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Ein Meisterwerk von Bestseller-Autor James Lee Burke Der Serienmörder Asa Surrette kommt bei einem Gefangenentransport ums Leben. Doch ein paar Monate später hat Alafair Robicheaux, die einige kritische Artikel über ihn veröffentlichte, das Gefühl, sie würde von ihm verfolgt werden. Als kurz darauf die Leiche der Enkelin des milliardenschweren Ölunternehmers Love Younger gefunden und der Polizist Bill Pepper brutal ermordet wird, ist Alafair davon überzeugt, dass Surrette hinter all dem steckt. Gemeinsam mit ihrem Vater Dave Robicheaux, seinem besten Kumpel Clete Purcel und dessen Tochter Gretchen macht sich Alafair auf die Suche nach dem Mörder, wobei schnell klar wird, dass die Younger-Familie längst nicht so unschuldig ist, wie es zunächst den Anschein hatte. »Er hat dem amerikanischen Krimi seine Seele wiedergegeben – James Lee Burke – der Gottvater des amerikanischen Krimis.« Denis Scheck, ARD Druckfrisch
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Einmal mehr für meine Frau Pearlund unsere KinderJames L. Burke III, Andree Burke Walsh,Pamala Burke und Alafair Burke
JAMES LEE BURKE
Ein Dave-Robicheaux-Krimi Band 20
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Epilog
Ich war noch nie gut darin, Geheimnissen auf den Grund zu gehen oder Rätsel zu lösen. Ich meine nicht die Art von Rätsel, die Polizisten lösen, oder solche, die man in Romanen liest oder im Fernsehen oder Kino sieht. Ich spreche auch nicht vom Geheimnis der Schöpfung oder von den unsichtbaren Wesenheiten, die vielleicht direkt außerhalb unserer physischen Welt residieren. Ich spreche vom Bösen, nicht im religiösen Verständnis, sondern als ethisch-moralische Kategorie, deren Ursprünge Soziologen und Psychiater nur schwer erklären können.
Polizisten wahren Geheimnisse, ähnlich Soldaten, die von fernen Schlachtfeldern mit etwas zurückkehren, das Überlebende des Ersten Weltkriegs als Thousand Yard Stare bezeichneten; ein Begriff, der den leeren Gesichtsausdruck und unfokussierten Blick eines völlig erschöpften, traumatisierten Soldaten beschreibt. Ich glaube, dass die Geschichte des Apfels vom Baum der Erkenntnis eine metaphorische Warnung ist, nicht zu tief in das dunkle Potenzial der menschlichen Seele zu blicken. Die Fotos der Insassen von Bergen-Belsen, des Kriegsgefangenenlagers Andersonville Prison oder die Leichen im Graben von My Lai verstören uns in besonderer Weise, weil diese ungeheuerlichen Gräueltaten zum größten Teil von getauften Christen begangen wurden. An irgendeinem Punkt klappen wir das Buch mit solchen Fotos zu, stellen es weg und reden uns ein, dass die Ereignisse ein Ausrutscher waren, die Konsequenz davon, dass Soldaten zu lange auf dem Schlachtfeld waren oder eine Handvoll Misanthropen die Kontrolle über eine Bürokratie übernehmen konnten. Es ist nicht in unserem Interesse, eine größere Bedeutung daraus abzuleiten.
Hitler, Nero, Ted Bundy, die Hexe von Buchenwald? Ihre Taten sind nicht die unseren. Doch wenn diese Individuen nicht so sind wie wir, wenn sie nicht aus demselben Genpool stammen und die gleiche DNA haben, wer waren sie dann und was hat sie zu Monstern gemacht?
Jeder Cop der Mordkommission lebt mit Bildern, die er nicht aus seinen Träumen tilgen kann; jeder Cop, der in Fällen von Kindesmissbrauch ermittelt hat, hat Seiten seiner Mitmenschen gesehen, über die er nie mit jemandem spricht, weder mit seiner Frau noch mit seinen Kollegen, nicht mit seinem Beichtvater oder seinem Barkeeper. Es gibt gewisse Bürden, mit denen man Menschen guten Willens nicht belastet.
Als Kriminalbeamter des New Orleans Police Departments hatte ich in einem Saloon an der Magazine Street, nicht weit vom alten Irish Channel, mit derartigen Problemen zu tun. Mit seiner Messingreling am Tresen, den filzbespannten Kartentischen und den Deckenventilatoren mit Holzflügeln wurde er zu meiner säkularen Kirche, wo das Louisiana meiner Jugend, die grün-goldene, moosige, von Eichen überschattete Welt des Bayou Teche nur einen Drink entfernt war. Ich begann für gewöhnlich mit vier Fingerbreit Jack in einem dickwandigen Glas, die ich mit einem eiskalten Budweiser runterspülte, und um Mitternacht saß ich dann allein an der Bar, betrunken und über mein Glas gebeugt, seelisch und moralisch am Ende.
Ich empfand Abscheu und Ekel vor der Mythologie, die die Zeit, in der ich lebte, charakterisierte. Ich hatte in Südostasien nicht „gedient“, ich hatte „überlebt“ und zugesehen, wie unschuldige Menschen und anständige Männer in großer Zahl starben, während ich aus unerfindlichen Gründen verschont blieb. Als Polizist war ich kein „Freund und Helfer“; ich war Zeuge der nicht funktionierenden Justiz und einer Regierung, die den Konzernen Macht verlieh, während gleichzeitig diejenigen ausgebeutet wurden, die keine politische Stimme hatten. Und während ich über all das grübelte, was in der Welt falsch lief, schürte ich die Glut in mir mit Black Jack, Smirnoff und Fünf-Sterne-Hennessy und schließlich, bei Sonnenaufgang, mit zwei Schuss Scotch in einem Glas Milch, während ich ständig mein Verlangen unterdrückte, meine Feinde mit der .45er-Automatik auszuschalten, die ich im Bordellviertel von Saigon erstanden hatte und mit der ich schlief, als wäre sie eine Frau.
Mein eigentliches Problem war nicht die Militarisierung meines Landes oder eines der vielen, die ich erwähnt habe. Das wahre Problem ging zurück auf ein Rätsel, das mich seit der Zerstörung meines Geburtshauses und meiner Familie plagte. Mein Vater, Big Aldous, befand sich auf dem Bohrturm eines Offshore-Bohrlochs, als der Bohrer auf eine Schicht Ölsand stieß, ein Funken das Bohrloch hochjagte und ein Pilz aus brennendem Öl und Gas aus dem Bohrturm schoss wie ein Inferno, das aus einem Fahrstuhlschacht geblasen wird. Meine Mutter, Alafair Mae Guillory, wurde von einem Spieler und Zuhälter namens Mack verführt und erpresst, den ich mehr hasste als jedes andere menschliche Wesen, das ich kannte; nicht, weil er sie zu einer Barnutte gemacht hatte, sondern wegen der Asiaten, die ich an seiner Stelle getötet hatte.
Wut und Blutrausch und Alkohol-Blackouts wurden zur einzigen Form von Frieden, die ich kannte. Von Saigon zu den Philippinen, von Chinatown in Los Angeles zu den Kneipen von New Orleans verfolgten mich dieselben Fragen und ließen mir keine Ruhe. Entwickelten sich manche Menschen bereits im Mutterleib anders, wurden ohne Gewissen geboren, aber dafür mit der Absicht, alles Gute in der Welt zu zerstören? Oder konnte dunkler Wind die Wetterfahne für jeden von uns in die falsche Richtung blasen und unser Leben umformen und uns zu Menschen machen, die wir selbst nicht wiedererkannten? Ich wusste, dass es irgendwo da draußen eine Antwort gab, wenn ich mich nur in die richtige seelische Verfassung trinken und sie finden könnte.
Über viele Jahre war ich Spiegeltrinker, machte einen Bachelor in Selbstvernichtung und einen Doktor in chemisch induzierten Psychosen. Als ich schließlich abstinent wurde, dachte ich, der Vorhang würde sich heben und ich würde zu guter Letzt die Antworten auf all die großen Rätsel finden, die mich verwirrt hatten.
Doch das war nicht der Fall. Stattdessen trat ein Mann, einer der niederträchtigsten Kreaturen der Erde, in unser Leben. Dies ist eine Geschichte, die ich vielleicht nicht erzählen sollte. Doch zugleich ist es eine, die ich nicht in mich hineinfressen will.
Meine Adoptivtochter, Alafair Robicheaux, joggte einen Forstweg entlang, der durch Gold-Kiefern, Douglasien und Zedern führte, über einen Kamm, von dem aus man über den zweispurigen Highway und den angeschwollenen Bach weit darunter kam. Der Highway war genau auf dem Trail gebaut worden, dem Meriwether Lewis und William Clark im Jahr 1805 über den Lolo Pass ins heutige Idaho und schließlich bis zum Pazifik gefolgt waren. Allein hätten sie dieses Kunststück nicht vollbringen können. Nachdem sie und ihre Männer ihre Mokassins zu Bänden geschnitten hatten in dem Versuch, mit ihren Kanus auf dem Landweg durch mehrere Schluchten an einer Gabelung des Columbia River zu gelangen, zeigte ihnen eine Schoschonen-Frau namens Sacagawea einen Weg, der über einen sanften Abhang am Fuße des Lolo Peak vorbei in das Land der Nez Perce und ihrer Appaloosa genannten getupften Pferde führte.
Als Alafair den unbefestigten Weg entlangjoggte, der von einem Bulldozer durch den Wald planiert worden war, und während der Wind kühl aus den Bäumen wehte und die im Westen stehende Sonne auf dem Neuschnee funkelte, der in der Nacht zuvor auf dem Lolo Peak gefallen war, dachte sie darüber nach, in welchem Umfang eine einzige mutige Frau die Geschichte verändert hatte, denn Sacagawea zeigte der Expedition von Lewis und Clark nicht nur den Weg nach Oregon, sondern bewahrte sie auch davor, zu verhungern und von einer aggressiven Gruppe von Nez Percé abgeschlachtet zu werden.
Alafair hörte gerade ein Lied auf ihrem iPod, als sie an ihrem linken Ohr einen stechenden Schmerz verspürte. Sie spürte auch einen Luftzug an der Wange und Federn, die über ihre Haut streiften. Ohne stehen zu bleiben, strich sie sich durch die Haare, drückte die Hand an ihr Ohr und betrachtete sie dann. Auf ihrer Handfläche befand sich ein heller, verschmierter Blutfleck. Über sich sah sie zwei Kolkraben in die Äste einer Ponderosa-Kiefer gleiten, wo sie anfingen, den Himmel anzukrächzen.
Schwer atmend lief sie weiter den Forstweg hinauf, bis sie auf dem Kamm angekommen war. Dort drehte sie um und begann den Abstieg, wobei ihre Knie auf dem Gefälle knirschten, die Sonne hinter dem Lolo Peak und das reflektierte Licht von der Oberfläche des Baches verschwand. Sie berührte erneut ihr Ohr, aber die Wunde, von der sie glaubte, ein Rabe habe sie ihr zugefügt, hatte aufgehört zu bluten und fühlte sich an, als wäre es kaum mehr als ein Kratzer. In diesem Moment sah sie den Aluminiumschaft eines gefiederten Pfeils, der acht Zentimeter tief in einem Zedernstumpf steckte, der bei einem Feuer verbrannt und gehärtet worden war.
Mit klopfendem Herzen blieb sie stehen und blickte über ihre Schulter. Der Forstweg lag im Schatten und die Bäume links und rechts standen so dicht, dass sie den Wind nicht mehr spüren und die Sonne nicht mehr sehen konnte. Es roch nach Schnee, eher wie Winteranfang als nach Sommer. Sie nahm ihren Ohrhörer heraus und lauschte. Sie hörte das Knacken von Ästen und Steine, die einen Abhang hinunterrutschten. Eine große Maultierhirschkuh, deren graues Winterfell jetzt im Frühling noch unverändert war, sprang keine 20 Meter entfernt über einen Erdhaufen und landete mitten auf dem Weg.
„Ist hier irgendwo ein Jäger mit Pfeil und Bogen?“, rief Alafair.
Es kam keine Antwort.
„In Frühling darf man im Westen von Montana nicht mit Bogen jagen. Zumindest nicht auf Hirsche!“, rief sie laut.
Es gab keine Antwort außer dem Rascheln des Windes in den Bäumen, einem Geräusch wie das Rauschen von Flutwasser in einem trockenen Flussbett. Sie fuhr mit dem Finger an dem Pfeil entlang und berührte die Federn am Ende. Der Aluminiumschaft wies keine Spuren von Schmutz, Vogelkot, nicht einmal Staub auf. Die Federn waren sauber und steif, als sie mit dem Daumenballen über ihre Ränder strich.
„Wenn Sie einen Fehler gemacht haben und es Ihnen leidtut, dann kommen Sie einfach raus und entschuldigen sich!“, rief sie. „Wer hat diesen Pfeil abgeschossen?“
Der Hirsch sprang von ihr weg, fast wie ein Känguru. Zwischen den Bäumen war es so dunkel geworden, dass man den Hirsch abgesehen von dem weißen Fleck unter dem Schwanz, nicht mehr erkennen konnte. Unbewusst zupfte Alafair an ihrem Ohrläppchen und musterte die Bäume und das orangefarbene Glühen im Westen, das den Untergang der Sonne innerhalb der nächsten zehn Minuten ankündigte. Sie legte beide Hände um den Schaft des Pfeiles und riss ihn aus dem Zedernstumpf. Die Pfeilspitze war aus Stahl und glänzte hell und glatt unter einem dünnen Ölfilm. Die Kanten waren leicht gewellt und scharf wie Rasierklingen.
Sie ging den Bergrücken hinab, fast bis ganz unten, und hinaus auf einen v-förmigen Felsvorsprung, der frei von Bäumen und Gebüsch war. Unter sich sah sie einen breitschultrigen Mann mit schmaler Taille, der Jeans und einen weißen Strohhut trug, ein Tuch um den Hals gebunden. Sein marineblaues Hemd war an den Handgelenken zugeknöpft, die Schultern waren mit weißen Sternen bestickt und an den Oberarmen hatte er lila Ärmelhalter, wie sie eine Stripperin als Strumpfbänder um die Oberschenkel tragen könnte. Er verriegelte gerade die Tür des Camper-Aufsatzes auf der Ladefläche seines Pick-ups. „Hey, mein Freund!“, sagte Alafair. „Ich würde mich gern mal mit Ihnen unterhalten.“
Er drehte sich langsam um und hob den Kopf, wobei sich ein einzelner Sonnenstrahl unter seine Hutkrempe verirrte. Obwohl das Licht sehr grell gewesen sein musste, blinzelte er nicht. Er war ein Weißer mit dem Profil eines Indianers und Augen, die aus Glas zu sein schienen, farblos, abgesehen von der reflektierten Sonne. Sein Teint erinnerte sie an die Schwarte eines gepökelten Schinkens. „Halli-hallöchen“, sagte er mit einem dämlichen Grinsen auf dem Gesicht. „Wo kommt denn so eine süße, kleine Färse wie du her?“
„Ist das Ihr Pfeil?“, fragte sie.
„Ich nehm ihn, wenn du ihn nicht willst.“
„Haben Sie mit diesem Scheißpfeil auf mich geschossen oder nicht?“
„Bei dem Wind hör ich nicht so gut. Was für ein Wort hast du da gerade benutzt?“ Er legte eine Hand ans Ohr. „Willst du nicht runterkommen und reden?“
„Jemand hat mich mit diesem Pfeil beinahe umgebracht.“
Er zog einen dünnen Zigarrenstummel aus der Hemdtasche und zündete ihn mit einem Streichholz aus einem Heftchen an, legte dabei die Hand um die Flamme und schüttelte das Streichholz mit großer Geste aus. „In der Nähe des Casinos gibt es einen Autohof. Ich lad dich auf eine Coca-Cola ein. Sie haben dort auch Duschen, falls du eine brauchst.“
„War das ein Bogen, den Sie da gerade in Ihrem Camper verstaut haben? Sie schulden mir noch eine Antwort.“
„Mein Name ist Mr. Wyatt Dixon aus Fort Davis, Texas. Ich bin Stierkämpfer, kümmere mich um wildes Vieh und bin ein wiedergeborener Christ. Komm runter, Mädel. Ich beiße nicht.“
„Ich denke, Sie sollten hier verschwinden.“
„Das ist das Land der Tapferen und Freien, und Gott segne dich für deine Ausübung des Rechtes auf Meinungsfreiheit. Aber ich habe nur so getan, als hätte ich nicht gehört, was du gesagt hast. Profanität schickt sich nicht für dein Geschlecht. Weißt du, wer das gesagt hat? Das war Thomas Jefferson, bei Gott, so isses.“
Seine Zähne sahen aus, als wären sie aus Walknochen geschnitzt worden. Sein ganzer Körper schien dank reichlich Testosteron vor Energie zu strotzen, die er kaum bändigen konnte. Obwohl seine Haltung entspannt war, wirkten seine Fingerknöchel so hart wie Kugellager. „Denkst du noch über mein Angebot nach, oder hast du deine Zunge verschluckt?“, fragte er.
Sie wollte ihm antworten, brachte jedoch kein Wort heraus. Er nahm seinen Hut ab, zog einen Taschenkamm durch sein seidenes, rötliches Haar und hob das Kinn. „Ich kenne mich mit Akzenten aus. Du bist von irgendwo aus dem Süden. Wir sehen uns bestimmt wieder, Süße. Wenn ich du wäre, würde ich mich vom Wald fernhalten. Man weiß nie, wer sich dort rumtreibt.“
Er ließ einen Sattelschlepper vorbei, der ein großes Maschinenteil zur Ölförderung transportierte, stieg dann in seinen Pick-up und fuhr weg. Sie spürte, wie sich ein feuchtes Rinnsal vom Schweißband über ihre Wange zog. Von ihren Achseln stieg ein säuerlicher Geruch auf.
Zu Beginn des Frühjahrs waren Alafair, meine Frau Molly und mein alter Partner vom NOPD, Clete Purcel, nach Western Montana zurückgekehrt, um dort den Sommer auf der Ranch des Schriftstellers und pensionierten Englischlehrers Albert Hollister zu verbringen. Albert hatte sich ein dreistöckiges Haus aus Bruchstein und Blockbohlen gebaut, das auf einer Anhöhe stand, von der man über eine eingezäunte Weide im Norden und eine weitere im Süden blickte. Es war ein gutes Haus, rustikal, aber hervorragend konzipiert, eine ländliche Feste, von der aus Albert weiter seinen Krieg gegen den Vormarsch des Industriezeitalters führen konnte. Ich glaube, als seine Frau starb, die das Haus mitgestaltet hatte, brachte ihn die zurückbleibende Leere beinahe um den Verstand.
Albert brachte Clete in einem Gästehaus am hinteren Ende des Grundstücks unter und den Rest von uns im zweiten Stock des Hauses. Vom Balkon aus hatte man einen wundervollen Blick auf die bewaldeten Gebirgsausläufer, die meilenweit übereinander zu stolpern schienen, bevor sie die Bitterroot Mountains erreichten, deren Gipfel so weiß und strahlend wie Gletscher schimmerten und bei Sonnenaufgang von Nebelschwaden umgeben waren. Gegenüber von unserem Balkon lag ein Hang, der mit Lärchen, Tannen, Kiefern und grauen Felsen getüpfelt war, und durch den sich Bachbetten schlängelten, die während der Schneeschmelze Anfang April anschwollen und braunes Wasser und Kiefernnadeln mit sich führten. An einem schattigen Hang hinter dem Haus hatte Albert einen improvisierten Schießstand errichtet, wo wir auf große, breite Kaffeedosen schossen, die er auf Stöcken am Fuße eines Weges aufstellte, auf dem Chief Joseph und die Nez Percé versucht hatten, vor der United States Army zu fliehen. Bevor wir zu schießen begannen, brüllte Albert immer: „Alle Mann in Deckung!“, um die Tiere zu warnen, die zwischen den Bäumen grasten oder schliefen. Er hatte sein Grundstück nicht nur eingezäunt, sondern erzürnte auch noch Jäger im gesamten County, indem er mit Ketten Baumstämme quer über öffentliche Straßen zog, um während der Großwild-Jagdsaison den Zugang zu den Ländereien des U.S. Forest Service zu blockieren. Ich weiß nicht, ob ich ihn einen Aufwiegler nennen würde, aber ich war überzeugt, dass Samuel Adams sein historischer Vorläufer war, und dass zehn von seiner Sorte eine Stadt innerhalb von 24 Stunden in Flammen setzen könnten.
Als Alafair zum Haus zurückkehrte, war die Sonne bereits untergegangen. Sie erzählte mir von ihrer Begegnung mit Wyatt Dixon.
„Hast du sein Kennzeichen?“, fragte ich.
„Da war Matsch drauf. Er sagte, er wolle ins Casino.“
„Hast du den Bogen gesehen?“
„Das habe ich dir doch schon erzählt, Dave.“
„Tut mir leid, ich wollte nur sichergehen. Lass uns mal hinfahren.“
Wir fuhren mit meinem Pick-up den Schotterweg bis zur Landstraße hinunter, bogen nach Osten ab und folgten dem Bach bis nach Lolo, einer kleinen Versorgungsstadt am Tor zu den Bitterroot Mountains. Der lilafarbene Himmel war mit Schnee gesprenkelt, und vor dem Autohof mit angrenzendem Casino schimmerten Neonleuchten. „Der orangefarbene Pick-up. Das ist seiner“, sagte sie.
Ich wollte zunächst einen Streifenwagen des Missoula County Sheriffs heranwinken, doch entschied mich dann dagegen. Bisher hatten wir nichts gegen Dixon in der Hand. Ich rieb die Schmutzschicht vom Heckfenster des Camperaufsatzes und linste hinein. Ich konnte eine klumpige Reisetasche erkennen, einen Western-Sattel, ein Repetiergewehr mit langem Schaft und Zielfernrohr, einen matschverkrusteten Pick-up-Reifen und einen Wagenheber. Ich sah keinen Bogen. Ich blickte durchs Beifahrerfenster, mit demselben Ergebnis.
Im Inneren des Casinos war es dunkel und kalt, es roch nach Teppichreiniger und Desinfektionsmittel. An der Bar saß ein Mann in einem weißen Stroh-Cowboyhut, der aus einer Limonadendose trank und ein Sandwich aß. In seinem Hemdkragen steckte ein Stück Küchenpapier wie ein Lätzchen. Er beobachtete uns im Barspiegel, als wir uns näherten.
„Mein Name ist Dave Robicheaux“, sagte ich. „Das hier ist meine Tochter Alafair. Ich würde gern ein paar Worte mit Ihnen reden.“
Er biss in sein Sandwich und kaute. Eine Wange wurde rund und dick, und er beugte sich vor, damit die Krümel auf die Theke fielen und nicht auf sein Hemd oder die Jeans. Sein Blick glitt zur Seite. „Sie haben was von einem Gesetzeshüter, Sir“, sagte er.
„Haben Sie schon gesessen, Mr. Dixon?“
„Wo gesessen?“
„An einen Ort, an dem Klugscheißer häufig landen. Wie ich höre, sind Sie ein Rodeo-Mann.“
„Was einige einen Rodeo-Clown nennen. Was wir Stierkämpfer nennen. Irgendwann habe ich mal unten an der Grenze Mustangs für eine Hundefutterfabrik geschossen. Das mache ich nicht mehr.“
„Waren sie ungefähr 8 Kilometer den Highway 12 hoch auf der Jagd?“
„Nein, Sir. Ich habe den Reifen meines Pick-ups gewechselt.“
„Haben Sie irgendeine Vorstellung, wer auf meine Tochter einen Pfeil abgeschossen haben könnte?“
„Nein, aber ich bin es langsam leid, davon zu hören.“
„Haben Sie außer meiner Tochter noch jemanden oben auf dem Kamm gesehen?“
„Nein, habe ich nicht.“ Er legte das Sandwich hin, zog sich das Küchenpapier aus dem Kragen und wischte sich damit Mund und Hände ab. Dann drehte er sich auf seinem Barhocker. Aus seinen Augen schien sämtliche Farbe gewichen zu sein, mit Ausnahme der Pupillen, die wie die verbrannten Spitzen von Streichhölzern wirkten. „Gucken Sie mal“, sagte er.
„Was soll ich gucken?“
„Das.“ Er streute Salz auf den Tresen und balancierte den Streuer auf der Kante, sodass er stand wie der Schiefe Turm von Pisa. „Ich wette, das können Sie nicht.“
„Ruf 911 an“, sagte ich zu Alafair.
„Darf ich Sie mal was fragen?“, fragte er.
„Schießen Sie los.“
„Hat Ihnen jemand ins Gesicht geschossen?“
„Ja. Ich habe viel Glück gehabt. Es war ein völlig degenerierter Kerl, ein Sadist, jemand, der über Leichen geht.“
„Ich wette, Sie haben ihn direkt auf den Injektionstisch geschickt, oder?“, sagte er mit hervorquellenden Augen, während sein Mund in gespielter Begeisterung aufklappte.
„Nein, es kam nicht bis zum Gefängnis.“
Sein Mund öffnete sich noch weiter, als wäre er nicht in der Lage, das Ausmaß seines Entsetzens zu kontrollieren. „Das haut mich echt um. Ich habe diese großartige Nation von Küste zu Küste bereist und stand mit den größten Helden unserer Zeit in der Arena. Es erfüllt mich mit Ehrfurcht und Demut, mich in Gegenwart eines Gesetzeshüters wie Ihnen zu befinden. Auch wenn ich nur ein einfacher Rodeo-Cowboy bin, erhebe ich mich und salutiere vor Ihnen, Sir.“
Er stand vom Barhocker auf, die Brust geschwellt und der Körper so steif, als stünde er in Habtachtstellung, die rechte Hand an der Ecke seiner Augenbraue. „Gott segne Sie, Sir. Menschen wie Sie machen mich stolz auf Rot-Weiß-Blau, obwohl ich es nicht wert bin, auf dem gleichen Boden zu stehen wie Sie, in dieser bescheidenen Bar in einer Seitenstraße Amerikas, in die Männer mit gebrochenen Herzen gehen. Männer wie Colin Kelly und Audie Murphy sind Ihrer nicht würdig, Sir.“
Die Leute starrten uns an, doch er beachtete sie nicht.
Ich sagte: „Sie haben meine Tochter ‚Mädel‘ und ‚Süße‘ genannt. Sie haben außerdem eine versteckte Drohung ausgesprochen, als Sie sagten ‚Wir sehen uns bestimmt wieder, Süße.‘ Kommen Sie nie wieder in unsere Nähe, Mr. Dixon.“
Sein Blick glitt über mein Gesicht. Seine Mundwinkel zeigten nach unten, seine Haut war straff wie eine Schweineschwarte, das Grübchen in seinem Kinn war glattrasiert und glänzte, vielleicht von Aftershave. Er warf einen kurzen Blick nach draußen, wo der Streifenwagen des Sheriffs gerade auf den Parkplatz fuhr. Die moralische Leere seines Profils ließ mich an einen Hai denken, der im Aquarium an einem vorbeischwimmt.
„Haben Sie mich verstanden?“, fragte ich.
„Der Deputy, den Sie da angerufen haben, der wird nichts in meinem Pick-up finden, weil’s dort nichts zu finden gibt“, sagte er. „Sie haben gefragt, ob ich gesessen habe. Man hat mir so viel Strom durch den Kopf gejagt, dass ich dankbar für den Gummiknebel in meinem Mund war. Bevor Sie Ihre Nase zu hoch tragen, Mr. Robicheaux: Ihre Tochter hat mich gefragt, ob dieser ‚Scheißpfeil‘ mir gehören würde. Sie hat mit mir geredet, als wäre ich weißer Abschaum.“
Er setzte sich wieder und aß sein Sandwich weiter, verschlang es in großen Bissen, ohne zu kauen oder etwas zu trinken. Seine Miene wurde zu der eines Mannes, der nicht entscheiden konnte, wer er war.
Ich hätte einfach gehen sollen. Vielleicht war es nicht allein seine Schuld. Vielleicht hatte Alafair tatsächlich herablassend zu ihm gesprochen. Aber dennoch hatte er versucht, ihr Angst einzujagen, und es gibt ein paar Dinge, die kann ein Vater einfach nicht durchgehen lassen. Ich berührte seine Schulter da, wo weiße Sterne auf den Stoff genäht waren. „Sie sind kein Opfer, Partner“, sagte ich. „Ich werde mir Ihre Akte ansehen und herausfinden, was Sie so getrieben haben. Ich hoffe, Sie waren ehrlich zu uns, Mr. Dixon.“
Er drehte sich nicht um, aber ich konnte sehen, wie sich sein Rücken versteifte und das Blut seinen Nacken hochschoss wie die rote Flüssigkeit in einem Thermometer.
Montana verführt einen auf die gleiche Art wie ein Rauschgift, von dem man nie genug bekommen kann. Die Wildnis ähnelt vermutlich der Erde am ersten Tag der Schöpfung. Für mich war es außerdem ein Karussell, dessen Lieder nie verstummen und Lichter nie erlöschen. Am Morgen nach Alafairs Konfrontation mit Wyatt Dixon hatten wir Regen, dann Schneegestöber im Sonnenschein, dann Graupelschauer, dann wieder Sonne und grüne Wiesen und blühende Blumen im Garten und einen Regenbogen, der sich über den Bergen wölbte. Und all das vor neun Uhr morgens.
Ich ging die Wiese hinunter, an Alberts Scheune vorbei, zu dem kleinen Blockhaus, in dem Clete untergebracht war. Die Hütte stand neben einem Bachbett und wurde von Pappeln und einer einzelnen Birke überschattet. Das Bachbett führte nur im Frühling Wasser und war den Rest des Jahres trocken, sandig und kreuz und quer von den Fährten von Hirschen und wilden Truthähnen durchzogen, und manchmal von den langen Pfoten der Schneeschuhhasen.
Cletes Wathose hing umgekehrt vom Dach der Veranda, und Regenwasser glitt die Gummi-Oberflächen hinunter; seine Angel und die Fliegenrute lehnten am Verandageländer, die Schnüre fest durch die Ösen gezogen und die Haken im Korkgriff gesichert. Er hatte seine Segeltuchtasche für Fische und das Fischnetz in einem Eimer ausgewaschen und zusammen mit seiner Anglerweste an Holzhaken gehängt, die aus der Wand ragten. Sein restauriertes, weinrotes Cadillac-Cabrio parkte hinter der Hütte, mit einer Plane über dem makellosen weißen Verdeck. Die Plane war mit Raben- und Elsterkot gesprenkelt.
Durch das Fenster konnte ich ihn am Küchentisch sitzen sehen, der massive Oberkörper war über sein Essen gebeugt und im Holzofen hinter ihm prasselte ein Feuer. Noch bevor ich anklopfen konnte, winkte er mich herein.
Sollten je Außerirdische unseren Planeten übernehmen wollen, dann müssten sie die Menschen einfach davon überzeugen, das Gleiche zu frühstücken wie Clete Purcel, um sie auszulöschen. Je nachdem, was sich anbot, schaufelte er täglich drei sirupgetränkte Waffeln oder Pfannkuchen in sich hinein, oder vier in Butter gebratene Eier mit Toast, Maisgrütze und dazu eine Schale Béchamelsoße; ein Schweinekotelett oder Steak oder einen Teller Schinken und Speck, und mindestens drei Tassen Milchkaffee. Weil er wusste, dass er sein Verdauungssystem mit genug Cholesterin und Salz versorgt hatte, um den Suezkanal zu verstopfen, toppte er das Ganze mit einer Schale eingekochter Tomaten oder Obstsalat, in dem Glauben, damit eine Kombination aus pflanzlichem und tierischem Fett mit der Viskosität des Schmiermittels für Eisenbahnräder neutralisieren zu können.
Ich erzählte ihm von Alafairs Begegnung mit Wyatt Dixon und unserem Gespräch im Casino. Clete öffnete die Tür seines Ofens und warf zwei Scheite Kiefernholz in die Flammen. „Dixon hat zugelassen, dass der Deputy seinen Pick-up durchsucht?“, fragte er.
„Er war total kooperativ. Die einzige Waffe im Wagen war ein altes Winchester- Gewehr.“
„Vielleicht war er es gar nicht.“
„Alafair meint, es wäre niemand sonst auf dem Parkplatz oder auf dem Kamm gewesen. Sie ist sicher, dass Dixon der Einzige ist, der den Pfeil abgeschossen haben könnte.“
„Und du denkst, er hat eine Akte?“
„Ich habe vor einer Stunde den Sheriff angerufen. Dixon hält sich schon ein paar Jahre in dieser Gegend auf, doch niemand weiß genau, was er ist, oder wer er ist. Er hatte im Bitterroot Valley mit ein paar Leuten von der Miliz zu tun, die Angst vor ihm hatten. Als er eingefahren ist, weil er einen Vergewaltiger erschossen hat, ist Deer Lodge nicht mit ihm fertig geworden.“
„Ein Gefängnis in Montana wird mit jemandem nicht fertig?“
„Sie haben ihm Elektroschocks verpasst.“
„Ich dachte, das würde man nicht mehr machen.“
„Sie haben eine Ausnahme gemacht. Dixon wurde mit 15 aus der Armee geworfen, weil er hinter einem Saloon in San Antonio einem schwarzen Küchenbullen seine Sergeant-Streifen abgeschnitten und sie dem Kerl in den Mund gestopft hat. Bei einem Rodeo hat er einen Bullen mit seinen Fäusten bewusstlos geschlagen. Er sagt, er sei ein wiedergeborener Christ, und manche Leute behaupten, er könne in Zungen sprechen. Ein Universitätsprofessor hat im Reservat eine Andacht der Pfingstkirchler aufgezeichnet, als Wyatt Dixon aufgestanden ist und begonnen hat, Zeugnis abzulegen. Der Professor behauptet, Dixon habe Aramäisch gesprochen.“
„Was ist Aramäisch?“
„Die Sprache von Jesus.“
Clete sah von seiner Kaffeetasse auf. Sein Gesichtsausdruck war neutral, der Kleine-Jungs-Haarschnitt frisch gekämmt und feucht vom Duschen, sein Gesicht in der Morgensonne faltenfrei und jugendlich. „Dave, werd nicht gleich sauer wegen dem, was ich jetzt sage. Aber auf uns wurde auf dem Bayou geschossen und wir sind knapp davongekommen. Nicht einmal, sondern zweimal. Alafair hat ein fettes Trauma, genau wie wir. Ich schließe die Augen und sehe Bilder vor mir.“
„Alafairs Ohr wurde verletzt.“
„Wir wissen nicht, ob das der Pfeil war. Du hast etwas von Raben erzählt, die sich in einem Baum gestritten haben. Vielleicht ist das alles Zufall. Immer sachte, richtig?“
„Alafair ist nicht auf den Kopf gefallen. Sie bildet sich nicht einfach irgendwelche Sachen ein.“
„Sie legt sich oft mit Leuten an. Diesmal mit einem Spinner. Der Pick-up des Typen war sauber. Lass ihn in Ruhe und hör auf, Ärger zu suchen.“
„Weißt du, was da bei mir hochkommt, wenn du solche Sachen sagst?“, fragte ich.
„Nein, was?“
“Vergiss es. Iss noch ein paar Scheiben Schinken. Vielleicht hilft dir das, klarer zu denken.“
Er atmete hörbar aus. „Willst du ihn aus der Reserve locken?“
„Er lässt sich nicht aufscheuchen.“
„Du hast gesagt, er hätte wegen Mord gesessen. Wie ist er rausgekommen?“
„Irgendein Verfahrensfehler.“
„Okay, wir halten die Augen offen, doch der Typ hat keinen Grund, Alafair etwas anzutun. Und er wirkt insgesamt auch nicht wie jemand, der wahllos mit Pfeil und Bogen auf Leute schießt, und dann auch noch in seiner eigenen Gegend.“
Clete war der beste Polizeiermittler, den ich je kennengelernt hatte und man konnte sich schwer mit ihm streiten. Er hätte für Alafair, Molly und mich sein Leben gegeben. Er war mutig und sanft und gewalttätig und selbstzerstörerisch, und jeden Morgen wachte er mit einem Sukkubus auf, der seit seiner Kindheit von seinem Herzen zehrte. Wann immer ich ungeduldig mit ihm sprach oder seine Gefühle verletzte, verspürte ich ein unendliches Gefühl von Reue und Bedauern, weil ich wusste, dass Clete einer derjenigen war, die für den Rest von uns den Kopf hinhielten. Ich wusste auch, dass die Welt ein viel schlimmerer Ort wäre, wenn er nicht in unserer Mitte weilen würde.
„Vermutlich mache ich mir zu viele Sorgen“, sagte ich.
„Alafair ist deine Tochter. Da musst du dir Sorgen machen, mein Großer“, sagte er. „Ich habe noch gebutterten Toast in der Pfanne. Iss auf.“
Ich wusste, dass er Witze machte, was den gebutterten Toast betraf, und ich hoffte, dass unser Urlaub weiterhin wie geplant verlief und meine Sorgen bezüglich Alafair und Wyatt Dixon unbegründet waren. Doch als er Kaffee in eine Blechtasse schüttete und sie mir über den Tisch hinweg zuschob, sahen seine grünen Augen mich nicht an und ich wusste, dass er an etwas anderes dachte als an einen psychotischen Cowboy in einem Casino. Ich wusste auch, dass Ärger im Anmarsch war, wann immer Clete Purcel etwas versuchte zu verstecken.
„Schieß los“, sagte ich.
„Womit soll ich losschießen?“
„Sag, was immer du auf dem Herzen hast.“
„Ich wollte dich auf den neusten Stand bringen, das ist alles.“
„Worüber?
„Gretchen hat gerade ihren Abschluss an dieser Filmschule in Los Angeles gemacht.“
„Gut“, sagte ich und bekam ein mulmiges Gefühl.
„Sie hat angerufen und gesagt, sie würde mich gern besuchen.“
„Hierher?“
„Ja, da ich ja nun mal hier bin, kommt sie logischerweise hierher, wenn sie mich besucht. Ich habe schon mit Albert gesprochen.“
Ich versuchte, meine Augen und Miene ausdruckslos zu lassen und das Kratzen im Hals zu ignorieren, als würde mir dort eine Gräte feststecken. Er starrte mich erwartungsvoll an und wollte, dass ich die Worte sagte, die mir nicht über die Lippen kamen.
Vor nicht mal einem Jahr hatte Clete herausgefunden, dass er eine uneheliche Tochter gezeugt hatte. Sie hieß Gretchen Horowitz und war in Miami bei ihrer Mutter aufgewachsen, einer heroinabhängigen Prostituierten. Weiterhin fand er heraus, dass Gretchen als Auftragskillerin für die Mafia gearbeitet hatte und im Milieu unter dem Namen Caruso bekannt war.
„Glaubst du, Montana wird ihr gefallen?“, fragte ich.
„Warum nicht?“
„Es ist ein kaltes Land. Ich meine, kalt für ein Mädchen, das in den Tropen aufgewachsen ist.“
Ich sah, wie das Leuchten in seinen Augen erstarb. „Manchmal machst du mich echt fertig, Streak.“
„Tut mir leid.“
„Absolut richtig“, erwiderte er. Er nahm sein Geschirr und ließ es laut in die Spüle fallen.
Sechs Monate zuvor schaute ein Junge, nahe an der Grenze zwischen Colorado und Kansas, aus dem Fenster eines Wohnwagen-Hauses, das nicht weit von der Kreuzung eines zweispurigen Highways und einer Schotterstraße stand. Am Himmel hingen dunkle Gewitterwolken und am westlichen Horizont zeichnete sich ein Band kalten blauen Lichts ab. Der Wind wehte heftig über die Felder, hob Staubwolken in die Luft und ließ die Wäsche auf der Leine hinter dem Trailer flattern. Obwohl das Land über viele Kilometer mit Weizenfeldern bedeckt war, die im Herbst gepflanzt und im Frühjahr abgeerntet wurden, vermittelten die Kälte der Jahreszeit und die Unerbittlichkeit der Elemente das Gefühl, dass dieser Teil der Welt zu ewigem Winter verdammt war. Es war die Gegend, aus der der Begriff Budenkoller entsprang, wo Bauersfrauen im Januar verrückt wurden und sich erschossen, und Rancher ein Seil von der Veranda bis zur Scheune binden mussten, um während eines Schneesturms den Weg zurück ins Haus zu finden. Es war der Ort, an dem nur die religiösesten und resolutesten Menschen überlebten.
Während die Mutter des kleinen Jungen vor dem Fernseher schlief, auf dem nur weißes Rauschen zu sehen war, beobachtete der Junge, wie aus der Bierschenke an der Ecke ein zerlumpter Mann kam und schwankend am Rand der zweispurigen Straße entlangging. Eine Hand war fest an der Krempe seines Hutes und sein Mantel flatterte im Wind, während sein Gesicht den umherfliegenden Schneekörnern ausgesetzt war, die so winzig und hart waren wie Glassplitter. Später nannte der Junge die Gestalt den „Vogelscheuchenmann“.
In der Ferne tauchte ein Tanklastwagen mit leuchtenden Scheinwerfern auf der wogenden Oberfläche des Highways auf, so groß und unerschütterlich, dass es schien, als würde er sich vor dem Abendrot lautlos und ohne von mechanischer Kraft angetrieben zu werden, fortbewegen, genährt von seinem eigenen Momentum, als hätte er eine Bestimmung, die schon vor langer Zeit geplant worden war.
Aus der gegenüberliegenden Richtung näherte sich ein Gefangenentransporter mit einem Fahrer und einem Wächter der Kreuzung. Der Van wurde von einem Streifenwagen begleitet, der angehalten hatte, damit die Officer der State Police die Toilette benutzen konnten. Im hinteren Teil des Vans befand sich ein Gefangener namens Asa Surrette, der bei einem Mordprozess in einer Kleinstadt an der Grenze zu Colorado aussagen sollte. Sein linker Arm war von einem Mithäftling in einem Hochsicherheitsgefängnis in El Dorado, Kansas, gebrochen worden. Der Gips an seinem Arm war dick, sperrig und reichte vom Handgelenk bis zur Schulter. Wegen guter Führung hatten seine Wächter darauf verzichtet, ihm eine Bauchfessel anzulegen, sondern hatten seine rechte Hand an einen D-Ring am Boden gefesselt, wodurch er auf einer perforierten Stahlbank liegen konnte, die an die Wand des Vans geschweißt war.
Der kleine Junge sah, wie der Vogelscheuchenmann eine flache bernsteinfarbene Flasche aus seiner Manteltasche holte, sie hochhob und auf den Kopf drehte, den Verschluss festschraubte und dann ohne ersichtlichen Grund auf den Highway vor den Tanklaster stolperte. Der Junge hinter der Fensterscheibe gab klagende Laute von sich. Der Fahrer des Tanklasters ging in die Eisen und das Heck scherte aus. Der Tanklaster schwang seitlich über den Asphalt und die Luft war erfüllt vom Kreischen gespannten Stahls, wie ein Schiff, das beim Sinken auseinanderbricht.
Der Fahrer des Gefangenentransporters hatte vermutlich nie eine Chance gehabt zu reagieren. Er krachte mit einer solchen Wucht in die Fahrerkabine des Lastwagens, dass er förmlich zerfetzt wurde, als der Lastwagen darüber rollte. Der Moment der Explosion kam verzögert. Trümmerteile regneten auf den Asphalt und in die Gräben entlang der Straße, während sich an der Stelle, an der der Tanklaster zum Stehen gekommen war, eine dunkle Pfütze Benzin ausbreitete. An der anderen Seite der Fahrerkabine blitzte ein Licht auf, gefolgt von einer Explosion und einem rotgelben Feuerball, der den Schnee auf den gefrorenen Feldern zum Kochen brachte. Als die Freiwillige Feuerwehr eine halbe Stunde später eintraf, brannten die beiden Wagen immer noch.
Der kleine Junge erzählte seiner Mutter, was er gesehen hatte und sie wiederum erzählte es den Beamten. Wenn der Vogelscheuchenmann der Grund des Unfalls war, so existierte keine Spur von ihm. Und es erinnerte sich auch niemand in der Bierschenke an den Betrunkenen, der die Straße entlangwanderte, möglicherweise mit einer Whiskeyflasche in der Hand.
Ein Ermittlungsteam kam zu folgendem Schluss: Die beiden Officer der State Police hatten fahrlässig gehandelt, weil sie den Gefangenentransporter nicht im Auge behalten hatten; der Fahrer des Tanklasters hätte auf der Interstate sein sollen, hatte jedoch einen Umweg gemacht, um eine Freundin zu besuchen; der Fahrer des Vans und der Wächter auf dem Beifahrersitz waren vermutlich bei dem Aufprall ums Leben gekommen; bei dem kleinen Jungen, der den Vogelscheuchenmann gesehen hatte, war Autismus diagnostiziert worden und seine Lehrer hielten ihn für wirklichkeitsfremd und empfahlen eine Sonderschule.
Vier Menschen waren gestorben und die Leichen so übel verbrannt, dass sie förmlich zerfielen, als die Sanitäter versuchten, sie aus den Wracks zu holen. Der Mittelpunkt der Nachrichtengeschichte war weder die makabre Art des Unfalls noch der Verlust von unschuldigem Leben, sondern der Tod des Gefangenen. Asa Surrette hatte in der Stadt Wichita acht Menschen verfolgt und umgebracht, darunter auch Kinder, und war um die Hinrichtung herumgekommen, weil die Verbrechen, die er gestanden hatte, vor 1994 begangen worden waren, als in Kansas die Höchststrafe für Mord lebenslänglich betrug.
Die Nachricht von seinem Tod ging durch die Medien und wurde schon bald als, ‚Gut, dass wir den los sind‘, angesehen und schließlich vergessen. Genauso vergessen wurde der Bericht des autistischen Jungen, dessen Atem die Scheibe kurz vor dem Moment beschlagen hatte, als die Silhouette des Vogelscheuchenmannes vor dem Scheinwerferlicht des Tanklasters zu sehen gewesen war. Doch Fußnoten sind in Geschichten lästig und uninteressant. Warum sollte das bei der Erzählung des kleinen Jungen anders sein?
Ich wollte Gretchen gegenüber nicht unfair sein. Ihre Kindheit war geprägt von Vernachlässigung und Missbrauch. Nein, das stimmt nicht ganz. Ihre Kindheit war grauenvoll. Ihre Haut wurde mit Zigaretten verbrannt, als sie noch ein Kleinkind war. Viele Jahre später hat sich Clete den Mann geschnappt, der das getan hat, draußen im Watt, auf der Rückseite von Key West. Später wurde die Haut eines Mannes und der Großteil seiner Knochen auf einer Sandbank angespült, in dessen Brustkorb ein Bic-Feuerzeug steckte.
Im Alter von sechs Jahren hatte sich der Freund von Gretchens Mutter an ihr vergangen, ein Psychopath namens Bix Golightly, der brachial Juweliergeschäfte überfiel und die Beute über die Dixie Mafia absetzte. Letztes Jahr hatte Gretchen einen pro-bono-Mordauftrag für Golightly angenommen, hatte ihn in Algiers, auf der anderen Seite des Flusses, gegenüber von New Orleans, gefunden und ihm drei Kugeln ins Gesicht gejagt. Clete sah, wie es passierte und meldete, dass Schüsse gefallen waren, schützte aber die Identität seiner Tochter. Die Liebe zu ihr und seine Versöhnungsversuche kosteten ihn beinahe das Leben.
Ich mochte Gretchen. Sie hatte viele Tugenden ihres Vaters. Zweifelsohne war sie furchtlos. Zweifelsohne war sie intelligent. Ich glaubte auch, dass sie ihre Vergangenheit wirklich bereute. Und doch gibt es diesen sonderbaren primitiven Mechanismus, der jedem von uns innewohnt, der nicht immer mit den Denkprozessen übereinstimmt. Eine Stimmgabel in der Brust fängt an zu klingen, sobald wir mit bestimmten Arten von Menschen in Kontakt kommen. Fragen Sie einen beliebigen langgedienten Cop nach ehemaligen Straftätern in seinem Bekanntenkreis, die eine lange Zeit in einem Hochsicherheitsgefängnis verbracht haben, die aufrichtig waren und alles hingenommen haben, was das System und die Gefängniskultur ihnen entgegenschleudern konnte, und die da einigermaßen heil herausgekommen sind und als Schreiner und Schweißer arbeiteten und anständige Frauen geheiratet und Familien gegründet haben. Jeder gute Cop ist froh, wenn er Zeuge einer solchen Erfolgsstory wird. Doch wenn einer genau dieser Kerle nebenan einzieht, oder einen zu sich nach Hause einlädt, oder einem im Supermarkt seine Frau und die Kinder vorstellt, dann schaltet sich im Kopf ein Filmprojektor ein und man sieht Bilder aus der Vergangenheit des Mannes, die man nicht mehr ausblenden kann. Als Konsequenz baut man einen unsichtbaren Graben um seine Burg und seine Lieben und gibt unterschwellig zu verstehen, dass er nicht von den falschen Leuten überquert werden darf, wie unfair auch immer das erscheinen mochte.
Ich half Albert gerade, auf der Südweide die Pferdetränke zu schrubben, als ich Gretchens umgebauten und aufgemotzten Pick-up die Schotterstraße vom State Highway heraufkommen sah, wobei das Röhren der beiden Hollywood-Schalldämpfer von den Hängen widerhallte. „Albert?“, fragte ich.
„Was?“, erwiderte er, offensichtlich genervt, dass ich seinen Namen als Frage verwendet hatte, anstatt diese einfach zu stellen. Die Ärmel seines Jeanshemds waren hochgekrempelt und man konnte lila- und schwärzlich-braune Verfärbungen auf der Haut sehen, die einem Hautarzt zu zeigen er sich beharrlich weigerte. Wenige seiner Universitätskollegen wussten, dass Albert mit 17 ein Herumtreiber, Landstreicher und Wanderarbeiter auf den Feldern gewesen war und sechs Monate lang in Florida Straßen geteert hatte. Der größte Widerspruch bei Albert lag im Kontrast zwischen seinen egalitären gesellschaftspolitischen Ansichten und seinem durchtrainierten Körperbau mit seinen patrizischen Gesichtszügen und den Südstaatenmanieren. Fast als hätte sein Schöpfer beschlossen, die Seele von Sidney Lanier in den Körper eines Handlangers zu stecken.
„Hat Clete dir viel über Miss Gretchen erzählt?“, fragte ich.
„Er sagte, sie plane eine Dokumentation über die Erdölförderung durch Fracking.“
„Hat er dir etwas über ihre Vorgeschichte erzählt?“
„Er sagte, sie habe gerade ihren Abschluss an der Filmhochschule gemacht.“
„Sie hatte in Miami mit ein paar üblen Typen zu tun.“
Er war über den Rand der Tränke gebeugt und schrubbte mit einer Bürste auf der Innenseite Ablagerungen weg. Ich hörte sein Schnaufen vor dem Hintergrund der über das Aluminium kratzenden Borsten. „Von was für üblen Typen reden wir hier?“
„Schmalzlocken aus Brooklyn und Staten Island. Vielleicht ein paar kubanische Auftragskiller in Little Havanna.“
Er nickte und schrubbte weiter. „Den Ausdruck „Schmalzlocke“ mochte ich noch nie. Ich weiß, dass du ihn benutzt, um eine Geisteshaltung zu beschreiben und keine ethnische Zugehörigkeit. Aber dennoch mag ich ihn nicht.“
„Vergiss die politische Korrektheit. Sie war Auftragskillerin, Albert.“
Diesmal hörte er auf zu arbeiten. Er kniete, den Arm auf dem Rand ruhend, an der Tränke. „Warum ist sie dann nicht im Gefängnis?“
„Clete und ich haben weggesehen. Damit fühle ich mich nicht immer gut.“
„Hat sie noch mit der Mafia zu tun?“
„Nein, das ist vorbei.“
Er betrachte Gretchens Hot Rod, der die Schotterstraße hochkam, begleitet von den Pferden, die hinter dem Zaun nebenherliefen. „Im Alter von 18 hatte ich Ketten an meinen Fußknöcheln. Ich habe zugesehen, wie zwei Aufseher einen Mann auf einen Ameisenhügel setzten. Ich habe einen Jungen in einem Schwitzkasten aus Blech sitzen sehen, der ihm beinahe das Hirn gekocht hätte. Ich war in einem Knast in Louisiana, als ein Mann wenige Meter von der Sicherheitszelle, in der ich mich befand, auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurde. Ich konnte ihn weinen hören, als sie ihn festschnallten.“
„Ich musste dich informieren, Albert.“
„Ja, ich weiß. Wenn du an meiner Stelle wärst, was würdest du dann tun?“
Ich musste meine Gedanken ordnen, bevor ich antwortete: „Ich würde sie bitten, wieder zu gehen.“
„Kommst du diesen Sonntag mit zur Messe?“, fragte er.
„Du weißt, wie man Salz in Wunden reibt.“
Er begann, die Innenseite der Tränke auszuspülen und kippte sie seitlich, um das Wasser durch das Ablaufloch im Boden fließen zu lassen. „Wir haben diese Unterhaltung nie geführt.“
„Bitte?“
Er warf einen Blick zum Himmel. „Sieht nach mehr Regen aus. Wir können so viel gebrauchen, wie wir kriegen können. Diese verdammten Ölfirmen kochen den ganzen Planeten.“
Ich beschloss, Albert eines Tages zu fragen, warum seine Kollegen an der Universität ihn nicht schon längst erschossen hatten.
Gretchen bog von der Schotterstraße ab, fuhr durch den Bogen in Alberts Einfahrt und parkte vor dem Haus. Sie ging über den Rasen, vorbei an den Blumenkörben, die an der Veranda hingen, und blieb an dem Gatter zur Weide stehen, wo wir gerade die Pferdetränke reinigten und neu befüllten. Sie hatte rotblondes Haar, veilchenblaue Augen und Cletes reine Haut und aufrechte Haltung, die sie beide größer wirken ließ. Genau wie ihr Vater war sie unverfroren und respektlos, doch man konnte sie nicht als verbittert oder übermäßig aggressiv bezeichnen. Doch das beinhaltet einen ernsthaften Vorbehalt. So wie viele Menschen, die verstoßen und böswilligen Triebtätern hilflos ausgeliefert worden waren, begegnete auch Gretchen der Welt mit Misstrauen, analysierte jedes einzelne Wort einer Unterhaltung, hielt alle Versprechungen für suspekt und signalisierte unmissverständlich jedem, der ihr seinen Willen aufzwingen wollte, es besser sein zu lassen. Ihre Haut war tief gebräunt, man sah ihre goldene Halskette mit dem Davidsstern auf der Brust und die Sonne schien auf ihr Haar.
„Ich wusste nicht, ob ich hinunter zur Hütte in die Einfahrt fahren sollte“, erklärte sie.
„Hallo, Gretchen“, sagte ich und fühlte mich gleichzeitig unbehaglich und heuchlerisch. „Das ist Albert Hollister. Er ist unser Gastgeber.“
„Willkommen in Montana, Miss Horowitz“, sagte er. „Wir hier in Lolo halten uns für sehr bescheiden und demütig.“
„Was für ein wundervolles Stückchen Erde“, erwiderte sie. „Gehört Ihnen das ganze Tal?“
„Ab der Hügelkuppe hinter dem Haus gehört es zu Plum Creek, doch der Rest gehört mir.“
Sie blickte zum Arroyo, dem Bachlauf, der saisonal Wasser führte und von Alberts improvisierten Schießstand bis zu einem ungenutzten Forstweg verlief. Der Weg überquerte die Kuppe des Hügels und verschwand zwischen Beständen von Douglasien, die so ausladend waren wie Weihnachtsbäume. „Ich habe da oben einen Mann gesehen. Das muss ein Holzfäller gewesen sein“, sagte sie.
„Nein, Plum Creek fällt dort oben nicht mehr. Sie verkaufen alles“, sagte Albert.
„Ich habe auf diesem Forstweg einen Typen gesehen. Er hat mich direkt angestarrt“, sagte sie. „Er trug eine Regenjacke mit Kapuze. Es muss nass dort oben sein.“
„Hast du sein Gesicht gesehen?“, fragte ich.
„Nein“, sagte sie. „Haben Sie Probleme mit den Nachbarn?“
„Alafair glaubt, dass ein Kerl weiter den Kamm runter einen Pfeil auf sie abgeschossen hat“, sagte ich.
„Warum sollte jemand so etwas tun?“
„Wissen wir nicht“, erwiderte ich.
Ich schob die Hände in meine Gesäßtaschen und starrte auf den Boden. Ich fühlte mich hinterlistig und so, als würde mir jedes Mitleid mit jemandem abgehen, dem eine fürchterliche Kindheit aufgezwungen worden war. Ich wünschte, ich hätte Albert nichts über Gretchens Hintergrund erzählt. „Schön, dass du hier bist.“
Sie starrte auf die grün-blauen Wogen der Berge im Süden. Als sie mich wieder ansah, lächelte sie und hatte rosige Wangen. Die Sonne schien strahlend auf ihr Gesicht, Haar, die Goldkette und den Brustansatz. Sie sah aus, als hätte eine Kamera sie in genau dem Moment erwischt, indem sie nur als absolut atemberaubend beschrieben werden konnte. „Das weiß ich sehr zu schätzen, Dave, mehr, als du dir vorstellen kannst. Danke für die Einladung, Mr. Hollister.“
Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals so klein gefühlt zu haben.
Ich ging in die Küche, wo meine Frau Molly auf einem Brettchen Tomaten schnitt. „Gretchen Horowitz ist hier“, sagte ich.
Das Messer wurde langsamer und hielt dann inne. „Oh“, sagte sie.
„Ich habe Albert ihre Geschichte erzählt. Ich habe ihm gesagt, es sei vielleicht besser, wenn Gretchen weiterzöge. Genaugenommen habe ich ihn sogar gebeten, ihr das zu sagen.“
„Nimm dich nicht zu wichtig, Streak. Albert hat zwei Arten, Dinge zu tun. Auf seine Weise. Und dann noch auf Alberts Weise.“
Molly hatte die Schultern und Hände einer Bäuerin, ein irisches Mundwerk, kräftige Arme und weiße Haut, die mit Sommersprossen gesprenkelt war. Ihr Haar war mattrot und silbern an den Wurzeln, und obwohl sie es kurz trug, hatte es eine besondere Art, ihr ins Gesicht zu fallen, wenn sie arbeitete. Sie war mein moralischer Kompass, mein Steuermann, meine Partnerin in allem, mutiger als ich, hingebungsvoller und standfester, wenn ein Sturm anrollte. Sie war eine Nonne gewesen, die nie ein Gelübde abgelegt hatte; sie hatte in einer Zeit bei den Maryknoll-Orden in El Salvador und Guatemala gearbeitet, in der die Ordensfrauen vergewaltigt und ermordet wurden, während die Verwaltung in Washington wegsah. Die ehemalige Schwester Molly Boyle hätte den Vatikan leiten sollen, zumindest meiner Meinung nach.
Sie blickte durchs Fenster auf die grasenden Pferde, die den Hang hinunter im Schatten standen und mit ihren Schweifen die Insekten verscheuchten, die mit zunehmender Wärme aus dem Gras aufstiegen. Ich wusste, dass sie über Gretchen nachdachte und über die Gewalt, die wir in Louisiana hinter uns gelassen hatten.
„Gretchen hat einen Mann gesehen, der sie von einem Hügel aus beobachtet hat“, sagte ich. „Albert meint, es gäbe keinen Grund für irgendwen, dort oben zu sein.“
„Glaubst du, dass es der Rodeo-Typ ist, mit dem Alafair Probleme hatte?“
„Ich werde jetzt mal dort hochgehen.“
„Ich komme mit.“
„Das brauchst du nicht. Ich bin in ein paar Minuten zurück.“
Sie trocknete sich ihre Hände an einem Geschirrtuch ab. „Von wegen“, sagte sie.
Wir erklommen den Pfad hinter dem Haus, unter Kiefern, Tannen und Lärchen hindurch, die weit auseinander in einem Arroyo standen, der die meiste Zeit des Tages tief im Schatten lag. Am oberen Ende des Pfades lag der alte Forstweg von Plum Creek, geformt wie ein Hufeisen, teilweise erodiert und eingebrochen, übersät mit Jungpflanzen und an einigen Stellen mit Holzhaufen von rindenlosen, wurmzerfressenen Bäumen, die während der Frühlingsschmelze von den Felsen abgerutscht waren. Die Steigung oben am Pfad war extrem und ich schwitzte und atmete schwerer, als ich zugeben wollte, als wir uns der Straße in der Nähe des Kamms näherten. Der Wind auf meinem Gesicht war kalt, die Sonne schien durch das Blätterdach wie in einer Kathedrale und mir war leicht schwindelig. Als ich zurück ins Tal blickte, wirkte Alberts dreistöckiges Haus, als sei es geschrumpft worden.
„Mit dir alles okay, Skipper?“, fragte Molly.
„Alles gut“, sagte ich, während mein Herz hämmerte. Ich sah zu beiden Seiten der Straße. Ich hatte Öl und Bremsflüssigkeit und Müll erwartet, der von den Holzfällern zurückgelassen worden war, doch die Straße war sauber und auf den Hängen darunter lag ein Teppich von Kiefernnadeln und grauen Felszungen, die mit Vogelkot gepunktet waren.
Es war ein idyllisches Bild, eines, das sich nach Jahren der Rodung und Vernachlässigung wieder selbst geheilt hatte. Es war einer der Augenblicke, in denen man das Gefühl hat, dass die Erde tatsächlich für immer fortbestehen würde, und dass sämtliche industrielle Misshandlung irgendwann heilen würde.
An einer Stelle, an der der Forstweg vor einem großen Haufen Erde und verbrannten Baumstümpfen in einer Sackgasse endete, sah ich, wie die Sonne sich in etwas Metallischem spiegelte. „Bleib hinter mir“, sagte ich.
„Was ist?“, fragte Molly.
„Wahrscheinlich nichts.“
Ich ging am Fuße des Felsens vor ihr her, durch eine Vertiefung in der Straße, wo die Erde noch dunkel vom morgendlichen Regen war und in der man die Fußabdrücke spitzer Cowboystiefel sah. Die Spuren waren tief, deutlich sichtbar und in der Mitte sammelte sich Feuchtigkeit, als wäre die Erde unter den Sohlen nur Minuten zuvor zusammengepresst worden. Weiter vorn, neben einem runden Findling, lagen eine leere Fleischkonserve, Stücke von gesalzenen Crackern und verstreut etwas, das nach geschnittenen Fingernägeln aussah.
Zwischen den Bäumen bewegte sich nichts und man hörte kein Geräusch, noch nicht mal einen Tannenzapfen, der bergabwärts rollt. Mir lief ein Rinnsal Schweiß von der Achsel die Seite hinunter. Unter uns strich der Wind über das Gras von Alberts Weiden und wehte den Hügel hinauf, wo er das Blätterdach vor der Sonne rascheln ließ.
„Meine Güte, was ist das für ein Geruch?“, fragte Molly.
Ich ging noch zehn Meter die Straße hoch und hob dann meine Hand, damit sie stehen blieb. „Geh nicht weiter“, sagte ich.
„Sag mir, was es ist.“
„Es ist eklig. Bleib zurück.“
Jemand hatte mitten auf die Straße geschissen und sich nicht bemüht, ein Loch zu graben oder es abzudecken. Bremsen schwirrten über der Stelle. Weiter oben, hinter dichtem Buschwerk, war die Öffnung zu einer Höhle. Ich nahm einen Stein von der Größe eines Baseballs, warf ihn durch die Blätter und hörte, wie er auf einem Felsen aufschlug. „Komm raus da, Partner“, sagte ich.
Doch es blieb still. Ich warf einen zweiten und dann einen dritten Stein mit demselben Ergebnis. Dann zog ich mich an einem Baumstumpf die Böschung hoch und ging zur Höhle, auf deren Boden vollgesogene Kiefernnadeln lagen. Ich konnte hören, wie Molly hinter mir die Böschung hochkletterte. Ich drehte mich um und gab ihr ein Zeichen, dass sie sich zurückhalten sollte. Doch so etwas gab es bei Molly Boyle nicht und würde es nie geben.
„Hey, Kumpel, wir sind keine Feinde“, sagte ich. „Wir wollen nur wissen, wer du bist. Wir rufen deinetwegen nicht die Cops.“
Als ich diesmal sprach, war ich dicht genug an der Höhle, um ein Echo zu erzeugen, die kühle Luft zu spüren und den Fledermauskot und das abgestandene Wasser zu riechen.
Ich holte eine kleine Stiftlampe hervor, trat unter dem Überhang her und leuchtete hinten gegen die Wand. Ich konnte die getrocknete Haut eines Tieres mit leeren Augenhöhlen auf dem Boden erkennen, durch dessen Fell sich einige Rippen gebohrt hatten.
„Was ist dort drin?“, fragte Molly.
„Ein toter Berglöwe. Er hat sich vermutlich verletzt oder wurde angeschossen und hat sich hierher zurückgezogen, um zu sterben.“
„Glaubst du nicht, dass ein Landstreicher hier gelebt hat?“
„Wir sind zu weit vom Highway entfernt. Ich glaube, der Rodeo-Clown ist zurückgekehrt und hat das Haus beobachtet.“
„Lass uns hier weggehen, Dave.“
Ich drehte mich um, um die Höhle zu verlassen, und leuchtete dann, weil es mir gerade in den Sinn kam, über die Wände und Felsvorsprünge. Die Steinoberfläche war voller Moos, Flechten, Fledermauskot und Sickerwasser. Nahe der Decke war eine Reihe von Rissen in den Flechten, die perfekte Leinwand, auf der ein Rückkehrer einer früheren Zeit seine Nachricht hinterlassen konnte. Ich vermutete, dass er einen scharfen Stein für seine Botschaft benutzt hatte und die Buchstaben so tief wie möglich eingeritzt hatte, durch die Flechten in die Wand, als würde er das Entsetzen, die Verletzung und die Angst, die seine Worte bei anderen auslösen würden, genießen.
Ich war hier, doch ihr kennt mich nicht. Ich war schon hier, bevor es ein Alpha und Omega gab. Ich bin der Eine, vor dem jeder die Knie beugen soll.
„Wer ist dieser Kerl?“, fragte Molly.
Der Name des Sheriffs war Elvis Bisbee. Er musste ungefähr 50 sein und knapp zwei Meter groß. Er hatte ein längliches Gesicht, hellblaue Augen und einen Schnurrbart, den er zu zwei Schnüren hatte wachsen lassen, deren weiße Spitzen zu beiden Seiten seines Mundes herunterhingen. Er stand neben mir hinter dem Haus im Schatten des Arroyo und schaute den Hang hinauf, auf den Felsvorsprung oberhalb des Forstweges. „Und der Kerl hat Cowboystiefel getragen?“, fragte er.
„Ich kann Ihnen die Spuren zeigen.“
„Ihr Wort reicht mir. Und Sie sind überzeugt davon, dass Wyatt Dixon Ihrer Tochter nachstellt?“ Er trug die Uniform des Departments, einen Stetson mit kurzer Krempe und in seinem Holster eine Pistole mit poliertem Knauf. Seine Augen schienen gleichzeitig alles und nichts zu sehen.
„Ich weiß nicht, wer sonst hier draußen sein sollte“, sagte ich.
„Albert mischt gerne auf. Momentan sind es diese schweren Bohrinsel-Teile auf dem Weg nach Alberta, die unten an Ihrer Straße vorbeifahren.“
„Ölfirmen stellen keine gestörten Leute ein, die auf das Grundstück eines pensionierten Englisch-Professors kacken.“
„Aber Wyatt Dixons Stil ist das auch nicht.“
„Was dann? Leute umzubringen?“
„Wyatt Dixon hat eine üble Geschichte, zugegeben. Aber er ist kein Voyeur. Er kann sich die Frauen kaum vom Hals halten.“
„Wyatt?“
„Er ist ein ungewöhnlicher Bursche. Was das Rodeo-Reiten betrifft, da hat er viele Bewunderer.“
„Ich gehöre nicht dazu.“
„Kann ich Ihnen nicht vorwerfen“, sagte er, schüttelte eine Zigarette aus dem Päckchen und begann, den Hang hinaufzugehen. „Ich glaube nicht, dass er Ihr Mann ist, aber ich werde ihn vorladen und mich mit ihm unterhalten. Wenn Sie ihn irgendwo auf dem Grundstück sehen oder er Ihre Tochter kontaktiert, lassen Sie es mich wissen.“
„Da ist noch etwas. Jemand hat eine Botschaft in die Wand der Höhle dort oben geritzt.“ Ich gab sie wieder und fragte dann: „Haben Sie je irgendetwas dieser Art sonst irgendwo hier gesehen?“
„Nicht, dass ich wüsste. Klingt, als wäre es aus der Bibel.“
„Teilweise, aber es wurde verdreht.“
„Womit Sie sagen wollen, dass Dixon jemand der Sorte ist, der eine Passage aus der Heiligen Schrift verdreht?“
„Das kam mir in den Sinn.“
Er zündete sich die Zigarette an und drehte den Kopf zur Seite, bevor er den Rauch ausblies. „Ich will Ihnen etwas anvertrauen“, sagte er. „Vor sechs Tagen wurde ein junges indianisches Mädchen als vermisst gemeldet. Sie hat in einer Kneipe in der Nähe des Reservats etwas getrunken und ist nicht mehr nach Hause gekommen. Ihr Pflege-Großvater ist Love Younger.“
„Der Ölmann?“
„Manche nennen ihn einfach den zehntreichsten Mann der Vereinigten Staaten. Er hat hier ein Sommerhaus. Ich muss in einer halben Stunde dort sein.“
Die Wortwahl klang nicht gut. Oder vielleicht zog ich die falschen Schlüsse. Doch ein County-Sheriff erstattet keinem Zivilisten Bericht in dessen Haus, besonders nicht zu einer bestimmten Zeit.
„Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Sheriff.“
„Sie sind doch Detective der Mordkommission, oder?“
„Das stimmt.“
„Mr. Younger ist ein alter Mann. Ich möchte ihm ungern erzählen, dass seine Enkeltochter private Probleme hatte. Ich mag ihm nicht erzählen, dass sein Mädchen vermutlich tot ist oder in einem Geisteszustand, in dem kein 17-jähriges Mädchen sein sollte. Diese spezielle Bar, in die sie gegangen ist, ist eine Absteige für Ex-Knackis, Outlaw-Biker und Typen, die dich für ein Päckchen Zigaretten aufschlitzen würden. Wir haben Montana immer den ‚letzten guten Ort‘ genannt. Jetzt ist es wie überall anders auch. Vor ein paar Jahren ging jemand in einen Schönheitssalon nicht weit südlich von hier und köpfte drei Frauen. Ich werde Ihnen mitteilen, was Dixon zu sagen hat.“
Er drückte seine Zigarette an einem Baumstamm aus, zerriss das Papier und ließ den Tabak vom Wind wegwehen.
Alafair war in die Stadt gefahren, um ein paar Flaschen Shampoo, Babyöl und Lösemittel zu kaufen, mit denen sie Albert helfen wollte, die zementartigen Verklettungen in den Mähnen und Schweifen seiner Pferde zu lösen. Als sie zurückkehrte, ging ich nach oben ins hintere Schlafzimmer, wo sie jeden Tag schrieb, von frühmorgens bis nachmittags und manchmal auch abends noch drei Stunden. Ihr erster Roman war in New York veröffentlicht worden und gut angekommen, ihr zweiter sollte diesen Sommer erscheinen und sie arbeitete bereits an einem dritten. Von ihrem Schreibtisch aus hatte sie einen großartigen Blick auf die nördliche Weide und das abfallende Scheunendach, das jeden Morgen mit Raureif überzogen war und bei Sonnenaufgang anfing zu dampfen, und eine Gruppe Apfelbäume, deren Blätter gerade begannen, auszuschlagen und die samtig grünen, baumlosen Berge dahinter. Sie hatte eine Thermoskanne mit Kaffee auf ihrem Schreibtisch stehen, hielt eine Tasse am Mund und starrte bewegungslos aus dem Fenster. Ich setzte mich aufs Bett und wartete.
„Oh, hi, Dave. Wie lange bist du schon hier?“
„Ich bin gerade erst hereingekommen. Tut mir leid, wenn ich dich störe.“
„Ist schon gut. Was hat der Sheriff gesagt?“
„Er glaubt nicht, dass Dixon ein möglicher Kandidat ist.“
Sie stellte ihre Tasse ab und sah sie an. „Ich glaube, mir ist heute ein Mann in die Stadt gefolgt.“
„Wohin in der Stadt?“
„Er hat mir in einem ramponierten Ford Pick-up auf dem Highway an der Stoßstange geklebt. Seine Sonnenblende war heruntergeklappt und ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Zwischendurch war er nur anderthalb Meter von meinem Wagen entfernt. Ich musste über Gelb fahren, um ihn loszuwerden. Als ich aus dem Heimwerkermarkt kam, parkte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
„War es derselbe Typ?“
„Es war derselbe Pick-up. Der Kerl hinter dem Steuer rauchte eine Pfeife. Ich bin zum Bordstein gegangen, um ihn besser zu sehen, da ist er weggefahren.“
„Es war nicht Dixon?“
„Das hätte ich doch dann gesagt.“
„Ich hab ja nur gefragt. Konntest du das Nummernschild sehen?“
„Nein.“
„Alafair, bist du sicher, dass der Pick-up, der auf der anderen Straßenseite geparkt hat, derselbe war wie der, der dich verfolgt hat? Du konntest das Gesicht des Fahrers nicht sehen, richtig?“
Ich bemerkte ein Leuchten in ihren Augen, das ich schon bei vielen Frauen gesehen hatte, die Anzeige erstattet hatten, weil jemand ihnen nachstellte, sie obszöne Anrufe erhielten oder gewalttätige und gefährliche Männer ihnen das Leben zur Hölle machten. Manchmal gingen ihre Anzeigen während des Verfahrens verloren; manchmal wurde ihr Anliegen bagatellisiert oder aus Bequemlichkeit ignoriert. In den meisten Mordfällen, in denen das Opfer eine Frau ist, existiert eine lange dokumentierte Vorgeschichte, die bis zum Tod der Frau reicht. Wenn jemand den Eindruck hat, diese Darstellung sei übertrieben negativ, dann empfehle ich den Besuch in einem Frauenhaus.
„Ich wünschte, ich hätte nichts gesagt, Dave.“
„Vielleicht habe ich es nicht deutlich genug erklärt. Hinter dem Haus, oben, auf dem alten Forstweg, hat sich ein obdachloser oder gestörter Mann aufgehalten. Ich versuche gerade, das in Zusammenhang mit dem Typen in dem ramponierten Pick-up zu bringen. Die zwei passen nicht. Warum sollte irgendein Typ in Montana dich als Objekt seiner Begierde auswählen?“
„Das habe ich so nicht gesagt. Ich habe dir erzählt, was passiert ist. Aber das ist wohl nicht angekommen. Also vergiss es.“
„Der Sheriff wird sich Dixon vorknöpfen und mit ihm reden. Ich werde ihn anrufen und von dem Kerl erzählen, der an deiner Stoßstange geklebt hat.“
„Er ist nicht nur dicht aufgefahren. Er ist mir gefolgt. Gut zehn Kilometer weit.“
„Ich weiß.“
„Dann hör auf, mit mir zu reden, als wäre ich eine Idiotin.“