Sind alle Deutschen so wie du? - Elisabeth Scherf - E-Book

Sind alle Deutschen so wie du? E-Book

Elisabeth Scherf

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Beschreibung

Mein Leben möchte ich erzählen. Normal beginnt es und wird so weit. Zwei Jahre in London, eins in Paris, eins in Rom. Alles als verbeamtete Lehrerin. Wie geht das? Dann ein Jahr Shanghai, drei Monate New York und zwei Monate Wien. Erfolge als Regisseurin, Ausflüge ins Bildhauern, ins Malen, immer Cello im Streichquartett spielend. Zwei Ehemänner, ein Kind. Begeistert für Doppelkopf, Ma Jong und Bridge. Vor allem Freundinnen und Freunde. Ohne geht gar nichts. Kein Wunder, dass ich dankbar bin und froh. Sehr froh!

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Über die Autorin

Nach der Mittleren Reife arbeitete Elisabeth Scherf zunächst in einer Hotelküche, ging ein Jahr als Au-pair Mädchen nach England, machte die Ausbildung zur Kindergärtnerin und arbeitete danach sechs Jahre als Erzieherin auf der Psychosomatischen Abteilung der Universitätskinderklinik in Hamburg-Eppendorf.

Nach dem Begabtenabitur studierte sie Pädagogik und Soziologie an der Uni Hamburg und arbeitete danach als Studienrätin VR in Hamburg.

Ihre Tätigkeit als Lehrerin unterbrach sie für ein einjähriges Graduiertenstudium an der Central School of Speech and Drama in London und übernahm anschließend nebenberuflich fünfzehn Jahre die künstlerische Leitung des Hamburger Richtertheaters (www.richtertheater.de). Im Rahmen eines Promotionsstipendiums hielt sie sich ein Jahr Paris und ein Jahr in Rom auf.

Nach ihrer Pensionierung nahm sie das Studium der Sinologie an der Universität Hamburg auf und lebte ein Jahr Shanghai.

Seit 2006 widmet sie sich der Bildhauerei und unterrichtet als Privatlehrerin die Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Chinesisch. 2011 verbrachte sie drei Monate in New York und nahm dort am „Gotham Writers’ Workshop“ teil. 2015 lebte sie zwei Monate in Wien für einen Poetry Kurs und weitere Inspirationen am writers‘studio.

Publikationen s. Anhang

Weiterführende Informationen zu Leben und Werk Theaterstücke, Kurzgeschichten uvm.: www.elisabethscherf.de

Blog zur Entstehung und Veröffentlichung der Roman-Trilogie anders denken:www.elisabethscherf.wordpress.com

Skulpturen, Plastiken, Bilder: www.elisis-bildermappe.jimdofree.com

Mein Leben möchte ich erzählen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Die Familie

Kapitel 2 Lehr- und Wanderjahre

Kapitel 3 Ausbildung, Beruf, Ehe und Kind

Kapitel 4 Ich in der Gesellschaft

Kapitel 5 Scheidung, neue Wohngemeinschaft, Examen und Berufseinstieg

Kapitel 6 Referendariat

Kapitel 7 Theater spielen

Kapitel 8 In Wartestellung – Schwangerschaftsvertretung

Kapitel 9 Meine Ferien

Kapitel 10 Meine erste ernsthaft eigene Klasse

Kapitel 11 „Drei Männer im Schnee“

Kapitel 12 Vorbereitungen für mein Graduiertenstudium in London

Kapitel 13 Central School, London

Kapitel 14 „Explain Hitler!“

Kapitel 15 Poetry – Poesie

Kapitel 16 Simultantheater und mehr

Kapitel 17 Wieder zurück in Hamburg

Kapitel 18 Das „Erste-Sonntag-im-Monat“-Essen

Kapitel 19 Françoise Struczak

Kapitel 20 Das Richtertheater Hamburg

Kapitel 21 „Das Schauspiel von Niederländischen Bauern“

Kapitel 22 Kontrapunkt

Kapitel 23 … und Christine Kaufmann

Kapitel 24 Eine Klassenfahrt

Kapitel 25 Ein Theater ganz für mich

Kapitel 26 Ankunft in Paris

Kapitel 27 Mein Theaterstück „Alma Schindler – Alma Mahler“

Kapitel 28 Mein Cello und ich in Paris

Kapitel 29 Mein Weihnachten in Paris oder „Sei nicht so deutsch!“

Kapitel 30 Freuden und Ängste

Kapitel 31 Picasso, Braques, Hockney, Delaunay

Kapitel 32 Zum zweiten Mal zurück in Hamburg

Kapitel 33 Mein neuer Alltag

Kapitel 34 Einen Ehemann für mich

Kapitel 35 „Die Mauer ist weg.“ – „Welche Mauer?“

Kapitel 36 Rom – Caput Mundi – Hauptstadt der Welt

Kapitel 37 Was tun?

Kapitel 38 Aber mit wem?

Kapitel 39 Die Bühne als Form, Venedig und d. Schönheiten Italiens

Kapitel 40 Zurück aus Rom in Hamburg

Kapitel 41 Hochzeit, Anna Oppermann und frühere Leben

Kapitel 42 Wir erben ein Haus und „Alma Mahler“ in Venedig

Kapitel 43 Was nun?

Kapitel 44 Kontrapunkt 2 – Wie schreiben, wie veröffentlichen?

Kapitel 45 Ein Jahr Shanghai

Kapitel 46 Wie war es denn in China?

Kapitel 47 Steine, meine neue Welt.

Kapitel 48 Praktische Spiritualität und Lebensfreude

Kapitel 49 New York

Kapitel 50 New York wirkt nach

Kapitel 51 Writers Studio Wien

Kapitel 52 Meine Wiener Frage: Wie finden Sie das Älterwerden?

Kapitel 53 Schreiben und Malen

Kapitel 54 Liebe Künstliche Intelligenz

Kapitel 1Die Familie

Meine Eltern

In diesem Monat bin ich seit vierundachtzig Jahren auf der Erde. Ich sehe auf einen riesengroßen Kreis von Leben zurück. Allem voran taucht Luise in meinen Gedanken auf, meine wunderbare Mutter, die als Erziehungsmittel nie ein schlechtes Gewissen benutzt hat. „Darf ich deine Mutter ‘mal in den Arm nehmen haben mich Freundinnen früher oft gefragt. „Gerne!“ habe ich geantwortet und nie gefragt, warum. Ich konnte das verstehen.

Meine Mutter muss 1894 geboren sein.

Erst lange nach ihrem Tod bin ich dem Geheimnis ihrer ungewöhnlichen Unabhängigkeit auf die Schliche gekommen. Als ich noch nicht erwachsen war, überraschte uns alle – das waren mein Vater, meine vier älteren Schwestern und mein älterer Bruder – ihr unabhängiges Urteilsvermögen und ihr konsequentes Verhalten, das ganz auf ihren Gefühlen und ihren Einschätzungen beruhte.

Mein Vater war Küster an der Marienkirche in Minden in Westfalen. Zum Beginn der neuen Stelle hatte meine Mutter alle Putzaufgaben der Kirche tatkräftig mit übernommen. Blumenschmuck- und Organisationsaufgaben hat mein Vater allein getätigt. Nachdem ein Jahr in dieser Arbeitsverteilung vergangen war, hat meine Mutter zu meinem Vater gesagt: „Ein Jahr lang habe ich nicht nur meine Aufgaben in unserem großen Haushalt gemacht und unseren großen Garten zum Verkauf von Obst und Gemüse besorgt, sondern ich habe dir umfassend zur Seite gestanden und Kirche und Konfirmandensäle geputzt. Nicht ein einziges Mal habe ich das Wort „Danke“ von dir gehört oder eine Anerkennung bekommen. Von nun an mache ich nur noch meine Aufgaben.“ Alles Bitten meines Vaters half nichts. Sie hatte ihre Erfahrung gemacht und damit basta.

Meine Eltern genossen im Rentenalter immer sehr ihr allmorgendliches Frühstück. Eines Morgens saßen sie um den Frühstückstisch. Mein Vater hatte einen gepflegten Schnurrbart und trank seinen Kaffee aus einer großen Schnurrbart-Tasse, extra groß mit Porzellanriegel-Stopper für den Schnurrbart.

Meine Mutter schenkte sich an diesem Morgen zum zweiten Mal eine Tasse Kaffee ein. „Luise, denkst du auch an mich? Lass für mich noch etwas übrig!“ fragte mein Vater besorgt. „Bestimmt!“ antwortete meine Mutter. Mein Vater aß alles ‘trocken‘, weil er gelesen hatte, dass das gesünder sei. Als er nun zum Kaffee bereit war, schob er meiner Mutter seine große Schnurrbarttasse hin. Meine Mutter schenkte ihm Kaffee in die Tasse. Als sie voll war, goss sie weiter. Sogar die Untertasse füllte sie mit Kaffee, schließlich floss das köstliche Nass über den Untertassenrand auf die frische, weiße, gestärkte Tischdecke. Die Augen meines Vaters wurden immer größer und schon während dieser Überflutung stieß er hervor: „Genug! Hör auf! Was machst du?“ Aber meine Mutter hatte mit belustigtem Gesicht weitergegossen. Dann setzte sie die leere Kanne ab, sah meinen Vater an und sagte erheitert: „Ich wollte dir zeigen, was ich für dich ‘überhabe‘.“

Eng an eine Seite des Kirchturms schloss sich ein ehemaliges Kloster für Frauen an. In diesem Kloster lag die Dienstwohnung meines Vaters und dort bin ich im Wohnzimmer am 25. Februar 1939 in meinen kleinen Körper geschlüpft. Mein Vater war während der ‚Roaring Twenties‘ in Berlin eine ganz schlimme Nummer gewesen – glaube ich. Von Tante Trude, damals bereits die verwitwete Frau des großen Bruders meines Vaters, habe ich alle Informationen über meinen Vater erhalten. Mein Onkel, der Mann meiner Tante, war nach dem Ersten Weltkrieg Förster im Berliner Grunewald. Er hatte meinem Vater den Posten eines Sprengmeisters vermittelt. Mein Vater wollte eigentlich Opernsänger werden und die ihm von der Natur verliehene Tenorstimme wäre die richtige Voraussetzung gewesen. Mein Vater muss 1899 geboren sein, denn er war fünf Jahre jünger als meine Mutter und meine Mutter war fünfundvierzig Jahre alt bei meiner Geburt. So habe ich das ausrechnen müssen und mich dabei gefragt, ob die meisten Menschen die Geburtsjahre ihrer Eltern kennen. Ich jedenfalls kannte sie bis jetzt nicht.

Heute scheint mir nicht unwesentlich zu sein, in welcher geschichtlichen Epoche meine Eltern ihr Leben bewältigen mussten. Zur Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert müssen die Europäer, zumindest die Österreicher und Deutschen kriegsgeil gewesen sein. Ich weiß, dass mein Vater am Krieg ‘teilgenommen‘ hat. Die Haltung meines Vaters kenne ich nicht. Blutjung muss er in den Krieg eingezogen worden sein. Wenn meine Rechnung stimmt, dann war er 1914 zu Beginn des 1. Weltkrieges sechzehn Jahre alt. Sprengmeister im Grunewald muss er dann in seinen Zwanzigern gewesen sein. Mannomann! Als Jugendlicher zum Krieg eingezogen zu werden! Er hat auch ein wenig Französisch aufgeschnappt. Häufig hat er scherzhaft vor sich hin geträllert:“ Toujour, toujour traivailler! Travailler nix bon!“

Lieber Vater, hätten wir Kinder gewusst, dass man dir so gemein deine Jugend gestohlen hat, dann wären wir ganz anders mit deinem Verhalten umgegangen. Du hast zu wenig, ja, fast gar nichts von dir erzählt. Ganz wenige „Dönekes“ – wie man solche kleinen Erinnerungsgeschichten in Minden in Westfalen nannte. Ich erinnere mich nur daran, dass du sauer darüber gewesen warst, so viele Kinder zu haben. Aber wer hat Mutter denn neun Mal schwanger gemacht? Gertrud, meine fünf Jahre ältere Schwester, hat einmal kühn zu meinem Vater gesagt, dass wir Kinder nichts dazu könnten, dass wir auf der Welt seien.

Mit uns zu reden, um von unseren Freuden und Leiden zu erfahren, das kam ohne emotionale Vorwürfe nicht vor. Eines Tages, ich war wohl vierzehn Jahre alt, hat er wütend zu mir gesagt: „Merkst du gar nicht, dass ich seit einem halben Jahr nicht mehr mit dir rede?“ „Nein“, habe ich geantwortet, „wie sollte ich das gemerkt haben? Du hast noch nie mit mir geredet.“

Du hast ausgestrahlt, dass du immer der Angeschmierte warst – – – ein wenig kann ich das in Bezug auf deine frühen Jahre nun verstehen. Wie streng deine ehrgeizige Mutter war, das haben wir alle selbst mit ihr als unsere Großmutter erfahren. In ihrem Riesengarten wuchsen viele Früchte, aber wir sollten alle mit den Händen auf dem Rücken durch den Garten spazieren. Natürlich sind sechs Kinder sehr viele Münder und für sie entsprach das wohl einem Insektenschwarm, der die Ernte vernichtet.

Eine Geschichte, die mein Vater uns als gutes Beispiel immer wieder erzählt hat, war die von seinem eigenen Vater, der mit ihm und seinem älteren Bruder und seiner älteren Schwester sehr selten mal einen Ausflug gemacht habe. Sei man irgendwo eingekehrt? Nein, der Vater habe obendrein noch eine Reichsmark gefunden. Und so sei man hungrig, aber sehr erfolgreich und zufrieden abends wieder zu Hause angekommen.

Da kann ich heute nur wieder zu ihm sagen: „Warum hast du nicht deine Enttäuschung erzählt anstatt dieser enttäuschenden Geschichte, die für uns auch noch ein Beispiel für richtige Haltung sein sollte?“ So bist du leider immer wieder an unserer Zuneigung vorbeigeschrappt.

Du warst eigentlich ein lebensfroher Mensch, nach Tante Trudes Erzählungen warst du ein toller Tänzer, dem Alkohol offensichtlich zugeneigt und du hast nach eigenen Aussagen viel zu gerne und zu gut Karten gespielt. Käthe soll deine Verlobte geheißen haben. Sehr hübsch und sehr kess soll sie gewesen sein.

Dann bist du von Berlin nach Hause, nach Minden, zu deiner Mutter gefahren. Wer dich damals in das Missionszelt mitgenommen hat, das weiß ich nicht, aber du fühltest dich von ganzem Herzen angesprochen und hast dich an dem Abend ganz und gar dem christlichen pietistischen Glauben versprochen. Und später bist du auch Mitglied bei den „Blaukreuzlern“ geworden, einer christlichen Organisation zur Selbsthilfe bei Suchtkrankheiten. Das heißt, du hast gelobt, selbst dein Leben lang keinen Tropfen Alkohol mehr zu trinken und auch in deinem Haus niemals Alkohol auszuschenken.

Jedes Jahr kam der „Blaukreuzler“-Kalender ins Haus. Ein veritables Buch mit entsetzlichen Geschichten über Menschen, die durch Trunksucht Hab‘ und Gut und Frau und Kinder und Selbstachtung, Ehre und Leben verloren hatten. Ich habe diese realistischen, abschreckenden Geschichten in diesem Buch verschlungen. Und bin mein Leben lang Alkohol mit Respekt begegnet.

Mein Misstrauen gegenüber Alkohol hat zu interessanten Experimenten geführt. Gewöhnlich sind Gastgeber besorgt, auf jeden Fall genug Wein vorrätig zu haben. Ich nicht. Alle wissen, dass Wasser aus dem Wasserhahn - zumindest in Hamburg – unschlagbar rein und gut ist. Mich interessierte einmal, wie sich eine Gastrunde verhalten würde, wenn es zum großen Abendessen keinen Alkohol gäbe. Das habe ich bei einem meiner großen monatlichen Essen ausprobieren wollen. Mein Freund Reinhard kam als erster. Mit verschmitztem Gesicht habe ich ihm von meiner Absicht erzählt. Er war entsetzt, hat auf dem Fuß kehrtgemacht und stracks vier Flaschen Wein aus seinem Keller geholt.

Wichtig ist für meine Geschichte, dass die Verlobte meines Vaters ihn bei seiner Rückkehr nach Berlin die Verlobung kündigte. Das Ergebnis war, dass mein Vater mit seinem Onkel Julius Voss, einem frommen Vetter meiner Großmutter, Kunstschmied seines Zeichens, meine Mutter in den Fokus nahm. Onkel Jule galt als weit gereister Mann, weil er an der 100-Jahr-Feier des Christlichen Vereins Junger Männer in Paris teilgenommen hatte. Mein Vater hat ihm sein Leid geklagt. Seine Verlobte wollte ihn nicht mehr. Onkel Jule wusste Rat: Einer seiner Kunden für Webekämme hatte eine hübsche unverheiratete Tochter, Luise, meine zukünftige Mutter. Mein Vater, mit dem damals noch unbelasteten Namen Adolf, nahm seine Laute und christliche Lieder zur Laute singend, wanderten die beiden durch das Weserbergland von Minden nach Schnathorst bei Lübbecke.

Er kommt dort an, sieht Luise, meine zukünftige Mutter und ist begeistert. Darum wandert er am folgenden Tag allein noch einmal dorthin. Die drei Brüder von Luise sehen ihn durchs Fenster kommen und fragen belustigt: „Was will der Städter hier schon wieder?“

„Sicher will er unsere Luise!“

„Und wie kriegen wir heraus, ob er ein anständiger Kerl ist?“

„Wenn er isst, wie die Jungs, taugt er was. Denn: Wie die Hacken, so die Backen!“

Luises Geschwister kannten nicht die Mutter meines Vaters, meine Großmutter. Eine ehrgeizige Frau, ehemalige Gouvernante in gehobenem Hause, die wusste, dass man am meisten an dem verdient, was man gar nicht erst ausgibt. Das Essen kam sparsam auf den Tisch. Ihr Ehemann, mein Großvater, ein Schuhmachermeister mit Gesellen, hatte ein großes Grundstück mit zwei Häusern erwirtschaftet. Meine Großmutter besaß alles und herrschte darüber. Ihre äußeren Insignien waren nicht nur bei der Gartenarbeit bis ins hohe Alter eine lange Sackschürze über einem bodenlangen schwarzen Rock, darüber ein Herrenjackett und ein Zylinder auf dem Kopf. Obwohl sie klein von Wuchs war, wuchs sie in dieser Aufmachung über alle hinaus. Einer ihrer Hauptsprüche war: „Ihr könnt mir vielleicht über den Kopf wachsen, aber nicht über die Hörner“. Der war in dieser Kostümierung mehr als glaubwürdig. Sie hielt auch das Essen in sparsamen Portionen. Es war kein Wunder, dass mein Vater den köstlichen Bratkartoffeln, die bei der Familie seiner Angebeteten in der Pfanne mitten auf den Tisch kamen, mit ungebremstem, hungrigem Eifer zusprach. Dass alle aus einem Gefäß aßen, machte ihn eher unbekümmert. So konnte keiner sehen, wie viel er glücklich gierig verschlang.

Für seine geplante Heiratsanfrage war das für die Familie und für ihn ein gutes Zeichen.

Luise hat ihn auf seine Bitte hin gern nach draußen begleitet. Die vorherigen Witzeleien der Brüder hatte sie gehört, aber sie hatte ein Projekt für ihr Leben, dass ihre eigene große unerfüllte Liebe unbeschadet überdauern würde. Sie wollte Diakonisse in Bethel werden. Sie glaubte sich gegen jeden Heiratsantrag gefeit, weil sie Christian, dem einzigen Sohn des reichsten Bauern in ihrem Kirchensprengel – trotz soeben vollzogener Ehe mit einer anderen – weiterhin tiefe Liebe geschworen hatte.

Meine Mutter war bei diesem reichen Bauern in Stellung gegeben worden. Der Sohn, Christian, hatte sich in sie verliebt und sie sich in ihn. Doch seine Eltern waren gegen eine Heirat.

„Wenn du ein Kind von mir erwartetest, könnten wir heiraten“, hatte er vorgeschlagen.

„Wenn du mich nicht ehrbar zu deiner Frau machen kannst“, hat meine Mutter gesagt, „dann kann ich dich nicht nehmen.“

„Dann können wir nicht heiraten, dann muss ich die Tochter des reichen Bauern neben unserem Hof nehmen.“

In der Nacht vor der Hochzeit ist er in ihre Kammer gekommen.

„Ich kann sie nicht heiraten, Luise. Ich liebe nur dich. Heirate mich!“

„Wie soll das möglich sein?“, hat meine Mutter gefragt, „Wie willst du danach mit unseren Nachbarn in diesem Ort zusammen mit mir leben? Keiner würde mit uns Kontakt haben wollen, weil es zu schrecklich für eine Braut ist, in der Nacht vor der Hochzeit verlassen zu werden und am gleichen Ort eine andere zu heiraten, die alle kennen. Für uns ist es zu spät. Unsere Ehe ist ausgeschlossen.“

Christian hat geschworen, dass er das nicht überleben werde. Meine Mutter hat versprochen, dass sie nie einen anderen lieben werde, sondern nach Bethel gehen und Diakonisse werden wolle. Was für ein dramatischer Abend muss das gewesen sein!

Dass meine Mutter bei ihrer zukünftigen Schwiegermutter, der Mutter meines Vaters, auch kein ihr entsprechendes Ansehen genießen würde, das hat sie nicht geahnt, als mein Vater sein Liebesschicksal – die Ablehnung seiner Braut durch seine vollkommene Hinwendung zum pietistischen Glauben – erzählte. Ich erinnere ihre Überlegung für ihr Einverständnis so: „Ob ich mein Leben Gott in Bethel schenke oder an deiner Seite verbringe, das ist ja fast das Gleiche.“

Von wegen! Neun Male schwanger! Das wäre ihrem schönen Körper in Bethel erspart geblieben. Sechs lebende Kinder großziehen! Ich war die neunte Schwangerschaft, das sechste lebende Kind.

„Mutter“, habe ich sie, inzwischen erwachsen, einmal gefragt, „was hast du bloß gedacht, als du mit vierzig Jahren noch einmal schwanger geworden bist?“

„Ich habe dich aus Gottes Hand angenommen.“

Die Antwort hat mich damals beruhigt. Ich wusste zu dem Zeitpunkt bereits, dass ich ursprünglich für ihr Alter gedacht war. Ich war für sie allein gedacht, darum wurde ich auch nie zum Lernen angehalten oder ermuntert.

Ihre damalige Vorstellung ihres und meines Lebens erinnert mich immer an ein Gedicht von Ernst Jandl*:

Wie viele Kinder haben sie eigentlich? - sieben

zwei von der ersten frau

zwei von der zweiten frau

zwei von der dritten frau

und eins

ein ganz kleins

von mir selber

Die Quintessenz des Gedichts scheint auf den ersten Blick zu hinken, aber letztlich stimmt sie für Herrn Jandl wie für meine Mutter: etwas ganz für sich allein haben zu wollen.

Ich kann mich nicht an einen einzigen Streit zwischen meinen Eltern erinnern. Ich habe erst fast erwachsen begriffen, dass meine Mutter im Falle von Auseinandersetzungen das Feld räumte. Sie konfrontierte meinen Vater einfach mit ihrer Abwesenheit.

Meine Mutter stellte dann eine Pfanne und eine Schüssel mit Eiern auf den Tisch. Dazu legte sie einen in Sütterlin handgeschriebenen Zettel dazu: „Für deine Versorgung. Ich bin zu Hause!“

Sie kam nur zurück, wenn mein Vater sie mit Entschuldigungen persönlich wieder abholte.

Wie effektvoll und dramatisch dieser Rückzug von ihr war, habe ich erst später begriffen.

Was war ihr zu Hause, auf das sie sich zurückzog? Das war der Bauernhof ihrer Eltern, den der zweitälteste Bruder übernommen hatte. Der Älteste war Bäcker geworden und hatte eine gut gehende Bäckerei in einer nahen Kleinstadt.

In unmittelbarer Nähe ihres Elternhauses lag aber auch der Hof Ihres Christians. Ja, IHRES Christians. Der hatte seine Liebesschwüre in jeder Beziehung gehalten. Seine unwillkommene Braut war nach zwei Ehejahren verstorben. Aus Kummer? frage ich mich heute. Er hat nie wieder geheiratet. Aber in interessanter Weise war meine Mutter SEINE Frau. Ich bin 1939 geboren. Mein Vater konnte gut Kinder machen, aber nicht so gut versorgen. Christian hat während der ganzen Nachkriegszeit nach dem 1. Weltkrieg, durch die Zeit der Weltwirtschaftskrise hindurch, bis zum Beginn des 2. Weltkrieg verlässlich die Kinder meiner Mutter mit Lebensmitteln seines Hofes versorgt. Von Ernten und vom Schlachten brachte er selbst mit Pferd und Wagen die notwendigen Produkte seines Hofes, seiner Arbeit von Schnathorst nach Minden zu meiner Mutter.

Als meine älteste Schwester, um vierzehn Jahre älter als ich, ihren neunzigsten Geburtstag feierte, habe ich die Geschichte von der großen Liebe unserer Mutter erzählt. Meine großen Geschwister sind fast „in Ohnmacht gefallen“, wie man so sagt. Sie konnten sich alle an einen Onkel Christian erinnern. Ich nicht. Mein Bruder hat fassungslos gerufen:

„Deswegen heiße ich mit zweitem Namen Christian!?!“

„Woher weißt du das alles?“

„Ich habe Mutter gefragt, ob sie in ihrem Leben einmal so richtig verliebt war und da hat sie mir alles erzählt.“

Noch interessanter wurde es für mich als ‘mein‘ pensionierter Kriminalkommissar, ein inzwischen befreundeter Italienisch-Schüler, meinen Lebensbericht mit Fotos gelesen hatte. Ich hatte anstelle einer Feier zu meinem achtzigsten Geburtstag für alle Freunde fünfzig Exemplare davon drucken lassen und verschenkt. Er hatte diese Liebesgeschichte meiner Mutter gelesen und fragte in der nächsten Italienischstunde: „Und welches Kind ist von ihm? Welches von euch sechs Kindern ist das Kind von diesem treuen Christian?“

Mit Empörung habe ich seine anstößige Vermutung von mir gewiesen. Meine fromme Mutter, die bei jeder Freude im Laufe der Woche einen kleinen, ihrer Dankbarkeit entsprechenden Geldbetrag in den Korb für die Kollekte am kommenden Sonntag steckte?

Meine harmlose, fromme Mutter sollte einen Fehltritt getan haben? Einen außerehelichen Geschlechtsverkehr zugelassen haben? Ausgeschlossen! Unmöglich! Ihr Bild wankte. Konnte das sein?

Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich nur versucht habe, in Gedanken alle Geschwister in ihrem Verhalten und Erscheinungsbild auf möglicherweise eindeutige genetische Unterschiede einzuschätzen. Lange hat es nicht gedauert, bis mir klar wurde, dass meine Schwester Martha ganz offensichtlich nicht die Tochter meines Vaters war. War, denn sie ist schon von uns gegangen.

Sterben heißt für mich Gehen. Ich sage dies, wenn ich ausdrücken will, dass ein Mensch nicht mehr in seinem Körper auf der Erde lebt. Ich weiß, dass ich gekommen bin und das nicht aus dem Nichts. Ich komme aus einem Raum und dahin gehe ich auch zurück. Mit meinem ganzen großen Sack an Erlebnissen, deren Quintessenz hoffentlich der Fortschritt in meiner Liebesfähigkeit gegenüber der gesamten Schöpfung ist.

Meine Schwester Martha hatte eine andere Nase als der Rest der Geschwister. Ich habe mich immer gefragt, warum meine Mutter immer wieder anfing, von Nasen zu reden: „Ihr habt ja alle Vaters Nase und die fand ich nie schön!“ hat sie oft zu mir gesagt. Ich fand meine Nase in Ordnung. Ja gut, sie ist breit und nicht besonders ausdrucksstark geformt, aber sie erfüllt perfekt ihren Dienst.

Liebe Mutter,

von heute aus gesehen finde ich deine fruchtbare Liebesnacht mit deinem Christian nicht nur verständlich, sondern in tieferem Sinn auch richtig. Wer hat denn so treusorgend deine große Kinderschar versorgt. Dein Christian! Aus Liebe hat er das getan. Du hast aus Liebe und mit all deiner Liebe ein großes Dankeschön gelebt, sicherlich in einer Nacht, in der du von Minden und Vater und seinem Verhalten geflohen warst.

Neun Schwangerschaften hast du in deiner Ehe erduldet. Erduldet, weil die ersten drei Monate bei jeder Schwangerschaft aus unaufhörlichem Übelsein und ‚Kotzen‘ bestanden. Es gab wenige Fotos von dir, aber auf einem warst du dünn und sahst leidend aus. „Da war ich wieder schwanger“, hast du sachlich auf diese Bemerkung von mir geantwortet. Rückwirkend hättest du sagen können, dass du siebenundzwanzig Monate deiner Ehe ‚unwohl‘ warst. Das sind zwei Jahre und drei Monate.

Vater hätte dich etwas schonen können. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass ihm bewusst war, dass deine große Liebe nicht er war. Wäre Christians Frau nicht bereits nach zwei Jahren Ehe gestorben, hätte in deiner Ehe mit Vater vielleicht eine vertraute Intimität entstehen können. Ich glaube nämlich, dass in einer durchschnittlich glücklichen Ehe die anfänglichen fünfzehn Jahre oder so mit sexueller Aktivität gesegnet sind. Dann haben beide ein verlässliches Konto an vertrauter Intimität aufgebaut, das mit einem Seitensprung hoffnungslos zerstört werden kann. Da, wo der Mann unsicher ist, ob er an erster Stelle steht, muss er immer wieder die Frau besitzen, um sein Vorrecht als Ehemann, des ‚rechtmäßigen Besitzers‘, auszudrücken.

Für mich persönlich war Vaters unaufhörliche sexuelle Unsicherheit ein großes Glück: Ich wäre sicher nicht mehr gezeugt und geboren worden. Eine neunte Schwangerschaft würde es dann vermutlich nicht gegeben haben.

Es war ein Dilemma, dass Christian für unsere Familie überlebenswichtig war. Denn diese mit unseren Augen heute als Liebesgeschichte verstandenen Verhältnisse müssen auf dem Hintergrund der verzweifelten geschichtlichen Zeit der Weltwirtschaftskrise, der Weimarer Republik und des Zweiten Weltkrieges gesehen werden. Mein Vater war arbeitslos, genau wie die Masse der meisten Deutschen. Mit Ach und Krach, unterwürfigem Bitten und Hinweis auf seine christliche Bekehrung hat er zunächst im Haus des Christlichen Vereins Junger Männer eine christliche Buchhandlung mit finanzieller Unterstützung der Kirchengemeinde aufmachen dürfen, die nicht gut lief. Wer hat Geld für Bücher, wenn man kein Geld hat, Brot zu kaufen.

Seine Bewerbung zum Küster habe ich gelesen. Sie war erschütternd unterwürfig und bittend. Was man leicht vergessen kann: Zu einem selbstbewussten Auftritt gehört ein gesellschaftlicher Zustand, der das möglich macht. Glücklicherweise hat mein Vater die Stelle bekommen und damit auch eine Dienstwohnung.

Übrigens war für meine Großmutter der geschichtliche Hintergrund dieser jammervollen Hungerjahre der Grund für einen vorsorglich fertigen Sarg – für alle Fälle. Der stand auf dem Boden. Wenn man Wäsche zum Trocknen aufhing, stand da unter der Dachschräge ein dunkelbrauner solider Sarg. Auf dem Deckel bewahrte meine Großmutter gern Äpfel über den Winter auf. Die landeten aber bald im Sarg, weil Mäuse in der Not auch Äpfel fressen. Als sie 1950 gestorben ist, ging es Deutschland schon wieder gut und sie hat einen neuen Sarg bekommen. Ihr Schwiegersohn war Sargtischler und ihm war es eine Ehre.

Meine Großmutter kannte lange gereimte Geschichten auswendig. Eine begann so:

Es war einmal ein Hasenkind,

das war so, wie so Hasen sind.

Das wollt einmal auf Reisen gehen

Um sich die Welt mal anzuseh‘n.

Der Höhepunkt des langen Erzählgedichtes war der erleichterte und erwartungsvolle Ruf des Hasen nach vielen gefährlichen Abenteuern bei seiner Rückkehr an der heimischen Haustür: „Mutter, Hans ist da!“ Das rief mein Vater zu gern, wenn er zum Mittagessen nach Hause kam.

Vor dem Mittagessen wurde bei uns gebetet:

„Komm, Herr Jesus, und sei unser Gast und segne,

was du uns aus Gnade bescheret hast.“

Mein Vater las täglich das Blatt des Tages vom Neukirchener Abreißkalender vor. Auf der Rückseite waren pietistische Geschichten, oft so berührend, dass es meinem Vater Tränen in die Augen trieb. Die Rührung teilten Mutter und wir Kinder so gut wie nie. Mutters ernstes Gesicht ließ uns aber verstehen, dass wir uns das nicht anmerken lassen sollten, weil es Vater verletzen würde.

Mittags musste ich ab meinem elften Lebensjahr abwaschen. Meine Mutter ging für einen ausgiebigen Mittagsschlaf ins Bett. Mein Vater saß zur gemeinsamen Mahlzeit auf dem Sofa, auf dem er sich anschließend für einen kurzen Mittagsschlaf hinlegte. Ich habe dann gern beide Fensterflügel zum Lüften weit geöffnet. Da wurde es frischer und frischer, kühler und kälter und schließlich legte mein Vater die Zeitung über seinen Augen weg, stand auf und sagte mit gebremster Wut: „Du solltest später einmal in der freien Forstwirtschaft arbeiten. Da kämst du dann auf dein Quantum frischer Luft.“ Ich war froh, als er die Tür hinter sich zugezogen hatte. Nun konnte ich Musik anmachen, in Ruhe abtrocknen, das Geschirr wegstellen und mich anschließend zum Hausaufgabenmachen an den Küchentisch setzen. Ich habe gern gelernt und Hausaufgaben gemacht. Ich habe dabei immer mehr gefühlt als gedacht: Ich muss nur machen, was mir meine Lehrer aufgeben, und dann werde ich schlau. Das fand ich beruhigend.

Meine Geschwister und ich

Zu meiner eigenen großen Überraschung habe ich mir lange nicht vorstellen können, dass vor meiner Existenz auf der Welt schon etwas ‚war‘. Diese Vorstellung, dass vor meiner Existenz nichts war, überrascht besonders, wenn man bedenkt, dass außer Vater und Mutter bereits vier Schwestern und ein Bruder am Tisch saßen, sobald ich dort auch sitzen konnte, und zwar auf der kleinen Schweigebank. Wer da saß, hatte nichts zu melden.

Wir sechs Geschwister waren eingeteilt in „die großen Drei“ – Marie, Helmi, Wilhelm – und die „kleinen Drei“ – Martha, Gertrud, Elisabeth. Für mich waren die großen drei Ersatz-Eltern. Martha und Gertrud waren echte Geschwister. Immer wieder haben sie mir erzählt: „Du bist gar nicht ein Kind von Mutter! Dich hat der Esel im Galopp verloren.“ Oder auch: „Du bist gar nicht Mutters Kind. Wir haben dich beim Betten-Machen gefunden.“ An diese Sprüche erinnere ich mich, an meine gefühlte Reaktion nicht. Meine Gewissheit in Bezug auf meine Mutter war vielleicht schon zu tief in mein Herz eingelassen.

Offensichtlich war ich nicht davon überzeugt, in meiner Familie am richtigen Ort zu sein oder ich wollte wissen, ob es nicht doch noch etwas Besseres für mich gäbe. Meine Tante, die Schwester meines Vaters, hatte einen Tischler geheiratet, der hatte eine große Werkstatt. Stühle aus den Konfirmandensälen wurden von ihm repariert. Als wieder einmal ein Lehrling einen Stuhl bei uns abholen sollte, habe ich entschieden, mit ihm mitzugehen und von nun an als Kind von Tante Helmi und Onkel Karl zu leben. Die hatten nur ihren adoptierten Sohn. Ich war vier oder fünf Jahre alt. Meine Mutter hat mir einen kleinen Koffer mit Nachthemd und Zahnbürste gepackt. Eine einzige Nacht habe ich dort verbracht. Traumatisch muss sie gewesen sein, denn ich erinnere mich an meinen Schlafanzug, er war hellblau und hatte einem Bordüren-Husarenverschluss. Als ich aufs Töpfchen musste, war alles dunkel und fremd. Gleich am nächsten Tag wurde der reparierte Stuhl abgeholt und mit ihm ich. Meine ganze Familie saß am Mittagstisch, Vater, Mutter und fünf Geschwister. Ich soll meinen Koffer abgestellt und gesagt haben. „Ich habe es nicht mehr ausgehalten.“ Großes Gelächter. „Na, dann setz dich mal auf deinen Platz.“

Zu der Zeit war ich fünf Jahre alt und ich kannte die Welt nur im Kriegszustand. Im Februar bin ich geboren und als ich ein halbes Jahr alt war, begann der Krieg. Ein schwarz gestrichenes Kinderbett mit Stäbchen stand für mich im Keller. Da unten war ‘funzeliges‘ Licht, auf der einen Seite ein rohes Holzregal mit unendlichen Reihen von eingemachtem Gemüse und Obst. Gegenüber stand eine lange Bank für die Schutzsuchenden. In einem kleinen Vorflur des Kellers stand ein besonders geformter weißer Metalleimer mit blauer Verzierung und einem Deckel. Das war die Kellertoilette. Benutzte sie jemand, sangen alle im Kellerraum mit klangvoller Stimme: „Kling Glöckchen, klingelingeling, kling Glöckchen, kling!“ Daran kann ich mich erst ab 1943 erinnern, als ich bereits vier Jahre alt war. Mir wurde später erzählt, dass ich ab fünf Jahren bei nächtlichem Aufschrecken durch Sirenengeheul schnell in meine Anziehsachen geschlüpft, die Tasche für den Notfall ergriffen und auf der Kellertreppe gerufen haben soll: „Mutter, was kann ich noch retten?“ Sirenengeräusch löst heute immer noch ein tiefseltsames Gefühl in mir aus.

Im gleichen Haus wohnte auch meine erste Freundin, Helga. Ich bin heute auf Facebook mit ihr locker in Kontakt. Sie hatte eine glockenreine hohe Kinderstimme und kam oft, wenn ich noch meinen Mittagsschlaf halten musste, zu uns an die Tür und piepste: „Ist Elisabeth schon wach?“ „Jetzt ja“, sagte meine Mutter dann leicht resigniert und doch geduldig und ließ sie herein.

Einmal ist eine Bombe auf den angrenzenden Flügel unseres Gebäudes gefallen. „Einsturzgefahr!“ schrie man in den Keller. Worauf hin meine Mutter mit der ungewohnt entschiedenen und befehlsgebenden Stimme eines Brigadegenerals sagte: „Keiner weint!“ Und das hat dann auch niemand getan. Ich kann nicht sagen, dass ich den Krieg als schrecklich empfunden habe. Vielleicht deshalb, weil ich gar nichts anderes kannte. Ich dachte, so ist es hier unten auf der Welt. Dahin wollte ich ja, sonst wäre ich nicht geboren worden.

Ich bin überzeugt davon, dass man im Leben alles selbst herstellt: die Eltern aussucht, das Land mit seiner ihm eigenen Geschichte, die Geschwister und besonders die eigenen großen und kleinen Probleme, die einen im Leben beschert werden. An denen oder durch sie will – unbewusst – die eigene Seele wachsen. Ich kann Nein sagen, wenn ich das Gefühl habe, dass jemand oder eine Situation nicht zu mir passt. Oder nicht mehr zu mir passt. Die Situation oder den Menschen ‚tue‘ ich dann aus meinem Leben raus. Das hört sich komisch an, ist aber ein großes Glück für mich. Ich gehe oder entferne mich nicht wütend oder böse, sondern entschieden und mit guten Wünschen für den anderen. Alles das, was meine Lebensfreude ‘deckelt‘, werfe ich ab. Auf diese Weise bin ich auch selbst aus manchem Leben oder aus manchen Situationen ‘rausgeflogen‘ worden. Das beruhigt mich dann immer, weil ich merke, dass meine Mitmenschen das auch machen. Manchmal lerne ich dabei etwas. Wenn ich beispielsweise überlege, welches Verhalten mich unpassend oder unattraktiv – ‘nicht anziehend‘ bedeutet das wortwörtlich – gemacht hat. Alles geschieht eng an meinen Gefühlen und ist dadurch spannend!

Als wir nun ausgebombt waren, sind wir in das große Haus meiner Großmutter gezogen. Meine Mutter fand das furchtbar. Während ich das jetzt schreibe, kommt mir die Idee, dass spätestens von dem Augenblick an die Nahrungslieferungen von Christian aufgehört haben müssen. Der Krieg war fast zu Ende. Wir saßen in einem anderen Keller in Leichtbauausführung, denn so ein Kloster neben der Kirche mit unterirdischen Gängen ist ganz anders konzipiert und gebaut. Trotzdem war es nun für mich hier schöner, weil ich immer die Luftangriffe auf dem Schoß meiner Mutter mit einer warmen Decke über mir überstanden habe. Meine Großmutter ist grundsätzlich nicht in den Keller gegangen, sondern in Hut und Mantel, wie zu einem Stadtbesuch gekleidet, hat sie inspiziert, was alles beschädigt worden ist. Dann ist sie in den Keller zu uns gekommen und hat uns informiert.

Meine drei älteren Geschwister waren in unserer demolierten Stadtwohnung geblieben und haben für sich gesorgt. Der Krieg war zu Ende und die Besatzer, bei uns die Engländer, haben die Lebensmittel-Lager freigegeben. Das war ein Vergnügen! Meine älteren Geschwister sind mit einem fast meterhohen Sack voll Karamell-Bonbons, einem gleich großen Sack Zucker und Mehl gekommen. Außerdem einem Karbidkocher, den wir Kinder besonders geliebt haben. In unserem großen Garten war nämlich ein riesiger Bombentrichter entstanden. Da ich noch klein war, kam er mir sicher größer vor, als er in realen Metern gemessen war. Immerhin haben wir Stufen nach unten gegraben, unten eine Bretterhütte gebaut und darin den Karbidkocher zur Bonbon-Produktion aufgestellt und angezündet. War das kuschelig!

Auf der Straße vor unserem Haus fuhren am Ende des Krieges englische Lastwagen vorbei, auf denen dicht gedrängt deutsche Kriegsgefangene standen. Die Bevölkerung warf unermüdlich Butterbrot-Pakete hinauf. Wir hatten alle Mitleid mit ihnen, weil wir wussten, dass sie jetzt in Gefangenschaft kommen würden.

In den schöneren Häusern quartierten sich nun die englischen Besatzer ein. Sie bekamen wundervolles, butterweiches Toastbrot in Cellophan-Papier, das sie meiner Einschätzung nach oft völlig ‚intakt‘ wegwarfen und das ich vom Abfall aufgelesen und mit nach Hause gebracht habe. Meine Familie hat sich gefreut, keiner aber hätte so eine Tat um des Stolzes willen selbst getan.

Unserem Haus fast direkt gegenüber lag ein großer Gasthauskomplex, die ‚Grille‘ genannt. Dort und auf den unendlichen Weserwiesen dahinter haben wir Kinder gespielt. Wir waren neun oder zehn Jungen und Mädchen bis zu zwölf Jahren. War das schön. Nach dem Essen verließ man das eigene Heim und stromerte in ‚Feld und Wald‘ herum.

Mein Vater war in seiner kleinen Wohnung unter unserer früheren Wohnung neben der Kirche geblieben. Seine zweite kleine Dienstwohnung. Wir wohnten im ersten Stock im großen Haus meiner Großmutter. Sie selbst im kleinen Haus, aus dem man alles überblicken konnte. Unter uns wohnte eine Flüchtlingsfamilie. Die Tochter der Familie war ungefähr in meinem Alter.

Das enge Verhältnis meines Vaters zu ‘seiner‘ Kirche war nachweislich hervorragend. Nur zehn Minuten entfernt stand bereits eine nächste größere Kirche, die Martini Kirche. Eines Tages war der Sohn des Pfarrers der Martinikirche zum Spielen bei dem Sohn des Pfarrers unserer Kirche.

„Unsere Kirche gehört dem lieben Gott“, hat der Pfarrerssohn der Martinikirche gesagt.

Nach einer längeren Pause kam nachdenklich die Antwort unseres Pfarrerssohnes: „Unsere Kirche gehört Onkel Kuhlmann“, das war mein Vater.

Es war SEINE Kirche mit einem sehr gemütlichen kleinen Zimmer darin, einer Schrankumkleidung um Glocken und Schlüssel und - - - - einer großen Dose mit Süßigkeiten. Voller Süßigkeiten und Keksen, die es zu Hause nicht gab.

Wenn ich meinen Vater hin und wieder beim Mittwoch-Abendgottesdienst vertreten musste, habe ich mich aus der Dose bedient und gehofft, ich würde dafür Schimpfe beziehen und damit die Dose in der Familie thematisieren können. Aber das ist nie passiert. Als Zehn- bis Vierzehnjährige nach Ende einer Abendandacht die Kirche zu verschließen ist eine Mutprobe. Das große Licht ist gelöscht, weil man durch die Fenster ja den Lichtschein sehen und denken könnte, man könne die Kirche noch betreten. Vaters Kirchenzimmer mit den Schaltern für das kleine Licht lag in der Nähe des Altarraumes. Durch das je nach Jahreszeit düstere Kirchenschiff bis zum Turm zu gehen, die beiden Türe abzuschließen und den Rückweg zu gehen, war für mich immer gruselig, weil die gotische Kirche so hoch und groß erschien. Ich war immer heilfroh, wenn ich die letzte Tür in Sakristei- und Vater-Zimmernähe verschlossen hatte und nach Hause hüpfen konnte. Befreit! Alles gut gegangen.

In unserer Wohnung befand sich im Bad auch ein Glockenkasten. Drei Schalter waren darin, die man mit einem gelassenen „einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig“-Zählen andrehen musste, um ein wohlklingendes Geläute in Gang zu setzen.

Ich erinnere mich, ich war achtzehn Jahre alt und Tolstoi gerade mein Lieblingsschriftsteller. Vom Gemeindeamt bekamen wir die Zettel mit den Beerdigungsdaten, zu denen wir läuten mussten. Nur mit zwei Glocken. Das Anstellen des Geläutes habe ich rechtzeitig gemacht, aber das Buch hat mich schnell wieder gefesselt. Mein armer Vater saß zum Schnurrbartkürzen beim Friseur und das Läuten wollte und wollte nicht aufhören. Meinem Vater war erst eine Seite des Schnurrbarts gekürzt, aber das war jetzt Nebensache. Als ich seine wilden Schritte auf der Treppe gehört habe, war mir mein Versäumnis klar. Im Bad stießen wir vorm Glockenkasten fast zusammen. Er war außer sich. Ein abgrundtief strafender Blick hat mich nur getroffen, für meine Unaufmerksamkeit gab es keine Worte, nur Verachtung.

Meine Geschwister

Meine älteste Schwester hieß Marie, sie war vierzehn Jahre älter als ich. Sie wurde bei meiner Taufe eine meiner Patentanten. Meine damals schon fünfundvierzigjährige Mutter fürchtete, mich nicht mehr bis zum Erwachsensein führen zu können. Tatsächlich hat sich Marie gekümmert, wenn Not am Mann war. Ich kenne sie nur verheiratet. Mit einem schrecklichen Mann. Sie hatte Schneiderin gelernt, ihren Meister gemacht und führte in Gelsenkirchen eine Bekleidungsmanufaktur.

Aber nicht nur sie hatte dieser Mann, mit Namen Willi, voll in der Hand, sondern auch mein Vater war so von ihm eingelullt, dass meine nächstältere Schwester Helmi nach ihrer Ausbildung zur Gemeindehelferin und Organistin und Anstellungen, in denen sie sich wohl nicht überzeugend bewährt hatte, zu meiner Schwester und diesem Schwager verfrachtet wurde und deren Haushalt führen musste. Plus der liebevollen Betreuung derer zwei Kinder.

Geputzt, gekocht, Erziehungsaufgaben liebevoll wahrnehmen. Sie war in meinen Augen ein Engel. Als junges Mädchen hat sie ein Pflichtjahr bei uns zu Hause absolviert und ich soll während dieser Zeit “Mama“ zu ihr gesagt haben. Ich hatte also eine Mutter, eine Mama und eine Patentante zu Hause. Mein erster Ehemann ist nach seiner Ausbildung zur Inneren Medizin Psychoanalytiker geworden. Wenn man in dem Milieu lebt, kommt man fast um eine Psychotherapie nicht herum. So auch ich. Mein entzückender Analytiker hat nach einer scharfen Aufforderung von mir, jetzt sei er einmal dran, etwas zu formulieren, gesagt: „Sie sind ein Gruppenkind!“ Ich bin anders, dachte ich. Auch gut!

Meiner Schwester Helmi, sie war zwölf Jahre älter als ich, verdanke ich viele Entwicklungsimpulse. Sie war wunderbar im “Make-Believe“-Training. Aus altem Stanniolpapier von verzehrter Schokolade formte sie klitzekleine Stühle, Tische und Schränke und mit diesem Mobiliar inszenierten wir immer wieder neue kleine Geschichten. Ich fand das wunderschön. Manchmal wurde vorgeführt und bewundert, wie gut ich ihr gehorchte. Es gab immer eine Belohnung für mich, wenn auch nur eine eingebildete: Sie nahm Pumpernickel, schnitt es in Schokoladenstückchengröße, wickelt gekonnt Stanniolpapier herum und sagte: „Das hast du wunderschön gemacht, E, dafür bekommst du auch ein Stückchen Schokolade.“ Ich soll das Pumpernickel-Teilchen dann so genießerisch gegessen haben, dass hin und wieder jemand das Stück aus meiner Hand genommen hat, um zu prüfen, ob es nicht wirklich Schokolade war.

Auch die explizite Anbindung an ein höheres Wesen, eine frühe, gläubig verehrende Anerkennung einer höheren Energie, verdanke ich ihr. Sie hat bei mir mit christlichen Bilderbüchern und Geschichten eine grundsätzlich tragfähige Verbindung installiert zu einem höheren Wesen, das mich leitet, liebt und beschützt.

Ich habe als Vornamen Elisabeth, aber meine Geschwister nannten mich nur ‘E‘. Der volle Name sei zu lang. Mutter und Vater haben stets meinen vollen Namen ausgesprochen. Von zwei Freundinnen werde ich auch heute noch E genannt. Eine, Karin, ist seit meinem zehnten Lebensjahr meine Freundin. E-chen, so spricht sie mich immer an. Sie ist gerade mit ihrem leicht dementen Studienrats-Ehemann in eine Seniorenwohnung gezogen. Sie hat als junge Mutter zufällig beim Hantieren mit Gemüse beim mittäglichen Kochen ihr Maltalent entdeckt, Unterricht genommen und dann immer weiter wundervolle Bilder gemalt und verkauft.

Die andere E-Freundin ist eine Pfarrerstochter. Sie wohnt heute ganz in meiner Nähe. Anlässlich der Beerdigung meiner Mutter ist sie nach Hamburg gekommen und geblieben. Wir haben zusammen mit ungefähr zwanzig Jahren im Diakonissenhaus Münster die Ausbildung zu Kindergärtnerinnen gemacht. Sie ist mir bis heute eine sehr liebe Freundin. Meine beste Freundin. Für sie bin ich nur „E“ und aus ihrem Mund hört sich das richtig an.

Mein Bruder taucht in meiner Erinnerung auf, wie er mich kurz vor der Entlassung aus der Mittelschule fragt, welches Fach ich in der Schule am liebsten hätte. „Kochen“, habe ich wahrheitsgemäß geantwortet, „Kochen finde ich großartig!“ Dabei bin ich begeistert zur Schule gegangen, habe gern gelernt, aber es gab kein echtes Lieblingsfach. Ich war das einzige von uns fünf Mädchen, das eine höhere Schule besuchen durfte. Eingeschult wurde ich 1945. Ein sehr kalter Winter war das. Manchmal sind wir Kinder alle im Bett geblieben, weil es einfach zu kalt war.

„Nachkriegsdeutschland im täglichen Überlebenskampf. Temperaturen bis zu minus fünfundzwanzig Grad, vierzig Tage Dauerfrost – der Winter 1946/47 war der härteste Winter des Jahrhunderts. Viele Häuser waren zerstört, es gab zu wenig Nahrungsmittel und kaum Heizmaterial.“ Das sagt Wikipedia.

In Minden gab es arme Leute, die meist auch kinderreich waren. In dieser kalten Zeit fand meine fromme Mutter noch heftiger als sonst, dass man in Nächstenliebe der Bibel folgen sollte. Einer ihrer Sprüche zum richtigen Handeln war:

„Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Die geringsten Brüder hießen bei uns „Brüder von der Landstraße“, also Bettler.

An einem dieser superkalten Tage hat meine Mutter die Wohnküche gut geheizt, uns aufstehen lassen und dann instruiert, was uns heute vielleicht blühen könne.

„Heute kommt Jesus zu uns“, hat sie gesagt.

„Was?“, haben wir verständnislos von uns gegeben.

„Ja, sollte heute ein Bettler klingeln, dann bitte ich ihn herein.

Was soll der in der Kälte draußen rumlaufen. Bei uns ist es schön warm und wir machen ihm einen schönen Tag. Ihr spielt auf jeden Fall mit ihm „Mensch ärgere dich nicht“. Und wenn er nicht so gut riecht, lasst ihr euch nichts anmerken, ihr bleibt freundlich.“

Tatsächlich klingelte es. Von einer sehr kinderreichen Familie stand ein siebzehnjähriger kräftiger junger Mann vor der Tür.

„Kommen Sie herein“, sagte meine Mutter, „heute müssen Sie nicht weiterbetteln. Ich gebe Ihnen alles so. Was nehmen sie denn so als Geld ein?“

„So fünf Mark und manchmal auch zehn.“

„Das gebe ich Ihnen. Und sonst noch etwas?“

„Ja, manchmal eine Unterhose oder Socken.“

Meine Mutter eilte zum Schrank meines Vaters und konnte sich nicht vorstellen, dass Vater etwas dagegen haben könnte, dass Jesus von ihm eine Unterhose und ein paar Socken bekommt.

Dann hat sie Kaffee-Ersatz gekocht und Spiegeleier in der Pfanne gebraten. Dann haben wir den Tisch abgedeckt und mit dem hochroten, schwitzenden und vor Peinlichkeit vergehen wollenden jungen Mann gespielt.

„Wann hören sie denn so auf mit dem Von-Haus-zu-Haus-Gehen?“

„So um diese Zeit“, hat er bestimmt lange vor seinem normalen „Dienstschluss“ gesagt und ist unter glaubwürdigen Danksagungen quasi geflohen. Von der Familie ist nie wieder einer an unsere Tür gekommen. Mein Vater hat nach dem Bericht dieses Tages seine Kommode fest verschlossen und den Schlüssel versteckt.

Manchmal ist an diesen kalten Tagen nur meine Mutter aufgestanden und hat uns alles ans Bett gebracht. Wir drei Jüngeren haben im Bett gespielt. Unser Lieblingsspiel im Bett war Eis-Salon. Man musste Zucker-Abschnitte der Lebensmittelkarte oder echten Zucker mitbringen, um ein Eis zu bekommen. Aus unseren Federbetten haben wir die Eis-Theke geformt. Einer war der Eisverkäufer und die anderen beiden mussten die Kunden spielen und beim vorgestellten Salon-Betreten laut singend „Dingelingeling, dingelingeling“ singen. Dann wurde bestellt und bezahlt und man bekam ein Eis und das musste sichtbar mit Wohlgefallen geschleckt werden.

In der Schule haben wir in Mänteln gesessen und nur kurz gelernt, eine halbe Stunde vielleicht. Dann haben wir alle ein Karamellbonbon bekommen und durften wieder nach Hause gehen. Meine Mutter wollte nicht glauben, als ich nach diesem Schulbesuch an Ostern die Versetzung in die zweite Klasse bescheinigt bekam.

In der vierten Klasse wurde die ‘Spreu vom Weizen‘ getrennt, das heißt bestimmte Kinder wurden von unserem verehrten Lehrer für den Übergang zur Mittelschule und zum Gymnasium fit gemacht. Mein Bruder hat ein Gymnasium besucht, besuchen müssen, weil er am rechten Bein eine schmerzhafte Knochenmarksvereiterung durchlitten hatte, die dieses Bein für immer etwas kürzer zurückgelassen hatte.

„Einen vernünftigen Beruf kann er nicht mehr ergreifen“, haben meine Eltern entschieden. „Dann muss er aufs Gymnasium.“

Da er in der Schule sehr gut war, stellte dies kein Problem dar. Zurzeit seiner Einschulung bin ich auf die Welt gekommen. Mein Bruder ist genau zehn Jahre älter als ich. Ein wundervoll praktischer Abstand, denn so konnte ich mir immer merken, wie alt er wird. Geburtstage sind meine schwache Seite: Ich kann mir die Daten nicht merken. Meine Diagnose dieses Ausfalls: Als ich merkte, dass Menschen jedes Jahr Geburtstag haben, waren zu viele Familienmitglieder – sieben Menschen – bereits auf der Welt. Eine Überforderung für mich!

Das erste Weihnachtsfest 1945 nach Kriegsende.

Die englischen Besetzer nannte man Tommys. Die Tommys waren ‚unsere‘ Besetzer. Da hatten wir Glück. Sie waren freundlich und nahmen uns wahr als die, die wir nun nach Kriegsjahren zwischen Trümmern waren. Hatte das englische Militär so viele Frauen oder waren diese netten Frauen schon von England zu ihren Männern in Minden umgezogen? Auf jeden Fall müssen Weihnachten 1945 bereits genug Engländerinnen in Minden gewesen sein, um uns Kindern eine wundervolle Weihnachtsfeier zu bescheren. Das Restaurant ‘Grille‘ hatte einen Festsaal, in dem waren Tische gestellt und festlich gedeckt worden. Die größte Überraschung war aber ein ‚Pantomime‘, ein Theaterstück, das in England an Weihnachten aufgeführt wird.

Das Theaterstück fand in englischer Sprache statt, aber, wie immer im Theater, so auch in diesem ‚Pantomime‘-Stück, wird auf der Bühne zum großen Teil durch Körpersprache dargestellt, erzählt. Ich war fasziniert. Ich saß weit hinten und sehe noch jetzt beim Schreiben wieder die Rücken der anderen Kinder an den Tischen vor mir und davor, ganz vorn, die strahlend hell erleuchtete Bühne und den geschmückten Weihnachtsbaum rechts im Hintergrund. Die Schauspieler traten auf und ab und die Hauptperson war ein Junge, der viele Probleme hatte. Der Höhepunkt des Stückes war das überraschende Ende. Jemand zog dem Jungen die Mütze vom Kopf und eine Flut von Haaren floss um sein oder besser ihr Gesicht. Es ging um ein Mädchen. Ein Mädchen! Und das bedeutete in diesem Theaterstück, dass alles gut war. Ende gut, alles gut.

Was für eine wunderbare Auflösung, die meiner feministischen Seite auch mit vierundachtzig Jahren noch ein zufriedenes Lächeln entlockt. Wo ist jemals ein Mädchen eine positive Lösung gewesen? In China wurden Mädchen während der Ein-Kind-Politik bevorzugt abgetrieben oder umgebracht. In Indien gilt ein Mädchen nichts. Ach, auf der ganzen Welt halten alle Männer zusammen und dulden, missachten oder töten Frauen. Da ist noch viel zu tun. Ein Glück, dass es Männer gibt, denen dieses Elend auch klar ist.

Zum Schluss kamen die Schauspieler von der Bühne – vielleicht hat doch nur eine kleine Gruppe von Engländern dieses schöne Fest für uns Kinder geprobt und bewerkstelligt? Ich war gefangen von so viel farbenfrohen und diversen Eindrücken. Die große Tüte mit weihnachtlichen Süßigkeiten, die jeder von uns am Schluss bei der Verabschiedung bekam, war die Verkörperung meines beschenkten Reichtums.

Zurück zu meinem Bruder. Ich habe von diesen zehn Jahren profitiert, die er älter war als ich. Er hat mich in seinen Semesterferien bei einem pädagogischen Spaziergang nach meinen Berufswünschen gefragt. Bei der Antwort, mir gefalle nur der Koch-Unterricht, hat er mich ermuntert, später doch Diätassistentin zu werden. Er selbst war von Geburt an Vegetarier. „Mutter, ich esse nichts vom toten Schwein.“ „Ja, vom lebendigen kann ich dir nichts geben.“

Er hat mir bei diesem Spaziergang zur Berufswahl in Aussicht gestellt, später mit ihm zusammenzuziehen und für ihn zu kochen. Mein großer Bruder hat immer wieder für mich den jüngeren Vater gespielt. Das hat mir gefallen.

Meine Schwestern, die lebensgeschichtlich mit Intelligenz nachweislich ebenso gut bestückt waren wie mein Bruder oder ich, haben alle lediglich die Hauptschule besucht. Die vermittelte damals erheblich mehr Wissen als heute. In Deutsch, Mathematik und Naturwissenschaften entsprach sie in ihrer soliden Grundlagenvermittlung wohl der späteren Mittelschule. Alle Schwestern waren in ihrer Rechtschreibung perfekt, begeisterte Leserinnen, schrieben gern Briefe und meine Schwester Helmi, und die von den anderen Schwestern hin und wieder als „dumm und sogar doof“ betitelt wurde, hat Gedichte und Geschichten geschrieben, die jede Familienfeier – von allen beklatscht – sehr erheitert haben.

Es war 1950 eine große Überraschung für meine Mutter, dass sich mein Lehrer bei uns zu einem Besuch angemeldet hatte. Vermutlich war unsere Küche der einzig leidlich warme Ort.

Meine Großmutter hatte zu der Zeit eine doppelte Rippenfellentzündung und lag in unserer Wohnküche auf dem Sofa. Ich kann mir vorstellen, wie Herr Kosick bei uns in der Wohnküche gesessen und meiner Mutter nahegelegt hat, mich zur Mittelschule zu schicken. Meine Mutter hat vermutlich nicht an meiner Fähigkeit gezweifelt, aber diese Schulart kostete Schulgeld. Wenn ich mich recht erinnere, waren das monatlich acht Mark fünfzig. Das würde heute siebzehn Euro entsprechen. Das war nicht wenig Geld für unsere finanzielle Situation. Meine Großmutter muss diese Unterhaltung mitverfolgt haben, denn sie hat entschieden: „Elisabeth kann zur Mittelschule gehen. Dieses Geld bezahle ich!“ Mein Glück, dass Herr Kosick zu genau diesem Zeitpunkt bei uns war, denn ich wurde zur Prüfung angemeldet. Meine Mutter hat mir bedeutet, dass ich die Prüfung und ebenso täglich den dreißig Minuten langen Schulweg mit der Straßenbahn und zu Fuß mutterseelenallein schaffen müsste. Drei Wochen später starb meine Großmutter.

„Diese Tür war nur für dich!“ Dieser literarische Satz von Kafka fällt mir bei der Erinnerung an diesen Moment meines Lebens ein. Eine Lieblingsgeschichte für mich ist Kafkas Erzählung „Vor dem Gesetz“. Wie da ein Mensch voller Verlangen vor dem Eingang des Gesetzes auf die Erlaubnis hineinzugehen wartet. Wie er immer „auf andere“, auf den Hüter vor der Tür hört und sich nicht traut hineinzugehen, um einfach seine Erfahrung zu machen und zu sehen, was dann passiert. Sein Leben geht so vorbei und im Moment seines nahenden Todes, als er fast nichts mehr wahrnimmt, macht der Hüter die Tür zu und sagt zu dem Mann vor der Tür zum Gesetz: „Diese Tür war nur für dich!“

Ich kenne keine Geschichte, die das Wort VERGEBLICH eindringlicher spürbar macht. Auf jeden Fall habe ich nichts von dem Kafka’schen Zögerer. Diese Tür zu mehr Bildung hat mir meine Großmutter noch gerade so vor ihrem Tod geöffnet. „Danke, liebe Oma!“

Durch mein ganzes Leben zieht sich wie ein roter Faden die Aufforderung, mich nicht ablenken zu lassen von dem, was ich erfahren möchte.

„In Gefahr und höchster Not ist der Mittelweg der Tod“ ist ein Spruch, der mir auf Anhieb sehr gefallen hat. Auch folgender Spruch aus der Bibel hat mir wie ein Wegweiser hell geleuchtet: „Aber weil du lau bist, spucke ich dich aus!“ Nie lau sein, dieses Ziel verfolge ich noch heute. Es macht mir nichts, wenn andere über mich lachen. Ich kann diese Haltung sehr empfehlen, denn das gibt eine große Freiheit.

Nachdem die Grundschule beendet war, flog die Klasse auseinander: Die zum Gymnasium gingen, in Minden hieß das Mädchen-Lyceum, kannten und sprachen nicht mehr mit uns Mittelschul-Schülerinnen und wir schnitten unsererseits die ehemaligen Mitschülerinnen, die weiter zur Volksschule gingen.

Meine Schwester Martha war sieben Jahre älter als ich. Als weitere Elternrepräsentanz ist sie nicht in Erscheinung getreten. Dicht gefolgt von meiner Schwester Gertrud, die fünf Jahre älter als ich ist.

Da ich ohne Umschweife mehr erfühlen konnte, als auf den ersten Blick zu sehen war, war ich für meine beiden Schwestern Martha und Gertrud ein gefundenes Fressen für Maskenspiele und Schauergeschichten. Wir hatten eine harmlose Nikolausmaske zu Hause, die man platt vor das Gesicht hielt. Man konnte Haare und Kleidung und den größten Teil des Sich-’Verkleidenden‘ weitersehen und deswegen kann ich heute die Fassungslosigkeit der anderen in Bezug auf meine Reaktion gut verstehen. Sobald jemand die Maske vor dem Gesicht hatte, habe ich wie am Spieß geschrien. Das hat Jahre als Belustigung funktioniert. Mit dem Moment des durch die Maske verdeckten Gesichtes war dieser Mensch für mich verschwunden. Ich habe dann einen Fremden mir gegenüber gefühlt und den Verlust einer Schwester, die auf unerklärliche Weise plötzlich nicht mehr da war. Es war furchtbar.

Dazu fällt mir noch ein, dass vor dem Umbau bis zur Bombardierung unserer Wohnung im Kloster neben der Kirche ein sechsundfünfzig Quadratmeter großer Kapitelsaal das Schlafzimmer von mir und allen meinen Geschwistern war. Er war so riesig, dass meine großen Geschwister darin mit Fernglas Fangen spielten.

Ein für meine Kleinheit unglaublich großer Refektoriums Tisch stand in der Mitte des Raumes und unsere Betten ringsherum an den Wänden. Zwei Türen führten in diesen Raum, eine vom Elternschlafzimmer und die andere vom Wohnzimmer. Ich schlief noch in einem Gitterbett und erinnere mich, dass ich manchmal ins Bett gemacht habe. Wie lange ich ein Bettnässer war, das weiß ich nicht. Neben der Tür ins Wohnzimmer stand ein riesengroßer Kleiderschrank mit zwei ovalen Spiegeln im oberen Teil, die für mich immer die Augen einer Eule waren. Einmal hatte ich Angst und wollte ins Wohnzimmer zu meinen Eltern gehen, habe aber in meiner Aufregung den Schrank betreten und erst nach langer Zeit unter dem Gelächter der Geschwisterschar wieder herausgefunden.

Meine Schwester Helmi konnte auch schrecklich gut Geschichten erzählen. Die schlimmste Geschichte ging so:

Ein Mann lebte mit einer Haushälterin in einem großen Schloss. Er war geizig und traute niemandem. Darum hatte er all sein Vermögen nach dem Verlust eines Beines im Krieg in ein Ersatz-Bein aus Gold machen lassen. Die Haushälterin bekam kaum etwas für ihre treuen Dienste.

Dann starb der Mann. Er hatte angeordnet, dass er mit seinem goldenen Bein beerdigt werden wollte. Doch die Haushälterin fand, dass die Stunde gekommen sei, in der sie für ihre selbstlosen Dienste belohnt werden müsse. Das goldene Bein ließ sie nicht mit dem Mann beerdigen.

Erst ging alles gut, aber nach einem Monat hörte sie im Rascheln der Bäume seine klagende Stimme, die immer wiederholte: „War is min gülden Been? War is min gülden Been?”

Ach, dachte sie, das wird vorübergehen, aber die Stimme kam immer näher.

An dieser Stelle war meine Schwester schon unterwegs von Bett zu Bett und wiederholte im Crescendo: „War is min gülden Been?“ Alle waren da in höchster Spannung, denn an einem Bett – und man wusste nie an welchem – stürzte sie sich auf den Oberkörper des verzweifelt Lauschenden und schrie, ihn packend: „Hier is min gülden Been!“

Jedes Mal war es ein schrecklicher Schock, der nur langsam in Erleichterung überging.

Im Winter konnte man nicht einmal einen Schatten von ihr wahrnehmen und sie huschte sehr behände von Raum-Ende zu Raum-Ende. Man konnte nie sicher sein, verschont zu bleiben.

Wunderschöne langfristige Folgen hat dieses Schauererlebnis dann glücklicherweise später für mich gehabt. Ich habe im Institut Français in Hamburg Französisch gelernt. Als ich bereits in einem Fortgeschrittenen-Kurs saß, war Madame Maithé P. meine Lehrerin. Wir hatten streng Hausaufgaben zu machen. Diese Geschichte über die erlittenen Schrecken im dunklen Kapitelsaal war eine Geschichte, die ich aufgeschrieben und dann – natürlich auf Französisch – vorgelesen habe. Diese Geschichte hat dazu geführt, dass wir uns angefreundet haben und sie mir bei meinem einjährigen Paris-Aufenthalt viel Gutes getan hat. Mit ihrem Freund hat sie mich zu den Ufern der romantischen Flüsschen geführt, wo die Pariser Impressionisten ihre wunderschönen Bildmotive fanden und sie auf ewig in bewunderten Meisterwerken festgehalten haben. Wir sind zusammen essen gegangen, haben Ausstellungen besucht und so wurde mein erschreckendes Kindheitserlebnis am Ende zu einem wahren Geschenk.

Wenn ich mich richtig erinnere, musste ich meinen langen Schulweg nur ein Jahr zurücklegen. Dabei habe ich Straßenbahnfahren immer geliebt. Eine große Überraschung, für die ich von allen sieben über mir stehenden Familienmitgliedern sehr gelobt wurde, dass ich mit fünf Jahren ganz allein mit der Straßenbahn in die Stadt gefahren bin und wieder zurück und danach verkündet habe: „Wenn ich groß bin, werde ich Straßenbahn-Schaffnerin.“

Eine andere große Ankündigung habe ich tatsächlich wahr gemacht. Als ich acht Jahre alt war, habe ich zu meiner Mutter gesagt: „Mutter, wenn ich groß bin, gehe ich nach Hamburg.“

„Aber in Hamburg sind doch die Nächte lang“, hat meine Mutter daraufhin entsetzt geantwortet. Das hat an meinem Plan nichts geändert. Seit meinem einundzwanzigsten Lebensjahr lebe ich in Hamburg und finde das immer wieder wunderschön. Ich wollte weg! Weit weg! Als ich schließlich von zu Hause weggegangen bin, durfte mein Vater nur mit dem Fahrradanhänger meinen Koffer zur Bahn bringen. Ich wollte nicht einmal, dass er zum Winken blieb. Aber natürlich hat dann im Zug gleich jemand zu mir gesagt: „Bist du nicht die Jüngste von den Kuhlmanns-Kindern?“

Mit meiner Schwester Gertrud, fünf Jahre älter als ich, musste ich unendlich lange in einem großen Bauernbett mit nur einer Zudecke schlafen. Wenn wir im Bett lagen, hat meine Schwester dann schließlich gesagt: „Du stehst jetzt auf und machst das Licht aus.“ Der Schalter war wie immer an der Zimmertür. Ich bin aus dem warmen Bett mit nackten Füßen auf dem Linoleum zum Schalter getapst und habe das Licht ausgeschaltet. Nun war es aber dunkel und ich musste das Bett wieder finden. Kaum war ich in Bett-Nähe hat meine Schwester mit grusliger Stimme gerufen: „Hier liegt der Schwarze Mann, hier liegt der Schwarze Mann!“ und mit den Händen hat sie mich hier und da gestupft. Es war furchtbar. Da erfuhr ich doch schon praktisch, was double bind bedeutet: Ich wollte ins Bett, hatte aber Angst vor dem Bett. Natürlich wusste ich, dass da meine Schwester lag, das wurde mir anschließend im Bett auch reichlich vorgehalten, aber ich konnte mir eben viel zu gut einen gefährlichen und grausamen Mann vorstellen.

Wie lange haben wir auf der Grille gelebt? Mit dem Tod meiner Großmutter war meine Mutter von der Sorgearbeit um sie frei und vermutlich war um diese Zeit die ausgebombte große Dienstwohnung neben der Kirche umgebaut.

Wir wohnten also wieder in der Stadt.

Ich wohnte durch den Umzug zurück nahe an meiner Mittelschule. Die Schule! Ich bin während der ersten Jahre nicht sehr gern in diese Schule gegangen. Während der letzten Jahre war die Schulzeit für mich ein Vergnügen. Wie immer lag meine Zufriedenheit an den Lehrern. Mein Klassenlehrer und Englischlehrer war anglophil und theaterbesessen. Als hätte ich es mir ausgesucht! Es war wundervoll.

Ete Gottschalk, Name und zugleich Spitzname meines wunderbaren Lehrers, ließ uns stundenlange Gedichte auswendig lernen. So die Rede der englischen Königin bei ihrer Krönung. Was für eine glockenreine Stimme und was für eine schöne Aussprache sie hatte! Ete Gottschalk hatte diese Rede im Originalton auf einem monströsen Kassettenrecorder mitten auf seinem Pult stehen.

„When I spoke to you last at Christmas.

I asked you all whatever your religion.

to pray for me on the day of my coronation,

to pray that God would give me wisdom and strength.

to carry out the promises which I should then be making.”

Das habe ich gerade auswendig niedergeschrieben. Das war die eine Rede, die wir auswendig lernen mussten und wobei wir im Ohr immer die liebliche Stimme der jungen Königin Elisabeth II. hatten.

Bei meinem ersten Besuch in China, in Peking auf der Theaterbühne des Sommerpalastes habe ich die Rede auswendig deklamiert, die Antonius zur Beerdigung von Julius Cäsar gehalten hat. Da konnte ich sie noch vollständig auswendig, mal sehen, wie weit ich jetzt komme:

Friends, Romans, Countrymen, lend me your ears.

I have come to bury Cesar, not to praise him.

The evil that men do lives after them.

The good is often interred with their bones.

So let it be with Cesar! The noble Brutus has told you

Cesar was ambitious.

And if he was ambitious, it was a grievous fault.

And grievously hath Cesar answered it.

Here, under leave of Brutus and the rest.

(For Brutus is an honorable man,

So are they all, all honorable men.)

Es wurde still, während ich sprach, und ich wuchs mit dem Deklamieren über mich hinaus. Wahre Gedichte können das, sogar wenn sie sehr kurz sind.