Straße ins Nichts - James Lee Burke - E-Book

Straße ins Nichts E-Book

James Lee Burke

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Beschreibung

Im Staatsgefängnis von Louisiana wartet die junge Letty Labiche auf ihre Hinrichtung. Dave Robicheaux glaubt nicht an ihre Schuld und rollt den Fall neu auf. Dabei stößt er überraschend auf die Spur seiner vor mehr als 30 Jahren verschwundenen Mutter. Er erfährt, dass seine Mutter von zwei Polizisten aus New Orleans als unliebsame Zeugin brutal ermordet wurde. Aber je mehr er über jene längst vergangene Nacht erfährt, in der seine Mutter starb, desto stärker steht er vor der Frage: Will er Rache oder will er die Wahrheit wissen?

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James Lee Burke • Straße ins Nichts

Für Harold Frisbee und Jerry Hood,alte Freunde von der University of Missouri.

JAMES LEE BURKE

Straße ins Nichts

Ein Dave-Robicheaux-Krimi Band 11

Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt

1

Früher wurde Vachel Carmouche in den staatlichen Personalakten stets als Elektriker geführt, niemals als Henker. Das war zu der Zeit, als der elektrische Stuhl manchmal im Angola stand, mitunter aber auch auf einem Tieflader mitsamt seiner Generatoren von Bezirksgefängnis zu Bezirksgefängnis gekarrt wurde. Vachel Carmouche erledigte die Arbeit des Staates. Er machte seine Sache gut.

Wir in New Iberia wussten, welchen Beruf er ausübte, gaben uns aber ahnungslos. Er lebte allein oben am Bayou Teche in einem ungestrichenen, mit Wellblech gedeckten Zypressenholzhaus, das tief im Schatten dunkler Eichen lag. Er pflanzte keine Blumen in seinem Garten und rechte ihn selten, aber er fuhr stets ein neues Auto, das er gewissenhaft wusch und pflegte.

Jeden Morgen sahen wir ihn in aller Frühe in seinen frisch gebügelten, grauen oder khakifarbenen Sachen, eine Segeltuchkappe auf dem Kopf, allein am Tresen in einem Café an der East Main Street sitzen, wo er die anderen Gäste im Spiegel musterte, mit halb offenem Mund und leichtem Überbiss über seine Kaffeetasse gebeugt, als wollte er etwas sagen, obwohl er sich nur selten auf ein Gespräch einließ.

Wenn er einen dabei ertappte, dass man ihn anschaute, lächelte er rasch und legte das braun gebrannte Gesicht in Hunderte von Fältchen, doch das Lächeln passte nicht zu dem Ausdruck in seinen Augen.

Vachel Carmouche war Junggeselle. Falls er Freundinnen hatte, bemerkten wir nichts davon. Hin und wieder kam er in Provost’s Bar & Poolsalon, setzte sich an meinen Tisch oder neben mir an den Tresen und deutete damit unterschwellig an, dass wir beide Ordnungshüter waren und daher über eine gemeinsame Erfahrung verfügten.

Damals trug ich noch die Uniform der Polizei von New Orleans und war scharf auf Jim Beam, am liebsten pur mit einer Flasche Jax-Bier daneben.

Eines Abends traf er mich allein an einem Tisch bei Provost’s an und setzte sich, eine weiße Schale mit Gumbo in den Händen, unaufgefordert hin. Ein Tierarzt und ein Lebensmittelhändler, mit denen ich getrunken hatte, kamen aus der Männertoilette, warfen einen Blick zum Tisch und gingen dann zur Bar, kehrten uns den Rücken zu, bestellten sich ein Bier und tranken es dort.

„Man muss dafür bezahlen, dass man ein Cop ist, stimmt’s?“, fragte Vachel.

„Sir?“, sagte ich.

„Sie brauchen mich nicht mit ‚Sir‘ anzureden … Sind Sie viel allein?“

„Nicht unbedingt.“

„Ich glaube, das bringt der Beruf mit sich. Ich war einst bei der Staatspolizei.“ Er senkte den Blick und wandte die Augen, die so grau waren wie sein gestärktes Hemd, dem vor mir stehenden Schnapsglas und den Ringen zu, die mein Bierkrug auf der Tischplatte hinterlassen hatte. „Ein Trinker hört daheim allerhand Echos widerhallen. Wie wenn ein Stein in einen trockenen Brunnen fällt. Nichts für ungut, Mr. Robicheaux. Darf ich Ihnen eine Runde ausgeben?“

Das neben Vachel Carmouches Anwesen gelegene Grundstück gehörte der Familie Labiche, Nachkommen so genannter freier Farbiger, wie man sie vor dem Bürgerkrieg nannte. Der Begründer der Familie war ein französisch erzogener Mulatte namens Jubal Labiche gewesen, der am Bayou südlich von New Iberia eine Ziegelei besaß. Er hielt selbst Sklaven, die er ebenso wie die zusätzlich angemieteten gnadenlos schuften ließ, und lieferte einen Großteil der Ziegel für die Häuser anderer Sklavenhalter entlang des Teche.

Das Haus mit dem Säulenportal, das er südlich der Grenze des St. Martin Parish errichtete, wartete nicht mit italienischem Marmor oder Ziergittern aus spanischem Schmiedeeisen auf, wie die Villen der Zuckerrohrpflanzer, die weitaus vermögender waren als er und deren Lebensart er nachzueifern suchte. Aber er pflanzte immergrüne Eichen entlang der Fahrwege, hängte Blumenkästen an seine Balkons und die Veranda, und seine Sklaven hielten die Obstgärten mit den Pecan- und Pfirsichbäumen und die Anbauflächen tadellos in Ordnung. Auch wenn er nicht in die Villen der Weißen eingeladen wurde, achteten sie ihn doch als Geschäftsmann und ernsthaften Zuchtmeister und behandelten ihn auf der Straße höflich und zuvorkommend. Das genügte Jubal Labiche beinahe. Aber nur beinahe. Er schickte seine Kinder zur Ausbildung in den Norden, hoffte darauf, dass sie dort eine gute Partie machten, über die Rassenschranken hinweg, damit die hellbraune Hautfarbe der Familie Labiche, dieser Makel, der ihn trotz allem Ehrgeiz einschränkte, irgendwann endgültig verblasste.

Unglücklicherweise sprangen die Soldaten der Union, die im April 1863 den Teche aufwärts zogen, mit ihm ganz genauso um wie mit seinen weißen Nachbarn. Im Sinne der Gleichberechtigung befreiten sie seine Sklaven, brannten seine Felder, Scheunen und Maisspeicher nieder, rissen die gerippten Läden von seinen Fenstern und benutzten sie als Tragbahren für ihre Verwundeten und zerhackten seine importierten Möbel und das Klavier zu Feuerholz.

Vor 25 Jahren füllten sich die letzten erwachsenen Mitglie der der Familie Labiche, ein Mann und seine Ehefrau, mit Whiskey und Schlaftabletten ab, schnürten sich Plastiktüten um den Kopf und starben in einem geparkten Wagen hinter einem Abschleppschuppen in Houston. Beide waren Zuhälter. Beide waren Zeugen der Bundesanwaltschaft gegen eine New Yorker Mafiafamilie gewesen.

Sie hinterließen zwei fünfjährige Töchter, eineiige Zwillinge namens Letty und Passion Labiche. Die Mädchen hatten blaue Augen und rauchfarbene Haare mit dunkelgoldenen Strähnen, als wären sie mit einem Pinsel bemalt worden. Eine Tante, die morphiumsüchtig war und behauptete, eine Traiture oder Juju-Frau zu sein, wurde von Staats wegen mit der Vormundschaft betraut.

Oftmals bot Vachel Carmouche von sich aus an, auf die Mädchen aufzupassen oder sie zur Straße zu begleiten und mit ihnen auf den Bus zu warten, der sie zur Vorschule nach New Iberia brachte. Wir machten uns keine großen Gedanken über seine Fürsorge für die Mädchen. Möglicherweise entspringt all dem Bösen auch etwas Gutes, sagten wir uns, und vielleicht gibt es einen Bereich in Carmouches Seele, der nicht von den Taten beschädigt ist, die er mit den Apparaturen beging, die er eigenhändig ölte, putzte und von einem Gefängnis zum anderen transportierte. Vielleicht war seine Kinderfreundlichkeit ein Versuch zur Wiedergutmachung. Außerdem war der Staat für ihr Wohlergehen zuständig, oder nicht?

In der vierten Klasse erzählte eine der Zwillinge, Passion war es, ihrer Lehrerin von einem immer wiederkehrenden Albtraum und den Schmerzen, mit denen sie morgens aufwachte. Die Lehrerin brachte Passion zum Charity Hospital in Lafayette, aber der Arzt sagte, die wunden Stellen könnten vom Spielen auf der Wippe im City Park herrühren.

Als die Mädchen etwa zwölf waren, sah ich sie eines Sommerabends mit Vachel Carmouche draußen bei Veazeys Eisdiele an der West Main Street. Beide trugen das gleiche karierte Sommerkleid und hatten verschiedenfarbige Schleifen in den Haaren. Sie saßen in Carmouches Pick-up, dicht an die Tür gedrückt, mit leblos stumpfem Blick, die Mundwinkel nach unten gezogen, während er durch das Fenster mit einem Schwarzen in einer Latzhose sprach.

„Ich habe viel Geduld mit dir gehabt, mein Junge. Du hast das Geld gekriegt, das dir zugestanden hat. Willst du mich als Lügner bezeichnen?“

„Nein, Sir, das mach ich nicht.“

„Dann wünsch ich dir noch einen schönen Abend“, sagte er. Als eins der Mädchen etwas sagte, gab er ihm einen leichten Klaps auf die Wange und ließ seinen Pick-up an.

Ich ging quer über den mit Muschelschalen bestreuten Parkplatz und stellte mich an sein Fenster.

„Entschuldigen Sie, aber wer gibt Ihnen das Recht, anderer Leute Kinder ins Gesicht zu schlagen?“, fragte ich.

„Ich glaube, Sie haben da was falsch aufgefasst“, erwiderte er.

„Steigen Sie bitte aus Ihrem Wagen.“

„Verdammte Axt. Sie sind hier nicht zuständig, Mr. Robicheaux. Außerdem haben Sie eine Schnapsfahne.“

Er setzte seinen unter den Eichen stehenden Pick-up zurück und fuhr davon.

Ich ging zu Provost’s, saß drei Stunden an der Bar, trank und schaute dem Treiben an den Pooltischen zu und den alten Männern, die unter den hölzernen Ventilatorenflügeln Bouree und Domino spielten. Die warme Luft roch nach Talkum, trockenem Schweiß und dem grünen Sägemehl am Fußboden.

„Hat sich hier schon mal jemand Vachel Carmouche vorgeknöpft?“, fragte ich den Barkeeper.

„Geh heim, Dave“, sagte er.

Ich fuhr am Bayou Teche entlang nach Norden, zu Carmouches Anwesen. Das Haus war dunkel, aber nebenan, bei den Labiches, brannte auf der Veranda und im Wohnzimmer Licht. Ich fuhr in die Auffahrt und ging quer über den Hof zu der Ziegeltreppe. Der Boden war eingesunken, mit modernden Pecanschalen und Palmettobüscheln übersät, das weiß gestrichene Haus fleckig vom Qualm der Stoppelfeuer auf den Zuckerrohrfeldern. Mein Gesicht fühlte sich warm und vom Alkohol aufgedunsen an, und ich hatte ein Summen in den Ohren, ohne zu wissen, woher es kam.

Vachel Carmouche öffnete die Haustür und trat ins Licht heraus. Ich sah die Zwillinge und die Tante hinter ihm aus der Tür spähen.

„Ich glaube, Sie missbrauchen diese Kinder“, sagte ich.

„Sie geben eine bedauernswerte und lächerliche Figur ab, Mr. Robicheaux“, erwiderte er.

„Kommen Sie raus auf den Hof.“

Sein Gesicht lag im Schatten, und im Schein der Lampe hinter ihm flirrte sein Körper vor Feuchtigkeit.

„Ich bin bewaffnet“, sagte er, als ich auf ihn zuging.

Ich schlug ihm mit der offenen Hand ins Gesicht, dass seine Bartstoppeln wie Schotter über meine Haut scharrten und sein Speichel an meinem Ballen klebte.

Er betastete seine Oberlippe, die an den vorstehenden Zähnen aufgeplatzt war, und betrachtete das Blut an seinen Fingern.

„Sie kommen hierher, stinken nach Erbrochenem und muffiger Kleidung und wollen über mich richten?“, fragte er. „Sie sitzen im Red Hat House und schauen zu, während ich Menschen vom Leben zum Tod befördere, und wollen mich dann verurteilen, weil ich mich um Waisenkinder kümmere? Sie sind ein Scheinheiliger, Mr. Robicheaux. Verschwinden Sie, Sir.“

Er ging hinein, schloss die Tür hinter sich und schaltete das Verandalicht aus. Mein Gesicht fühlte sich in der Hitze und der Dunkelheit straff und gespannt an wie die Schale eines unreifen Apfels.

Ich kehrte nach New Orleans zurück und widmete mich wieder meinem Ärger mit Wettbüros und einer dunkelhaarigen Ehefrau aus Martinique mit einer Haut wie Milch und Honig, die mit fremden Männern aus dem Garden District heim ging, während ich in einem Hausboot auf dem Lake Pontchartrain meinen Rausch ausschlief und von einer weiten Hochebene voller Elefantengras träumte, das vom Rotorenwind der Army-Hubschrauber niedergebogen wurde.

Ich hörte allerhand Geschichten über die Labiche-Mädchen: dass sie Schwierigkeiten wegen Betäubungsmitteln hatten, sich auf sexuelle Abenteuer mit Bikern, College-Jungs und anderen windigen Bekanntschaften einließen, kleine Nebenrollen in einem Film spielten, der in der Umgebung von Lafayette gedreht wurde, und dass Letty im Gefängnis eine R&B-Platte aufgenommen hatte, die sich zwei, drei Wochen in den Charts hielt.

Wenn ich wieder mal am Boden war, schloss ich die Mädchen oft in meine Gebete ein und bedauerte zutiefst, dass ich betrunken gewesen war, als ich in ihrem Leben möglicherweise eine Änderung hätte herbeiführen können. Einmal sah ich sie im Traum auf einem Bett kauern und auf die Schritte eines Mannes vor ihrer Tür lauschen, auf die Hand, die leise den Knauf umdrehte. Doch bei Tageslicht redete ich mir ein, dass ich durch mein Versagen nur einen Bruchteil zu ihrem tragischen Leben beigetragen hatte, dass meine Schuldgefühle nur eine weitere Ausgeburt einer vom Alkohol genährten Selbstüberschätzung wären.

Vachel Carmouche wurde sein lange unterdrücktes Verlangen nach Ruhm und öffentlicher Anerkennung zum Verhängnis. Auf einer Urlaubsreise in Australien wurde er von einem Fernsehjournalisten über seinen Beruf als staatlicher Henker interviewt.

Carmouche verhöhnte seine Opfer.

„Sie versuchen den starken Mann zu markieren, wenn sie in den Raum kommen. Aber am Glanz in ihren Augen seh ich ihnen ihre Angst an“, sagte er.

Er klagte darüber, dass die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl keine angemessene Strafe für die Sorte Menschen wäre, die er vom Leben zum Tod beförderte.

„Es geht zu schnell. Sie sollten leiden. Genau wie die Leute, die sie umgebracht haben“, sagte er.

Der Journalist war so verdattert, dass er nicht weiter nachhakte.

Die Aufnahme wurde von der BBC übernommen und danach in den Vereinigten Staaten ausgestrahlt. Vachel Carmouche verlor seinen Job. Nicht seine Taten legte man ihm zur Last, sondern dass er öffentlich in Erscheinung getreten war.

Er verrammelte sein Haus und verschwand für viele Jahre, ohne dass wir je erfuhren, wohin. Eines Frühlingsabends vor acht Jahren kehrte er dann zurück, hebelte die Sperrholzplatten von seinen Fenstern und mähte mit einer Sichel das Unkraut in seinem Garten, während auf der Galerie das Radio spielte und am Grill ein Schweinebraten schmorte. Ein etwa zwölfjähriges schwarzes Mädchen saß am Rand der Galerie, ließ die bloßen Füße in den Staub baumeln und drehte träge an der Kurbel der Eismaschine.

Nach Sonnenuntergang ging er hinein und aß am Küchentisch zu Abend. Eine gekühlte Weinflasche stand ungeöffnet neben seinem Teller. Jemand klopfte an die Hintertür, worauf er sich erhob und das Fliegengitter aufstieß.

Im nächsten Moment kroch er über den Linoleumboden, während sich eine Hacke in seinen Rücken und Brustkorb, in Nacken und Schädel grub, die Wirbel bloßlegte, Nieren und Lunge zerfetzte und ihn auf einem Auge blendete.

Letty Labiche wurde nackt im Hof hinter ihrem Haus festgenommen, wo sie in einer Mülltonne einen Morgenmantel und Arbeitsschuhe verbrannte und sich mit einem Gartenschlauch Vachel Carmouches Blut vom Leib und aus den Haaren wusch.

Die nächsten acht Jahre lang nutzte sie sämtliche Mittel und Möglichkeiten, um dem Tag zu entgehen, an dem sie ins Todeshaus des Staatsgefängnisses Angola gebracht und auf einem Tisch festgeschnallt werden würde, wo ihr ein medizinisch-technischer Assistent, vielleicht sogar ein Arzt, Drogen injizierte, durch die ihr die Augen zufielen, die Muskeln in ihrem Gesicht gelähmt, ihre Atmung unterbunden und ihr Tod herbeigeführt wurde, ohne dass die Zuschauer nach außen hin etwas von ihrem Leiden wahrnahmen.

Ich hatte zwei Hinrichtungen auf dem elektrischen Stuhl beigewohnt. Sie hatten mich angeekelt und abgestoßen, obwohl ich bei beiden Männern an der Festnahme und Überführung beteiligt gewesen war. Aber keine davon ging mir so nahe wie das Schicksal, das Letty Labiche erwartete.

2

Clete Purcel hatte nach wie vor seine Privatdetektei unten an der St. Ann Street, im French Quarter, und er frühstückte immer noch jeden Morgen im Café du Monde gegenüber vom Jackson Square. Dort traf ich ihn auch an diesem dritten Sonnabend im April an, an einem schattigen Tisch im Freien, bei einer Tasse Kaffee, einem Kännchen heißer Milch und einem Teller mit einem Haufen mit Puderzucker bestreuter beignets.

Er trug ein blaues, mit großen roten Blumen bedrucktes Seidenhemd, einen Porkpie-Hut, Jesuslatschen und eine beige Hose. Sein Sakko, dessen Brusttasche entlang der Naht aufgetrennt war, hing zusammengefaltet über einem freien Stuhl. Er hatte rotblonde Haare, die er glatt zurückkämmte, ein rundliches Irengesicht und grüne Augen, die einen stets anstrahlten. Seine Arme waren so dick und fest wie ein starker Feuerwehrschlauch, voller trockener, schuppiger Hautfetzen, weil er sich ständig einen Sonnenbrand zuzog, ohne dass er jemals richtig braun wurde.

Einst war er vermutlich der beste Fahnder gewesen, den die Mordkommission der Polizei von New Orleans jemals in ihren Reihen gehabt hatte. Jetzt spürte er für Nig Rosewater und Wee Willie Bimstine flüchtige Kautionsschuldner in den Sozialsiedlungen auf.

„Ich will mir also Little Face Dautrieve grade schnappen, als ihr Lude mit ’nem Dolch aus dem Kleiderschrank kommt und mir fast den Nippel absäbelt“, sagte er. „Ich hab vor zwei Wochen 300 Eier für den Anzug bezahlt.“

„Wo ist der Zuhälter?“, fragte ich.

„Ich sag dir Bescheid, wenn ich ihn finde.“

„Erzähl mir noch mal, was mit Little Face los ist.“

„Was gibt’s da zu erzählen? Sie hat das ganze Wohnzimmer voller Ausschnitte über Letty Labiche. Ich frag sie, ob sie morbide ist, und sie sagt: ‚Nein, ich bin aus New Iberia.‘ Also sag ich: ‚Gehört man in New Iberia zur Prominenz, wenn man in der Todeszelle sitzt?‘ Sagt sie: ‚Putzen Sie sich öfter die Zähne, fetter Mann, und wechseln Sie das Deodorant, wenn Sie schon mal dabei sind.‘“

Er steckte sich ein beignet in den Mund und schaute mich an, während er kaute.

„Weswegen ist sie dran?“, fragte ich.

„Prostitution und Drogenbesitz. Sie sagt, der Cop von der Sitte, der sie hoch genommen hat, hat sich’s erst von ihr besorgen lassen und ihr dann Crack in die Handtasche geschmuggelt. Er hat gesagt, er schafft die Anzeige wegen Drogenbesitz aus der Welt, wenn sie sich regelmäßig von ihm und einem Verbindungsmann bei der Polizei bumsen lässt.“

„Ich dachte, man hat bei der Polizei aufgeräumt.“

„Richtig“, sagte Clete. Er wischte sich mit einer Papierserviette den Mund ab und ergriff sein Sakko. „Komm mit, ich liefere das hier beim Schneider ab und nehm dich zur Siedlung mit.“

„Du hast gesagt, du hättest sie dir geschnappt.“

„Ich hab Nig angerufen und ihr ein bisschen Luft verschafft … Dass du mir nicht auf falsche Gedanken kommst, Mann. Ihr Zuhälter ist Zipper Clum. Wenn Little Face auf der Straße bleibt, kreuzt er wieder auf.“

Wir parkten unter einem Baum bei der Sozialsiedlung und gingen über einen auf blanker Erde angelegten Spielplatz auf den einstöckigen Ziegelbau mit grünen Fensterrahmen und kleinen, grünen Holzveranden zu, in dem Little Face Dautrie ve wohnte. Clete befächelte sich mit der Hand das Gesicht, als wir an einem Fliegengitterfenster vorbeikamen. Er starrte durch das Fliegengitter, klopfte dann mit der Faust an den Rahmen.

„Leg die Pfeife weg und mach die Tür auf “, sagte er.

„Für Sie jederzeit, fetter Mann. Aber stellen Sie sich nicht mehr auf meine Badezimmerwaage. Sie ham sämtliche Federn kaputtgemacht“, erwiderte jemand von drinnen.

„Das nächste Mal arbeite ich gleich im Zoo. Ich halte das nicht mehr aus“, sagte Clete, als wir auf der vorderen Veranda standen.

Little Face stieß die Tür auf und hielt sie offen, als wir hineingingen. Sie trug abgeschnittene Jeans und ein weißes T-Shirt, hatte tiefdunkle Haut und dichte, glänzende Haare, die ihr bis auf die Schulter fielen. Ihre Augen waren kaum größer als Hemdknöpfe.

„Das ist Dave Robicheaux. Er ist Detective bei der Mordkommission im Iberia Parish“, sagte Clete. „Er ist ein Freund von Letty Labiche.“

Sie reckte das Kinn, schürzte die Lippen und strich sich mit den Fingern die Haare zurück. Sie hatte Stöckelschuhe an, und ihre Shorts spannten sich um Hintern und Schenkel.

„Wie wär’s, wenn du zur Abwechslung statt dem Steiß mal dein Hirn anstrengst?“, fragte Clete.

„Was will er von mir?“, fragte sie.

„Warum heben Sie all diese Zeitungsausschnitte über Letty Labiche auf ?“, fragte ich.

„Die sind für Zipper“, erwiderte sie.

„Weißt du, wie Zipper zu seinem Spitznamen gekommen ist? Weil er einem Mädchen das ganze Gesicht mit einem Rasiermesser zerschlitzt hat“, sagte Clete zu ihr.

„Wir mögen Sie nach wie vor, fetter Mann. Jeder hier unten“, sagte sie.

„Ich hasse diesen Job“, sagte Clete.

Ich legte meine Hände auf Little Faces Oberarme. Einen Moment lang wich der Kokainglanz aus ihren Augen.

„Letty Labiche wird vermutlich hingerichtet werden. Eine Menge Menschen sind dafür. Wissen Sie irgendwas, das ihr helfen könnte?“, fragte ich.

Sie spitzte die Lippen, sodass ihr Mund klein und rot wirkte, und das Wasser trat ihr in die Augen. Sie riss sich von mir los und wandte sich ab.

„Ich hab ’ne Allergie. Ich muss ständig schniefen“, sagte sie.

Auf dem Sims über ihrem kleinen Kamin standen lauter funkelnde Kerzenhalter aus blauem und rotem Glas. Ich bückte mich und hob ein angekokeltes Zeitungsfoto von Letty Labiche vom Rost auf. Ihr Gesicht sah aus, als wäre es unter eine durchsichtige, schwarzbraun gesprenkelte Glasplatte gebannt.

„Haben Sie ein bisschen Juju getrieben, Little Face?“, fragte ich.

„Bloß weil ich anschaffen geh, heißt das noch lang nicht, dass ich blöd und abergläubisch bin.“ Dann wandte sie sich an Clete. „Gehn Sie jetzt lieber, fetter Mann. Und nehmen Sie Ihren Freund mit. Ihr seid nicht mehr lustig.“

Am Sonntagmorgen ging ich mit meiner Frau Bootsie und meiner Adoptivtochter Alafair zur Messe und fuhr danach zum Haus der Labiches draußen am Bayou.

Passion Labiche harkte auf dem Hinterhof Pecanlaub zusammen und verbrannte es in einer rostigen Tonne. Sie trug Männerschuhe, eine Arbeitshose und ein zerknittertes, unter der Brust verknotetes Baumwollhemd. Sie hörte meine Schritte hinter sich und grinste mir über die Schulter zu. Ihre Haut war voller Sommersprossen, der Rücken von der jahrelangen Feldarbeit muskulös und kräftig. Wenn man ihre heitere Miene sah, konnte man sich nicht vorstellen, dass sie sich um ihre Schwester grämte. Aber sie grämte sich wahrlich, und ich glaube, nur wenige Menschen wussten, in welchem Maße.

Sie warf einen Rechen voller nassem Laub und Pecanschalen ins Feuer, worauf dichte Rauchwolken aus der Tonne aufquollen, als ob feuchter Schwefel verbrannte. Sie befächelte sich das Gesicht mit einer Illustrierten.

„Ich bin in New Orleans auf eine zwanzigjährige Nutte gestoßen, die anscheinend großen Anteil am Schicksal Ihrer Schwester nimmt“, sagte ich. „Sie heißt Little Face Dautrieve. Sie stammt aus New Iberia.“

„Ich glaube nicht, dass ich sie kenne“, sagte sie.

„Was ist mit einem Zuhälter namens Zipper Clum?“

„O ja. Zipper Clum vergisst man ebenso wenig wie Warzen im Gesicht“, sagte sie, gab einen Schnalzlaut von sich und harkte wieder weiter.

„Woher kennen Sie ihn?“, fragte ich.

„Meine Eltern waren in der Szene. Zipper Clum ist schon lange dabei.“ Dann wurden ihre Augen blicklos, so als wäre sie mit einem Gedanken befasst, der ihr durch den Kopf ging. „Was haben Sie von dem schwarzen Mädchen erfahren?“

„Nichts.“

Sie nickte, aber ihre Augen wirkten immer noch wie durchscheinend. „Die Anwälte sagen, wir hätten noch eine Chance vor dem Obersten Gerichtshof. Ich wache morgens auf und denke mir, vielleicht wird alles gut. Wir kriegen einen neuen Prozess, neue Geschworene, so wie man’s im Fernsehen sieht, lauter Leute, die missbrauchte Frauen freisprechen. Dann mache ich Kaffee, und der ganze Tag ist mir wieder vergällt.“

Ich starrte auf ihren Rücken, während sie harkte. Sie hörte auf und drehte sich um.

„Stimmt was nicht?“, fragte sie.

„Ich habe nicht erwähnt, dass Little Face Dautrieve schwarz ist“, sagte ich.

Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Mundwinkel. Mit gereckten Schultern stand sie da, hatte die Hände am Rechengriff, und ihre Haut wirkte in dem vom Feuer aufsteigenden Qualm trocken und kühl.

„Wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie für Zipper arbeitet und weiß ist?“, fragte sie.

Als ich nichts erwiderte, schweifte ihr Blick über den Hof.

„Ich melde mich wieder“, sagte ich schließlich.

„Bestimmt, mein Schöner.“

Ich betrieb einen Bootsverleih mit Köderladen am Bayou südlich von New Iberia, in Richtung Avery Island. Das Haus, das mein Vater aus Zypressenstämmen gebaut hatte, stand an einem Hang über der unbefestigten Straße, sodass die breite Galerie und das Dach aus rostigem Wellblech im Schatten der immergrünen Eichen und Pecanbäume lagen. Die Blumenbeete waren mit Rosen, Springkraut, Hortensien und Hibiskus bepflanzt, und wir hatten eine Pferdekoppel für Alafairs Appaloosa, einen Kaninchenstall und einen Ententeich am unteren Ende unseres Gartens. Von der Galerie aus konnten wir zwischen den Baumstämmen hindurch zum Landungssteg, der Bootsrampe aus Beton, dem Köderladen und dem Sumpf am anderen Ufer schauen. Bei Sonnenuntergang zog ich die Markisen zurück, die ich auf Drahtseilen über dem Dock auf gespannt hatte, und schaltete die Lichterketten an, und man konnte die Brassen sehen, die rund um die Stützpfeiler Jagd auf Insekten machten, und die zwischen den Zypressenstrünken wuchernden Inseln aus Wasserhyazinthen. Jede Nacht flackerte Wetterleuchten am Himmel über dem Golf, weiße Blitzfronten, die binnen eines Augenblicks lautlos durch die Hunderte von Kilometern mächtigen Gewitterwolken zuckten.

Ich liebte den Ort, an dem ich lebte, das Haus, das mein Vater aus von Hand gefällten, zurechtgehauenen und ineinander gefügten Stämmen errichtet hatte, und ich liebte die Menschen, mit denen ich in dem Haus lebte.

Am Sonntag aßen Bootsie und ich an dem Picknicktisch unter dem Mimosenbaum im Garten zu Abend. Der Wind war lau und roch nach Salz und laichenden Fischen, der Mond war aufgegangen, und ich konnte das junge Zuckerrohr sehen, das sich auf dem Feld meines Nachbarn wiegte.

Bootsie stellte ein Tablett mit scharfen Eiern, Schinkenscheiben, Zwiebeln und Tomaten auf den Tisch und füllte zwei Gläser mit zerstoßenem Eis und kaltem Früchtetee und gab Minzblätter dazu. Ihre Haare waren honigfarben, und sie hatte sie so geschnitten, dass sie im Nacken kurz und dicht waren. Sie hatte den zauberhaftesten Teint, den ich je bei einer Frau erlebt hatte. Er war rosig wie frische Blütenblätter, wenn eine Rose zum ersten Mal im Licht aufgeht, und lief rötlich an, wenn wir uns liebten oder wenn sie wütend war.

„Hast du Passion Labiche heute aufgesucht?“, fragte sie.

„Ja. Und es hat mir ein bisschen zu schaffen gemacht“, sagte ich.

„Wieso?“

„Eine Nutte in New Orleans, die nicht vor Gericht erschienen ist und die Clete aufgespürt hat, hatte lauter Zeitungsausschnitte über Letty aufgehoben. Ich habe Passion gefragt, ob sie sie kennt. Sie hat Nein gesagt, aber dann hat sie sich verplappert und von einem schwarzen Mädchen gesprochen. Warum sollte sie mich anlügen?“

„Vielleicht hat sie es nur vermutet.“

„Ist es üblich, dass Farbige das Schlechteste vermuten, wenn es um Ihresgleichen geht?“

„In Ordnung, du Schlauberger“, sagte sie.

„Tut mir leid.“

Sie schlug mir mit ihrem Löffel auf den Handrücken. In diesem Moment klingelte das Telefon in der Küche.

Ich ging hinein und nahm ab.

„Ich hab ’n Tipp zu Zipper Clum gekriegt. Er ist in etwa zwei Stunden in ’nem Bumsschuppen in Baton Rouge. Draußen, wo die Highland Road auf den Highway stößt … Bist du da?“, fragte Clete.

„Ja. Ich bin bloß ein bisschen müde.“

„Ich dachte, du willst was Genaueres über die Zeitungsausschnitte rauskriegen.“

„Können wir uns den Typ nicht ein andermal vornehmen?“

„Der Zip ist schwer zu erwischen“, sagte er.

Ich legte meinen .45er Army-Revolver, den ich aus Vietnam mitgebracht hatte, auf den Sitz meines Pick-ups, fuhr auf der Vierspurigen nach Lafayette und dann auf dem I-10 durch das Atchafalaya Basin. Wind kam auf und es fing an zu regnen, schwere Tropfen, die auf das Wasser in den Buchten zu beiden Seiten des Straßendamms trommelten. Die Inseln aus Weiden und Zypressen, die im ersten Laub standen, wurden vom Wind gepeitscht, und in den Buchten ging eine heftige Dünung, die sich an den Stützpfeilern der aufgelassenen Öl bohrinseln brach. Ich überquerte den Atchafalaya, der über die Ufer getreten war und die Wälder überschwemmte, ließ dann die Marschen hinter mir und fuhr wieder durch Weide- und Ackerland, bis ich vor mir die Brücke über den Mississippi und den Lichterglanz von Baton Rouge am Nachthimmel sah. Ich fuhr durch die Stadt, dann auf der Highland Road nach Osten, wieder hinaus ins offene Land, und bog in eine mit Muschelschalen bestreute Straße ein, die zu einem Wäldchen führte. Ich sah Cletes braunen Cadillac vor einem Mietshaus aus weißen Bimssteinen stehen, dessen Fenster mit Sperrholz vernagelt waren. Ein zweiter Wagen, ein neuer Buick mit getönten Fenstern, parkte neben einigen wild wuchernden Bananenstauden. Hinter den Sperrholzbrettern im ersten Stock brannte Licht, desgleichen in dem Schuppen, der über dem Treppenhaus auf dem Dach errichtet worden war.

Ich klemmte mir das Holster an den Gürtel, stieg aus dem Pick-up und ging zum Haupteingang. Mittlerweile hatte der Regen aufgehört, aber die Bäume über mir wogten nach wie vor im Wind. Der dunkelblaue Lack des Buick schillerte unter den fetten Regentropfen, die sich auf der Wachsschicht gebildet hatten.

Ich hörte Geräusche auf dem Dach, scharrende Füße, eine Männerstimme, die irgendetwas brüllte, dann ein Knacken und Knirschen, als ob etwas Schweres durch das Astwerk der Bäume brach.

Ich zog den .45er aus dem Holster, trat neben das Haus und schaute hinauf zum Dach. Ich sah Clete Purcel, der sich über die Brüstung beugte, nach unten schaute und wieder verschwand.

Ich ging zur Haustür und stieg die Treppe hinauf, bis ich auf einen Gang stieß, der voller Müll und abgebröckeltem Putz lag. Nur ein Zimmer war erleuchtet. Die Tür stand auf, und ein Stativ mit einer Videokamera war neben einem mit rotem Satin bezogenen Bett aufgebaut.

Ich stieg eine weitere Treppe zum Dach empor. Trat hinaus auf die mit Kies bestreute Bitumenschicht und sah, wie Clete einen Schwarzen hinten am Gürtel und Hemdkragen packte, auf die Brüstung zustürmte und den Mann, der wild mit den Armen ruderte, in den Baumwipfel hinabschleuderte.

„Was machst du da?“, fragte ich ungläubig.

„Die haben da unten zwei 16-Jährige Mädchen im Rudel gebumst und es aufgenommen. Zipper und seine Kumpel sind ins Filmgeschäft eingestiegen“, sagte Clete. Er trug ein Schulterholster aus Nylon und Leder, in dem ein blau-schwarzer .38er steckte. Ein abgeflachter Totschläger ragte aus seiner Gesäßtasche. „Stimmt’s, Zip?“

Er trat einem Mulatten, der mit Handschellen an die Feuerleiter angekettet war, gegen die Fußsohle. Der Mulatte hatte türkisfarbene Augen, die rund um die Iris milchig trüb verfärbt waren. Eine rundlich aufgeworfene graue Brandnarbe prangte auf seiner Wange. Seine kurz geschnittenen Haare waren fast weiß, glatt wie bei einem Weißen, die Haut wirkte straff und glänzend, wie in Plastikfolie gehüllt, und die Arme waren mit allerlei Knastkunst tätowiert.

„Robicheaux?“, fragte er, den Blick auf mein Gesicht gerichtet.

„Warum sammelt Little Face Dautrieve Zeitungsartikel über Letty Labiche?“, fragte ich.

„Die denkt doch mit dem Arsch. So soll’s ja auch sein. Sagen Sie mal, Ihr Freund hier treibt’s ’n bisschen zu toll. Wie wär’s, wenn Sie dazwischen gehn?“

„Der lässt sich von mir nichts sagen“, sagte ich.

„Jetzt kommt deine Flugstunde, Zipper. Ich weiß aber nicht genau, ob ich den Baum noch mal treffe“, sagte Clete. Er zog seinen Revolver aus dem Schulterholster und warf ihn mir zu, beugte sich dann vornüber, schloss die Handschelle auf, mit der Zipper angekettet war, und zerrte ihn auf die Beine.

„Schau mal da runter, Zip. Du brichst dir sämtliche Knochen. Garantiert. Letzte Chance, mein Guter“, sagte Clete.

„Ich hab’s euch doch schon mal gesagt. Little Face ist ’n bisschen abseitig. Ich weiß nicht, warum die so was macht.“

„Falsche Antwort, du Scheißkerl“, sagte Clete, fasste Zipper mit einer Hand am Gürtel und packte ihn mit der anderen am Nacken.

Zipper drehte sich mit weit aufgerissenem Mund zu mir um, zeigte mir seine sämtlichen silbernen und goldenen Zahnkronen und blies mich mit seinem Atem an, der nach Angst und fauligen Shrimps roch.

„Robicheaux, Ihre Mama hat Mae geheißen … Moment, bevor sie geheiratet hat, hieß sie Guillory. So hat sie sich auch genannt … Mae Guillory. Aber sie war Ihre Mama“, sagte er.

„Was?“, fragte ich.

Er leckte sich unsicher die Lippen.

„Sie hat Karten ausgegeben und nebenbei noch ein bisschen angeschafft. Hinter einem Club im Lafourche Parish. Das muss etwa 1966 oder ’67 gewesen sein.“

Clete hatte die Augen auf mein Gesicht gerichtet. „Du bewegst dich auf gefährlichem Boden, du Stinkstiefel“, sagte er zu Zipper.

„Sie haben sie in ein Schlammloch gedrückt. Sie haben sie ersäuft“, sagte Zipper.

„Sie haben meine Mutter … Sag das noch mal“, sagte ich, griff mit der linken Hand nach seinem Hemd und richtete mit der rechten Cletes .38er auf sein Gesicht.

„Die Cops waren gekauft. Von den Giacanos. Sie hat gesehen, wie sie jemand umgebracht haben. Sie haben sie in den Schlamm gedrückt und sie dann in den Bayou gerollt“, sagte Zipper.

Dann war Clete zwischen mir und Zipper, stieß mir in die Brust und schlug die Waffe in meiner Hand beiseite, als hinge sie an einer Feder. „Schau mich an, Streak! Lass gut sein! Zwing mich nicht dazu, dir eine überzubraten, mein Bester … Hey, das reicht. Wir reißen uns hier am Riemen, jawoll ja. Die unzertrennlichen Zwei von der Mordkommission kann doch nichts erschüttern.“

3

Mein Vater war ein hünenhafter, dunkelhaariger Cajun, ein Analphabet, der wegen seiner Kneipenschlägereien gefürchtet war, auch wenn er dabei einen prachtvollen Anblick bot. Er baute sich bei Provost’s, Slick’s oder Mulate’s mit dem Rücken zur Wand auf, nahm sich sämtliche Angreifer vor und drosch mit seinen mächtigen Fäusten auf die Köpfe seiner Widersacher ein, während die Cops und Rausschmeißer ihn mit Billardqueues, Stühlen und Schlagstöcken zu überwältigen versuchten, bevor er die ganze Kneipe zerlegte. Blut quoll aus seiner Kopfhaut und klebte glitzernd in seinem Bart und dem wilden Lockenhaar, doch je mehr seine Gegner auf ihn einschlugen, desto breiter grinste er und winkte die Tapferen und Unvorsichtigen in Reichweite seiner Fäuste.

Das war der Aldous Robicheaux, wie ihn die Leute in der Öffentlichkeit erlebten – um sich schlagend, die gestreiften Latzhosen vom Oberkörper gerissen, die Hände auf den Rücken gefesselt, während ihn ein halbes Dutzend Polizisten zu einem Streifenwagen abführten. Sie bekamen nie mit, was mein Vater und meine Mutter einander daheim antaten, bevor er in den Saloon ging und sich jemanden stellvertretend für den Feind in seiner Brust suchte, mit dem er nicht fertig wurde.

Meine Mutter war eine mollige, attraktive Frau, die für dreißig Cent die Stunde in einer Wäscherei arbeitete, in der hauptsächlich schwarze Frauen beschäftigt waren. Sie zog sich gern schick an, setzte ihren lavendelfarbenen Pillboxhut mit dem steifen weißen Netz auf und ging in Tanzlokale, zu Krebsbuden oder zum Fais-dodo in Breaux Bridge. Während mein Vater im Bezirksgefängnis saß, kamen andere Männer zu uns nach Hause, und zwei von ihnen boten ihr Zugang zu einer Welt, die sie für viel besser hielt als das Leben, das sie mit meinem Vater teilte.

Hank war ein in Fort Polk stationierter Soldat, ein großer, braun gebrannter Mann mit einer wulstig roten, vom Omaha Beach stammenden Narbe an der Schulter, der meiner Mutter erzählte, er gehörte der Bühnenarbeitergewerkschaft in Hollywood an. Morgens ging er immer ins Badezimmer, wenn meine Mutter bereits drin war, und ich konnte ihr Gelächter durch die Tür hören. Anschließend blieb er lange allein drin, bis der ganze Raum voller Dampf war. Wenn ich hineinging, um vor der Schule zu baden, war kein warmes Wasser mehr im Boiler, und er sagte zu mir, ich sollte mir einen Topf auf dem Küchenherd heiß machen und mich mit einem Lappen an der Spüle waschen.

„Mama möchte, dass ich ein Vollbad nehme“, sagte ich eines Morgens.

„Bedien dich, Kleiner. Schrubb die Wanne aus, wenn du fertig bist. Ich sitz nicht gern in anderer Leute Dreck“, erwiderte er.

Er roch nach Testosteron, Rasiercreme und den Zigaretten, die er immer auf dem Waschbecken ablegte, wenn er mit einem Handtuch um die Hüfte vor dem Spiegel stand und sich Lucky Tiger in die Haare kämmte. Einmal sah er, wie ich ihn im Spiegel beobachtete, drehte sich um und ließ die Fäuste spielen wie ein Preisboxer.

Er und meine Mutter stiegen 1946 in den Sunset Limited und fuhren nach Hollywood. Auf dem Bahnsteig drückte sie mich an sich und tätschelte mir ständig Kopf und Rücken, als wollte sie mir mit ihren Händen etwas mitteilen, was sie mit Worten nicht fertig brachte.

„Ich lass dich nachkommen. Ich versprech es, Davy. Du wirst Filmstars sehn, im Ozean schwimmen und auf der Achterbahn übers Wasser rausfahren. Dort isses nicht so wie hier. Es regnet nie, und die Leute haben alle so viel Geld, wie sie wollen“, sagte sie.

Als sie mit dem Bus nach New Iberia zurückkehrte, mit einem Fahrschein, den sie sich von dem Geld kaufte, das mein Vater telegrafisch einem Priester überwiesen hatte, zeigte sie mir Postkarten vom Angel’s Flight, von Grauman’s Chinese Theater und vom Strand in Malibu, als ob sich ihr Leben in Kalifornien an solch märchenhaften Orten abgespielt hätte, statt in einer Garagenwohnung neben einer Stadtautobahn, in der Hank sie eines Morgens mit leerem Kühlschrank und Mietschulden sitzen ließ.

Aber es war ein dünner, schmächtiger Bouree-Croupier namens Mack, der sie uns für immer nahm. Er besaß ein Auto, trug einen Fedora und zweifarbige Schuhe und hatte einen Schnurrbart, der aussah, als wäre er mit einem Fettstift auf die Oberlippe gemalt. Ich hasste Mack mehr als all die anderen. Er hatte Angst vor meinem Vater und war grausam, so wie alle Feiglinge. Er wusste, wie man jemanden zutiefst verletzen konnte, und hatte immer eine Erklärung parat, um seine wahren Absichten zu kaschieren, wie jemand, der ein Kind unaufhörlich kitzelt und sagt, er wollte ihm nichts zu Leide tun.

Einmal brachte meine bunt gescheckte Katze in der Scheune einen Wurf Junge zur Welt, aber Mack fand sie vor mir. Er steckte sie in einen Papiersack, beschwerte ihn mit einem Stein und versenkte ihn im Wassergraben, stieß mich mit der Hand zurück und hielt mir warnend den Zeigefinger vors Gesicht.

„Rühr mich nicht noch mal an, sonst schlage ich dich“, sagte er. „Die jungen Katzen werden groß und bringen die Hühner um, genau wie ihre Mama. Willst du etwa neue Hühner kaufen? Willst du was zu essen auf den Tisch bringen?“

Er und meine Mutter fuhren eines Sommertags in einer Staubfahne weg, nach Morgan City, wo er ihr einen Job in einem Biergarten besorgte. Ich sah sie erst viele Jahre später wieder, als ich auf die Highschool ging und mit ein paar anderen Jungs eine Straßenkneipe aufsuchte. Es war ein baufälliger Spiel- und Abschleppschuppen, auf dessen Parkplatz die Gäste mit Flaschen und Messern um die Huren kämpften. Sie tanzte mit einem Betrunkenen vor der Jukebox, hatte den Bauch an seine Lenden geschmiegt. Ihr Gesicht war nach oben gewandt, als wäre sie von seinen Worten gefesselt. Dann sah sie, dass ich von der Bar aus zu ihr schaute, sah, wie ich die Hand hob, um ihr zuzuwinken, worauf sie kurz zurücklächelte, so als meinte sie mich irgendwoher zu kennen, und mir mit ihren vom Alkohol glänzenden Augen einen trägen, versonnenen Blick zuwarf, der ebenso rasch wieder verschwand.

Ich sah sie nie wieder.

Am Montagmorgen rief mich der Sheriff in sein Büro. Er trug einen schwarzen Nadelstreifenanzug, ein rot-weiß gestreiftes Hemd mit Druckknöpfen, einen von Hand gefertigten Gürtel und halbhohe Stiefel. Auf dem Fensterbrett hinter seinem Kopf stand eine Reihe Zimmerpflanzen, die in den schmalen, durch die Jalousien fallenden Lichtstreifen leuchteten. Er hatte eine Trockenreinigung geleitet, bevor er zum Sheriff gewählt worden war, und war vermutlich nach wie vor eher Rotarier als Ordnungshüter. Aber er war mit der Ersten Marineinfanteriedivision am Staudamm von Chosin gewesen, und niemand zweifelte an seiner Rechtschaffenheit, seinem Mut und Pflichtbewusstsein, auch wenn er nie darüber sprach – mit einer Ausnahme, soweit ich weiß, als er einen Herzinfarkt hatte, glaubte, er müsste sterben, und mir von rosa-roten Explosionswolken hoch über den verschneiten Hügeln erzählte, vom Schall chinesischer Hörner in der Dunkelheit und Winden, bei denen einem die Finger anschwollen wie purpurne Ballons.

Sein Bauch hing über den Gürtel, und sein Gesicht war oft rot angelaufen, weil er zu hohen Blutdruck hatte, aber wegen seiner aufrechten Haltung, sei es im Sitzen oder im Stehen, wirkte er weitaus gesünder, als er tatsächlich war.

„Ich habe grade mit der Sheriff-Dienststelle von East Baton Rouge telefoniert“, sagte er und blickte auf einen gelben Notizblock neben seinem Ellbogen. „Die sagen, letzte Nacht wären zwei schwarze Taugenichtse im Osten der Stadt vom Dach eines Hauses geworfen worden.“

„Aha?“

„Einer von ihnen hat einen gebrochenen Arm, der andere eine Gehirnerschütterung. Sie sind nur deshalb noch am Leben, weil sie durch die Krone einer Eiche gestürzt sind.“

Ich nickte, als wüsste ich nicht genau, worauf er hinaus wollte.

„Die zwei Taugenichtse sagen, ein gewisser Clete Purcel wäre derjenige gewesen, der sie durch die Luft geschmissen hat. Wissen Sie irgendwas davon?“, fragte der Sheriff.

„Clete geht manchmal ein bisschen grob vor.“

„Das Interessanteste dabei ist, dass sich einer von ihnen das Kennzeichen Ihres Fahrzeuges gemerkt hat.“ Der Sheriff warf einen Blick auf seinen Notizblock. „Schaun wir mal, ich hab mir hier aufgeschrieben, wie sich der Sheriff von East Baton Rouge ausgedrückt hat. ‚Wer hat Ihrem Mordermittler erlaubt, mit einem Vieh wie Clete Purcel in meinem Bezirk aufzukreuzen und mit einem Baseballschläger rumzuhantieren?‘ Ich wusste nicht recht, was ich ihm darauf antworten sollte.“

„Können Sie sich an meine Mutter erinnern?“, fragte ich.

„Sicher“, erwiderte er, doch seine Augen wurden ausdruckslos, und er wich meinem Blick aus.

„Ein Zuhälter namens Zipper Clum war auf diesem Dach. Er hat mir erzählt, dass er gesehen hätte, wie meine Mutter umgebracht wurde. 1966 oder ’67. Er wusste nicht mehr genau, in welchem Jahr. Für ihn war das nicht weiter wichtig.“

Der Sheriff lehnte sich zurück, senkte die Augen und rieb sich mit zwei Fingern die Spalte an seinem Kinn.

„Meiner Meinung nach sollten Sie mir so weit vertrauen, dass Sie mir das von vornherein erzählen“, sagte er.

„Leute wie Zipper Clum lügen wie gedruckt. Er behauptet, zwei Polizisten hätten sie in einem Schlammloch ertränkt. Sie hätten jemanden erschossen und dem Toten eine Waffe in die Hand gedrückt. Meine Mutter hätte das gesehen. Das behauptet jedenfalls Zipper Clum.“

Er riss das oberste Blatt von seinem Notizblock ab, knüllte es bedächtig zusammen und warf es in den Papierkorb.

„Wollen Sie dabei ein bisschen Unterstützung haben?“, fragte er.

„Ich weiß nicht genau.“

„Ernest Hemingway hat gesagt, der Vergangenheit hinterher zu jagen sei eine beschissene Art zu leben.“

„Er hat auch gesagt, er hätte sich nie an seine eigenen Ratschläge gehalten.“

Der Sheriff stand von seinem Drehstuhl auf und goss mit einem von Hand bemalten Wasserkessel seine Pflanzen. Ich zog leise die Tür hinter mir zu.

Am Freitag nahm ich einen Tag Urlaub und fuhr wieder nach New Orleans, parkte meinen Pick-up am Rande des French Quarter und lief über der Jackson Square und durch die Pirates Alley, an den sattgrünen, schattigen Gärten hinter der St. Louis Cathedral vorbei und dann die St. Ann Street hinunter zu Clete Purcels Büro.

Das Haus war braun verputzt und besaß ein gewölbtes Foyer und einen mit Steinfliesen ausgelegten und mit Bananenstauden bepflanzten Innenhof. „Bin zur Mittagspause“ stand auf dem Schild, das am Fenster im Erdgeschoss hing. Ich ging durchs Foyer und stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo Clete in einer Zweizimmerwohnung mit einem Balkon zur Straße wohnte. Das schmiedeeiserne Balkongeländer war mit Bougainvilleen überwuchert. Abends zog Clete eine weite, knielange blaue Boxerhose an und stemmte unter einer Zimmerpalme seine Hanteln wie ein freundlicher Elefant.

„Willst du wirklich diesen Sittenpolizisten wegen Little Face Dautrieve zur Rede stellen?“, fragte er. Er hatte zwei mit frittierten Austern belegte Poorboy-Sandwiches ausgewickelt und legte sie neben zwei auf dem Tisch stehende Pappbehälter mit Schmutzigem Reis.

„Nein, ich will rausfinden, warum sie sich so sehr mit Letty Labiche beschäftigt.“

Er setzte sich an den Tisch und steckte sich eine Serviette in den Hemdkragen, sodass sie wie ein Latz über seine Brust hing. Er musterte mein Gesicht.

„Hör auf, mich so anzuschauen“, sagte ich.

„Ich hör dein Räderwerk rattern, Großer. Wenn’s nicht so läuft, wie du willst, suchst du dir den schlimmsten Typ im Karree und rammst ihm die Finger in die Augen.“

„Ich bin also derjenige, der so was macht?“

„Ja, ich glaube, das kann man durchaus so sagen.“ Er kaute einen großen Bissen Austern, Brot, Tomatenscheiben und Salat, während ein unterdrücktes Lächeln um seine Mundwinkel spielte.

Ich setzte zu einer Erwiderung an, doch Clete legte sein Sandwich hin, wischte sich den Mund ab und schaute mich mit ausdruckslosem Blick an. „Dave, dieser Sittenpolizist ist ein echter Drecksack. Außerdem halten uns eine Menge Jungs beim NOPD nach wie vor für aufgeblasene Scheißkerle.“

„Wen stört’s also, wenn wir ihnen ein bisschen auf die Füße steigen?“, fragte ich.

Er stieß den Atem aus, zog seine Seersucker-Jacke über sein Schulterholster, setzte seinen Porkpie-Hut auf und wartete an der Tür auf mich.

Wir fuhren zum Revier des First District an der North Rampart Street, unweit der Sozialsiedlung Iberville, doch der Detective, den wir suchten, ein Mann namens Ritter, war nach Mississippi gefahren, um einen Häftling abzuholen. Cletes Miene war düster, sein Hals rot, als wir wieder herauskamen.

„Ich dachte, du wärst erleichtert“, sagte ich.

Er biss sich einen Niednagel vom Daumen ab.

„Hast du gesehn, wie mich die Jungs da drin angeschaut haben? An so was gewöhn ich mich nie“, erwiderte er.

„Pfeif drauf.“

„Auf dich waren sie sauer, weil du ehrlich warst. Auf mich waren sie sauer, weil sie dachten, ich hätte Dreck am Stecken. Was für eine Bande.“

Wir stiegen in meinen Pick-up.

Ein Schweißtropfen rann unter seinem Hutband hervor und geriet ihm ins Auge. Sein Gesicht wirkte rot und hitzig, und ich nahm seinen Körpergeruch wahr, der durch die Jacke drang.

„Du hast gesagt, Little Face sollte sowohl Ritter als auch einen Verbindungsmann drübersteigen lassen. Wer ist der Verbindungsmann?“, fragte ich.

„Ein Politfuzzie namens Jim Gable. Er sitzt im Rathaus. Er war bei der Streifenpolizei des NOPD, bevor wir dazugestoßen sind.“

„Jemand, der im Rathaus sitzt, erpresst eine Nutte vom Straßenstrich, damit sie ihm sexuell zu Diensten ist?“

„Der Typ geht seit über 30 Jahren mit seinem Schwanz hausieren. Willst du ihn dir zur Brust nehmen?“

„Bist du dabei?“, fragte ich.

Clete dachte darüber nach. „Er ist im Urlaub, in seinem Haus drüben im Lafourche Parish.“ Er presste die Hände zusammen und drehte sie hin und her, dass man die Schwielen scharren hörte. „Klar, ich bin dabei“, sagte er.

Wir fuhren aus der Stadt, nach Süden, in den Lafourche Parish, und blieben fast bis zur Timbalier Bay und dem Golf von Mexiko auf dem Highway. Dann bogen wir auf eine unbefestigte Piste ab, die durch Ackerland, vorbei an farblosen Hütten und Brachen im Zuckerrohr führte, auf denen allerlei Wellblechschuppen und landwirtschaftliches Gerät standen. Inzwischen war es später Nachmittag, und der Wind hatte zugelegt und fegte durch die Zuckerrohrfelder. Wolken zogen vor der Sonne vorbei, und die Luft roch nach Regen, Salz und den modernden Kadavern toter Tiere in den Abwassergräben. In der Ferne zeichnete sich ein kaffeebraunes, von Palmen umstandenes zweistöckiges Haus mit rotem Ziegeldach vor dem stumpf schimmernden Wasser der Bucht ab.

„Wie kommt ein Cop zu so einem Haus?“, fragte ich.

„Ganz einfach, indem man eine Alkoholikerin mit einem Herzfehler in der Familie heiratet“, sagte Clete. „Halt an dem Lebensmittelladen da vorn. Ich brauch ein Bier und ’nen Kurzen. Der Typ schlägt mir auf den Magen.“

„Wie wär’s, wenn du dich mal ein bisschen zusammenreißt, Clete?“

Ich hielt vor dem Lebensmittelgeschäft an, und er stieg aus und ging hinein, ohne mir eine Antwort zu geben. Der Laden war grau und verwittert, aus den Nagellöchern suppte der Rost, und die auf Bimssteinen lagernde Galerie war durchgesackt. Daneben stand ein aufgegebener Tanzschuppen mit abbröckelndem Ziegelgemäuer und einem rot-weißen, von Schrotkugeln zersiebten Jax-Schild.

Hinter dem Nachtclub befand sich eine Reihe von Hütten, die aussahen wie alte Sklavenunterkünfte. Der Wind blies mittlerweile noch heftiger, war mit Regen durchsetzt, und Staubwolken stiegen aus den Feldern auf.

Clete kam mit einem halben Liter Bourbon in einer Papiertüte verpackt und einer offenen Dose Bier aus dem Laden. Er nahm einen Schluck aus der Flasche, trank das Bier aus und schob den Whiskey unter den Vordersitz.

„Ich hab Gable angerufen. Er sagt, wir sollen vorbeikommen“, sagte er. „Stimmt irgendwas nicht?“

„Dieser Ort hier … Es kommt mir so vor, als ob ich schon mal hier gewesen wäre.“

„Das kommt daher, weil das ein Dreckloch ist, wo die Weißen reich geworden sind, während sich ein Haufen Peons krumm und bucklig geschuftet hat. Genau wie da, wo du aufgewachsen bist.“

Als ich nicht auf seine bissige Bemerkung einging, kniff er die Augenwinkel zusammen und sprühte sich einen Strahl Atemspray in den Mund. „Warte, bis du Jim Gable kennen lernst. Sag mir danach Bescheid, ob das nicht ein ganz besonderer Typ ist“, sagte er.

Das letzte Tageslicht war verglommen, und dichter Regen fiel im Schein der Strahler, die hoch in den Palmen verankert waren, als wir durch das Eisentor auf Jim Gables Auffahrt stießen. Er trug eine weiße Hose und ein blau gestreiftes Sportsakko und grinste uns mit seinen weit auseinander stehenden Zähnen entgegen, als er die Seitentür neben dem überdachten Abstellplatz öffnete. Sein Kopf war zu groß für die schmalen Schultern.

Herzlich schüttelte er mir die Hand.

„Ich habe schon allerhand über Sie gehört, Mr. Robicheaux. Soweit ich weiß, haben Sie sich im Krieg ziemlich ausgezeichnet“, sagte er.

„Das war Clete. Ich war dort, bevor es heiß herging“, erwiderte ich.

„Ich war bei der Nationalgarde. Wir wurden nicht eingezogen. Aber ich bewundere die Leute, die da drüben gedient haben“, sagte er und hielt uns die Tür auf.

Das Innere des Hauses war in gedämpftes Licht getaucht, an den Fenstern hingen rote Samtvorhänge, und die Räume waren mit den herrlichsten Eichen- und Zypressenhölzern ausgestattet, die ich je gesehen hatte. Wir gingen durch eine Bibliothek und einen von Bücherregalen gesäumten Flur in ein mit dickem Teppichboden ausgelegtes Wohnzimmer mit hohen Glastüren und einer Kuppeldecke. Durch eine Seitentür sah ich eine Frau mit kreideweißem, totenblassem Gesicht in einem Himmelbett liegen. Ihre strohblonden Haare waren auf dem Kissen unter ihrem Kopf ausgebreitet wie wogender Seetang in der Strömung. Gable zog die Tür zu.

„Meine Frau fühlt sich nicht wohl. Möchten Sie einen Whiskey mit Soda?“, fragte er von der Bar aus, wo er mit einer Zange Eiswürfel in ein Highballglas gab. Seine Haare waren metallisch grau, dicht und glänzend, von einem scharfen Seitenscheitel durchzogen.

„Für mich nicht“, sagte ich. Clete schüttelte den Kopf.

„Womit kann ich euch dienen?“, fragte Gable.

„Ein Zuhälter namens Zipper Clum wirft mit Ihrem Namen um sich“, sagte ich.

„Wirklich?“

„Er sagt, Sie und ein Sittenpolizist vom First District interessieren sich für eine Prostituierte namens Little Face Dautrieve“, sagte ich.

„Interessieren?“

„Zipper sagt, entweder steigt sie mit euch zweien in die Kiste, oder sie fährt wegen Drogenbesitz ein“, sagte ich.

Gable warf mir einen spöttischen Blick zu. „Einer meiner Männer hat Zipper mit dem Gesicht voran auf eine elektrische Herdplatte gedrückt. Das war vor etwa 15, 20 Jahren. Ich habe den Mann gefeuert. Zipper vergisst das“, sagte Gable. Er trank einen Schluck aus seinem Glas und zündete sich mit einem goldenen Feuerzeug eine dünne Zigarre an. „Sind Sie eigens von New Iberia hierher gefahren, um sich über Korruption bei der Polizei von New Orleans zu erkundigen, Mr. Robicheaux?“

„Ich glaube, diese Prostituierte weiß etwas, das im Fall Letty Labiche hilfreich sein könnte“, sagte ich.

Er nickte mit versonnenem Blick, so als wäre er mit halb ausgegorenen Gedanken beschäftigt.

„Ich habe gehört, dass die Labiche bekehrt worden ist.“

„So heißt es“, sagte ich.

„Schon komisch, dass so was immer in der Todeszelle vorkommt. Was mich angeht, hat es Letty Labiche nicht verdient, durch die Todesspritze zu sterben. Sie hat einen Ordnungshüter umgebracht. Meiner Meinung nach sollte sie auf dem elektrischen Stuhl vom Leben zum Tod befördert werden, und zwar nicht auf einen Schlag“, sagte er.

Clete schaute mich an, dann blickte er zur Tür.

„Eine Menge Menschen sind anderer Meinung“, sagte ich.

„Glücklicherweise ist es nicht meine Aufgabe, mit Ihnen zu streiten“, erwiderte Gable. „Zu einem anderen Thema – hätten Sie Lust, sich meine Militaria-Sammlung anzuschauen?“ Er grinste wieder, verbarg seine Gefühllosigkeit, Niedertracht, moralische Verkommenheit oder was immer es sein mochte, das seinen Charakter prägte, einmal mehr hinter dem maskenhaften Lächeln, das er wie eine Glasur zur Schau trug.

„Ein andermal“, sagte ich.

Doch er hörte nicht zu. Er stieß eine mit schweren Messinggriffen versehene Doppeltür aus Eichenholz auf. Der Raum dahinter war voller verglaster Gewehrschränke, und an den Wänden hingen allerlei historische und moderne Waffen. Ein Mahagoniständer enthielt allein acht Sturmgewehre vom Typ AK-47. Auf einem Tisch darunter stand ein großes Glasgefäß, wie sie früher in Drugstores in Gebrauch waren, das mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt war. Gable tippte mit dem Fingernagel auf den Deckel, sodass der Gegenstand darin leicht erbebte und an das Glas trieb.

Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenkrampfte.

„Das ist der Kopf eines Vietcong. Mein Cousin hat ihn mitgebracht. Er war beim Phoenix-Programm“, sagte Gable.

„Wir haben alles erfahren, was wir wissen wollten“, sagte Clete zu mir.

„Habe ich Sie verprellt?“, fragte Gable.

„Uns nicht. Ich wünschte, Sie wären da drüben gewesen, Jim. Das wär genau das Richtige für Sie gewesen“, sagte Clete.

Clete und ich wandten uns zum Gehen und stießen fast mit Gables Frau zusammen. Sie trug einen Hausmantel aus weißer Seide, dazu silberne Pantoffeln und stützte sich auf einen Stock mit einem auf Gummipuffern steckenden Dreifuß. Ihre mit Rouge bedeckten Wangen und die rot bemalten Lippen erinnerten mich an eine viel zu grell geschminkte Pappmaché-Puppe. Ihr strohblondes Haar wirkte so seidig wie Maislieschen. Als sie es zurückstrich und kokett zurechtrückte, pochten kleine blaue Adern an ihren Schläfen.

„Hast du die Herren zum Abendbrot eingeladen?“, fragte sie ihren Mann.

„Sie sind bloß in einer dienstlichen Angelegenheit hier, Cora. Sie wollten grade gehen“, erwiderte Gable.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht begrüßt habe. Ich habe nicht bemerkt, wie Sie gekommen sind“, sagte sie.

„Ist schon in Ordnung“, sagte ich.

„Achten Sie nicht auf Jims Kriegsandenken. Er hat sie entweder geschenkt bekommen oder gekauft. Von Haus aus ist er ein sanftmütiger Mensch“, sagte sie.

„Ja, Ma’am“, sagte ich.

Sie legte ihre Hand in meine. Sie war so federleicht und zartgliedrig wie die Schwinge eines Vogels.

„Wir würden Sie gern wiedersehen, Sir“, sagte sie. Ihre Finger schlossen sich um die meinen, und ihr Blick war mehr als ernst.

Der Himmel war dunkel und regenverhangen, als Clete und ich wieder hinausgingen. Die Luft roch nach Ozon und Fischschwärmen, die sich in der Bucht tummelten. Am Horizont zuckten Blitze vom Himmel, und ich schaute auf das fahlgrüne Zuckerrohr, das im Wind wogte, zu der Kreuzung in der Ferne, wo der Gemischtwarenladen stand, bei dem wir gehalten hatten, und der Nachtclub mit den Hütten dahinter, und mit einem Mal fiel mir wieder ein, wann ich schon einmal dort gewesen war.

„Meine Mutter ist mit einem Mann namens Mack durchgebrannt, als ich noch ein kleiner Junge war“, sagte ich zu Clete. „Sie hat mich einmal abgeholt und mit mir in einer der Hütten hinter dem Nachtclub gewohnt.“

„Lass gut sein, Streak“, sagte er.

„Mein Vater war im Knast. Mack hat in dem Club Karten ausgegeben. Meine Mutter hat dort bedient.“

„Das war lange, bevor sie gestorben ist, Großer. Quäl dich nicht so damit rum.“

Wir waren mit dem Pick-up schon fast bis zum Tor zurückgestoßen. Ich hielt an, ging durch den Regen zur Haustür und klopfte laut.

Jim Gable hatte eine in eine Papierserviette gewickelte Truthahnkeule in der Hand, als er die Tür öffnete. Er grinste mich an. „Haben Sie was vergessen?“, fragte er.

„Stammen Sie aus dem Lafourche Parish, Mr. Gable?“

„Ich bin hier an dieser Straße aufgewachsen.“

„Meine Mutter hieß Mae Guillory. Ich glaube, sie wurde irgendwo in der Nähe ermordet. Zipper sagt, es war etwa 1966 oder ’67. Kannten Sie eine Frau namens Mae Guillory?“

Sein Gesicht verzog sich zu einer verlogen lächelnden Fratze, wie sie alle unehrlichen Menschen beherrschen – besorgt, mit halb offenem Mund, den Blick absichtlich ins Leere gerichtet.

„O nein, ich glaube nicht, dass ich den Namen schon mal gehört habe. Mae? Nein, da bin ich mir völlig sicher“, erwiderte er.

Ich stieg wieder in den Truck, setzte auf die Straße zurück und fuhr auf die Kreuzung zu.

Clete griff unter den Sitz, holte seine Halbliterflasche Whiskey hervor und schraubte mit dem Daumen den Deckel ab, während er auf das Zuckerrohr und die Abwassergräben schaute, die zu beiden Seiten vorüber huschten. Er trank einen Schluck aus der Flasche und steckte sich eine Lucky Strike in den Mund.

„Wie wär’s, wenn du das Trinken sein lässt, solange wir fahren?“, fragte ich.

„Weiß Gable irgendwas über den Tod deiner Mutter?“, fragte er.

„Darauf kannst du Gift nehmen.“

4

Am Montag fuhr ich zur Frauenhaftanstalt in St. Gabriel, 16 Kilometer südlich von Baton Rouge gelegen, und wartete, bis Letty Labiche von einer Wärterin aus dem Zellenblock in einen Besucherraum gebracht wurde. Während ich wartete, packte ein Fernsehteam mit einer Reporterin und einem Reporter, die für einen christlichen Kabelkanal tätig waren, seine Ausrüstung zusammen.

„Haben Sie Letty interviewt?“, fragte ich die Frau.

„O ja. Ihre Geschichte ist ja so tragisch. Aber zugleich auch so wunderschön“, erwiderte sie. Sie war um die 40, blond und attraktiv, wirkte stramm und knackig und trug ein pinkfarbenes Kostüm.

„Wunderschön?“, fragte ich.

„Ja, für einen Christen schon, weil es dabei um Vergebung und Hoffnung geht.“ Sie sah zu mir auf, ihre blauen Augen voller Sendungsbewusstsein.

Ich schaute zu Boden und sagte nichts, bis sie, der andere Journalist und das Team gegangen waren.

Letty trug Handschellen und Häftlingsdrillich, als sie von der Wärterin in den Raum gebracht wurde. Die Wärterin war breitschultrig, hatte ein rosiges Gesicht, kastanienbraune Haare und Arme wie eine irische Wäscherin. Sie schloss Lettys Handschellen auf und rubbelte ihr die Gelenke.

„Ich hab sie ein bisschen stramm angelegt. Kommst du hier klar, Schätzchen?“, fragte sie.

„Ist schon gut, Thelma“, sagte Letty.

Ich hätte Letty nicht von ihrer Zwillingsschwester unterscheiden können, von der Rose mit den grünen Blättern einmal abgesehen, die auf ihren Hals tätowiert war. Sie hatte den gleichen Teint, das gleiche rauchfarbene, wellige, von goldenen Strähnen durchzogene Haar, selbst das gleiche kraftvolle Auftreten. Sie setzte sich mit mir an einen Holztisch, kerzengerade, die Hände gefaltet.

„Sie kommen im Kabelfernsehen, was?“, fragte ich.

„Ja, es ist ziemlich aufregend“, sagte sie.

Doch dann bemerkte sie meinen Blick.

„Finden Sie das nicht gut?“, fragte sie.

„Alles, was Ihnen etwas nutzen kann, ist richtig.“

„Ich glaube, das sind gute Menschen. Sie waren freundlich zu mir, Dave. Ihre Sendung wird in Millionen von Haushalten ausgestrahlt.“

Dann sah ich, wie sehr sie von Angst verzehrt wurde, wie bereit sie war zu glauben, dass Ausbeuter und Scharlatane etwas an ihrem Schicksal ändern könnten oder sich wirklich darum scherten, was aus ihr wurde. Ich erkannte das ganze Ausmaß der Furcht und des Entsetzens, die sich wie kalter Dunst auf ihr niederschlugen und ihr das Herz gefrieren ließen, wenn sie morgens aufwachte und dem Hinrichtungstisch im Angola wieder einen Tag näher war. Wie viel Zeit blieb ihr noch? Sechs Wochen? Nein, es waren nur noch fünf Wochen und vier Tage.

Ich erinnerte mich an einen Filmausschnitt, in dem Letty bei einem Gottesdienst in der Gefängniskirche zu sehen war, wie sie sich vor dem Kreuz auf den Knien aufrichtete, die gefalteten Hände in theatralischer Pose hoch über dem Kopf zum Gebet erhoben. Es war ein fast peinlicher Anblick gewesen. Aber ich hatte vor langer Zeit gelernt, dass man, solange man nicht selbst seine Bewährungsprobe im Garten Gethsemane bestanden hat, nicht über jene urteilen sollte, die das Schicksal dorthin verschlägt.

„Was können Sie mir über eine Schwarze namens Little Face Dautrieve sagen?“, fragte ich.

„Was soll ich dazu sagen?“

„Sie kennen sie doch, nicht wahr?“

„Der Name kommt mir eigentlich nicht bekannt vor“, sagte sie.

„Warum sind Sie und Passion nicht bereit, mir zu vertrauen?“, fragte ich.

Sie schaute auf ihre kräftigen Hände. Die Innenseite schimmerte golden, glänzte vor Feuchtigkeit. Die Nägel waren kurz geschnitten. Ich ergriff ihre Finger.

„Geht’s Ihnen gut?“, fragte ich.

„Klar.“

Doch es stimmte nicht. Ich konnte den pochenden Puls an ihrem Hals sehen, die weiß verfärbte Haut rund um die Nasenlöcher. Sie schluckte trocken, als sie mich wieder anschaute, bemühte sich nach Kräften darum, den strahlenden Blick zu bewahren, den wiedergeborene Christen wie ein Erkennungszeichen zur Schau tragen.

„Niemand muss immerzu tapfer sein. Man darf auch mal Angst haben“, sagte ich.

„Nein, darf man nicht. Nicht, wenn man glaubt.“

Dazu fiel mir nichts mehr ein. Ich verabschiedete mich und ging hinaus in die Welt, wo es Wind gab und grünes Gras, Sonnenschein auf der Haut und Bäume, die sich vor dem Himmelsblau bogen. Es war ein Anblick, den ich nicht als selbstverständlich hinnahm.

Als ich an diesem Abend nach Hause kam, war Clete Purcel über das Geländer am Ende meines Bootsstegs gebeugt, aß aus einer Papiertüte geröstete Schweineschwarten und fegte die Krümel an seinen Händen in den Bayou. Die Sonne stand rot hinter den Eichen und Pecanbäumen in meinem Garten, der Sumpf war voller Schatten, und Raubvögel kreisten über den Wipfeln der abgestorbenen Zypressen.

Ich ging hinunter zum Bootsanleger und lehnte mich neben ihm ans Geländer.

„Der Mond geht auf. Hast du Lust, es mal mit der Stippangel zu probieren?“, fragte ich.

„Ich hab heut einen Anruf von Zipper Clum gekriegt. Er sagt, man hat ihm grade gewaltig was aufs Dach gegeben, und wir wären dafür verantwortlich.“ Er holte ein Stück Schwarte aus der Tüte und schob es sich mit Daumen und Zeigefinger in den Mund.

„Hat Gable ein paar Cops auf ihn angesetzt?“

„Sie haben ihn durch die Mangel gedreht und mit einem Haufen Typen von der Arierbruderschaft in eine Arrestzelle gesteckt. Zipper hat zwei Zähne auf dem Beton gelassen.“

„Sag ihm, er soll uns was liefern, dann helfen wir ihm.“

„Der Kerl ist ein Sumpfmolch, Dave. Sein größter Feind ist sein Mundwerk. Er reißt es zwar auf, aber er hat nichts zu bieten.“

„Das Leben ist hart.“

„Genau, das hab ich ihm auch gesagt.“ Clete riss eine Bierdose auf und stützte sich mit den Ellbogen auf den Handlauf. Der Wind strich durch das Bambusrohr und die Weiden am Rande des Bayou. „Zipper meint, er wird womöglich umgelegt. Ich sag mir, nicht schade drum, aber ich möchte nicht derjenige sein, der ihn reingeritten hat. Schau, der Kerl ist abgebrüht. Wenn der sich in die Hosen macht, dann gibt’s einen Grund dafür. Hörst du mir überhaupt zu?“

„Ja“, sagte ich geistesabwesend.