Angespannt vapen - Anton Artibilov - E-Book

Angespannt vapen E-Book

Anton Artibilov

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Beschreibung

Woher wissen wir, dass etwas wirklich ist? Oder kreuzen Gedanken wie Wolken unser Gehirn? Der Ich-Erzähler in Anton Artibilovs Debütroman Angespannt vapen erlebt eine zufällige (?) Vision im Wald und begibt sich danach auf die Suche nach einer Vape, die aus seinem halben (manchmal auch viertel) Leben ein ganzes machen wird. Während er Tag für Tag Spikeball spielt, arbeiten geht, seine Verwandten verliert, sich an Sex erinnert und seinen guten Freund auf dem Bio-Bauernhof besucht, gerät er tiefer und tiefer in einen Strudel aus Ereignissen, die verdächtig miteinander zusammenhängen. Wobei, hängen sie wirklich miteinander zusammen? Manchmal kommt es einem nur so vor, besonders wenn man Yak geraucht hat.
Ein Drogen-Roman also – oder doch ein Verschwörungsroman? Noch eher ein Roman über Wahrnehmung, über das ständige Diskutieren mit sich selbst und anderen und dem normalen, menschlichen Alltag, der immer wieder begleitet wird von der Frage: „Liegt es an mir oder passiert hier wirklich etwas Seltsames?“
Leichtfüßig, unterhaltsam und ungeheuer lässig die inneren und äußeren Grenzen des Bewusstseins durchstreifend.
„Na gut, ehrlich gesagt spielt er nur ganz am Anfang Spikeball und dann nie wieder.“ Anton Artibilov
„Der Autor und Dramatiker Anton Artibilov feiert das Unnormale im Sehen, Fühlen und Schreiben. Denn es ist der einzig adäquate Zustand, um dem Irrwitz der Welt standzuhalten.“ Samuel Hamen, Deutschlandfunk Kultur
Bei mikrotext ebenfalls im Programm: Anton Artibilov Der Niedergang des mikrotext Verlags.
Anton Artibilov wurde 1996 in Charkiw geboren und zog mit seinen Eltern 1999 nach Leipzig. Er studierte Philosophie, Anglistik/Amerikanistik, Szenisches und Literarisches Schreiben in Dresden, Berlin und Leipzig. 2022 erschien seine Erzählung Mausoleum Mann im Sukultur Verlag, 2023 Schöne Geister bei Matthes & Seitz und Der Niedergang des mikrotext Verlags bei mikrotext. Seine Theaterstücke wurden bereits an mehreren Theatern etwa in München und Dresden aufgeführt und der Kurzfilm French Flamingo Fucker, für den er das Drehbuch geschrieben hat, für den Max Ophüls Preis nominiert. Momentan lebt und arbeitet Anton Artibilov bei seinen Freunden oder Verwandten auf dem Sofa.

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Seitenzahl: 285

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ANTON ARTIBILOVANGESPANNT VAPEN

Cover: Inga Israel

Covermotiv: Robert Ziegelmann,

fotografiert von Manuel Pass

Satz: Sarah Käsmayr

Schriften: Gentium Book Plus, AttentionPro

www.mikrotext.de

facebook.com/mikrotext

twitter/mkrtxt

instagram.com/mikrotext

ISBN 978-3-948631-49-9

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2024

Inhalt

Das Buch

Der Autor

Angespannt vapen

Lesetipp: Der Niedergang des mikrotext Verlags

Über den Verlag

Das Buch

Woher wissen wir, dass etwas wirklich ist? Oder kreuzen Gedanken wie Wolken unser Gehirn? Der Ich-Erzähler in Anton Artibilovs Debütroman Angespannt vapen erlebt eine zufällige (?) Vision im Wald und begibt sich danach auf die Suche nach einer Vape, die aus seinem halben (manchmal auch viertel) Leben ein ganzes machen wird.

Der Autor

Anton Artibilov wurde 1996 in Charkiw geboren und zog mit seinen Eltern 1999 nach Leipzig. Er studierte Philosophie, Anglistik /Amerikanistik, Szenisches und Literarisches Schreiben in Dresden, Berlin und Leipzig. 2022 erschien seine Erzählung Mausoleum Mann im Sukultur Verlag, 2023 Schöne Geister bei Matthes & Seitz und Der Niedergang des mikrotext Verlags bei mikrotext. Seine Theaterstücke wurden etwa in München und Dresden aufgeführt und der Kurzfilm French Flamingo Fucker, für den er das Drehbuch geschrieben hat, für den Max Ophüls Preis nominiert. Momentan lebt und arbeitet Anton Artibilov bei seinen Freunden oder Verwandten auf dem Sofa. Angespannt vapen ist sein erster Roman.

Anton Artibilov

Angespannt vapen

Roman

KAPITEL 1

Es muss ein Fahrrad-Sekundenschlaf sein. Während meine Hände steif den Lenker zusammenpressen und meine Beine sich mechanisch immer weiter drehen, rechts die Sonne durch den dünnen Wald scheint und links einige Enten wortlos ihre Runden ziehen (man traut der Ruhe eigentlich nicht), schließen sich meine Augen für einen Moment und ich sehe etwas vor mir. Das, was ich sehe, werde ich mir noch oft vergegenwärtigen, aber mit der Zeit wird es zu einer Erinnerung an eine Erinnerung an eine Erinnerung, und es wird unmöglich sein zu sagen, was ich wirklich sah und was ich dazu erfunden habe.

Aber in dem Moment sehe ich sie. Es ist eine silberne, matte und extrem fein gearbeitete Vape. In dem Moment weiß ich, wenn ich an dieser Vape ziehe, dann passiert etwas ganz Bestimmtes. Es ist schwer zu beschreiben und klingt seltsam, wenn man es doch tut.

Wenn ich an dieser Vape ziehe, wird der Abstand zwischen den Dingen verschwinden. In dem Moment spüre ich, dass es eine Distanz gibt zwischen dem Wort, der Vorstellung und der Sache selbst, sowas in der Art. Wenn ich aber an dieser Vape ziehe, werden sie miteinander verschmelzen. Die Distanz zwischen mir und einem anderen Menschen wird verschwinden, der Abstand zwischen zwei Gedanken wird verschwinden. All diese Distanzen werden verschwinden. Was nicht heißt, dass überhaupt alles zu einem wird. Es ist schwer zu beschreiben, aber das wird passieren, wenn ich an der Vape ziehe. Als Gedanke macht das nicht so viel Sinn, aber als Gefühl verstehe ich es in diesem Moment völlig. Nach dem Sturz versuche ich, noch bevor ich meinen Kiefer, mein Knie und meine Handflächen untersuche, das Gefühl, das ich gerade empfunden habe, wiederzufinden. Es gelingt mir nicht mehr richtig. Ich kann es nicht erklären, nur versuchen, mich reinzufühlen in diese „Distanzen“ oder was das ist und mir vorzustellen, wie es wäre, wenn sie nicht da wären. Es funktioniert nicht richtig. Ich weiß nicht, ob es jemand nachvollziehen könnte. Aber jeder kann es verstehen, wenn ich sage, ich will an dieser Vape ziehen und dadurch einen Zustand erreichen, der aus meinem, wie ich in diesem Moment befürchte, halben Leben (manchmal auch Viertel) ein ganzes Leben macht.

Nachdem ich meine Gedanken so eingeordnet und meine Verletzungen an Stirn, Hand, Ellenbogen und Knie untersucht habe, denke ich nochmal sehr intensiv an das Aussehen der Vape, des Vaporizers, den ich gerade gesehen habe. Sie ist grau, länglich, matt, das Mundstück ist schwarz, über dem Knopf leuchtet ein grünes Lämpchen. Und da ist das kleine schwarze Firmenlogo. Eine Mischung aus Yin und Yang und etwas, was aussieht wie eine Flamme. Ein bisschen wie das Mortal Kombat Logo. In Gedanken vertieft fahre ich zurück in meine Wohnung. Meine Mitbewohner sind nicht da, ich desinfiziere meine Wunden und setze mich auf den Balkon. Ab jetzt beginnen Erinnerungen an Erinnerungen an Erinnerungen und unmerklich verschwimmt es immer mehr. Die Vape, das Zeichen, der Zustand.

KAPITEL 2

Einige Wochen später:

Die Beisetzung der Urne ist ziemlich awkward. Man weiß nicht, wann es anfängt, wann es aufhört, es ist nur die engste Familie da. Es wird von einigen Verwandten etwas aufgefangen. Die Asche meines Großvaters wird auf einem schönen Friedhof beigesetzt, auf dem ich schon viele Memento Mori-, Vanitas- und Carpe-Diem-Momente hatte. Ähnlich wie auf dem Friedhof in Weimar, eine Stadt, die, wie ich schon woanders vermerkt habe, sich anfühlt wie der ewige Fiebertraum von Goethe. Jeder zweite Grabstein hat irgendwas mit Goethe zu tun, ob es die Schwester von Goethes zweiter Putzfrau ist oder der Enkel von Goethes Cousin oder ein nichtsahnender alter Mann, der Goethe mal nackt durchs Fenster gesehen und nicht übel gestaunt hat, alles ist Goethe. Goetheplatz, Goethestatue, Goethekaufhaus. Es kommt auch Schiller vor, aber man kann sich vorstellen, er kommt so häufig und so geartet vor, wie er in Goethes Vorstellung anzutreffen wäre. Auf den Friedhöfen sehe ich alte Leute, Frauen mit Berufsbezeichnung und ohne, Männer, die 13 Jahre vor ihren Ehefrauen starben, Mausoleen und Sakristeien, Familiengrabstätten, Eichhörnchen und Schlingpflanzen, weise Ausdrücke zum Leben, Portraits auf den glattpolierten Grabsteinen, Blumen und lesende Rentner und Friedhofsgärtner, die unsichtbaren Leichen, schattige Platanen und steinerne Mauern, Kreuze oder auf manchen Friedhöfen Sterne, Steine und Steine, Wege und Weglein, Büsche, ich stelle mir vor, irgendwo ein benutztes Kondom zu finden, ich sehe spazierende Paare und Vögel, die sich mal ausruhen, und Mülleimer und Bänke, die grün sind oder braun, und Häuschen oder ganze Häuser und alles andere. Ich weiß nicht, wie ich meine Trauer angemessen ausdrücken soll, aber ich bin traurig.

KAPITEL 3

Einige Wochen später:

Ich entdecke Spikeball für mich. Ich dachte, es wäre ein blöder Trendsport wie Slackline oder so, aber es stellt sich heraus, dass ich Spikeball liebe. Ich spiele es den ganzen Tag und habe eine sehr steile Lernkurve. Mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern und Arbeitern im sozialen Bereich haben wir viel Spaß und trinken Radler. Auf der riesigen Wiese, die nach oben hin ein paar Ruinen hat und nach unten in eine Straße mit Straßenbahnen mündet. Später sitzen wir beim Inder und einer alten Frau wird kein Wein verkauft, weil man ihn nur in ganzen Flaschen und nicht in einzelnen Gläsern kaufen kann. Mein älterer Kumpel kauft in einer Tour de Force der seltsamen Halbfragen eine ganze Flasche Weißwein und wir trinken ihn zusammen mit der Frau. Er erzählt mir, warum eine gewisse Brücke nicht gebaut wird, von dem Armenviertel ins Reichenviertel, damit die Armen nicht mit der Straßenbahn direkt rüberfahren können. Auch die alte Frau ist interessiert. Wir essen zu Ende und gehen, den ganzen Tag erinnert sich der ältere Freund daran. Warum nicht? Warum nicht mal was Gutes tun?

Ein anderes Mal spiele ich Spikeball mit Mitarbeitern eines Uni-Radios. Sie haben immer einen lustigen Spruch auf Lager und blasse, behaarte Waden. Die Frauen sind in einer Beziehung seit zwölf Jahren, die Männer lesen Fantasy, Historisches, aber auch Belletristik. Die Hälfte trinkt keinen Alkohol, was nicht schlimm ist. Auch da macht es mir sehr viel Spaß. Langsam denke ich, es könnte der Spikeball-Frühling werden, in dem alles funktionieren wird, solange ich den Ball aufs gut gespannte Netz kriege. Dann spiele ich mit ein paar Sportstudenten oder Menschen, die ich als Sportstudenten verstehe, und mir werden sehr schnell meine Grenzen aufgezeigt. Ich kriege so gut wie keinen Ball und meine Witze kommen nicht an. Ich stelle mir vor, wie zwei der drei muskulösen Männer mich mit ihren dicken Penissen verkloppen. Ich weiß auch nicht, warum ich gerade daran denken muss. Sie schlagen entweder sehr stark drauf, sodass der Ball weit, weit weg fliegt, oder so sacht, dass er an der Seite des Netzes runtertropft. So sind sie wohl auch im Bett. Ficken hart, haben vor nichts Angst, embracen groß und stark und männlich. Legen sich einfach auf jemanden drauf und man fühlt sich von einer 85 Kilogramm bestandenen Prüfung bedeckt. Wenn ich je mit einem Mann schlafe, dann mit so einem?

KAPITEL 4.5

Ich möchte oder kann das Gefühl, aus dem mich das Ziehen an der Vape befreien soll, gar nicht weiter erläutern. Manche würden psychologisieren und sagen: Das ist die Krankheit XY. Manche würden philosophieren und sagen, das ist die Conditio humana XY. Manche würden neurologisieren und sagen, deinem Gehirn fehlt dies, und manche würden behavioristisch sagen, mach mal das, und manche würden esoterisieren und meiner Aura eine Diagnose stellen. Aber ich möchte darüber nicht reden, weil ich nicht vermitteln könnte, wie es mir geht und was ich will, sondern durch die Beschreibung nur an die Erfahrungen des jeweiligen Menschen, der es hört, appellieren würde. So ging es mir auch schonmal, so ging es mir noch nie, so stelle ich es mir vor, dass es einem geht, wenn man ...

KAPITEL 5

Die Versuche, mich der Vape über „Rituale und Okkultismus“ zu nähern, schlagen fehl. Es ist unmöglich, sich selbst ernst zu nehmen beim Kaufen dieser Karten und Holzplatten oder Anhören der Menschen, die sich scheinbar mit solchen Themen beschäftigen. Entweder es sind übermäßig moderne, glatte und vermarktbare Methoden („Karten-Set“), die ich nicht ernst nehmen kann, oder es sind übermäßig alte und düster anmutende Methoden (Beschwörungen), die ich nicht ernst nehmen kann. Ich muss also meine eigene Praxis entwickeln, die mich zum Objekt meiner Vision führt. Natürlich würde ich gern etwas Produktiveres oder zumindest Pragmatisches in diese Richtung unternehmen, leider fällt mir nichts dergleichen ein. Ich habe E-Zigaretten und sowas gegoogelt und habe das gesehen, was jeder andere auch sehen würde. Auf der einen Seite, wenn es einfach nur ein Tagtraum war und alles nur in meinem Kopf ist, dann verschwende ich meine Zeit. Gut, dann verschwende ich eben einen kleinen Teil meiner Zeit. Andererseits, es hatten doch schon viele Menschen eine Vision, oder nicht? Und Leute, die sagen, dass es so etwas nicht gibt – vielleicht hatten sie einfach selbst noch keine? Kann eine Ausrede sein, kann aber auch stimmen, oder? Gibt es nicht auch in unserer materiellen Welt Platz für Dinge, die wir noch nicht verstehen? Es fühlte sich definitiv nicht an wie eine Vorstellung oder ein Traum, es war ganz eindeutig, extrem eindeutig eine Vision. Und wie ich mich gefühlt habe? Ich kann das Gefühl leider nicht so gut beschreiben.

KAPITEL 5.5

Sobald Rituale entstehen, haben sie die stärkste Kraft und sie nutzen sich ab, wenn man sie zu oft anwendet, das ist meine Einstellung. Ich versuche, meinen Alltag zu spontanisieren. Handlungen, die ich durchführe, sollen chaotischer und unvorhersehbarer werden, ich orientiere mich an inneren Zusammenhängen, die nur mir klar sind und die ich sofort wieder vergesse. Am Himmel sehe ich Sterne in Form eines Krakens, deswegen krakel ich mit einem Edding meinen Namen an eine Bank und male ihm viele Beinchen in alle Richtungen, damit er sternförmig ist. In einem Gespräch zähle ich leise für mich die Zähne meines Gesprächspartners und sage so oft „Ja“ hintereinander wie die Zahl, die rauskommt.

Morgens laufe ich, wie jede Woche einmal, zum überteuerten Bäcker mit den sehr leckeren Broten. Auf dem Weg sehe ich eine tote Taube (wie immer stelle ich mir für einen Moment vor, sie zu essen). Und dann spüre ich eine Million Nadelstiche in meinen Händen. Ich gucke sie an, aber sie sehen ganz normal aus. Es fühlt sich an, als ob Strom da durchläuft, obwohl Strom sich natürlich anders anfühlt. Und als ich beim Bäcker bin und die Backwarenverkäuferin mir meine Roggenkruste reicht, da merke ich, ich kann das Kribbeln in meinen Händen auf ihre Hände übertragen, wenn ich die Roggenkruste anfasse. Und ich tue es und sehe, wie sie mit den Brauen zuckt, sobald meine Hände das verpackte Brot berühren. Ich kriege einen starken Adrenalinkick, bezahle, gehe raus und gehe wieder zur Taube. Meine Hände kribbeln stärker, als ich in ihrer Nähe bin. Ich gehe schnell nach Hause mit dem Brot in der Hand und das Kribbeln lässt langsam nach.

KAPITEL 6

Wir sitzen auf einer Mauer, auf der ich schon einmal nackt saß, und meine gute Freundin Peggy sagt zu mir, dass sie darüber nachdenkt, ihren Etsy Shop zu reaktivieren. Ich sage, mach doch, wenn du möchtest (die Wahrheit). Dann erzählt sie, dass sie in einem neuen Büro arbeitet (als Inneneinrichterin) und dass sie jemanden suchen, der den Front Desk machen kann für 20 Stunden die Woche. Im Prinzip braucht sie da einen von ihren Leuten, sagt sie. Ich frage, ob sie mich meint, und sie sagt ja. Und ich frage, was heißt denn, aus deinem Team, muss ich dann irgendwas machen? Und sie sagt, nein, es reicht, wenn du einfach ganz normal arbeitest. Es gibt gewisse Dynamiken bei uns, sagt sie, du wirst es selbst sehen, wenn du da bist. Aber es hat nichts mit dir zu tun, du musst einfach da sein und arbeiten. Und dich ordentlich anziehen. Na gut, ich brauche definitiv einen Job und Front Desk klingt auch super. Okay, ich bin dabei. Alles klar. Wir holen uns noch veganes Eis, nicht weil wir vegan sind, sondern weil es nur veganes Eis in der Nähe gibt, und laufen über den mit Stöcken bedeckten Boden. Wenn ich nur einen Stock anders lege, habe ich als Kind gedacht, kommen nachts die Parkelfen und rücken ihn wieder zurück. Das vegane Eis schmeckt gut, ich habe Waldbeere. Sie hat Zitrone und auch Waldbeere. Wir reden über einen Mann, den sie kennengelernt hat, der in einem Uhrengeschäft arbeitet. Stimmt, sage ich, die alten Uhrmacher stelle ich mir vor wie Dr. Robotnik, klein, gebückt, präzise, aber die heutigen Uhrmacher sind wahrscheinlich groß mit gepflegtem Bart und schönem Hemd und gute Verkäufer. Sie sind nicht mehr so präzise wie früher! Das sage ich zu ihr. Und sie sagt, er ist einfach nur ein Verkäufer, er ist nicht der Uhr-Bauer. Die Uhren werden sowieso von Maschinen hergestellt, das sind nicht die vorindustriellen Uhren, das sind neue super präzise Quantenuhren, die Uhrmacher sind unpräziser, dafür sind die Uhren präziser geworden! An einem Punkt der Uhrendiskussion rauchen wir einen CBD-Joint mit dem, was sie mit hat. Der Mann, den sie datet, arbeitet auch Teilzeit in einem Headshop, also einem Weedshop. Er riecht nach Weed, wenn er die Uhren verkauft? Wie kann das sein? Das kann nicht sein. Nein, es riecht nicht nach Weed in dem Headshop. Es riecht nach Kerzen, nach Wachs und nach Leder. Was hat denn Leder im Weedshop zu suchen? Aus Leder sind die Couches. Es ist kein billiger Weedshop mit Bongs und Weedsocken und Skateboards, es ist etwas high class, kurz vor einer Lounge. Da macht es auch mehr Sinn mit den Uhren. Der Mann, der zur Hälfte im Weedshop arbeitet und zur anderen Hälfte im Uhrenshop. Wie spät ist es, sage ich, als sie schon geht und ich ihr hinterherschreien muss, Zeit für Weed! Ich laufe noch etwas durch den Park und dann schickt sie mir ein Foto von dem Typen. Er hat einfach rote Haare. Das ist das letzte, womit ich gerechnet hätte.

KAPITEL 6.5

Auf der Suche nach Bruchstücken der Vape in meinen Erinnerungen: dunkle fette Wolken, leichter Regen, fremde Erinnerung, wie jemand als Kind im Graben liegt und von anderen Kindern angepisst wird, nach nichts schmeckende Brotrinden und juckende Arschbacken im Bus auf einer Exkursion ins Planetarium, ich kann mich erinnern an die erste Currywurst, die ich gegessen hab, und auch an den ersten Döner, ich kann mich erinnern, wie ich süßen Tee getrunken habe und wie ich das Buch über einen Amoklauf (Columbine) gelesen habe, ich kann mich erinnern, wie ich mir meinen Kopf an der Toilette gehauen habe und in die Notaufnahme musste, ich kann mich erinnern, die Eltern meines Kumpels beim Sex gehört zu haben, und ich kann mich an mein erstes Mal erinnern, wie ich und sie auch Stacheln im Arsch hatten und sie geblutet haben, ich kann mich erinnern, als mein Zahnfleisch geblutet hat, als ich Zahnseide benutzt hab, und ich kann mich erinnern, wie das Deo roch, dass ich benutzt hab, als ich zum ersten Mal in den Club gegangen bin, ich kann mich erinnern, welche von meinen Kommilitoninnen im ersten Semester welche Körbchengröße hatten, ich kann mich an meine Bettwäsche im Wohnheim erinnern und ich kann mich an das verlassene Gefängnis erinnern, in dem ich zum ersten und letzten Mal Soft Air gespielt habe und so weiter. Die Vape ist nirgends zu finden.

KAPITEL 7

Beim Vorstellungsgespräch, was ein abgekartetes Spiel ist, bin ich entspannt und kaue sogar fast einen Kaugummi. Aber dann doch nicht. Die Frau, die das Gespräch führt, wahrscheinlich aus unserem Team, stellt halbherzige Fragen und ich gebe halbherzige Antworten. Nach 20 Minuten bin ich raus und am Abend kriege ich eine E-Mail, dass ich den Job habe. Am Dienstag sitze ich hinter dem Empfangstisch und schaue mir den Kalender an und die Aufträge. Einer ist für die Einrichtung eines Barbershops. Ob der Kunde diesen weiß-rot-blau drehenden Zylinder möchte? Ich erlaube mir kein Urteil und klicke weiter. Da ist noch ein Mannschaftsraum im zweiten Stadion der Stadt, da ist ein Konferenzraum, da ist ein Steingarten. An meinem ersten Arbeitstag kommen zwei (!) Personen, beide wissen, was sie machen müssen, da sie nicht zum ersten Mal im Büro sind. Am Abend trinken wir alle zusammen Craft Beer in einer nahegelegenen Bar im Keller. Alle Biere sind in Dosen und jede Dose hat einen Kühlumschlag. Auf den zwei verschiedenen Bildschirmen über der Bar laufen zwei verschiedene Filme. Die Kollegen unterhalten sich über die Kunden und über alles Mögliche.

Ich bin ein bisschen in die Frau verknallt, bei der ich das Vorstellungsgespräch hatte, sie lispelt ein bisschen wie die Schauspielerin aus der Bumble-Werbung. Das ist wohl in der Vorstellung der Werbeleute „süß“. Ich versuche, mit ihr irgendwie ins Gespräch zu kommen, und sage, die Person, die am Abend reinkam, hat ja komplett seltsam geredet. Kurz ist der Tisch still, die Leute grinsen einander an. Man erzählt mir, dass das Sarah ist. Sarah dekoriert ca. einmal im Jahr komplett ihr Schlafzimmer um, um, wie sie selbst sagt, mental fit zu bleiben. Und sie hat Polypen, die immer mal wieder rausoperiert werden, weswegen sie gelegentlich ziemlich nasal spricht. Das kommt mir vor wie ein Witz, aber es ist wahr, sagen die anderen. Oder sie verarschen mich. Die Erzählung von meiner Freundin Peggy deutet darauf hin, dass es zwei Interessengruppen im Büro gibt. Zwei Richtungen, wenn man so will. Was die Fraktionen sind und wer zu welcher gehört, habe ich noch nicht rausgefunden, aber das kalte Bier aus der Dose, die Filme, von denen einer in einem angenehmen (leichten) Grau-Blau gehalten ist, das „süße“ Lispeln von der Interviewerin (Alina) und die generelle Situation, zu einem Büro zu gehören, geben mir ein sehr angenehmes Gefühl (das natürlich sofort endet, als ich es bemerke), und ich entscheide, die Vape nicht frontal anzuvisieren (wenn sie kommt, dann kommt sie, wenn nicht, dann nicht) und auch von den Ritualen und so weiter die Finger zu lassen, also einfach ganz normal mein Leben zu leben. Zu dem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, denke ich mir auf dem Rückweg, dass ich eine Büchse der Pandora geöffnet habe, die sich nicht wieder schließen wird, meine klassische Angewohnheit, denke ich mir, mein eigener Narrator zu sein. Angenehm berauscht von dem Bier wichse ich und gehe ins Bett. Nach einer traumlosen Nacht wache ich gut gelaunt auf und bemerke, dass ich im Schlaf Nasenbluten bekommen habe und das Blut nicht nur auf dem Kissenbezug, sondern auf dem Kissen selbst mehrere rote Flecken hinterlassen hat. Ich werfe es in die Ecke und nehme mein anderes, kleines Kissen. Ist es eigentlich bei allen Menschen so, dass das eine Elternteil sagt, Kopf in den Nacken legen bei Nasenbluten, und das andere, Kopf nach vorne beugen beim Nasenbluten? Ist es bei allen so?

KAPITEL 8

Über den Tag verteilt habe ich noch zweimal Nasenbluten. Einmal lege ich meinen Kopf in den Nacken, einmal neige ich ihn nach vorne. Ich muss nicht arbeiten, deswegen besuche ich meinen Schulfreund Kurt. Seit er verheiratet ist, sehen wir uns nicht mehr so oft, aber wenn wir uns sehen, reden wir intensiv und intim. Er wohnt auf einem Selbstversorgerhof, und während wir uns unterhalten, machen wir immer irgendwelche nützlichen Tätigkeiten. Dieses Mal schauen wir durch zwei riesige Kisten Rüben und sortieren sie. Während wir Rüben sortieren, erzählt mir Kurt von dem Hof und wie es generell läuft. Im Plenum wird seit drei Tagen diskutiert, ob man einen Biodiesel-Generator anschaffen soll oder noch mehr Solarzellen zusätzlich zu denen, die man schon hat, oder beides oder welche anderen Möglichkeiten es überhaupt gibt. Die Rüben sind rau und erdig, so wie es auch sein soll. Dann schaut mich Kurt an, kneift die Augen ganz leicht zusammen und fragt mich, und wie läuft es bei dir eigentlich? Ich erzähle von meinem neuen Job im Inneneinrichtungsbüro, also von meinem ersten Arbeitstag. Plötzlich fragt Kurt, Sarah Wietschke? Ehh ja, keine Ahnung. Doch, doch, das ist Sarah Wietschke, die blonde Haare hat und manchmal nasal redet, so groß ungefähr, das ist die Ex-Frau von Michi. Michi? Das ist der Typ, der unbedingt Biodiesel will. Ach, krass. Der hat uns über sie schon Sachen erzählt, das glaubst du nicht. Was hat er denn erzählt? Sie haben ein Kind zusammen, die ist 16 und geht in die zehnte Klasse. Von 10 bis 14 Jahre hat sie Homeschooling gemacht, statt in die Schule zu gehen. Mit Leuten, die Sarah ausgewählt hatte. Michi hatte darauf keinen Einfluss. Auf jeden Fall, die Lehrer die Sarah ausgewählt hatte, waren die seltsamsten Leute, die es gibt. Einer hatte immer zehn Milliliter Blut an seiner Kette als Anhänger und hatte immer verschiedene Frisuren. Mit dem hatte sie Deutsch. Michi erzählt, einmal kommt er nach Hause, sie sitzen auf dem Sofa und der Typ mit kurzen schwarzen Haaren und einer kleinen, mit Blut gefüllten Phiole um den Hals und sagt: Ein Deichgraf ist der Vorsitzende eines Deichverbandes, oftmals eine Genossenschaft oder zumindest ein eingetragener Verein. Weil sie Schimmelreiter gemacht haben. Aber er war staatlich anerkannter Deutschlehrer, Michi hat sein Zertifikat gesehen. Deswegen konnte er auch nichts dagegen sagen. „Das ist Kunstblut!! Hat Sarah gesagt und dass Michi nicht so ein Spießer sein soll. Mittlerweile ist er eher Öko-Spießer.

Und warum haben sie sich scheiden lassen? Frage ich. Das weiß ich nicht genau, wahrscheinlich gab es viele Gründe. Aber sie teilen sich das Sorgerecht. Die Tochter ist auch manchmal hier. Mirabella heißt sie. Sehr nettes Mädchen, sehr hilfsbereit. Und was ist mit dem dunklen Deichgrafen? (Ich versuche den Spitznamen zu etablieren.) Keine Ahnung, vielleicht ist er in der Nachhilfelehrer-Datenbank oder so. Aber soweit ich weiß, war er ein guter Lehrer, Mirabella hatte zumindest fast immer eine Eins in Deutsch. Ja, manche Kinder sind aber auch einfach nur begabt. Ja, das stimmt. Na gut, auf jeden Fall, wenn du noch mehr Sachen über Sarah rausfindest, hier interessieren sich die Leute sehr dafür. Wenn wir abends hier sitzen am Feuer, unsere Bionade trinken, unsere Rote-Bete-Sandwiches essen (jetzt machte er Spaß) und über Haus und Hof reden, kommt nichts so gut wie eine Story von Michi so wie: Einmal hat Sarah, während wir im Urlaub waren, das Zimmer umbauen lassen. Das neue Design hieß „Cameron Carpet“. Cameron Carpet? Kennst du den Film Vanilla Sky, mit Tom Cruise? Ja, mal gehört. Da sehen die Wohnungen irgendwie besonders aus. Keine Ahnung. Und da spielt Cameron Diaz halt auch mit und so hat sie die Wohnung umdekorieren lassen. Klingt doch nett. Wenn Michi es erzählt, ist es besser. Na gut, bringen wir es rein? Er meinte die Eimer mit den Rüben, die wir sortiert hatten. Auf dem Rückweg denke ich, Kurt wird ein guter Vater sein. Aber das weiß man im Voraus ja nie. Manche Menschen sind so nett und werden so schlechte Eltern und manchmal ist es andersrum. Oder? Eigentlich weiß ich es nicht.

KAPITEL 9

Natürlich finde ich den dunklen Deichgrafen nicht, wie auch? Aber Sarah Wietschke finde ich online. Sie ist Verkäuferin in einem Autohaus von Audi. Einen Moment lang wundere ich mich darüber, dass scheinbar alle im Verkauf arbeiten, aber dann erinnere ich mich, wie wir in der Schule behandelt haben, dass wir uns immer weiter in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft entwickeln, und ich höre auf, mich zu wundern. Aus Interesse, oder besser gesagt, weil die fehlgeschlagene Esoterik in meinem Leben einen Krater hinterlassen hat, den es auszufüllen gilt, entscheide ich mich, etwas Spionage zu betreiben. Jemand anderes könnte es Stalking nennen, aber es geht mir nicht um Stalking und es geht mir nicht um Sarah Wietschke. Vielleicht will ich einfach nur einen Audi kaufen? Ich laufe ganz langsam am Autohaus vorbei, es liegt an einer breiten, von Straßenbahnen befahrenen Straße gegenüber von alten Häusern und schönen, kleinen Bäumen, vor denen unbedingt ein Schildchen stehen muss, wer denn diesen Baum gespendet hat. Aber ich sehe keine blonde Frau, ich laufe nur draußen rum. Dann denke ich mir, was mache ich eigentlich, das ist doch Stalking. Auf dem Weg frage ich mich, ob ich nicht wirklich anfangen soll, für ein Auto zu sparen. Am nächsten Tag auf Arbeit frage ich Peggy, sag mal, was ist denn mit dieser Sarah? Wie meinst du das? Fragt sie. Naja, ist die schon lange Kundin bei uns und was macht sie noch so? Sarah hat früher mit ihrem ersten Ehemann auf einem riesigen Anwesen gelebt. Michi? Nein. Woher weißt du von Michi? Ein Freund von mir ist auf demselben Hof wie er. Ach so. Nein, nicht Michi. So ein anderer, der Wietschke hieß. Ach so, sie hat auch seinen Nachnamen behalten? Ja. Das war so ein Businessman und zusammen haben sie auf einem riesigen Anwesen gelebt, sogar mit Bediensteten. Dann haben sie sich scheiden lassen, weil Sarah ihn betrogen hat und schwanger wurde. Im Ernst? Sie ist schon länger Kundin bei uns, als ich hier bin. Länger, als fast jeder von uns hier arbeitet. Sie kennt die Chefin noch von früher. Kommt sie öfter her? Frage ich unaufdringlich.

Ja, gelegentlich. Warum interessierst du dich für sie? Willst du reich heiraten? So viel Geld hat sie nicht. Nein, keine Ahnung, ich frag einfach nur. Wie läufts mit dem Uhrmacher? Ach, ich weiß auch nicht. Er ist irgendwie total anhänglich. Hier, schau. Sie zeigt mir viele fehlgeschlagene WhatsApp-Anrufe. Ich mag ihn schon, aber das ist mir echt zu viel. Hast du das mal angesprochen? Ja, mehrfach. Aber er sagt, er kann nicht anders, wenn er mit jemandem zusammen ist. Ach, ihr seid schon zusammen? Peggy macht so ein Gesicht und sagt, ja, war mir auch irgendwie neu. Ich glaube, ich muss das beenden. Na, dann viel Spaß. Sage ich und gehe wieder vor zu meinem Tisch. Mental entspannt sich ein beschauliches Netz: Sarah Wietschke arbeitet bei Audi. Sie hat einen reichen Mann, betrügt ihn mit dem zukünftigen Öko-Bauern Michael und sie kriegen ein Kind, Mirabella. Mirabella behandelt den Schimmelreiter bei einem seltsamen Typen, der zertifizierter Deutschlehrer ist. Dann lassen auch sie sich scheiden. So weit, so gut.

KAPITEL 10

Ich wusste nicht, dass man Rote Bete auch grillen kann. Kurt schaut zu Boden, als ich das sage. Die anderen nicken mir freundlich zu. Sie reden den ganzen Abend nur über den Hof. Ausschließlich. Ob sie sich Hühner anschaffen sollen, wie viele Eier die so legen, beziehungsweise welche Hühner wie viele und welche Eier legen, wie sie das Wasserleck am besten reparieren (natürlich gibt es ein Wasserleck), wie sie die Plena organisieren, wie sie das mit den Kindern machen (ein Paar ist schwanger) und so weiter und so fort. Ich muss nur immer wieder daran denken (sage es natürlich nicht), dass in einem riesigen Blockhaus die Umweltbelastung pro Familie viel geringer ist als bei den Familien auf dem Biohof. Stimmt das überhaupt? Selbst wenn es stimmt, das hat ja mit mir nichts zu tun. Vielleicht machen die das auch aus anderen Gründen. Was nützt es, die Umwelt zu retten, wenn man nicht glücklich dabei ist ...

Bei diesen seltsamen Gedanken und gegrillter Roter Bete schiele ich immer wieder auf das Gartentor. Bald soll Michael nach Hause kommen. Wie wird er sein? Typus großer, strammer Naturmann? Typus ökologisch einfühlsamer Neo-Hippie (habe ich das gerade erfunden, Neo-Hippie?), einfacher Mann, dessen Attraktivität nur für wenige ersichtlich ist? Dann verpasse ich ihn doch und plötzlich sitzt er mit am Feuer. Lange Haare zu einem Dutt gebunden, straighte Jeans, netter, leichter Bart und etwas schlaffe Augen, die traurig oder sehr entspannt sein könnten. Er erzählt von seinem Ausflug in die Stadt. Ich höre sehr, sehr genau hin. Wir werden vorgestellt. Er schaut mich kurz an und erzählt dann weiter. Und jetzt? Soll ich ihn fragen, na, wie ist das mit deiner Ex-Frau?

Aber dann kommt das Gespräch auf seine Tochter und ich frage, ach, geht sie in die Schule gerade? Und er guckt mich an und sagt ja. Und ich muss schnell, innerhalb einer Nanosekunde den richtigen Vektor für das Gespräch setzen und sage, mein Cousin ist auch gerade in der Oberstufe und, stellt euch vor, die haben keine Hausaufgaben mehr. Das ist so ein Konzept, dass sie in der Schule ausprobieren. Und die anderen nicken ein bisschen und Michi sagt, nein, Mirabellas Schule gibt noch welche auf und nicht zu knapp. Und da kommt mein zweiter Präzisionstreffer, ich habe mir schonmal gedacht, dafür, dass ich gar nicht so oft mit fremden Menschen rede, habe ich doch manchmal einen siebten Sinn für sowas, ich sage, bei meinem Cousin war es immer einfacher, weil meine Tante selbst Lehrerin ist. Und da sehe ich, oder ich bilde mir ein zu sehen, in den Augen von Michael einen kleinen Ruck. Zack. Da bin ich an etwas drangekommen. Wie gesagt, keine Ahnung, ob ich mir das einbilde. Ich bin generell der Meinung, Mikroausdrücke und sowas sind sehr wichtig, na gut, das ist nicht meine Meinung, jeder weiß das, aber im Sinne von, wir sehen mehr, als wir denken zu sehen, als wir wissen, dass wir sehen, so meine ich das ungefähr. Und da hab ich Michael gekriegt. Da hab ich den alten Michi. Mutter und Lehrer. Mutter und Lehrer. Na komm, du denkst doch sowieso immer dran. Gibs mir Michi. Denkst du, ich will noch weiter über Scheiß-Hühner reden? Komm, gib mir den Saft, Michi. Gib mir den guten interessanten Saft. Deswegen bin ich hier. Und er schaut ganz kurz nach unten und sagt, na gut, das würde Mirabellas Mutter nicht passieren. Und ich: Wieso, arbeitet sie viel? Und er, ja, das auch. Und dann sagt er nichts mehr dazu. Ich hätte sagen sollen, dass wir nicht darüber reden müssen, es ist zu privat. Aber ich sage nichts und das Thema ändert sich von selbst. Na gut. Zumindest so viel. Ich habe Michi gesehen, obwohl ich nichts rausgefunden habe. Eigentlich sollte ich ja was über Sarah rausfinden, um es hier in der Runde zu erzählen, was an sich ja auch ein zweifelhaftes Ziel ist. Aber jetzt will ich irgendwie selber rausfinden, was da los ist, einfach nur für mich. Und irgendwas habe ich rausgefunden, als ich Michi gesehen hab, ich kann nur nicht sagen was. Auf dem Rückweg höre ich einen hohen und lauten Ton im Ohr. Er hört bald wieder auf. Das heißt, ein Härchen im Ohr ist abgestorben. Morgens wache ich mit Kieferschmerzen auf. Sie ziehen sich bis hinter die Ohren. Habe ich etwa Stress?

KAPITEL 11

Ich erinnere mich, wie ich mal was hatte mit Peggy. Es war nur einmal, bei einem Festival. Es war fast wie in einem Humorfilm: Ich torkle zu meinem Zelt zurück, aber habe mich natürlich wie immer komplett verlaufen. Dann fange ich an, über diese Seile zu stolpern, die halbhoch von den Zelten zum Boden gespannt sind, denke mir im selben Moment, wenn hier Seile sind, dann sind hier auch Karabiner, und wenn ich dann also fallen sollte, dann kann ich auf so einen Karabiner mit der Hand fallen. Und dann denke ich mir, es wird sowieso bald hell und im Dunkeln finde ich nichts, also entscheide ich mich einfach dazu, mich auf den Boden zu hocken und zu warten. Ich höre ganz viele Stimmen um mich herum und aus der Ferne die Musik, es ist eigentlich alles ziemlich aufregend und ich sitze so zwischen den Zelten, in denen die Leute teilweise schlafen und warte einfach. Plötzlich höre ich die Stimme von Peggy, die gerade eine Sprachnachricht aufnimmt. Und ich schreie natürlich Peggy, hey, ich bin hier. Und sie kommt zu mir, stolpert halb über alle Seile und setzt sich daneben. Dann reden wir bla bla bla, aber wir sind beide schon ziemlich besoffen, und deswegen lehnen wir irgendwann unsere Köpfe aneinander, dann unsere Wangen, und dann sind wir so Stirn an Stirn und dann küssen wir uns irgendwann, ich glaube, ich sie zuerst. Dann küssen wir uns so und immer mehr und sie macht den Mund erst nicht so richtig auf und dann doch und dann greife ich so zu ihrem Rücken und streichle ihr über den Rücken und wir setzen uns, beziehungsweise sie setzt sich so auf meine ausgestreckten Beine drauf, und ich versuche so, mich zu positionieren, dass sie meine Erektion quasi merkt, und dann lege ich mich ganz vorsichtig hin und schaue dabei nach hinten, und sie legt sich auf mich drauf und wir sagen kein Wort, dabei küssen wir uns nur und atmen uns an die ganze Zeit mit dem alkoholischen Atem und dem ekligen Atem vom nicht-Essen, aber das ist egal, und dann beiße ich irgendwann in ihre Lippe und sie geht mit den Händen so in meine Hose, nimmt meinen Penis in die Hand und bewegt ihre Hand hoch und runter, aber hat die Hand irgendwie so komisch, also nicht, wie ich es machen würde mit Daumen nach oben, sondern anders rum, also Daumen nach unten, und ich gehe dann mit den