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Neue konzise Prosatexte von Ana Lang. Versehen mit Schwarzweißabbildungen ihres Mannes Alois Lang.
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Seitenzahl: 66
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Allein, fremd und anders (Paracelsus)
Briefschaften
Mit Namen gestillt
Übersee
Nacht
Stimmwechsel
Spielzeit
Anderswie
Das Notizbuch
Studien
Wie weiter
Damals
Ich
Der Sammler
Unvergessen
Anfängliches
Geöffnete Zeit
Fleck an Fleck
Abendschoppen
Räume
Die Ritze
Der Schal
Die Reise
Ist alles gesagt –
Jovin, der Museumswärter
Paparasse
Lesarten
Der Versuch
Das Modell
Versiegelt
Die Maske
Das rote Kleid
Didi
Wie nur – Henry Moore?
Im Regen
Der Wegmacher
Die Morgenfrau
Labyrinth
Da und dort
Gesiebte Zeit
Zwischen den Winden
Los
M.
Er
Der Topf
Visite am Abend
Schwarz
Warten
Weisungen
Geschichten zur Nacht
Scherben
Falten
Der Strumpf
Bilder träumen
Tanz des Lebens
Das Haus der Dunkelheit
Wörterrauschen
Kinderland
Hungerleben
Im Turm
Zwischen ihm und ihr
Ein Traum
Zeno (Figaro)
Lichtjahre
Ihr Land
Rocco
Anders
Das Ritual
Im Nirgendwo
Er hinterliess ausser Aufzeichnungen über Vorträge zu Fernando Pessoas Werk einen Schrank voller Briefe; lose die einen, gebündelt und verschnürt die anderen.
Seine Frau las alles durch, blieb aber ratlos mit den eng beschriebenen Blättern vor sich.
Die Couverts hatten weder Adresse noch Frankatur; auch die Anrede – Liebste – liess keine Schlüsse zu.
Ratlos begann die Frau in der Agenda des Mannes nachzusehen, fand jedoch keine Natel-Nummer. Auch sonstige Hinweise auf eine Frau fehlten.
So versorgte die Witwe die Briefe und begann über den Schreiber der Briefe nachzudenken, erfand ihm eine Geliebte, einen Namen und einen Ort.
Mit seinem Zeigefinger erkundet er auf der Weltkarte einen der vielen Meerbusen des Nordens. Während er den Rundungen nachfährt, verspürt er Durst. Entwöhnt wurde er nie.
Gut so, denn sein Finger kennt die blauen Tränken, die Form des U, des Ur.
Seine Suchbewegungen folgen den Küsten, um dort zu verweilen, den Wellen und dem Wind zu lauschen und traumtrunken zu erwachen mit lauter neuen Namen.
Seit zwei Monaten war sie weg, hatte ein Stipendium erhalten. Aldo schrieb ihr lange Briefe. Sie fasste sich kurz und antwortete immer seltener.
Er las ihre Briefe mehrere Male, trug sie mit sich. Bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, zog er die Blätter hervor und las den Text halblaut vor sich hin. So lange tat er das, bis er alles auswendig hersagen konnte.
Während er ihr zurückschrieb, hatte er ihre Briefe vor sich, diese Zeilen in weitgeschwungener Schrift.
Sein Schriftbild verriet den Schullehrer, ebenso genau wie langweilig, keine Charakterschrift.
Während der Zeit, in der Aldo mit seiner Geliebten Briefe austauschte, veränderte sich seine Schrift, die mehr und mehr die Züge der ihren annahm.
So sehr ähnelten sie sich, dass sie kaum noch voneinander zu unterscheiden waren.
Er ging zum Tresen, bestellte noch einen Drink und fragte Liz an der Bar, wann sie fertig sei.
Sie tat erstaunt, zuckte mit den Achseln und liess ihn stehen.
Ihre Aufmerksamkeit galt den Anderen.
Er hörte ihr Lachen, hörte es noch, als er draussen an der Mauer lehnte – und auch, als er unten am Fluss war, hörte er es.
Er fühlte sich matt, und ihm war kalt.
Er begann zu laufen, dem Uferweg entlang bis zum Wehr. Dort machte er kehrt und fand sich wieder vor der Bar. Die Tür war geschlossen und die Räume ohne Licht.
Im Hinterhof fand Nik hinter den Containern eine Bleibe für den Rest der Nacht.
Er wünschte sich anderntags, in der Bar der einzige Gast zu sein
Alle seine Bücher sind, seit der Verlag aufgegeben worden ist, im Haus am Fluss.
Jeden Tag geht der Verleger dorthin und wandert zwischen den Stapeln auf und ab. Er kennt sie alle, die Bände, kennt sie par coeur. Er hat ihre Anfänge, ihr Werden erlebt.
Bisweilen steht er still, sieht die Autoren vor sich, hört ihnen zu. Er ist ihnen so nahe, wie man nur sein kann.
Ihre Texte hat er sich zu eigen gemacht, die Themen aus den Tiefen geholt. Die Bücher waren seine Freunde. Ihre Geschichten leben in ihm weiter.
Als er im Sinnen verweilt, ist da ein grosser Chor, sein Atem, sein Puls.
Jeden Tag zur gleichen Zeit holte er sich die Zeitung vom Kiosk. Er las weder Schlagzeilen noch Berichte. Er sah sich die Bilder an, nahm die Schere und schnitt sich einige aus.
Die Fotos legte er auf dem Fussboden aus, um sie sich, nach Motiven sortiert, anzuschauen.
Nicht lange, und er versuchte andere Anordnungen, neue Kombinationen. Ein Spiel.
Hatte er sich nach einigem Hin und Her für eine Version entschieden, klebte er die Teile auf ein Papier.
Anderntags würde sich alles wiederholen.
Er galt als Maler des Sees. Ein Motiv, dem er in den verschiedensten Techniken Ausdruck verlieh.
So waren im Verlauf seines Lebens Aquarelle, Radierungen, Holzschnitte, Werke in Öl und Pastell entstanden.
Eine Besonderheit fiel allen, die das Atelier besuchten, auf – und nicht wenige waren irritiert.
Auf jedem Bild gab es dunkle Striche mit dünnem Pinsel gemalt. Linie an Linie, schwungvoll gesetzt.
Man rätselte über die Bedeutung der Zeichen.
Eine Masche, meinten die einen, ein Stilelement die anderen. Bis ein Dichter und Freund des Malers auf Schlaufen, Schnörkel, Girlanden verwies, die auf dem Wasser mal da, mal dort zu sichten waren. Schriftzeichen – Kalligraphie des Sees.
Vater starb am letzten Tag des Jahres.
Anerkennend erwähnte dies die Mutter bei jeder Gelegenheit; auch dass er alles geordnet hinterlassen habe.
Beim Verstorbenen fanden sich ein Bild, die Haarlocke seiner jüngsten Tochter, fünf Massanzüge, italienische Schuhe, eine vergoldete Uhr, ein Vierfarbenstift und ein ledergebundenes Notizbuch. Darin vermerkte der Vater: Geschäftsgang, Konzertbesuche, Theater, Äusserungen zu Kindern und Frau. Notizen geschrieben in Morsezeichen. Für uns eine Geheimschrift. Für den Vater als Soldat der Übermittlungstruppe im Zweiten Weltkrieg ein Mittel der schnellen Kommunikation.
Eine Schrift, die für uns ein mühsames Entziffern war, was die Nöte des Vaters erst jetzt erfahrbar machte.
Wo immer er hinging, hatte er sein iPhone bei sich. Er fotografierte Hände. Hände von Menschen im Wartesaal, am Tresen. Hände auf dem Schoss, an Haltegriffen, an Geräten. Die ineinandergeflochtenen Finger von Liebenden, die Händchen spielender Kinder. Eine ganze Serie von Händen alter Menschen mit verknoteten Gelenken voller Falten, an Wurzeln erinnernd. Einen weiteren Zyklus benannte er: Hände wie Gesichter. Abgelichtet hatte er Politiker, Priester, Künstler, Musiker, Schauspieler, Tänzer.
Besonders hatten ihn schon immer die Bildhauer fasziniert, wenn sie zu Beginn einer Studie mit Lehm einer Figur Gestalt zu geben versuchten und immer mehr dem Material zu gleichen begannen, das langsam Form annahm.
Nicht zu vergessen jene Hände, die überall und jederzeit über Displays wischten und Bilder wegschoben. Die Beschäftigung mit diesem Thema lag auf der Hand.
Sie sass vor einem Aprilhimmel, einem See mit Hügeln dahinter. Noch weiter am Horizont ein Zackenrand von Wald vor hellem Gewölk.
Einmal mehr sah sie sich am Anfang einer Arbeit ohne festgelegtes Ziel. Sie hatte ein beschriebenes Papier auf dem Tisch. Der Text war voller angekreuzter Stellen, Durchgestrichenem, Berichtigungen, Vorschlägen für Kürzungen, Wellenlinien, Klammern.
Eine chaotische Angelegenheit.
Gut, dass sie ihr Laptop bei sich hatte. Die Notwendigkeit, den Text zu korrigieren und umzuschreiben, drängte sich geradezu auf.
Es galt, das Innere der Geschichte freizulegen, ihr Kontur zu geben, aber trotzdem Leerstellen zu belassen.
An jenem Abend hatte die Frau Fotos ausgelegt, den ganzen Tisch voller Szenen einer Kindheit in Schwarz-Weiss.