mit der Benennung des häufig als Synonym von Chaos diffamierten oder spiegelbildlich als besonders revolutionär romantisierten Begriffs Anarchie noch nicht sonderlich viel gewonnen. Eine bekanntere Einschätzung über den Anarchismus lautet, dass es in ihm mehr Richtungen gebe, als ein Huhn Federn habe. Eine Gemeinsamkeit aller Ansätze und Praktiken sind jedenfalls sein Streben nach einer freien Gesellschaft, in der sowohl die Freiheit des Individuums als auch soziale Gleichheit im Mittelpunkt stehen. Freiheit und Gerechtigkeit werden in allen anarchistischen Ansätzen nicht als Gegensatzpaare verstanden, sondern als grundlegende Merkmale einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Mit diesen beiden für den Anarchismus so zentralen Begriffe befinden wir uns mitten in den verschiedensten Disziplinen wie der Philosophie, Kulturanthropologie, Soziologie, Psychologie und den Wirtschaftswissenschaften. Mit dem Bestreben, zu einer herrschaftsfreien Gesellschaft zu gelangen, handelt es sich bei allen anarchistischen Ansätzen immer auch um normative Theorien und Praxen. So wie es ist, soll es nicht bleiben. Dem anarchistischen Tun unterliegt stets der empathische Grundsatz der Berücksichtigung des anderen, wie es Errico Malatesta ausgedrückt hat:

»[…], wenn ich esse, dann kann ich keinen Geschmack daran finden, wenn ich denke, dass Menschen Hungers sterben; wenn ich meiner kleinen Tochter ein Spielzeug kaufe und ganz glücklich über ihre Freude bin, dann wird diese Freude schnell getrübt, wenn ich vor dem Schaufenster des Händlers Kinder mit weit aufgerissenen Augen sehe, die mit einem Pfennigpüppchen glücklich gemacht werden könnten; wenn ich mich vergnüge, dann verdüstert sich mein Gemüt, sobald mir in den Sinn kommt, dass es Unglückliche gibt, die im Kerker schmachten; wenn ich studiere oder eine Arbeit mache, die mir gefällt, empfinde ich so etwas wie Gewissensbisse, wenn ich daran denke, wie viele es gibt, die klüger sind als ich und gezwungen, sind, ihr Leben in einer abstumpfenden, oft unnützen oder schädlichen Arbeit zu vergeuden. Reiner Egoismus, wie ihr seht, doch ein Egoismus, den andere Altruismus nennen und ohne den […] niemand ein wirklicher Anarchist sein kann« (Malatesta [1922] 1980 ohne Seite).

Dass der Anarchismus mit seinen vielfältigen Ansätzen zur Lösung der multiplen Krisen in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle spielt, kann angesichts seines Bestrebens, eine Gesellschaft zu errichten, in der kein Mensch über dem anderen steht, in der jegliche Herrschaft überwunden werden soll, kaum verwundern. Denn spätestens seit den 1980er-Jahren ist die Proklamierung, dass es eben nicht anders geht, zur gesamtgesellschaftlichen Doxa, zu einem insgesamt eingedampften Denkhorizont sedimentiert. »There is no alternative« meinte die ehemalige britische Premierministerin Margarete Thatcher. Da dieser Ausruf nicht die Wirklichkeit beschreibt, muss er als Kriegseinsatz im Klassenkampf im Verständnis Warren Buffets verstanden werden. Warren Buffet hatte überraschend offen auf eine spezifische Form des Klassenkampfes hingewiesen: »›There’s class warfare, all right‹, Mr. Buffett said, ›but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning‹« (zit. in Stein 2006). Es ist dieser Klassenkampf von oben, der das Dogma der Alternativlosigkeit kapitalistischer, repräsentativ-parlamentaristischer Vergesellschaftung etabliert hat, von dem die Profiteure des Status quo nachhaltig abhängig sind. Da wir treu einem anarchistischen Motto, »das Ziel muss in den Mitteln zu sehen sein«, folgen, versuchen wir, die Handlung der Klassenkämpferin Margarete Thatcher zu unterlaufen und gerade der Dominanz des Kampfes mit Vorschlägen zu einer friedfertigen, demokratischen und gerechten Wirtschaftsform zu begegnen und den Gedanken in die Köpfe zu pflanzen: es könnte alles ganz anders sein!

Dass in diesem Krieg zunächst die Vorherrschaft über die Köpfe und deren Körper gewonnen werden muss, hat Gramsci mit seinem Konzept der Hegemonie überaus nachdrücklich herausgestellt. Pierre Bourdieu kommt der Verdienst zu, diese Herrschaftsmechanismen bis in körperliche Details hinein nachverfolgt zu haben. Für das akademische Feld sieht es nach einem klaren und nahezu vollständigen Sieg für den Kapitalismus und seinen komplementären Helfer Staat aus. Ob die anarchistischen Antworten, denen wir in diesem Band Raum geben wollen, überzeugen, bleibt dem*der Leser*in überlassen. Selbstredend kann hier kein vollständiger Überblick über das reichhaltige Spektrum anarchistischer Theorie und Praxis geleistet werden. Ein besonderer Schwerpunkt des vorliegenden Buchs ist die Vorstellung und Auseinandersetzung mit einem spezifischen – und aus Sicht der Herausgebenden besonders vielversprechenden – Ansatzes, der sogenannten Partizipatorischen Ökonomie, Parecon[2] (vgl. zum Parecon-Ansatz Albert 2006, 2018, 2022b, 2022a; Hahnel 2012, 2021, 2022; Hahnel und Wright 2021), die zu den anarchistischen polit-ökonomischen Theorien gerechnet wird. Der Parecon-Ansatz ist aus unserer Perspektive auch deshalb sinnvoll in den Mittelpunkt zu stellen, da es gerade im wirtschaftlichen Bereich kaum konkrete Modelle im öffentlichen Raum gibt, die sich in ihrer Konkretion greifbar und angreifbar darbieten. Mit Parecon scheint uns ein echter alternativer Ansatz gegeben, weil er etwa die Mitbestimmung in der Selbstverwaltung umzusetzen versucht, die verschiedenen wirtschaftlichen Ebenen vom örtlichen Kleinbetrieb bis hin zu überregionalen Verkehrsbetrieben adressiert, die Commons als Grundlage jeglichen Wirtschaftens definiert, eine grüne, nicht auf Wachstum, sondern auf Kooperation basierende, dezentrale, demokratische Planwirtschaft entwirft und die Care-Arbeit als integralen Bestandteil allen Wirtschaftens integriert. Es spricht auch für Parecon, dass es bereits seit über 30 Jahren existiert und einige Weiterentwicklungen durchlaufen hat. Die Partizipatorische Ökonomie (einführend dargestellt von Albert und Shaner) greift dabei weit aus: ins Feld der Geschlechterordnung (vgl. den Beitrag von Savvina Chowdhuri), der Demokratietheorie und Entscheidungsfindung (vgl. Stephen Shalom), der Buchhaltung (vgl. Anders Sandström), der Güterverteilung (vgl. den Beitrag von Mitchell Szczepanczyk und Jason Chrysotomou), der langfristigen Planung und der Generationengerechtigkeit (vgl. Robert Hahnel). Eine weitere Stärke von Parecon ist die Nähe zum Aktivismus, die Parecon von vielen durchdachten theoretischen Ansätzen unterscheidet und die Parecon nahe an die Erprobung alternativer Praktiken im Hier und Jetzt heranführt. Es wird vor allem in den USA konkret versucht, das Modell zumindest in Teilen bereits zu verwirklichen (vgl. z. B. Albert 2018). Um Parecon nicht unkritisch zu feiern, haben wir einen Beitrag aufgenommen, der den Parecon-Ansatz scharf kritisiert (vgl. den Beitrag von Sutterlütti und die Erwiderung von Hahnel auf die Kritik im Buch). Neben der Auseinandersetzung mit anarchistischer politischer Ökonomie adressiert das Buch weitere Dimensionen anarchistischer Studien und Arbeiten.

3. Anarchie als Herrschaftskritik und andere Praxis

Im gesamten ersten Teil des Bandes liegt der Schwerpunkt auf politökonomischen Modellen, Analysen und Theorien. Im zweiten und dritten Teil des Buches komplementieren wir die politökonomische Analyse mit unterschiedlichen Formen und Gegenständen theoretischer (vgl. die Beiträge von Kastner, Kößler, Holloway und Bergmann) und empirisch gelagerter Formen allgemeiner Herrschaftskritik (vgl. die Beiträge von Lenz und Amborn im Band) sowie Motiven einer herrschaftsfreie(re)n Praxis (vgl. die Beiträge von Drücke, Bergmann, Holloway, Weber, Chomsky & Dubrowsky) und einer demokratischen Entscheidungsfindung (vgl. die Beiträge von Weber, Besemann, Seyfahrt und Krehn).

Aus Sicht der Herausgebenden ist eine solche komplementäre Perspektive auf die vorrangig politikökonomischen und wirtschaftswissenschaftlichen Analysen um den Parecon-Ansatz deshalb besonders sinnvoll, weil sich einerseits auch von dieser Seite aus die behauptete Alternativlosigkeit bestehender kapitalistischer und staatlicher Vergesellschaftungsformen radikal problematisieren lässt, indem bereits bestehende Alternativen präsentiert und ihre je unterschiedliche Herrschaftsförmigkeit analysiert werden. Hier geht es insbesondere um Studien, die nachzeichnen, dass das Spektrum menschlicher Vergesellschaftung sich auch im Hier und Jetzt nicht im parlamentarisch-repräsentativen bzw. staatssozialistisch, etatistisch organisierten Nationalstaat erschöpft. Andererseits könnte durch den Rückgriff etwa auf sozialanthropologische Studien der Parecon-Ansatz stärker in die Nähe soziologischer Erkenntnisse über Vergesellschaftung, Sozialisation und Reproduktion und Wandel sozialer Normen gerückt und damit weiter ausgearbeitet werden.

Die allen Beiträgen in diesem Sammelband gemeinsame Perspektive ist die Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und die Orientierung an der (vollständigen) Reduktion von sozialer Herrschaft. Dabei stellt sich der Nationalstaat aus anarchistischer Sicht als besonders dringendes Problem dar, das die bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse zementiert und alle Alternativen – mittels unterschiedlicher Formen von Gewalt – zudeckt. Der Staat bezeichnet hier vorrangig eine Zwangsinstitution, die es in Hinblick auf die Herstellung von sozialer Gleichheit und unmittelbarer Demokratie zu überwinden gilt. Der Nationalstaat ist – in all seinen historischen und strukturellen Widersprüchen – in dieser Perspektive nicht der Garant von Menschenrechten, sondern steht einer selbstorganisierten und gegenseitigen Zuweisung von Menschenrechten gerade im Weg.

Diese kritische Perspektive auf Staatlichkeit ist keineswegs das Privileg einer anarchistischen Position, sondern etwa auch im Rahmen von Analysen des Wohlfahrtsstaats verbreitet. Hier lassen sich Ansätze unterscheiden, die die Sinnhaftigkeit staatlicher Strukturen von der Reichweite und Güte staatlicher Umverteilung abhängig machen und unterschiedlich gelungene Formen von Staatlichkeit differenzieren (vgl. die klassische Studie von Esping-Andersen 2010). In der durch Foucault inspirierten und in der marxistischen Tradition stehenden Wohlfahrtsstaatsanalyse von Stephan Lessenich (2013) wird der Staat als scharfes Herrschaftsinstrument verstanden, das im Zuge neoliberaler Aktivierungsmaßnahmen die Menschen in kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten brutal diszipliniert. Demgegenüber gibt es in marxistischer Tradition bekanntlich die Figur des absterbenden Staates (MEW 19, 224), der den Übergang von der sozialistischen zur kommunistischen Gesellschaftsordnung signalisieren soll. Das ist bei Marx und Engels selbst nicht ohne Widerspruch zu haben; in der einen Lesart als vollkommene Auflösung, eben Absterben, allerdings eher konzeptionalisiert als nicht erreichbare Utopie, in einer anderen Lesart wird ein Staat imaginiert, der zwar auch in der klassenlosen Gesellschaft bestehen bleibt, der aber ohne Zwangsapparat auskommt. In der materialistischen Staatstheorie wird das Motiv, dass der repräsentativ-parlamentarische Staat nicht das Gegenüber des Kapitalismus, sondern integraler und notwendiger Bestandteil kapitalistischer Vergesellschaftung ist, vermutlich am systematischsten entfaltet (vgl. hierzu z. B. Hirsch 2005; Demirović 2018; Poulantzas 2002). Wichtig ist vor allem das Argument, dass der Staat nicht einfach als selbstverständliche Evolution des Allgemeinwillens zu betrachten ist, sondern als »Ausdruck eines antagonistischen und widersprüchlichen Vergesellschaftungsverhältnisses« (Hirsch 2005: 16). Die materialistische Staatstheorie ist in ihren Implikationen weitgehend anarchistisch, auch wenn sie sich selbst selten so verortet (Hirsch und Kellermann 2012).

Obwohl anarchistische Positionen also keine Singularität in Hinblick auf Staatskritik reklamieren können, gibt es dennoch Besonderheiten.[3] Zum einen ist das Spektrum dessen, was als Staatskritik innerhalb des anarchistischen Spektrums formuliert worden ist, unheimlich breit und im Kontext von Herrschaftskritik sehr widersprüchlich. Wenn man gewillt ist, die marktradikalen und libertären Positionen (vgl. Nozick 1974) umstandslos unter Anarchie zu subsumieren, weil sie den Staat als Herrschaftsinstrument kritisieren, entfernt man allerdings den wesentlich humanistischen Kern der überragenden Mehrzahl anarchistischer Positionen, der davon ausgeht, dass mit einem marktvermittelten, staatenlosen Kampf aller gegen alle, in dem sich die Stärkeren durchsetzen, das Ziel einer herrschaftsreduzierten oder -befreiten Gesellschaft nicht zu haben ist (vgl. hierzu auch die humanistisch inspirierten Texte von Ilija Trojanov und Konstantin Wecker). Schließt man marktradikale Positionen als Unfug aus, wie es hier in diesem Sammelband geschieht, dann ist die anarchistische Diskussion von Staatskritik in dreifacher Hinsicht besonders bedeutsam.

Erstens lässt sich nicht hinter die Einsicht zurückgehen, dass mit der Etablierung und Fortexistenz staatlicher Strukturen (prinzipiell überflüssige) Herrschaftsverhältnisse in die Gesellschaft eingezogen werden, die Selbstbestimmung und solidarisches Verhalten systematisch blockieren oder erschweren und deren Institutionen auf Selbsterhalt und nicht auf die Maximierung und Demokratisierung individueller Entfaltungsräume programmiert sind. Hier ist insbesondere das Argument zentral, dass der Staat selbst eine materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse bezeichnet (vgl. hierzu Poulantzas 2002; Hirsch et al. 2001; Demirović 2007) und die Erlangung der Staatsgewalt als Zwischenziel einer revolutionären oder reformistischen Bewegung nach aller historischen Erfahrung nicht zu einer humanistischeren Gesellschaft führt.

»Das Staatsparadigma, also die Annahme, dass die Übernahme der Staatsmacht von zentraler Bedeutung ist, hat nicht nur die Theorie, sondern auch die meisten revolutionären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts bestimmt: nicht nur die Erfahrungen der Sowjetunion und Chinas, sondern auch der Vielzahl nationaler Befreiungs- und Guerillabewegungen der 60er und 70er Jahre. Während das Staatsparadigma für die längste Zeit des 20. Jahrhunderts das Instrument der Hoffnung darstellte, so tötete es diese Hoffnung ab, je weiter das Jahrhundert voranschritt« (Holloway 2002: 22).

Analog argumentiert Joachim Hirsch, wenn er in einem Interview mit Philippe Kellermann resümiert:

»Vom Anarchismus wäre vor allem zu lernen, dass soziale Emanzipation nicht von Avantgarden, Parteien und Staaten ausgehen kann, sondern eine unmittelbare Angelegenheit der Menschen sein muss, dass Freiheit nicht durch Zwang hergestellt werden kann und dass dies bestimmter Formen gesellschaftlicher Praxis bedarf. Auch angesichts der Tatsache, dass die theoretischen Rechtfertigungen des Staatssozialismus, die in der marxistischen Tradition eine verhängnisvolle Rolle gespielt haben, inzwischen der Vergangenheit angehören, bleibt das wichtig. Staatsfixierung und Staatsfetischismus spielen bis heute in sozialen Bewegungen, linken Gruppierungen und vor allem Parteien eine große Rolle« (Hirsch und Kellermann 2012: 126).

Zweitens existiert in einer Variante der Sozialanthropologie eine empirische (zum Teil auch rekonstruktive) Wissenschaft, die anhand historischer oder existierender Gesellschaften nachweisen kann, dass das Spektrum menschlicher Vergesellschaftung staatenlose und herrschaftsbalancierte (vgl. hierzu vor allem den Beitrag von Ilse Lenz) Formen unspektakulär mit einschließt. Diese Studien sind deshalb von überragender Bedeutung, weil sich ein fortwährendes Motiv der – zum Teil nur psychoanalytisch erschließbaren – Abwehr gegenüber anarchistischen Ansätzen auf die Vorstellung gründet, dass sich Menschen ohne einen disziplinierenden und das Gewaltmonopol ausübenden Staat gegenseitig an die Gurgel gingen und der Staat, so schlimm er auch sei, nur noch Schlimmeres verhindere. Christian Sigrist kommt im Kontext seiner gemeinsam mit Fritz Kramer herausgegebenen Sammlung klassischer Texte der Social Anthropology zu einer analogen Einschätzung:

»Die bleibende Bedeutung der social anthropology liegt darin, daß sie Gesellschaften ohne Staat in ihrer Funktionsfähigkeit dargestellt hat. […] An diesen Gesellschaften zeigt sich, daß Menschen ohne zentrale Herrschaft, ohne Hierarchie und ohne Ausbeutung zusammenleben können. Es zeigt sich an ihnen, daß es keine anthropologische Notwendigkeit für zentrale Herrschaft, Hierarchie, Ausbeutung und soziale Ungleichheit gibt. Diese ethnologisch triviale Wahrheit ist nicht belanglos für die Frage, ob radikale Alternativen zur bestehenden spätkapitalistischen Gesellschaft überhaupt denkbar sind. Gleichheit und Herrschaftslosigkeit scheitern nicht an ›anthropologischen Erfordernissen‹« (Sigrist 1978: 42–43).

Dabei ist anzumerken, dass der Ursprung der Social Anthropology ein durch und durch kolonialistischer und bis in die Studien der 1960er-Jahre überaus ethnozentristischer war (vgl. hierzu Kramer 1978). Die erste Generation der Sozialanthropologen, Bronislav Malinowski und Alfred R. Radcliffe-Brown, waren im Auftrag der Britischen Regierung als Kolonialbeamte unterwegs und sollten herausfinden, wie sogenannte akephale, also wörtlich kopflose, Gesellschaften – häufig auch als segmentäre Gesellschaften oder Stammesgesellschaften bezeichnet – funktionieren. Grund für diese Mission war die Erkenntnis, dass der Widerstand gegen den britischen Kolonialismus in solchen Gesellschaftsformen erheblich ausgeprägter war als in bereits bestehenden Königreichen (Sigrist 1978: 30; analog argumentiert Amborn 2016: 19).[4]

Es liegen also eine Reihe von Studien vor, die zeigen, dass Menschen ohne staatliche Strukturen in der Lage sind, soziale Organisationsformen aufzubauen und Regeln zu entwickeln, die demokratischer und partizipativer ausgelegt sind als die gängigen Verfahren und Rechtssetzungsprozesse in repräsentativ-parlamentarischen Staaten, die nach Walter Benjamin (1977: 179–203) selbst macht- und gewaltförmig sind.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine jüngere Studie, die in der Tradition der Social Anthropology steht, aber weder Auftragsspionage ist, noch dem Ethnozentrismus verhaftet bleibt. Hermann Amborn hat in seinem Buch Das Recht als Hort der Anarchie konkret aufgezeigt, wie eine großflächige Gesellschaft in Südäthiopien nicht nur ohne staatliche Strukturen, sondern weitgehend herrschaftsfrei funktioniert, und das in der Gegenwart. Als Beschreibung dieser Gesellschaft nutzt er den Begriff polykephal – wörtlich: Mehrköpfigkeit – und weist darauf hin, dass es unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche gibt, die sich gegenseitig in Balance bringen (eine starke Zusammenfassung wichtiger Erkenntnisse der Studie finden sich im Beitrag von Amborn im Buch).[5] Die Etablierung herrschaftsabweisender Muster ist ein wichtiges kulturelles Element, wird aber durch gesellschaftliche Strukturen flankiert, die notwendig sind, um eine herrschaftsabweisende Praxis sicherzustellen:

»Zur Inkorporation des soziopolitischen antiherrschaftlichen Leibildes gehört […] das Zusammenspiel von Recht, Institutionen und sozialen Beziehungssystemen, denn die bestehenden Institutionen allein dürften zur Verhinderung von Herrschaft nur bedingt in der Lage sein« (Amborn 2016: 236).

Damit enthält – das wäre aus Sicht der Herausgeber*innen ein wichtiger Gedanke für die Weiterentwicklung des Parecon-Ansatzes – herrschaftsfreie Praxis ein eminent kulturelles Element.

»Der Widerstand gegen jegliche Bevormundung durch den Staat und sein Machtmonopol wird in den polykephalen Gesellschaften nicht mit Waffengewalt geleistet. Vielmehr hängt das Gelingen der Schaffung lokaler Freiräume von einer gemeinsam getragenen anarchischen Haltung und dem Willen ab, diese durch eigenes Recht zu stützen« (Amborn 2016: 238).

Dabei ist wichtig anzumerken, dass Recht in polykephalen Gesellschaften, wie Amborn umfassend zeigt, vollkommen anders funktioniert. Recht ist keine entsagende und an den Staat delegierte Rache, sondern es geht um Versöhnung aller Konfliktparteien. »Strafe ist dann nicht Abschreckung, sondern Ausdruck der Einsicht in ein Fehlverhalten« (Amborn 2016: 188–189). Gegen den von Amborn gegenüber seiner Studie antizipierten Einwand, er würde die von ihm untersuchte polykephale Gesellschaft idealisieren, gibt er die folgende Antwort:

»Wir sollten […] die Beobachtung zulassen, dass es Gesellschaften gibt, in denen andere Paradigmen als die unseren gelten und in denen die Vereinzelung des Individuums nicht den Grad erreicht hat wie in westlichen Gesellschaften. In denen Profitmaximierung nicht den höchsten Wert darstellt und in der auch das Konkurrenzverhalten stets die Würde des anderen respektiert« (Amborn 2016: 239).

In dieser Weise äußert sich auch Nika Dubrovsky, die in diesem Sinne das Erbe ihres verstorbenen Mannes, David Graeber, antritt in dem Versuch, die Aufklärung zu dekolonialisieren (siehe ihr Gespräch mit Noam Chomsky).

Der dritte Grund, warum anarchistische Positionen mit Blick auf die Kritik von Staat und Kapitalismus unbedingt zur Kenntnis zu nehmen sind, selbst wenn Anarchismus nicht zur Selbstbeschreibung gehört, besteht aus Sicht der Herausgeber*innen darin, dass mit Parecon nicht nur eine überzeugende Kritik kapitalistischer Vergesellschaftung, sondern auch ein mutiger positiver Entwurf vorliegt, wie Gesellschaft anders, nämlich herrschaftsärmer und ausbeutungsfrei, funktionieren könnte. Dieser positive Entwurf, der über die immanente Kritik am Kapitalismus hinausführt und gewissermaßen das in der marxistischen Tradition tief eingeschriebene Bilderverbot überwindet, ist zum einen deshalb zentral, weil allein das Fehlen staatlicher Herrschaft ganz offensichtlich nicht automatisch zu einer besseren Gesellschaft führt. Zum anderen hilft eine konkrete Vorstellung des Besseren bei der Mobilisierung der Menschen, die ihr gesellschaftliches Schicksal ja selbst in die Hand nehmen sollen.

Wenn der Maßstab Herrschaftsreduktion oder Herrschaftsfreiheit sein soll, ist, selbst wenn man zustimmt, dass die Abschaffung von Staaten mit Herrschaftsreduktion oder -freiheit einhergeht, die Abwesenheit staatlicher Strukturen eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für eine bessere Gesellschaft. In Hinblick auf die dem Parecon-Ansatz zugrunde liegende Idee sozialer Herrschaft wäre zu sagen, dass es sich weniger um ein Modell einer vollständig herrschaftsfreien Gesellschaft handelt (vgl. hierzu auch die Erwiderung von Hahnel an Sutterlütti im Band), als um ein Modell direkter Demokratie und partizipativer Entscheidungsverfahren. Wenn der Parecon-Ansatz zusammengedacht wird mit dem Parpolity-Konzept von Stephen Shalom (vgl. hierzu den Beitrag von Shalom), lässt sich Parecon in die Nähe von Ideen einer Machtbalance rücken. Denn es ist unwahrscheinlich, dass unter den Bedingungen einer institutionell abgesicherten partizipatorischen Ökonomie diejenigen, die in den überregionalen Arbeiter*innenräten vertreten sind, zugleich auch den überregionalen Konsumräten und den überregionalen politischen Räten angehören. Vollständige Herrschaftsfreiheit dürfte Parecon dagegen nicht erreichen, weil bei Einführung starker partizipativer Verfahren redegewandtere Personen sich besser artikulieren können und es stetiger und zusätzlicher Anstrengungen bedarf, Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen die volle Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen zu ermöglichen. Normativ gut und menschenrechtlich überzeugend ausformuliert ist das übrigens in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK; https://www.behindertenrechtskonvention.info/), die, wenn die darin enthaltenen Rechte ernsthaft umgesetzt würden, die bisherigen gesellschaftlichen Verhältnisse vollständig revolutionieren dürfte. Allerdings ist das Argument, dass sich bei etablierten partizipativen Verfahren die Gebildeteren, die Redegewandteren oder die strategisch Klügeren durchsetzen werden kein Automatismus und kann selbst wieder demokratischer Kontrolle unterzogen werden. Zudem ist eine der Grundideen des Parecon-Ansatzes, dass alle Verfahren transparent, nachvollziehbar und, weil nicht mit einer Staatsgewalt verbunden, deutlich reversibler bleiben.

Der Parecon-Ansatz ist zudem international ausgerichtet und nimmt Prozesse der Globalisierung in den Blick. Neben einer lebhaften Diskussion des Modells im englischsprachigen Raum bestehen inzwischen auch Kontakte zwischen dem Commons-Institut in Deutschland und dem Participative Economy Project. In Finnland, Schweden, Britannien, Irland, Deutschland und Österreich und anderen Ländern wird versucht, das Modell bekannt zu machen und mit Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen der jeweiligen Länder in Kontakt zu treten. Es konnte bereits ein Gespräch mit Thomas Piketty begonnen werden, der über Democratic Economic Planing von Robin Hahnel meinte, dass es ein »must read« sei. Michael Albert, neben Robin Hahnel der andere Begründer von Parecon, steht im Austausch mit Noam Chomsky und Yanis Varoufakis. Damit sind nur die prominentesten Diskutant*innen erwähnt, mit denen ein Austausch begonnen wurde oder schon seit geraumer Zeit läuft.

Auf der anderen Seite sind die Einsichten in die Empirie der regulierten Anarchie (vgl. hierzu Sigrist 1979) noch nicht von dem Parecon-Ansatz rezipiert worden. Aus Sicht der Herausgeber*innen ist eine Diskussion zwischen der polit-ökonomischen, weitgehend auf die Analyse, Kritik und Überwindung kapitalistisch-westlicher Gesellschaften ausgerichteten Anarchismustheorie und der sich der Analyse (ehemals) kolonialisierter Länder des Globalen Südens widmenden Sozialanthropologie überfällig. Zu dieser Diskussion möchten wir mit diesem Buch explizit anregen.

4. Aufbau des Buches

Um in den Dialog einzusteigen, ist die Kenntnis der jeweiligen Positionen zentral. In einem ersten Teil sind die politökonomischen Beiträge versammelt, die den Parecon-Ansatz repräsentieren. Im Mittelpunkt stehen dabei Grundideen, wirtschaftspolitische Fragen nachhaltiger Wirtschaftssteuerung im Sinne von Planung, die Darstellung politischer Strukturen einer Parpolity sowie Überlegungen zur Herstellung geschlechtergerechter Strukturen. Um schon einmal in Diskussionen einzusteigen, haben wir mit Stefan Meretz und Simon Sutterlüty Personen eingeladen, die Parecon skeptisch gegenüberstehen und einen gewissermaßen konkurrierenden Ansatz vertreten, den sie als Commonismus bezeichnen. Friederike Habermann bietet mit ihrem Konzept einer tauschlogikfreien Ökonomie ebenfalls einen bedenkenswerten Zugang an, gerade der Care-Logik jeden wirtschaftlichen Tätigseins als Mittelpunkt menschlicher Existenz die ihr gebührende Bedeutung beizumessen. Leider kam unsere Einladung, einen Beitrag für unseren Band zu verfassen, zu kurzfristig, aber die Lektüre ihrer Bücher sind als Ergänzung und Kontrast zu Parecon sehr empfehlenswert.

Eine weitere Ergänzung zum Thema, wie sich eine befreite Gesellschaft organisieren soll, berührt neben wirtschaftlichen und politischen Aspekten die Frage nach dem Recht und seiner Umsetzung durch den Souverän. Zu dieser Problemstellung macht das Gespräch von Jan Groos und Daniel Loick einen Anfang und wird aus kulturanthropologischer Perspektive von Hermann Amborn und aus philosophischem Blickwinkel von Peter Seyferth wieder aufgegriffen.

Im zweiten, deutlich heterogenen Teil finden sich Beiträge zur Analyse des Nationalstaats oder zur Solidarität und liefern damit wichtige Erkenntnisse für die allgemeine anarchismustheoretische Diskussion. Ferner finden sich Beiträge, die über konkrete Projekte bereits realisierter Herrschaftsfreiheit und/oder Widerständigkeit berichten. Und schließlich finden sich in diesem Teil auch Beiträge in der Tradition der Social Anthropology, einmal aus ethnologischer, einmal aus geschlechtertheoretischer Perspektive.

Der dritte Teil umfasst Beiträge, die sich mit demokratischen oder anarchistischen Entscheidungsfindungsverfahren befassen. Damit wird das für alle anarchistischen Ansätze essenzielle Motiv der nicht-hierarchischen Entscheidungsfindung adressiert, um Formen und Möglichkeiten der Umsetzung von anarchistischen Praktiken im Hier und Jetzt konkret diskutierbar zu machen. Der Ausblick besteht aus einem Interview zwischen Nika Dubrovsky und Noam Chomsky sowie Texten von Ilija Trojanow und Konstantin Wecker. Der Einbezug dieser Autor*innen soll auch einer rein akademischen Debatte über abstrakte Ideen zumindest etwas Vorschub leisten und für andere Textsorten und ästhetische Zugänge sensibilisieren. Diese auch im Rahmen eines Sammelbandes, der sich vor allem an ein akademisches Publikum richtet, zu Gehör zu bringen, kann für die Erweiterung unser aller Denkwege und Erfahrungshorizonte nur von Vorteil sein, angesichts der mangelnden Fantasie in vielen Disziplinen und einem öffentlichen Raum, in dem sich anarchistischen Persönlichkeiten kaum die Gelegenheit bietet, sich zu äußern. In dieser Hinsicht sind wir sehr dankbar dafür, dass mit Ilija Trojanow und Konstantin Wecker zwei Menschen diesen Band mit Texten unterstützen, die diesen Raum immer wieder mit Vehemenz, Beharrlichkeit und Zärtlichkeit zu besetzen versuchen.

Literatur

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Sigrist, Christian (1978): Gesellschaften ohne Staat und die Entdeckungen der social anthropology. In: Fritz Kramer und Christian Sigrist (Hg.): Gesellschaften ohne Staat. Frankfurt am Main: Syndikat: 28–44.

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Welzer, Harald (2017): Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch (Fischer Taschenbuch, 03552).

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TEIL 1Die Wirtschaft und unser Gemeinwesen partizipatorisch organisieren

Michael Albert und Alexandria Shaner

Partizipatorische Ökonomie im Überblick: Was, Warum, Wie[6]

1. Warum eine Vision?

Es gibt vielleicht eine Sache auf der Welt, über die sich der Großteil der Menschheit einig ist. Wenn man den Zustand der heutigen Institutionen der Wirtschaft, des Gemeinwesens, der Gemeinschaft und der verwandtschaftlichen Beziehungen betrachtet, gibt es einen großen Konsens, dass fast alles in einer Krise steckt und die aktuelle Situation der Mehrheit der Menschheit nicht dienlich ist, sondern die Bedingungen für die Erhaltung des Lebens auf der Erde, wie wir es kennen, zerstört. Dies ist kein radikaler Standpunkt mehr. Wir leben in einer Zeit, in der dieses Wissen einfach Teil unseres Bewusstseins ist. Warum mangelt es uns dann an Visionen? Wir wissen, was wir nicht wollen, aber was wollen wir?

Vielleicht beherzigen diejenigen von uns, die eine bessere Welt anstreben, lediglich die Warnungen unserer intellektuellen Lehrer*innen und wehren sich gegen überzogene Pläne für die künftige Gesellschaft, die im besten Fall in ihrer Umsetzung nicht vorhersehbar und im schlimmsten Fall autoritär sind. Aber vielleicht benutzen wir diese Weisheit auch als Krücke, weil wir Angst haben, ins Leere zu blicken und auch nur in Erwägung zu ziehen, dass wir die Welt grundlegend verändern können.

Wir prangern die Missstände in der Gesellschaft an, reagieren auf die dringenden und schlimmen Probleme der Gegenwart, überleben und kämpfen in der Gegenwart. Fairerweise muss man sagen, dass es eine Aufgabe sein kann, den Kopf über Wasser zu halten und gegen eine raue See des Leidens anzukämpfen, die nur wenig übrig lässt. Selbst diejenigen, die den Kampf für eine bessere Welt unterstützen würden, erliegen oft der mentalen und emotionalen Erschöpfung, bevor sie überhaupt ihre Stimme erheben oder einen Finger rühren, geschweige denn der Hoffnung erlauben, ihr Herz zu entflammen, sodass Untätigkeit nicht mehr möglich ist. Das Ausmaß des Ganzen erstickt die Initiative. Ohne eine Vision, eine wirkliche, realisierbare, erreichbare, inspirierende Vision, einen Weg, der einen Ausweg aus dem Selbstmordmarsch des Kapitalismus bietet, verwechseln wir Vorgehensweise mit Strategie, kämpfen uns von einer Schlacht zur nächsten und sehen allzu oft keinen klaren Weg vor uns. Wir verkümmern vor Müdigkeit, streiten uns und schaffen es im Allgemeinen nicht, uns massiv und tiefgreifend für unsere Sache zu begeistern.

Antikapitalisten müssen dringend eine würdige postkapitalistische Vision entwerfen und teilen, um den Zynismus zu überwinden, die strategische Ausrichtung zu teilen, die Praxis und das Experimentieren zu leiten und das Engagement gegen ernsthafte Gegner aufrechtzuerhalten (vgl. hierzu auch den Beitrag von Ilija Trojanow im vorliegenden Buch). Wir müssen darüber diskutieren, wo wir hinwollen, warum wir dorthin wollen und wie wir den Weg dorthin gestalten können. Visionen sind dazu da, auf etwas zuzulaufen, vor allem dann, wenn es nicht mehr ausreicht, einfach wegzulaufen.

Der folgende Aufsatz ist eine kurze Einführung in die partizipatorische Ökonomie: was sie ist, warum sie wichtig ist und wie sie erreicht werden kann (vgl. für eine ausführliche Darstellung des Parecon-Ansatzes Albert 2006). Ein nützlicher erster Schritt, um sich ein Leben jenseits des Kapitalismus vorzustellen, besteht darin, einige zentrale Leitwerte von Parecon vorzustellen. Hier schlagen wir fünf vor: Selbstverwaltung, Gerechtigkeit, Solidarität, Vielfalt und Nachhaltigkeit. Zur Institutionalisierung dieser Werte schlagen wir fünf Merkmale vor, die einen Rahmen oder ein Gerüst für eine postkapitalistische Wirtschaft bilden: ein Gemeingut an produktiven Ressourcen, Selbstverwaltung durch partizipatorische Räte, gerechte Entlohnungsnormen, Tätigkeitsbündel [i.O. balanced jobs] und Allokation durch partizipatorische Planung. Wir gehen auf weiterreichende Auswirkungen ein und schlagen Strategien vor, um die Praxis mit der Theorie und dem Kontext in Einklang zu bringen. Wir hoffen, dass diese stark zusammengefasste Präsentation dazu beiträgt, weiteres Interesse und Fragen zu den Vorzügen und der Erreichbarkeit der partizipatorischen Ökonomie zu wecken, während sie gleichzeitig zeigt, dass eine würdige Vision notwendig und dringend ist und Aufmerksamkeit und Maßnahmen verdient.

Selbstverwaltung

Für die Entscheidungsfindung schlagen wir vor, dass alle Menschen ein Mitspracherecht bei Entscheidungen haben sollten, und zwar in dem Maße, in dem sie davon betroffen sind. Manchmal kann das Mehrheitsprinzip eine hervorragende Arbeit leisten. In anderen Fällen ist der Konsens besser geeignet. Manchmal brauchen wir mehr Beratung, manchmal weniger. Manchmal sollte eine einzelne Person mit überwältigender Mehrheit entscheiden. In anderen Fällen sollte eine stark betroffene Gruppe entscheiden, wobei jedoch die umfassenden Entscheidungen größerer Gruppen zu respektieren sind. Wenn Sie zum Beispiel ein Familienfoto auf Ihrem Schreibtisch aufbewahren möchten, ist dies eine Entscheidung, die überwiegend oder sogar ausschließlich Sie betrifft. Sie sollten die alleinige Entscheidungsbefugnis in dieser Angelegenheit haben. Wenn Sie jedoch während der Arbeit in der Nähe anderer Menschen Musik hören wollen, ist dies eine Entscheidung, die alle in Reichweite des Lärms betrifft. Jetzt ist eine Methode der Entscheidungsfindung erforderlich, die die Präferenzen aller berücksichtigt. Außerdem würde eine Methode, die Überlegungen und eine kreative Konsensbildung zulässt, statt eines einfachen Ja oder Nein zu lauter Musik, die besten Ergebnisse liefern.

Der Punkt ist, dass verschiedene Beratungs- und Abstimmungsmethoden in verschiedenen Situationen der Selbstverwaltung am nächsten kommen können, aber die übergeordnete Norm gilt immer. Die Methoden sind Vorgehensweisen, um die Norm zu erreichen, und müssen daher strategisch und angemessen auf verschiedene Kontexte angewendet werden. Keine Person verdient mehr Mitspracherecht, nur weil sie männlich, weiblich, transsexuell, schwul oder heterosexuell ist oder eine andere wirtschaftliche Stellung, kulturelle Zugehörigkeit oder politische Rolle hat. Wir alle verdienen es, ein angemessenes Mitspracherecht bei den uns betreffenden Angelegenheiten zu haben.

Die typischste Kritik an der Befürwortung des Mitspracherechts betont, dass manche Menschen bessere Entscheidungen treffen können. Es wird behauptet, dass wir ihnen ein größeres Mitspracherecht einräumen sollten, um von ihren besseren Einsichten zu profitieren.

Aber ist das klug? Die Selbstverwaltung selbst bringt soziale und persönliche Vorteile mit sich, wie etwa gegenseitigen Respekt, Solidarität und Beteiligung. Diese Vorteile sind auch dann gegeben, wenn die Selbstverwaltung zu weniger einsichtigen Entscheidungen führt, als wenn man den besseren Entscheidungsträgern mehr Mitspracherecht einräumt. Der konsequente Akt der partizipatorischen Selbstverwaltung in der gesamten Gesellschaft kommt der Entwicklung der Gesellschaft zugute.

Zweitens: Dass jede*r von uns seine persönliche Präferenz zum Ausdruck bringt, ist durch die einfache Tatsache gerechtfertigt, dass wir alle am besten wissen, was wir wollen. Selbstmanagement macht Expert*innenwissen nicht überflüssig. Ich sollte entscheiden, ob ich mich einer medizinischen Behandlung unterziehe, aber erst, nachdem mir ein Arzt*eine Ärztin meinen Zustand und die Auswirkungen der Behandlung erklärt hat. Das medizinische Fachwissen sollte in meine Entscheidung einfließen. Aber mein Arzt*meine Ärztin sollte nicht für mich entscheiden. Meine Präferenzen zählen. Mein Wille zählt.

Bei der Selbstverwaltung sollte das gesamte Fachwissen respektiert und genutzt werden, aber wir sollten den Expert*innen kein unverhältnismäßiges Mitspracherecht bei Entscheidungen einräumen, die andere betreffen. In diesem Sinne schlagen wir als ersten Leitwert vor, dass die Wirtschaftsinstitutionen jedem Akteur in dem Maße, wie er*sie davon betroffen ist, Entscheidungshilfen geben sollten.

Aber kann die Art und Weise, wie wir produzieren, konsumieren und verteilen, all dies tatsächlich leisten und trotzdem zu hervorragenden Entscheidungen führen? Kann die wirtschaftliche Entscheidungsfindung vermeiden, dass einige wenige in Herrschaftspositionen gehoben werden? Muss sie die meisten zum Gehorsam zwingen? Um Selbstverwaltung zu erreichen, müssen wir diese Fragen beantworten.

Gerechtigkeit

Was ist gerecht in Bezug auf Nutzen und Kosten? Philosoph*innen debattieren. Wählerschaften kämpfen. Schauen wir uns die Situation noch einmal genau an. Wir wissen, dass die Gesellschaft Leistungen erbringt, die Aufwand erfordern und Nutzen bringen. Die Frage der Gerechtigkeit lautet: Wie sollten wir das Sozialprodukt der Gesellschaft auf die Bevölkerung aufteilen?