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Der Reichtum sind die Menschen und nicht das Geld. »Na, du hast dir ja ein schönes Universum zurechtgelegt! Herrlich! Da ist ja richtig was los. Und du ruhst so mittendrin und weißt genau, was du tun und lernen willst. Wenn das so klar wäre, dann wüssten das noch mehr Leute. Glaubst du nicht?« »Aber du merkst doch, dass immer mehr Leute ihr Handeln am Maßstab der Liebe messen und danach streben, mehr zu lieben. Du hast doch selber einmal gesagt, dass das Geld eine phänomenal raffinierte Ablenkung vom wirklichen Sinn des Lebens war. Dass erst behauptet wurde, das Geld stehe für einen realen Wert und am Schluss stand es für gar nichts mehr, und nur eine kleine Bande von Betrügern und Verbrechern war in die Gefangenschaft des Geldes geraten und musste es vermehren – ob sie wollten oder nicht.« Humbertus nickt: »Auf jeden Fall macht einen deine Sicht auf das Leben froh. Ich habe lange nicht mehr so gelacht. Wenn man bedenkt, dass ich mich vor einigen Stunden noch auf den Tod vorbereiten wollte.« Wie könnte das Leben aussehen, wenn das Geld völlig verschwunden, einfach weg wäre? Die Menschen haben natürlich weiter Probleme – wie sollten sie sonst Erfahrungen machen, an denen sie wachsen – aber wie entscheiden sie sich, wenn die Wege zur Lösung ihrer Probleme nicht mehr durch Geld-Fragen verstellt werden?
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Seitenzahl: 388
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Nach der Mittleren Reife arbeitete Elisabeth Scherf zunächst in einer Hotelküche, ging ein Jahr als au-pair Mädchen nach England, machte die Ausbildung zur Kindergärtnerin und arbeitete danach sechs Jahre als Erzieherin auf der Psychosomatischen Abteilung der Universitätskinderklinik in Hamburg-Eppendorf.
Nach dem Begabtenabitur studierte sie Pädagogik und Soziologie an der Uni Hamburg und arbeitete danach als Studienrätin VR in Hamburg.
Ihre Tätigkeit als Lehrerin unterbrach sie für ein einjähriges Graduiertenstudium an der Central School of Speech and Drama in London und übernahm anschließend nebenberuflich fünfzehn Jahre die künstlerische Leitung des Hamburger Richtertheaters (www.richtertheater). Im Rahmen eines Promotionsstipendiums hielt sie sich ein Jahr Paris und ein Jahr in Rom auf.
Nach ihrer Pensionierung nahm sie das Studium der Sinologie an der Universität Hamburg auf und lebte ein Jahr Shanghai.
Seit 2006 widmet sie sich der Bildhauerei (www.elisabethscherf.de) und unterrichtet als Privatlehrerin die Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Chinesisch. 2011 verbrachte sie drei Monate in New York und nahm dort am „Gotham Writers’ Workshop“ teil. 2015 lebte sie zwei Monate in Wien für einen Poetry Kurs und weitere Inspirationen am writers‘studio.
Weitere Publikationen:
anders denken: ur-teilen heilen. 8 Menschen und 1 Bauernhaus. Roman 256 S., Paperback, 21cm, 978-3-7322-4590-1 / E-Book: 978-3-8482-2007-6, Books on Demand, 2013
anders denken – ewig leben. Memoiren-Roman 188 S., Paperback, 21cm, 978-3-8448-0331-0 / E-Book, 978-3-8448-9053-2, Books on Demand, 2012
Aus dem Stegreif. Soziodramatische Spiele mit Arbeiterkindern in: Kursbuch 34, Hrsg.: Hans Magnus Enzensberger/Karl Markus Michel, Berlin, Kursbuch/Rotbuch Vlg., 1973
Tagebuch einer Theaterproduktion mit einer 9. Hauptschulklasse in: Soziales Lernen i. d. Praxis, Hrsg.: H. Prior, München, Juventa Vlg., 1978
Simultantheater: Ein Werkstattbericht in: Forum Modernes Theater, H. 2,94, Hrsg.: G. Ahrends, Tübingen, Gunter Narr Vlg., 1994
Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte:
‚Das ist mein‘
und so einfältige Leute fand, die das glaubten,
wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.
Wieviele Verbrechen, Kriege, Morde, Leiden und Schrecken
würde einer dem Menschengeschlecht erspart haben,
hätte er die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet
und seinesgleichen zugerufen:
„Hört ja nicht auf diesen Betrüger.
Ihr seid alle verloren, wenn ihr vergeßt,
daß die Früchte allen gehören und die Erde keinem.“
Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit
1 Lolita
2 Farben-Räume
3 Die Rivalin
4 Frühstück bei Heinrich
5 Eine Denkstrukturen-Sitzung mit Charlotte
6 Frau Müller geht rot
7 Heinrich wacht auf
8 Die Ingenieurin
9 Im Bauernhaus am Schaalsee
10 Ralf und die Politik des ‘bescheidenen Überflusses’
11 In der Sonnenkollektorengruppe
12 Charlotte und Julian in der ‘Näscherei’
13 Bei den Lehmhausbauern im Stadtpark
14 Julians Vortrag: ‘Mehr Liebe in Mexiko’
15 Pubertät
16 Vollkommen glücklich
17 Keine Affäre
18 Schluss machen
19 Die Sonnenkollektorengruppe ohne Lolita
20 Oskar und Lolita zu Besuch im Bauernhaus
21 Der Abend mit Julian
22 Lolitas Denkstrukturen-Sitzung bei Isabel
23 Lolita lernt Adrian kennen
24 Mercedes und Oskar
25 Lolita
26 Besuch bei Lolita
27 Von allem weniger und von Liebe mehr
28 … und wie geht sterben?
29 Humbertus und die sieben Schöpfwesen
30 Yvonne
31 Lolita und Yvonne
32 Neue Pläne
33 Reisen mit Eseln
34 Europawanderweg E9
Anhang
Kommentare zum Manuskript
Ich bedanke mich
„Kommst du mit in die Hamburger Meile?“ fragt Charlotte. Sie drückt ihr Handy mit der Schulter an ihr Ohr und sieht im großen Badezimmerspiegel kritisch auf ihr ungeschminktes Gesicht und ihren nackten Körper.
„Wann, jetzt gleich?“ fragt Isabel am anderen Ende. Sie hat wie allmorgendlich eine Stunde im Bett am Computer gearbeitet und will jetzt ihre morgendliche Routine fortsetzen.
„In einer halben Stunde? Geht das?“ Charlottes Stimme klingt drängend.
„Okay! Bis gleich.“ Isabel klappt den Laptop zu und verschwindet ins Bad. Dann kleidet sie sich bequem. Sie kann Charlottes Anruf noch nicht interpretieren und weiß nicht, was diese in dem großen Geschäftskomplex „Hamburger Meile“ plant.
Jetzt sind keine Geschäfte mehr darin, in denen man für Geld Dinge erwirbt, aber geschäftig geht es dort nach wie vor zu. Deswegen ist das Wort „Geschäft“ geblieben. Es sind Räume für Ideen, Initiativen. Besonders beliebt sind die Geschäfte zum Erlernen von Spielen. Doppelkopf, Mah Jong und daneben das Bridge-Geschäft, aus dem kaum ein Laut dringt, selbst wenn alle Tische mit Spielern besetzt sind.
Gerade schließt Isabel die weitgeöffneten Fenster wieder, da klingelt es auch schon. ’Ich komme’, ruft sie in die Sprechanlage, knüpft die grüne Cordjacke vom Haken, eilt die Stufen hinunter und begrüßt ihre junge Freundin mit begeisterten Luftküssen. Sie gehen los.
„Und?“ Isabel sieht Charlotte an, als habe diese gerade ihren letzten Satz nicht zu Ende gesprochen.
„Siehst du es mir schon an?“ Charlotte bleibt stehen. Ihr ganzes Gesicht ist eine traurige Frage.
»Wie. Ist ‘was? Habe ich ‘was vergessen? Ist etwas passiert? Nun sag’ schon!«
Charlottes Gesichtsausdruck bleibt unverändert bestürzt.
»Ich habe heute Morgen Ralfs Handy durchforstet. Er hatte es vergessen und hat mich angerufen, um mich zu fragen, ob ich es ihm vorbeibringen könnte. Ich habe vorher noch nie in seinem Handy geschnüffelt. Und nun sehe ich, dass da verdächtig oft ein Frauenname auftaucht. Lolita!«
»Charlotte, das muss ein Scherz sein. Oder ein Spitzname – ein Aktionsname. Wer kann nach Nabokov noch ernsthaft Lolita heißen? Das ist bestimmt der Name für ein neues Produkt!«
»Dann kann dieses Produkt aber sehr liebevolle, inhaltsschwere Kurzbemerkungen schreiben!«
Jetzt bleibt Isabel stehen: »Ach ja? Du hast alle gelesen?«
»Alle nicht, ich musste mich ja beeilen.«
»Hast du das Handy dabei?«
»Ja.« Charlotte greift entschlossen in ihre Umhängetasche.
»Nein! Lass das! Ich finde nicht, dass wir weiter darin schnüffeln sollten.«
»Aha! Und was schlägst du vor?«
»Erst einmal stelle ich fest, dass du ein Problem hast, und das ist immer etwas, das man sich zum Geschenk machen kann.«
»Du hast Nerven!«
Sie gehen über den Hofweg und passieren nun den Abenteuerspielplatz in der Averhoffstraße. Bereits im vorigen Jahrhundert hatte ein weitsichtiger, reicher Hamburger Bürger testamentarisch verfügt, dass dieses große, baumbestandene Areal ausschließlich als Spielplatz genutzt werden dürfe. Mit dieser Auflage hatte er das Grundstück ins Hamburger Grundbuch eintragen lassen.
Der Aspria-Fitness-Club, an dem sie vorbeigekommen sind, ist auch nach dem Verschwinden des Geldes weiter in Betrieb und wird sogar noch intensiver besucht als vorher.
»Es kostet jetzt nichts!« hört man oft erleichterte Stimmen.
»Ja, aber doch nach wie vor die eigene Willenskraft« kommt dann ebenso oft die Antwort.
Charlotte sieht Isabel voller Erwartung an. Isabel weiß, dass Charlotte auf einen Zipfel positiver Interpretation hofft und sagt munter:
»Nun sei doch ‘mal ehrlich! Ein solches Geschenk könnte doch möglicherweise die schöne Entdeckung sein, dass du Ralf noch lieber magst, als du es in der letzten Zeit gefühlt hast, oder?«
Charlotte lächelt etwas gequält: »Stimmt!«
Es ist 10 Uhr, aber nur wenige Autos fahren auf dem Winterhuder Weg. Die Anzahl der Autos hat sich in der neuen Zeit enorm reduziert. Es werden fast keine neuen mehr entwickelt, aber alte Liebhabermodelle werden auf Wunsch wieder gebaut. Stattdessen hat sich die Idee, täglich zehntausend Schritte zu tun, erstaunlich umfassend durchgesetzt. Dafür war ein Auto nicht mehr nötig, besonders aber auch deswegen nicht, weil das System der öffentlichen Verkehrsmittel umfassend ausgebaut wurde und Busse und Bahnen inzwischen sehr einladend geworden sind: alle haben eine kleine Bar an Bord, die Sitze sind bequem und Zeitschriften liegen regelmäßig aus. Das Vermögen der etwa 4500 Millionäre, die es früher in Hamburg gegeben hatte, war wenigstens zum Teil durchaus realer Reichtum gewesen, der sich auf die eine oder andere Art brauchbar hatte eingliedern lassen in die Erhöhung der gemeinschaftlichen Lebensqualität. Befreit von dem Stress, den die ständigen Sorgen um den Erhalt und die Mehrung des Reichtums mit sich gebracht hatten, hatten viele reiche Bürger bei der gesellschaftlichen Umstellung einen bewundernswerten Einsatz an den Tag gelegt: Sie wollten zeigen, dass sie ihr Geld wert gewesen waren und produzierten nun ausgezeichnete Ideen für die Allgemeinheit. Der dankbare Zuspruch der Gemeinschaft tat ihnen sichtlich gut. Sie gehörten jetzt total dazu.
Isabel und Charlotte müssen nicht bis zum Zebrastreifen gehen, sie können die Straße unmittelbar überqueren, denn aus der mehrspurigen Schnellstraße, die das Wohngebiet einst in zwei Teile getrennt hatte, war nun eine beidseitig begrünte Allee geworden. Den breiten Mittelstreifen hatte man zu einem parkähnlichen Garten umgestaltet. Viele der nun überflüssig gewordenen Autoschneisen, die einst die Stadt zerteilt hatten, waren ähnlich umgestaltet worden, so dass nun ein weitverzweigtes Netz von Flanierwegen entstanden war, das die Stadtteile auf eine überraschend neue Art verband.
Drüben angekommen bleibt Charlotte stehen: »Ich dachte immer, dass es keine Probleme mehr gibt, wenn das Geld verschwunden ist.«
»Ja, Geld ist kein Problem mehr! Jetzt kann es immer gleich ans Eingemachte gehen,« gibt Isabel belustigt zurück.
»Und was soll das heißen?«
»Die Probleme finden zwischen uns Menschen statt, ohne Verkleidung oder Zwischenpuffer oder falschen Schein. Du kannst jetzt nicht mehr Geldmangel vorschieben. Du kannst theoretisch ebenfalls all das machen, was die anderen machen. Du weißt ja, die Gedanken sind das stärkste Werkzeug im Universum.«
»Ja, und ‘Ich liebe mich bedingungslos’! Das hast du mir heute noch gar nicht empfohlen«, sagt Charlotte vorwurfsvoll.
»Ja, genau. Und? Hast du dir das heute Morgen lächelnd nackt vorm Spiegel freundlich versichert?«
»Nee, dafür ist immer noch Ralf zuständig. Wenn der mich nicht mehr mag, dann muss das doch an mir liegen. Ich bin nicht attraktiv genug! So ist es! So ist die Lage! Ich bin eine ungeliebte Frau!«
»Charlotte«, sagt Isabel streng, » jetzt musst du nur noch in Tränen ausbrechen und sagen: ich Arme! Und damit hast du dich dann komplett zum Opfer und damit handlungsunfähig gemacht. Vergiss nicht, jeder stellt die Situationen selbst her, an denen er etwas lernen möchte.«
»Aha«! Das wollte Charlotte bestimmt nicht hören, »jetzt bin ich auch noch selber schuld! Ich wusste, dass ich eine Versagerin bin! Okay, danke, du hast mir sehr geholfen!«
Isabel muss lachen.
»Das ist nicht witzig!« Charlotte ist sichtbar noch zwei Umdrehungen saurer geworden. ‘So eine blöde Freundin’ steht in großen Druckbuchstaben quer über ihre Stirn geschrieben. Welche nette Freundin hätte nicht längst gesagt, dass alle Männer blöd sind? Blöd oder anstrengend oder unbeweglich oder komisch oder alles zusammen. Denn wenn es eine Wahrheit gibt, die alle Frauen bereits bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr begriffen hatten, dann war das doch wohl diese!
»Ich muss lachen, weil du dich sofort geschlagen gibst. Wenn du so wenig in eure Beziehung investiert hast, dann kannst du ja alles einfach sausen lassen. Ich komme dann und bedaure dich. Nichts gelernt, armes Küken, mit dir kann jeder machen, was er möchte, keine eigenen Ideen, alles hängt von ihm ab. Wer bist DU eigentlich?«
Charlotte sagt nichts, also fährt Isabel fort:
»Am Schluss habe ich schon leicht aggressive Töne vernommen, und die sind die andere Seite deiner positiven Kraft. Du weißt ja«, predigt die erheblich ältere Freundin weiter, »immer wenn du etwas für dich Negatives erlebst, dann kannst du das nur darum so empfinden, weil du weißt, wie der andere Pol, der Gegensatz, das Ende an der gegenüberliegenden Seite aussieht. Das ist das Positive. Es steht in deiner Macht, die Sicht auf die Situationen mit den entsprechenden Gefühlen auf diese positive Seite zu schieben.«
Charlotte sieht nicht überzeugt aus: »Und was ist dann mit Ralf?«
»Ich finde Ralf in dieser Situation ziemlich nebensächlich!« Dieser Satz ruft in Charlottes Gesicht ein breites Grinsen hervor.
»Sag’ das noch einmal!«
»Ralf interessiert uns herzlich wenig. Lass’ den mit seiner Lolita glücklich werden. DU bist interessant. Was kannst DU mit dieser neuen Situation in deinem Leben machen?«
»Nein, da irrst du dich: Ralf soll nicht mit Lolita glücklich werden! Das gönn’ ich ihm nicht. Nur dass du das weißt!«
»Du willst sagen, dass du ihn nicht mehr liebst.«
Charlotte gibt Isabel einen leichten Schlag auf den Unterarm: »Du willst mich nicht verstehen!«
Isabel seufzt. Sie hatte ernsthaft gedacht, dass das Verschwinden des Geldes sofort die bedingungslose Liebe zu allen Menschen nach sich ziehen würde. Ihr Credo ist:
1. Ich liebe mich bedingungslos. Ein Satz, den Frauen gebetsmühlenartig wiederholen müssen, immer und immer wieder, auch wenn es Männern schon lange überflüssig erscheint.
2. Ich urteile nicht mehr und teile nicht in »besser« und »schlechter« ein, sondern nehme die Dinge, wie sie sind, weil ich immer nur den kleinen Teil meiner jeweils aktuellen, unmittelbaren Wahrnehmung sehe. Negatives drehe ich mit der Kraft meiner Gedanken auf seine positive Seite. Und mit dieser Kraft kreiere ich alles, was ich möchte.
3. Alle Menschen lieben alle Menschen genauso bedingungslos, wie sie sich selber lieben.
Heute weiß sie aus Erfahrung, dass ein solcher Übergang nicht ganz so einfach verlaufen kann. Allerdings – ein Chaos oder eine Panik hatte es am Beginn des Geld-Verschwindens nirgendwo gegeben. Vermutlich gab es schon zu viele Menschen, die sowieso kein Geld hatten. So war die Umstellung eher schwierig für die Besitzer von Vermögen gewesen. Manche von ihnen sind immer noch dabei umzulernen, nicht jedem fällt das leicht. MEINE Frau, MEINE Kinder, das mochte für die Übergangsphase ja noch nachvollziehbar sein, aber schon MEIN Auto stimmt kein bisschen mehr, weil heute jeder jedes beliebige Auto nehmen und fahren kann. Ein Ausdruck der Neuorientierung auf die »Liebe zu allen Menschen« war es ja schon, wenn diejenigen der ehemals Reichen, denen die Umstellung immer noch schwerfiel, aus therapeutischen Gründen hin und wieder eines der großen alten Autos fahren dürfen. MEINE Wohnung stimmt im früheren Sinne auch nicht mehr, weil jetzt jeder in jeder freien Wohnung wohnen kann. Natürlich bedeutet das nicht, dass eine begehrte, aber bereits bewohnte Wohnung jederzeit abgegeben werden muss. Es bedarf keiner neuen Regel, denn eine ganz neue Empfindsamkeit hatte sich herausgebildet, eine erhöhte Sensibilität dafür, bei Regelungen des Zusammenlebens der Menschen Lösungen zu finden, die auch bei unterschiedlichen Wünschen und Interessen beide Seiten gleich glücklich macht. Jeder ist bemüht, dem jeweiligen Gegenüber die Wünsche zu erfüllen, als wären es die eigenen; den anderen glücklich zu machen, als gelte es einem selbst. Achtsamkeit den Wünschen und Bedürfnissen des Nächsten gegenüber nimmt heute einen großen Raum ein.
Das Wohnungsproblem in Hamburg hatte sich von einem auf den anderen Tag geklärt. Es gab ausreichend inzwischen überflüssig gewordene Verwaltungs- und Bürogebäude: Zum Beispiel hatte die gesamte Finanzverwaltung von einem auf den anderen Moment leer gestanden. Geld gab es schliesslich nicht mehr und somit auch nichts zu verwalten. Die Schulbehörde hatte für die Räumung der Büros und Konferenzräume schon etwas mehr Zeit benötigt. In der Senatskanzlei hatte man noch ein Frühstück mit der Handelskammer organisiert, um über die vermeintlich neu entstandenen Probleme im Verwaltungsapparat zu beraten, aber in einer geldlosen Gesellschaft konnte keiner seinen Platz in der Bedeutungshierarchie mehr bestimmen, interpretieren und weiter für wichtig halten. Einige allerdings waren durchaus bereit, ihr Amt auch ohne Gehalt weiter auszuüben. Der Bürgermeister und einige Senatoren hatten sich darauf besonnen, dass sie ja für die Bewahrung des Wohls aller Bürger gewählt worden und dem Gemeinwohl verpflichtet waren. So hatten sie also in den ersten Tagen nach Verschwinden des Geldes damit begonnen, die Versorgung der Bürger zu organisieren und die Verteilung der Lebensmittel aus den einstmals für Krisenzeiten angelegten vorbildlich gefüllten Notvorratslagern zu koordinieren.
Die Herrschaften der oberen Zehntausend hatten verwundert, ja mit Befremden auf die in einigen Straßen feiernden Menschen geblickt. Die massenhaft leeren Gebäude hatten zu Begeisterung geführt und waren im Nu als hervorragend geeignete Wohnungen in Besitz genommen worden. Nur in der Behörde für Arbeit und Soziales hatte gähnende Leere geherrscht. Diese Räume hatte keiner bewohnen wollen. Zu viele Seufzer, Tränen und Enttäuschungsnetze schienen braunschwarz geknüpft durch das ganze Gebäude zu schweben, die Wände auf unbegreifliche Weise ignorierend.
Überraschend schnell hatte sich gezeigt, dass die Mehrheit der Menschen ihre Fähigkeit, ihre Nächsten liebevoll wahrzunehmen, ohne weiteres auf ein größeres soziales Umfeld auszuweiten vermochte. Erstaunlich viele hatten schnell erkannt, dass für alle und jeden genug da war, um satt zu werden, eine Wohnung zu haben und aktiv Teil der Gemeinschaft zu sein. Niemand hatte mit dieser raschen Wiederbelebung der Fähigkeit der Menschen zu einer schnellen, unmittelbaren liebevollen Wahrnehmung des anderen gerechnet, waren sie doch unter dem dichten Schleier der durch Geld definierten zwischenmenschlichen Beziehungen nahezu unsichtbar geworden. Diese Beschränkungen und Zwänge waren verschwunden, und die unverhoffte Freude darüber hatte die Menschen auf die Straßen und zum Feiern und Tanzen getrieben. Eine große, noch nicht in Gedanken transformierte Überschussfreude muss es gewesen sein. Ja, Freude als Mehrwert. Nach Jahrtausenden erlebte die Welt das andere Ende, den Gegenpol, die positive Seite des Tanzes um das Goldene Kalb. Es war überstanden; entgegen allen Vorhersagen hatten die Brüderlichkeit, die Schwesterlichkeit, die Gleichheit, die Einheit gesiegt. Diesmal hatte man nicht, wie in der Französischen Revolution, die Reichen geköpft, nein, man hatte den Mammon abgeschafft, der zu seiner Existenz ja Reiche und Arme gleichermaßen brauchte. Was das Geld versprochen hatte, aber nicht einlösen konnte, das gab es heute reichlich. Erst mit seinem Verschwinden konnten die mit dem Geld verbundenen Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte Realität werden. Die von der Anbetung des Geldes immer wieder entfachte, jede Grenze sprengende Gier, die Unersättlichkeit, hatte ihren eigenen Untergang produziert und, ohne dass es beabsichtigt war, die Menschen in die Erkenntnis getrieben, dass eine letzte Entscheidung getroffen werden wollte: für die Liebe zu Mutter Erde, zur Natur und zur Menschheit oder aber für die Abschaffung alles Lebendigen. Besonders die jungen Menschen hatten diese Entscheidung bereits in ihren Genen mit auf die Erde gebracht und sich dafür eingesetzt. So gab es unter ihnen immer mehr Vegetarier, die auf keinen Fall Mitgeschöpfe essen wollten. Junge Ingenieure zeigten ein fast persönliches Verhältnis zur körperlichen Beschaffenheit des Planeten Erde. Ihnen war klar, dass Öl das Blut des Planeten ist und keinesfalls weiter ungehemmt entnommen werden durfte. Um akzeptiert zu werden, wollten sie Aufmerksamkeit, Zuwendung und Liebe geben, genau das, was sie selber zu bekommen wünschten.
Wie ein kosmischer Seufzer befreite sich plötzlich das über Jahrhunderte krampfhaft unterdrückte Mitempfinden des Menschen für den Menschen. Der spontane Freudentanz damals war die Übersetzung dieses befreiten Gefühls in Bewegung gewesen. Auf dem Jungfernstieg, der Mönckebergstraße, um den Hauptbahnhof herum, die Lange Reihe entlang bis zur Papenhuder Straße, auf dem Hofweg, überall hatte Isabel feiernde Menschen sehen können. Und die Musik dazu kam tatsächlich von NDR 90.3 ‘Das Beste am Norden’! Nun stimmte der Werbeslogan! Die Redakteure hatten schnell erkannt, ‘was da abging’ und das Programm auf Generationen übergreifend akzeptierte Musik umgestellt, die nun aus den geöffneten Fenstern tönten. »Wenn John Lennon das hätte erleben dürfen!« – solche und ähnliche Gedanken schwebten wie viele weiße Tauben über ganz Hamburg. Und ganz kurz hatten sich einige gefragt, was wohl in New York oder London augenblicklich geschehe. Später, wenn man an diesen Augenblick zurückdachte, hatte man sich gegenseitig oft gefragt: »Und wo hast du getanzt?«
Die vielen Banken waren ebenfalls von der Bevölkerung in Besitz genommen worden. Man hatte die Schlösser der Bankfilialen nicht einmal gewaltsam öffnen müssen, da die Filialleiter – scheinbar unbelehrbar – täglich weiter zur Arbeit kamen in der Hoffnung, alles sei ein Versehen gewesen. Man hatte ihnen die Schlüssel auch nicht abgenommen, sondern sie sanft in die neuen Tätigkeiten der zu ‘Geschäftsstellen’ umfunktionierten Räume eingebunden, die darin bestanden, die aktuellen Bedürfnisse im Stadtteil zu regeln. Die drei Tage ohne Strom hatten als dringliche Auslöser ihre Wirkung gezeigt. Erst gab es nur die großen Flipcharts im Fenster der Bank, auf der die Namen und Hausnummern der alten und kranken Menschen gestanden hatten, die einer Betreuung bedurften. Da einige Wenige von vielen besucht wurden und andere gar nicht, hatte man diese namentlichen Besuchslisten eingerichtet, um alle Menschen im Stadtteil versorgt zu wissen.
Die ersten Tage musste zunächst auch die Verteilung von Lebensmittelvorräten organisiert werden. Eine große Hilfe für den Hamburger Stadtteil Uhlenhorst war die Filiale von Budnikowsky am Hofweg gewesen. Hier hatte man die Türen unverschlossen gelassen und den Vorrat an Hülsenfrüchten großzügig in die Regale gepackt. Ohne dass es aufwendiger Planung bedurfte, hatten dann einige Bewohner der umliegenden Straßen auf ihren Campingkochern oder den wenigen Kaminen mit Kochmöglichkeit Erbsen-, Linsen- oder Bohnensuppe gekocht. Auf Tapeziertischen, die man von Bewohnern eingesammelt hatte, wurden die Mahlzeiten auf dem Theresienstieg für alle zum Essen angeboten.
Charlotte stupst Isabel sanft:
»Träum nicht! Heute brauche ich deine ganze Aufmerksamkeit.«
Isabel lacht: »Klar! Ich weiß!«
Ohne besondere Absprache begeben sie sich in die obere Etage der Hamburger Meile, wo die Farb-, Klang-, Yoga- und Massageräume liegen.
»Wo möchtest du denn hin?«, fragt Isabel freundlich.
»Ich brauche erst einmal eine Akupressur-Massage. Zur Beruhigung. Und du?«
»Willst du nach der Massage noch Farben erleben?«, fragt Isabel, weil sie gerade die Farbangebote entlang gehen.
Charlotte ist sich nicht sicher. »Was brauche ich denn heute?«
Sie bleiben vor dem ersten Schaufenster, oder besser: Vor einer Ladenfront stehen. Leuchtendes Rot springt ihnen in die Augen. Ganz rechts außen ist ein Text angebracht, den Charlotte jetzt laut liest:
»Rot: stimulierend, aktivierend und aufregend. Wirkt belebend, weckt innere Kräfte (»Urkräfte«). Steigert das Selbstwertgefühl.«
Charlotte stöhnt bestätigend ein Ja.
»Wirkt appetitanregend. – Och ne. – Macht vital und dynamisch. Regt an und erregt, verursacht aber auch Unruhe.«
Sie dreht sich zu Isabel und fragt: »Brauche ich das?«
»Lies doch mal vor, bei welchen Beschwerden es hilft.«
»Okay: Hilft bei Schwäche und Lethargie, Müdigkeit oder wenn man sich abgespannt fühlt. Hilft bei mangelnder Durchsetzungsfähigkeit, mangelndem Selbstbewusstsein, Minderwertigkeitsgefühlen. Rot am Morgen wirkt wie ein ‘Push-up’ für gute Laune.«
Charlotte macht eine Pause. »Ist es das?«
»Nee, das finde ich nicht. Du bist doch voll durchgepowert.«
»Und was ist mit meinem Selbstbewusstsein?«
»Du fühlst dich doch nicht klein, oder? Ich habe das Gefühl, dass du eine Wut auf Ralf hast, oder?«
»Ja, stimmt. Oh, hör mal: Bei übergroßer Nervosität oder Reizbarkeit sollte auf die Farbe Rot allerdings verzichtet werden, da sie diese Zustände steigert.«
»Also, Rot brauchst du eindeutig nicht.«
Charlotte ist der gleichen Meinung und muss nicht weiter überzeugt werden. Sie gehen einige Schritte weiter und bleiben vor dem orangenen Fenster stehen.
»Aufbauend und leistungssteigernd, anregend und anspornend, fördert Freude, Leichtigkeit, Loslassen, Genuss. Weckt die Arbeitsfreude, strahlt Wärme aus, macht Appetit und fördert die Geselligkeit, macht es Morgenmuffeln leichter, früh aufzustehen. – Was meinst du? Brauche ich heute Orange?«
»Nein, wir gucken mal weiter: Gelb! ‚Aufmunternd und nervenstärkend, fördert Intelligenz und inneren Abstand.’ Das klingt doch nicht schlecht. Ich bekomme Abstand, lasse alles intelligent und mit innerem Abstand los. Ich glaube, das ist es. »
»Lies doch erst einmal weiter.«
»Fördert die Konzentration, Lerneifer, regt den Geist an und unterstützt alle geistigen Tätigkeiten. Stärkt die Nerven und regt den Intellekt an, bringt Sonne ins Gemüt und verscheucht trübe Stimmung. – Das ist es. Ohne Frage.«
Isabel nickt: » Hört sich wirklich gut an. Wenn ich das höre, nehme ich mir gleich vor, mir ein gelbes Kleidungsstück zu besorgen.«
Jetzt beginnt Isabel zu lesen: »Hilft bei Ängsten, Spannungen, Mutlosigkeit, fehlender Offenheit, Kaufsucht, Geiz, gegen schlechte Laune, Unlustgefühle und Niedergeschlagenheit.’ Und sieh’ mal, nicht ein einziger Hinweis, wann man Gelb meiden sollte. Ich glaube, ich habe diese Farbe bisher völlig unterschätzt! Da komme ich mit.«
Charlotte muss nicht weiter überzeugt werden. Sie gehen gemeinsam zum Eingang, öffnen die Tür und betreten einen kleinen Vorraum. Der Tür gegenüber ist ein Schild, auf dem in abgerundeten Buchstaben steht: herzlich willkommen im gelben Bad. Sie schieben den honiggelben Samtvorhang zur Seite und sehen einen großen Raum vor sich. Auf dem Fußboden liegt ein senfgelber Teppichboden, an der Wand dem Eingang gegenüber steht ein drei Meter langes Sofa, das mit curryfarbenem, gemustertem Stoff bezogen ist. Die Kissen darauf sind aus Seide und Kaschmir und Velours und Cord, haptisch sehr unterschiedlichen Materialien in wunderschönen Gelbtönen, die auf dem Hintergrund des Sofastoffes wie unterschiedlich farbig wirken. Ein kurzer Sonnenstrahl durch die geöffnete Tür beleuchtet alle Objekte im Raum. So eine umfassende Sammlung mit den eigenwilligsten Schwerpunkten zusammenzutragen, ist heute nicht zu schwer, da es seit der neuen geldlosen Zeit riesige Hallen mit gebrauchten Objekten gibt, die man nach Lust und Laune auswählen und mitnehmen darf. Viele Menschen haben aus Gründen der Energie-Reduzierung aus eigener Überzeugung ihre Wohnflächen verkleinert. Nichts wird vernichtet, alles auf kreative Weise wieder in den Kreislauf des Genusses gebracht. Eine Assistentin kommt auf sie zu und fragt, wie intensiv sie Gelb erleben möchten.
»Total!«, rufen beide wie aus einem Mund.
»Dann kommen Sie bitte mit mir mit. Ich gebe Ihnen zuerst die gelbe Kleidung. Welche Größe?«
»38!«, sagt Charlotte.
»44!«, sagt Isabel.
Der Raum mit der Kleidung hat gelbe Regale mit Fächern für die unterschiedlichen Größen.
»Ich möchte gern einen gelben Body.«
Charlotte sagt: »Ich möchte seidene Spitzenunterwäsche. Haben Sie die auch?«
Die beiden Frauen staunen, was für eine Auswahl an Dessous besteht. Später erfahren sie, wie die traumhaften gelben Objekte entstanden sind. Auf jeden Fall nicht in fernen Ländern. Seit der geldlosen Zeit kümmert sich jedes Land um sich selbst. Der Güterverkehr auf den Weltmeeren tendiert gegen null. Die Schiffsflotten sind ausschließlich unterwegs, um Plastikmüll aus den Meeren und Ozeanen zu fischen. Damit sollen sie nach wissenschaftlichen Schätzungen noch 20 Jahre beschäftigt sein. Die gelbe Seide, ja, die ist aus China, aus Hangzhou, um genau zu sein. Als Bettwäsche genäht ist sie vor Jahren in Hamburg gelandet und Beatrice, die Betreiberin des »Gelben Ladens«, hatte, zunächst nur für den Eigenbedarf, begonnen, ein Hemdchen aus einem Bettbezug zu schneidern. Eine ihrer Tanten hatte Spitze klöppeln können und dieses alte Handwerk Beatrice an vielen gemütlichen Abenden beigebracht. Die erste Freundin, der Beatrice ihr Spitzenseidenhemd vorgeführt hatte, war sofort entschlossen gewesen, sich ein ähnliches Seidenhemdchen zu schaffen. Binnen kurzem hatte man eine lichtdurchflutete Wohnung gefunden, in der die inzwischen zahlreichen Spitzen klöppelnden und nähenden Frauen Platz gefunden haben.
»Eine Boutique in Paris kann keine raffiniertere Auswahl haben. Schade, dass das keiner sieht.«
»Wieso, der Clou an raffinierter Unterwäsche ist doch ihre Wirkung auf die Trägerin! Du magst dich selbst viel lieber, und wie heißt der erste Zaubersatz für ein durch und durch freudvolles Leben?« Isabel streckt ihren Hals nach vorn und sieht Charlotte mit halbgeöffnetem Mund abwartend an.
»Ich liebe mich bedingungslos!«, äußert Charlotte erwartungsgemäß. Es klingt ein wenig scherzhaft und sie sagt es mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck.
»Genau!«
»Ach, ich hätte nicht gedacht, dass man da mit Kleidung nachhelfen kann.«
»Sicher bin ich mir auch nicht, aber die Richtung stimmt.«
Beide haben inzwischen ihre Unterwäsche und Oberbekleidung gewählt. Charlotte trägt jetzt einen gelben ausgestellten Rock, ein gelbes Twinset, hellgelbe Söckchen in gefährlich hohen dunkelgelben Pumps. Isabel hat eine gelbe weite Cordhose gewählt, die unten leicht zusammengehalten ist. Dazu trägt sie einen Strickblazer aus dunkelgelber feiner Wolle.
»Wow!«, ruft Charlotte überrascht. »Das ist ja der letzte Schrei! Was machen Sie mit der Kleidung, wenn wir sie gebraucht haben? Ist das gebrauchte Kleidung? Es sieht so neu aus.«
Die Assistentin lächelt freundlich, ihre rechte Hand steckt in der aufwendig bestickten Tasche ihres gelben Kittels: »Ja, alles second hand, aber immer mit viel Liebe kunstvoll nachgearbeitet. Und noch ein zweites Ja: Das gehört Ihnen jetzt. Wenn Sie sich einmal wieder nach der Farbe Gelb sehnen oder sie nötig haben, dann können Sie diese Kleidung tragen. Wenn Sie natürlich eine Voll-Erfahrung brauchen, dann kommen Sie wieder in einen unserer Läden.«
Inzwischen sind sie mit der Assistentin in den großen Raum zurückgegangen. Wie von selbst gehen sie zu dem großen Sofa und setzen sich gemütlich zurecht. Beide lassen sich in die weichen Kissen zurückfallen und schließen die Augen. Ohne Ablenkung fällt Charlotte natürlich sofort Ralf ein, auch schon deshalb, weil sie ihre schöne Unterwäsche so sexy findet und Ralf als ersten Adressaten mit dieser Verbesserung erfreuen möchte. Dann fällt ihr schlagartig wieder ein, dass sie eigentlich Ralfs Handy zu ihm ins Büro bringen sollte. Sie öffnet erschreckt die Augen, beschließt dann aber, diese Aufgabe jetzt einfach loszulassen. ‘Es ist, wie es ist’, sagt sie tonlos zu sich, ‘ich habe eben nicht daran gedacht und jetzt werde daraus, was wolle.’ Dieser Gedanke entspannt sie ganz enorm: Ihr ist, als hätte jemand rechts und links von ihrem Hals fünf zu eng geknöpfte Verschlüsse geöffnet. Sie greift nach dem Samtkissen, das rechts neben ihr liegt, umarmt es, legt ihren Kopf hinein und denkt: Selbst wenn man nichts macht, geschieht trotzdem etwas. Ich warte einfach mal ab, was sich so ergibt. Ich höre einfach mal zu. Ich lasse Ralf Ralf sein, mit allem, was er möchte. Sie fühlt diesem Gedanken nach und merkt, wie ihr Geist völlig neue Gedankenfelder betritt. Ganz schnell ist sie in Südfrankreich. Sitzt neben ihrer dort lebenden Freundin, sieht sich in Gedanken in deren Haus um und überlegt, ob sie da unten nicht auch leben, wieder Französisch reden und in Montpellier Brot einkaufen möchte. Sie könnte bestimmt ein Haus finden, es selber renovieren und Ralf könnte sie besuchen. Ach, denkt sie, da ist er wieder. Also, er gehört doch dazu.
Isabel hat die Augen geöffnet. Sie kommt von einem Sonnenspaziergang in die Wirklichkeit zurück. Sie ist begeistert, denn sie hat es wirklich geschafft, nur an die Sonne zu denken und an sonst nichts. Im positiven Sinne ganz leer sein und atmen – das steht schon ganz lange auf ihrer Wunschliste. Ganz langsam streicht sie über ein glattes, kühles Seidenkissen.
‘Es ist alles selbst gemacht, was ihr hier seht’, hat Beatrice eben noch gesagt, ‘alles, was ihr seht, ist upgecycelt d.h. aus gebrauchten Dingen geformt, verändert, gefärbt. Ihre Augen schweifen durch den Raum und bleiben an einem ungewöhnlichen Vorhang hängen. Kleine Plastik- und Papierecken sind so an Fäden aufgezogen, dass man hindurchsehen kann, aber dennoch das eindeutige Gefühl einer sanften gelben Mauer hat. Rechts an der Wand hängt ein großer Spiegel in einem überwältigenden Goldrahmen. In ihm spiegelt sich dieser eigenwillige Vorhang, hinter dem entweder wirkliches Sonnenlicht zu sehen ist oder eine Lampe angebracht ist, die diesen Eindruck hervorruft. Isabel merkt plötzlich, wie sich alle Muskeln an ihrem Körper tatsächlich hinsetzen; ihr scheint, als müsste sie gar nichts mehr von innen festhalten, obwohl sie niemals das Gefühl hatte, von innen etwas zusammengehalten zu haben. Das muss das erstrebte Loslassen sein. Toll! Und dann freut sie sich, dass sie die Kleidungsstücke mit nach Hause nehmen darf. Es kommt ihr vor, als wären das nun kleine Freundinnen, die dieses Erlebnis hilfreich wieder in Erinnerung bringen können.
Die beiden Frauen sitzen noch entspannt auf dem gelben Sofa, als Ralfs Handy klingelt. Auf dem Display erscheint parallel zum Klingelton das Wort ‘Lolita’. Alarmiert hält Charlotte das Handy in Isabels Blickfeld.
»Nimm ab, sag nichts und seufz nur leicht in den Hörer!«, flüstert ihr Isabel beschwörend zu.
Das schafft Charlotte vorbildlich, ein einigermaßen tieftöniges ‘Hm’ kann sie auch noch präsentieren. Allerdings wäre das gar nicht nötig gewesen, denn Lolita sagt ohne weiteres Abwarten ziemlich herrisch und vorwurfsvoll:
»Ralf, wo bist du? Ich sitze hier wie verabredet seit zehn Minuten in der ‘Alsterperle’. Wo bleibst du?«
Isabel hat die Augen ungeduldig aufgerissen und die Schultern fragend hochgezogen. Beschwörend hat sie den rechten Zeigefinger auf den geschlossenen Mund gelegt. Charlotte hat verstanden. Sie sagt nichts, drückt das Gespräch aber noch nicht weg.
»Redest du nicht mehr mit mir? Ralf! Ralf? Was soll das…«
Charlotte beendet die Verbindung. Sie sieht die neugierige Isabel an und wiederholt Wort für Wort, was Lolita gesagt hat. Dann schweigt sie eine Weile und will von Isabel wissen, ob sich diese Äußerungen nach einer Liebesbeziehung anhörten. Isabel ist unschlüssig, auf jeden Fall hört es sich nach keiner süßen, zarten, frischen Liebe an.
Charlotte, die währenddessen aufgestanden ist, sagt: »Komm, wir gehen zur ‘Alsterperle’ und dann wissen wir mehr.« Isabel zögert, aber Charlotte findet, dass man so eine Gelegenheit wie diese nur sehr selten auf dem silbernen Tablett serviert bekommt. Dem kann Isabel nichts entgegensetzen. Darum bedanken sie sich bei Beatrice, der Seele des gelben Ladens. Beatrice überreicht ihnen zum Abschied einen kleinen Flyer, in dem mit freundlichen Worten und unter Angabe von Ort und Zeit zum Mittun beim Sticken und Klöppeln ermuntert wird. Dann gehen sie entschlossen in Richtung Außenalster.
Auf dem Weg entwerfen sie immer neue Vorgehensweisen für eine heimliche Beobachtung. Wenn Ralf da ist, ist es kein Problem, aber wenn er nicht da ist?
»Ganz einfach«, ruft Charlotte, »dann rufe ich sie an. Ihre Nummer habe ich ja. Ha!«
Das Wetter hat sich seit ihrem Besuch in der Hamburger Meile verändert, es sieht ganz nach Regen aus.
»Au Mann, Isabel, wenn es regnet, bleibt die Dame bestimmt nicht lange«. In der ‘Alsterperle’ gibt es keinen Innenraum, alles steht im Freien – bis auf die Toiletten, die ursprünglich die alleinige Bestimmung dieses kleinen Häuschens waren.
Isabel ist sorglos: »Die haben exzellente Schirme und Decken und selbst bei zweistelligen Graden unter null bleiben Gäste dort, halten sich an ihren heißen Getränken fest und lassen ihre Blicke über die Alster schweifen.«
»Soll ich denn zu ihm gehen, wenn sie da zusammen sitzen?«, fragt Charlotte unschlüssig.
Isabel lacht über das ganze Gesicht. Charlotte ist irritiert und fragt Isabel, was denn so lustig sei.
»Oh, diese Situation erinnert mich an eine wahre Geschichte, die eine Freundin von mir vor Jahren erlebt hat.«
»Erzähl!«
»Meine Freundin hatte das Gefühl, dass ihr Mann eine Reise nicht – wie behauptet – aus geschäftsbezogenen Gründen machen wollte. Von Hamburg bis in den Schwarzwald ‘musste’ er für sein ‘Geschäft’ mit dem Auto fahren. Am zweiten Abend hat er abends schon um 18 Uhr angerufen und Gute Nacht gesagt. Nachdem er aufgelegt hatte, hat sie in dem Hotel angerufen und gefragt, ob sie den alleinstehenden Herrn sprechen könne. Die Empfangsdame in der Rezeption verriet ihr, dass es nur Paare in dem Hotel gebe. Da hat sie sich in ihren BMW gesetzt und ist die Nacht hindurch von Hamburg in den Schwarzwald gefahren. Unterwegs hat ein Mercedesfahrer immer wieder anzubändeln versucht, was sie, auf ihre momentane eigene Lebenssituation bezogen, als sehr amüsant empfand. Ich muss dir sagen, dass sie selber sehr gut aussieht und immer attraktiv angezogen ist. Am nächsten Morgen im romantischen Hotel des kleinen malerischen Schwarzwalddorfes angekommen, hat sie sich auf die Toilette begeben, sich geschminkt und sich anschließend mit einer Zeitung in die Lobby gesetzt. Bald hat sie Schritte gehört und am morgendlichen Husten ihren Ehemann erkannt. Neben ihm die Schritte einer Frau – in hübschen hochhackigen Pumps, wie sie mit einem Blick an ihrer Zeitung vorbei wahrnehmen konnte. Erleichtert hat sie festgestellt, dass ihr deren Stimme nicht bekannt vorkam. Dann hat sie die beiden zum Frühstück gehen lassen und rücksichtsvoll noch einen Moment gewartet; ihr war sehr wohl bewusst, dass nach ihrem Erscheinen das Frühstück für beide beendet sein würde. Nach 10 Minuten hat sie dann den Speisesaal betreten. Fast sofort hat ihr Mann sie erkannt und hat sich zur Überraschung seines wohlgefällig kauenden weiblichen Gegenübers langsam und wie von Geisterhand zu seiner vollen Länge erhoben. Dann stand sie selber am Tisch der beiden Liebestäubchen und aus seinem Mund kam wohlerzogen: »Darf ich vorstellen: Meine Frau!« und mit einer Handbewegung nach rechts: »Meine ehemalige Schulkameradin, Frau XYZ! Darf ich dir Kaffee bestellen?« Meine Freundin hat sich hingesetzt, die Wirtin und Besitzerin ist gekommen, er hat Kaffee bestellt, ist aufgestanden und hat gesagt: »Ich packe wohl besser meinen Koffer.« Die ehemalige Schulkameradin hat sich ebenfalls erhoben und kundgetan, das Gleiche tun zu wollen. Meiner Freundin war klar, dass die beiden noch einen letzten Satz austauschen müssen, um den Schock über ihr unverhofftes Erscheinen zu verkraften.
Als die beiden draußen waren, ist die Wirtin mit dem Kaffee gekommen, hat die Tasse und das Kännchen abgesetzt, die Hände in die Hüften gestemmt und im schönsten Dialekt gesagt:« Na, sag’n Sie mal. Sie sind die Eh’frau, die gestern angerufen hat. Ja, dos sind Sie! Und so ahne schöne Frau. Na, die Ruh’, die Sie hab’n! An die Hoaare hätt’t i sie g’packt, hochg’zerrt hätt’ i sie, ‘nausgschmissen hätt’ i sie! Und Sie soviel schöner! Na, Sie hab’n a Ruh’. Den Kaffee zoahl i. Sie gefall’n mer!«
Charlotte ist amüsiert: »Oh, das ist eine schöne Geschichte! Aber was machen wir? Was mache ich?« Sie überqueren, wenig vorbildlich 20 Meter vom Zebrastreifen entfernt, am Literaturhaus die Straße Schwanenwik und sehen durch die Bäume hindurch das kleine Restaurant-Toiletten-Häuschen, die aufgespannten dunkelroten Schirme davor, dahinter die Alster mit zwei Segelbooten und im Hintergrund die Stadtsilhouette mit dem Dach der wundervollen Elbphilharmonie, einem Bauwerk, das einem selbstherrlichen und sich selbst überhöhen wollenden Fürsten würdig wäre und wie ein Schildbürgerstreich mit dem Geld von Hamburgs Bürgern gebaut wurde, die weltweit den Ruf der Pfeffersäcke haben, bei denen bekanntlich nur das zählt, was sich rentiert, d.h., was wieder Geld macht.
»Da ist er!«, ruft Charlotte – erstaunlich laut, wenn man bedenkt, dass sie eigentlich flüstern will. »Da ist er!« wiederholt sie entsetzt noch einmal und flitzt hinter Isabels Rücken, der mit seiner wohlgenährten Breite allerhand Schutz bietet. Da Charlotte hochgewachsen ist und Isabel in allem der deutschen Durchschnittsfrau entspricht, wirken die beiden wie ein einziges Wesen mit zwei Köpfen. Charlottes Mund befindet sich praktischerweise genau neben Isabels rechtem Ohr, also dem, mit dem sie besonders gut hören kann.
»Wie findest du sie? Die ist nicht einmal jünger als ich. Und dünn ist die auch nicht. Was soll das eigentlich für eine Frisur sein? Und wie die angezogen ist. Aber sie hat – ein sehr schönes Lächeln.« Charlotte gleitet mit einem tiefen Seufzer in die innere Informationsaufnahme.
Auf dem hohen Hocker, neben dem Ralf jetzt stehen bleibt, sitzt eine fröhlich wirkende junge Frau. Sie hat lange dunkle Haare, einen vollen roten Mund. Lippenstift? Zu blauen Jeans trägt sie einen dunkelrosa Pullover und einen roten Schal. Ein blauer Parka hängt an ihrem Hocker herunter. Sie sieht überhaupt nicht nach einer femme fatale aus. Aber eindeutig umarmt Ralf sie etwas zu herzlich, verharrt auf ihren Haaren, küsst sie auf den Kopf, auf die Stirn – nicht auf den Mund. Was ist schlimmer, fragt sich Isabel. Charlottes Kopf ruht schwer auf Isabels Schultern und Isabel schließt nicht aus, dass sie bereits ohnmächtig geworden ist. Mit vorsichtiger Anstrengung dreht sie sich zu Charlotte, umarmt sie und zieht sie in Richtung Anleger Uhlenhorst. Sobald sie vermutet, dass sie aus der Reichweite des Geschehens sind, setzt Isabel Charlotte auf eine Bank. Die hat ihre Augen wieder geöffnet und sieht ausdruckslos in Richtung Wasser. Isabel sagt nichts. Sie fragt sich, was in Charlotte vor sich gehen mag. In dem Versuch, sich in sie hinein zu versetzen, schreitet sie in Gedanken die normale Routine eines zufriedenen Ehepaares am Morgen ab: Sie wachen auf, sie teilen sich das Bad, sie frühstücken, sie geben sich einen mehr oder weniger flüchtigen Abschiedskuss und sind sicher, dass sie sich abends wieder in die Arme schließen und sich gegenseitig gelassen und interessiert die Tagesgeschehnisse erzählen werden. Alles geliebte Selbstverständlichkeiten, von denen man nicht glaubt, dass eine Kleinigkeit die Solidität des wiederholten Geschehens in ein fragiles Kartenhaus verwandeln kann. Eine jahrelange Wahrheit steht auf dem Prüfstand. Ja, denkt Isabel, Frauen sind schnell bereit, rückwirkend alles in Frage zu stellen. Sie erinnert sich an ihre erste Ehe. Hätte sie sich damals bedingungslos geliebt, wie sie es heute jeden Morgen und immer wieder tut, dann hätte sie sich möglicherweise mehr um ihren ersten Ehemann bemüht. Er hat damals ihre Anstrengungen um ihn vermisst: Du hast überhaupt nicht um mich gekämpft! Stimmt, Frauen fühlen sich so klein, dass sie kein Verhältnis mehr zu ihrer Stärke haben. Die gemeinsam verbrachten Jahre sind so etwas wie ein Guthaben oder können es zumindest sein. Und Männern muss man mit Argumenten kommen. Das hat sie in ihrem langen Leben begriffen. Eine Ehe ist ein wundervolles soziales Unternehmen und, wie Richard immer sagt, höchstens für 10 Jahre als eine Selbstverständlichkeit gedacht. Danach entscheidet sich, ob die beiden Freunde und Partner in dem ‘Unternehmen Ehe’ geworden sind. Haben sie eine Gesprächskultur entwickelt? Können sie sich gegenseitig fragen und zuhören? Merken sie, wenn der andere aus irgendeinem Grund ein Blatt im Buch seines Lebens umgeschlagen hat und wenn Kleinigkeiten das Puzzle der Persönlichkeit neu aufmischen? Von C.G. Jung hat Isabel gelernt, dass Männer am ehrlichsten sind, wenn sie sachlich argumentieren. Dann sollten Frauen aufmerksam darauf hören, was sie von ihrem Gegenüber erfahren. Frauen sind ihrer inneren Wahrheit am nächsten durch ihr Gefühl. Da Männer in diesen Gefilden eher selten zu Hause sind, haben sie nur wenige Antennen für diese Äußerungen. Aber haben Frauen inzwischen gelernt, die männlichen Argumente als das zu verstehen, was sie bedeuten? Eine Frau neigt dazu, in Übereinstimmung mit ihrem Gefühl ihr Leben gnadenlos in Frage zu stellen und bedenkt nicht, dass – wie C.G. Jung meint – ein Mann sich durch ein Treue-Versprechen hundertprozentig gebunden fühlt. Von diesem Versprechen kann ihn nur die Frau entbinden. Sein Verstand, sein Leitorgan, weiß sehr gut, wohin er gehört. Aber da ist immer auch diese verführerische innere Stimme, die sagt: Ich werde ja wohl zwei Frauen (un)glücklich machen können! Und in einer solchen Situation, denkt sie, befinden sich jetzt Charlotte und Lolita. Denn da Lolita auch eine – und sogar nette – Frau ist, erhofft sie sich natürlich auch den ganzen Ralf, ohne beziehungstechnische Hintertürchen und Schlupflöcher.
»Isabel«, sagt Charlotte müde, »ich möchte mich auflösen. Ich möchte nicht mehr da sein. Ich habe das schon einmal erlebt, in einer jahrelangen Beziehung mit meinem ersten Freund. Ich hasse es!«
Isabel streicht ihr über den Rücken, sieht sie an. Etwas Farbe ist in ihr Gesicht zurückgekehrt, die Lippen sind wieder rot und noch ist nicht eine Träne geflossen. Alles gute Zeichen.
»Versuch mal ein Lächeln!«, sagt Isabel aufmunternd. »Du weißt ja, dass Stimmung von innen kommt, aber man kann sie auch von außen nach innen herstellen. Lächle einmal wie eine überzeugende Schauspielerin.«
Der erste Versuch geht mächtig daneben, Charlotte schafft es nur mit Mühe, eine Art Karikatur auf ihr Gesicht zu zaubern. Mutig macht sie einen zweiten Versuch, und der gelingt schon deutlich überzeugender.
»Und jetzt sag einmal total überzeugt: Ich liebe mich bedingungslos!«
Charlotte lässt sich nicht lange bitten und sagt es überzeugt und lächelnd und muss dann wirklich lachen.
»Ich lüge, ich lüge!«, ruft sie fröhlich.
»Macht nichts«, sagt Isabel, »Hauptsache, das Lächeln und die Erklärung sind erst gedacht und dann als Ausdruck und gesprochenes Wort ein bisschen mehr Wirklichkeit geworden. Beides steht dir schon ‘mal bei. »
Charlotte lacht jetzt tatsächlich amüsiert: »Jetzt fehlt nur noch dein Satz: Jedes Problem ist ein Geschenk, man muss es nur zu deuten wissen!«
Isabel ist begeistert: »Stimmt, du hast Recht. Das hatte ich im Moment selbst ganz vergessen. Und du hast daran gedacht. Ja, genau so ist es. Aber brauchst du nicht noch Zeit? Wo befindest du dich denn gedanklich?«
»Ich gebe ihn nicht her. Ich merke mit Schrecken, wie gern ich ihn mag und wie schön mein Leben mit ihm ist. Ich will jetzt wirklich alles richtig machen – wenn das überhaupt geht. Was kann ich tun?«
»Du hast mehrere Möglichkeiten: Erstens könnten wir zurück zur Alsterperle gehen und sehen, ob die beiden dort noch sitzen. Vielleicht ist ja – entgegen allem Anschein – alles ganz harmlos. Zweitens könntest du nach Hause gehen und bis abends auf ihn warten. Drittens könntest du ins Büro gehen und ihm sein Handy bringen. Abends könntest du ihm gestehen, dass du einige von Lolitas SMS gelesen hast und hören, was er dazu sagt. Viertens kannst du ihm den ganzen Vorgang, von seinem Anruf bei dir bis zu seinem Treffen mit Lolita in der Alsterperle, berichten, ihn dann aber nicht zur Rede stellen, sondern eindeutig sagen, was du möchtest: Ihn ganz für dich und Lolita nicht mehr sehen. Fünftens könntest du…«
»Aber offensichtlich arbeiten sie auch zusammen. Das ist doch schwierig, oder?«
»Wieso, das ist ein Vorteil in dieser Welt ohne Geld: Finanzielle Nachteile zählen nicht mehr. Er muss nur ein neues Betätigungsfeld finden oder eines gründen. Was für ein Büro ist das denn?«
»Das Umwelthaus Uhlenhorst. Sie koordinieren und unterrichten den Bau von Sonnenkollektoren!«
Isabel tippt sich gegen die Stirn: »Ach so, ich wusste nicht, wie ich sie beruflich verorten sollte. Aber das macht Sinn, sie ist Ingenieurin! Ingenieurinnen setzen sich ja oft als besonders interessant gegen andere Frauen ab.«
»Soll ich sie jetzt toll finden?« Charlotte sieht Isabel befremdet an.
»Nein, nein, sollst du nicht.«
»Wird er das nicht weit von sich weisen, wenn ich ihn bitte, seinen Kontakt zu ihr total abzubrechen? Einen neuen Platz zum Arbeiten zu suchen?«
»Ich glaube nicht«, sagt Isabel munter. »Es gibt doch unzählige kleine Initiativen. Das ist doch das Schöne an regionaler Arbeit: Jetzt machen viele kleine Gruppen ihr Ding, wo früher nur eine große Firma andere für sich arbeiten ließ, das Geld kassierte und es an der Steuer vorbei in die Schweiz transferierte.«
»Und was mache ich nun?« Charlotte könnte eine erneute Ermunterung zum Lächeln gebrauchen.
»Warte ab, was sich in dir nach vorne drängt. Du hast deinen freien Willen und über die positive Seite von ganz neuen Möglichkeiten, die dir eine Trennung bescheren würde, haben wir noch gar nicht gesprochen. Du kannst zum Beispiel in einem Tagebuch alle Lösungen einmal durchspielen.«
»Also, den ersten Weg lasse ich ausfallen: Ralf liebt kein Drama auf offener Straße. Lass sie da ihren Kaffee trinken und ihr Sandwich essen.«
»Das hört sich gut an, du handelst nicht panisch. Glückwunsch! Und ich muss jetzt nach Hause, weil meine Sprachenschüler gleich kommen.«
Charlotte ist aufgestanden, beugt sich zu Isabel hinunter und gibt ihr zwei Luftküsse:
»Da hat sich bei dir gar nichts geändert, oder? Ich danke dir, du Liebe! Was hätte ich bloß ohne dich gemacht. Du warst heute mein Engel! Wir sehen uns morgen früh bei Heinrich, okay? Ich bringe die Brötchen mit.«
Charlotte hat vom Bäcker Boyens die Brötchen mitgebracht, Isabel die selbst gemachte Marmelade. Sie hatte vor zwei Jahren alle Blüten ihres Mirabellenbaumes und der drei Apfelbäume selbst bestäubt, mit dem Pinsel von Blüte zu Blüte, und Richard, ihr Ehemann, hatte aus reichlich gewachsenen Früchten erfolgreich Marmelade gekocht.