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Nach dem erschütternden Hurrikan Katrina braucht Detective Dave Robicheaux eine Auszeit. Gemeinsam mit seiner Frau Molly und seinem besten Freund Clete will er sich auf einer Ranch in Montana beim Fischen erholen. Doch die vermeintliche Idylle wird schnell durchbrochen, als zwei Studenten brutal ermordet und bei der Ranch aufgefunden werden. Robicheaux wird unmittelbar in den Fall hineingezogen, in die Machtspiele derer, die in Montana den Ton angeben. Clete hat währenddessen allerhand eigene Probleme und wird schon bald von seiner kriminellen Vergangenheit heimgesucht.
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Seitenzahl: 724
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Für unseren Sohn, James Lee Burke III,seine Frau Kara und ihren Sohn James Lee Burke IV
JAMES LEE BURKE
Ein Dave-Robicheaux-KrimiBand 17
Aus dem Amerikanischenvon Bernd Gockel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Epilog
Menschen, die traumlos schlafen, kannte Clete Purcel nur vom Hörensagen. Vielleicht lag’s an der Zeit und Umgebung, in der er aufgewachsen war, vielleicht war’s das Resultat von Erlebnissen, die sein späteres Leben geprägt hatten, er konnte es jedenfalls nicht. Schlaf war für ihn immer ein unkontrollierter Abstieg in die Krater seines Bewusstseins, wo die abscheulichsten Fratzen so ungeniert über die Stränge schlugen, als seien sie Zwerge in der Zirkusmanege.
Manchmal träumte er von seinem Vater, einem Milchmann, der morgens um Viertel nach drei aus dem Bett sprang und mit einem alten Lieferwagen losratterte, aus dem das schmelzende Eis durch die Hintertür tropfte. Wenn sein Vater mittags mit klirrenden Flaschen zurückkam – sie wohnten gleich in der Nähe der Magazine Street –, brachte er Clete und seinen beiden Schwestern gerne mal einen Beutel Eis-Lollis mit. An anderen Tagen, wenn sein Gesicht bereits vom frühmorgendlichen Alkohol verschwitzt und verschmiert war, brachen aber emotionale Blessuren und eine frühkindliche Grausamkeit aus ihm heraus, die er bevorzugt an den wehrlosesten Mitgliedern seiner Familie abreagierte.
Manchmal sah Clete in seinen Träumen eine vietnamesische Mamasan, die in der Tür ihres strohbedeckten Häuschens steht. Von einem Flammenwerfer entzündet, geht das Haus plötzlich in flüssigem Feuer auf, das sich wie ein glühender Bogen um die Frau schmiegt. Er sah einen 17-jährigen Bordschützen, der auf einer Hochzeitsparty in der Free Fire Zone sein M60 rausholt, es an einem elastischen Gummiband befestigt und dann so lange abdrückt, bis die letzten Hülsen zu Boden fallen. Er sah einen Navy-Sanitäter mit einem Helm voller Gummispinnen, der mit bloßen Händen die Gedärme eines Soldaten in den Bauch zurückzudrücken versucht. Und manchmal sah er sich auch selbst, wie er im Feldlazarett liegt, den Nacken mit schwarzer Pigmentierung übersät, den Körper durch endlose Plasmatransfusionen dehydriert, die Splitterschutzweste mit den Wunden auf seiner Brust bereits zu einem blutigen Konvolut verklebt.
Er sah sein heimatliches New Orleans, das – wie einst Atlantis – spurlos in den Wellen versinkt. Der einzige Unterschied bestand darin, dass New Orleans, das Chinesische Meer und ein Land im Mittleren Osten, das er nie besucht hatte, einen fiktiven Ort vor seinem inneren Auge erschießen ließ, dessen visuelle Bruchstücke keinerlei logischen Sinn ergaben. Er sah Blut, das über einen Dünenkamm zurück ins blaue Meer schwappt. Er sah Soldaten mit Gesichtern, die ihm merkwürdig vertraut waren, die stumm einen Hügel zu stürmen versuchten, von dem aus mit ebenso stummen Maschinengewehren zurückgeschossen wurde.
Wenn er aufwachte, hatte er den Eindruck, für Organisationen gearbeitet zu haben, die für künftige Generationen keinerlei Wert mehr besaßen, doch genau aus diesem Grund bis in alle Ewigkeit Bestand haben würden – koste es, was es wolle. Ein Psychiater hatte ihm erklärt, dass er an manischen Depressionen leide, die wiederum psychoneurotische Angstzustände auslösen. Clete seinerseits hatte den Arzt gefragt, wo zum Teufel er in den letzten 50 Jahren eigentlich gelebt habe.
Seine Träume klebten auf seiner Haut wie Spinngewebe und verfolgten ihn selbst am hellichten Tag. Wenn er sie mit Alkohol betäubte, verzogen sie sich an den Ort, wo Träume gewöhnlich überwintern, nur um zwei, drei Tage später neu aufzublühen. Wie Gespenster, die sich am dunklen Waldrand herumtreiben, irrlichterten sie durch seinen Kopf und winkten einladend zu ihm hinüber.
An diesem speziellen Morgen aber hatte sich Clete vorgenommen, seine Vergangenheit komplett auszublenden. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend wollte er in vollen Zügen den Sonnenschein genießen, um dann endlich den Schlaf des Gerechten zu schlafen.
Es war kalt, als er den Reißverschluss seines Schlafsackes öffnete. Für einen Moment kauerte er fröstelnd in dem Polyethylen-Zelt, das er an einem Bach im westlichen Montana aufgeschlagen hatte. Sein rostbraunes Caddy Coupé mit dem weißen Hardtop, von ihm selbst restauriert, parkte unter den Bäumen und war mit Frostflecken übersät. In der Entfernung sah er, wie die aufsteigende Sonne gerade den Neuschnee erreichte, der über Nacht auf den Gipfeln der Berge gefallen war. Das Ende der Schneeschmelze hatte den Bach anschwellen lassen und das schäumende Wildwasser in einen dunklen, stetig fließenden Strom verwandelt. Das Geröll an seinen Rändern warf Schatten, die auf den Kieseln des Flussbettes zu tanzen begannen. Er hörte das leise Rauschen der Kiefern und Tannen, gelegentlich unterbrochen vom dumpfen Klackern der Steine, die von der Flut vorwärtsgeschoben wurden. Für einen Moment glaubte er auch, am Ende des Feldweges ein Motorgeräusch gehört zu haben, schenkte ihm aber keine weitere Beachtung.
Er rollte ein paar Steine zu einem Kreis zusammen, legte trockene Zweige und Zapfen hinein und zündete ein Feuer an, das schon bald Funken und gelben Rauch zur Mitte des Wassers schickte. Als die Steine heiß genug waren, stellte er die Pfanne darauf und machte sein Frühstück.
Der Platz war nicht nur fürs Campen perfekt, sondern lieferte auch den idealen Ausgangspunkt, um Canyon Country zu entdecken. Er konnte von hier aus den Bach hinaufwaten, zwischendurch immer wieder mal seine Flugangel auswerfen und zusehen, wie die Fliege auf dem Wasser langsam zu ihm zurücktrieb. Er hatte den Ort nicht gezielt gesucht, sondern war zwangläufig hier gelandet, nachdem ihm die Schneeschranke auf der zweispurigen Landstraße keine andere Wahl gelassen hatte. Die Bergformationen waren majestätisch, die Klippen, nur auf den Spitzen mit kargen Ponderosa-Kiefern bewachsen, erstrahlten in ihrer nackten Schönheit, die Hänge schwammen bereits in einem Meer wilder Blumen. Die einzigen Fußabdrücke, die man im weichen Kies links und rechts des Flüsschens sah, stammten von Rehen und Elchen. Clete atmete eine Luft, die nach Holz schmeckte, nach feuchten Farnen, kalten Steinen und einem Humus, der noch nie von der Sonne berührt worden war – eine Luft vor allem, der die chemischen Keulen des industriellen Zeitalters bislang erspart blieben. Sie schmeckte so, wie sie wahrscheinlich am ersten Tag nach der kosmischen Schöpfung geschmeckt haben musste.
Er holte seine Hüftstiefel aus dem Caddy, streifte sie über, befestigte die Gummischlaufen am Gürtel und legte sich Netz und Reuse über die Schultern. Als er von einem Felsvorsprung ins Wasser watete, rutschte er auf einem bemoosten Stein aus und konnte nicht verhindern, dass Wasser in seine Stiefel schwappte. Er holte mit seinem Rutenarm aus – einmal, zweimal, dreimal – und verfolgte, wie die Schnur eine perfekte Acht bildete und dann wieder mit einem stumpfen Geräusch an seinem Ohr vorbeizischte. Beim vierten Anlauf versteifte er das Handgelenk und ließ die Fliege vorsichtig auf dem Wasser landen.
Wieder hörte er den Motor eines Trucks, der inzwischen nähergekommen war. Anscheinend nahm er gerade eine Steigung zwischen zwei kieferbewaldeten Hügeln in Angriff.
Clete ließ sich nicht ablenken, sondern verfolgte die Fliege, die langsam in seine Richtung driftete. Plötzlich sah er einen länglichen Schatten, der sich vom Ufer löste und ins hellere Wasser schoss. Eine dunkelgrüne Flosse durchtrennte die Oberfläche, klatschte einmal kurz auf das Wasser und hinterließ in der Luft einen silbrigen Spritzer. Im nächsten Moment hatte die Regenbogenforelle die Fliege geschnappt und war wieder in die Sicherheit des schattigen Ufers abgetaucht.
Aus einer Ecke seines Auges sah Clete, wie ein hellroter Diesel-Pick-up mit dem verlängerten Fahrerhaus langsam die Böschung hochfuhr und auf felsigem Boden zum Halten kam. Der Fahrer stellte den Motor nicht ab, stieg aber auch nicht aus. Von Felswänden umgeben, ratterte die Maschine wie ein vom Erdbeben erschütterter Schrottplatz.
Clete versuchte, die Leine zu spannen, als sich die Forelle davonmachen wollte, rutschte aber wieder auf den bemoosten Steinen aus. Die Spitze seiner Fenwick krümmte sich Richtung Wasser und das Zwei-Pfund-Monofil-Vorfach hielt dem Druck nicht mehr stand. Die Fenwick lag mit einem Mal wieder so leicht und nutzlos in seiner Hand, als sei sie aus Luft.
Er schaute die Böschung hinauf. Der Truck, Scheinwerfer an, stand im Schatten. Die Reflektionen auf der dunklen Windschutzscheibe machten es unmöglich, ins Innere des Wagens zu sehen. Clete ging durchs flache Wasser zurück zu der Stelle, an der er wieder festen Boden betreten konnte, streifte seine Anglerweste ab und hängte sie an einen Felsen. Angel, Netz und Reuse legte er auf den Boden. Er griff nach seinem Porkpie-Hut, lüftete ihn und zog ihn etwas tiefer in die Stirn. Ein Blick auf seinen Wagen erinnerte ihn daran, dass seine .38er Smith & Wesson vorne im Handschuhfach lag. Clete ging zu dem kleinen Lagerfeuer, hockte sich nieder und schenkte dem dröhnenden Truck demonstrativ keine Beachtung. Er nahm die Kaffeekanne von der Glut, füllte seinen Becher, punktierte mit dem Armeemesser eine Dose Kondensmilch und goss sich einen Schuss ein. Nach einer Weile stand er wieder auf, wischte die Hände an der Hose ab und richtete seinen Blick zurück zum Truck. Er starrte unverwandt auf die Windschutzscheibe, trank seinen Kaffee und rührte sich nicht vom Fleck. Seine Miene war freundlich, der Blick seiner grünen Augen fest.
Er trug ein graues Cordhemd und tiefsitzende Jeans, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatten. Auf den ersten Blick gaben ihm seine mächtigen Arme und Schultern ein fast schon affenähnliches Aussehen, doch richtete er sich erst einmal auf, brachte seine Körpergröße die Proportionen wieder ins richtige Lot. Eine rosafarbene Narbe – in Farbe und Textur dem Flickzeug für Fahrradschläuche nicht unähnlich – verlief quer über die Augenbrauen. Die Narbe, kombiniert mit seinem überdurchschnittlich guten Aussehen, der jungenhaften Frisur und seiner körperlichen Fitness, erzeugte einen Kontrast, der bei der Damenwelt bestens ankam. Dass seine Kontrahenten diese Einschätzung nicht teilten, konnte ebenso wenig überraschen.
Beide Vordertüren des Trucks öffneten sich gleichzeitig. Zwei Männer stiegen aus, grinsten zufrieden in die Runde und schauten bewundernd zu den verschneiten Berggipfeln hinauf, ganz so, als würden sie Cletes Naturliebe teilen. „Ein bisschen vom Weg abgekommen?“, fragte der Fahrer.
„Die Bundesstraße war nicht passierbar“, sagte Clete. „Schneeschranke. Bin abgebogen, um hier zu übernachten.“
„Ist keine Bundesstraße“, sagte der Fahrer. „Privatweg. Aber das wussten Sie sicher nicht.“ Er hatte einen näselnden Akzent, der aus den Appalachen stammen mochte, vielleicht aber auch aus den nördlichen Südstaaten.
„Auf meiner Karte ist es ’ne Bundesstraße“, sagte Clete. „Wären Sie vielleicht so freundlich, den Motor abzustellen? Ich krieg langsam Kopfschmerzen.“
Der Fahrer hatte eine durchschnittliche Figur, ein hageres Gesicht, ein aufgesetztes Lächeln sowie braune, ungekämmte Haare, durch die der Wind fuhr. Ein Halbkreis winziger Narben hing unter seinem rechten Auge, als habe ihm jemand beim Backen ein Ausstechförmchen ins Gesicht gedrückt. In jedem Fall war das Auge eingefallen und schien nicht mehr voll funktionstüchtig zu sein. Sein Hemd hing ihm über die Hose. „Schon was gefangen heute?“, wollte er wissen.
„Noch nicht“, sagte Clete. Er schaute zum Beifahrer, der einen Notizblock zückte. „Was haben Sie denn vor?“
Der Beifahrer war ein unrasierter, ruppig aussehender Mann mit glänzend schwarzen Haaren, dunkel schimmernden Augen und einem durchtrainierten Körper. Er trug ein säuberlich zugeknöpftes Flanellhemd, eine Cargohose mit aufgesetzten Nieten sowie einen breiten Ledergürtel, der stramm geschnürt auf seinen Hüften saß. Die Mischung aus bärbeißigem Aussehen und akkurat getragener Kleidung gab ihm eine urwüchsige Autorität, die sich in einem gesunden Selbstbewusstsein niederschlug. Er war der Typ von Mann, der Schweiß und Testosteron ganz bewusst einsetzt, um sein Gegenüber zu beeindrucken. „Ich schreibe mir Ihre Zulassungsnummer auf“, sagte er. „Vorausgesetzt, Sie haben nichts dagegen.“
„Ich hab was dagegen“, sagte Clete. „Wer seid ihr Jungs überhaupt?“
Der unrasierte Mann mit den schwarzen Haaren nickte und schrieb weiter auf seinem Notizblock. „Aus Louisiana? Ich komm auch aus dem Süden. Miss’sippi. Sie waren mit Sicherheit schon mal in Miss’sippi, oder nicht?“
Als Clete nicht antwortete, fuhr der Mann fort: „New Orleans haben sie ja regelrecht von der Landkarte ausradiert.“
„Kann man wohl sagen“, antwortete Clete. „FEMA ist das F-Wort der Stunde.“
„Na, zumindest brauchen Sie sich nun nicht mehr mit ’ner Menge Afroamerikaner rumschlagen“, sagte der Beifahrer. Er gab dem Wort eine Betonung, die offensichtlich seine akute Abneigung gegen Farbige bekunden sollte.
„Was läuft hier eigentlich ab?“, fragte Clete.
„Sie befinden sich auf Privatgrund“, sagte der Fahrer. „Unbefugter Zutritt verboten. Das läuft hier ab.“
„Ich habe kein Schild gesehen, das mich darüber aufgeklärt hätte“, sagte Clete.
Der Beifahrer war inzwischen wieder in den Wagen gestiegen, nahm ein Funkgerät vom Armaturenbrett und begann zu sprechen.
„Soll das etwa heißen, dass ihr meine Zulassung überprüft?“, fragte Clete.
„Erinnern Sie sich etwa nicht mehr an mich?“, stellte der Fahrer eine Gegenfrage.
„Nein.“
„Wird Ihnen schon noch einfallen. Sie brauchen nur 17 Jahre zurückdenken.“
„Ich sag Ihnen was: Ich pack meine Sachen, mach die Schwalbe und wir haken das Thema ab.“
„Mal schauen“, sagte der Fahrer.
„Mal schauen?“, fragte Clete.
Der Fahrer zuckte mit den Schultern, grinste aber noch immer.
Der Beifahrer beendete das Gespräch und hängte das Funkgerät in seine Aufhängung. „Sein Name ist Clete Purcel. Ein Schnüffler aus New Orleans. In seinem Wagen liegt übrigens ein Fernglas russischer Herkunft.“
„Spionieren Sie uns etwa nach, Mr. Purcel?“, fragte der Fahrer.
„Ich hab nicht die leiseste Ahnung, wer Sie überhaupt sind.“
„Oder wollen Sie mir etwa erzählen, dass Sie nicht für diese verhuschten Naturschutz-Heinis arbeiten?“
„Schluss mit dem Spuk, mein Junge.“
„Wir müssen uns noch das Innere Ihres Wagens anschauen, Mr. Purcel“, sagte der Fahrer.
„Machen Sie Scherze?“
„Sie befinden sich auf der Wellstone-Ranch“, sagte der Fahrer. „Wir können Sie entweder wegen unbefugten Zutritts festnehmen oder Sie lassen uns unseren Job machen. Und das bedeutet auch, dass wir uns Ihren Wagen anschauen. Das müssten Sie doch eigentlich noch aus der Zeit wissen, in der Sie in Tahoe als Security gearbeitet haben.“
Clete blinzelte kurz und zeigte dann mit den Fingern auf den Mann. „Sie arbeiteten als Fahrer für Sally Dio.“
„Ich war ein Fahrer der Firma, die er für diese Zwecke engagiert hatte. Ein Jammer, dass er bei diesem Flugzeugabsturz so bös unter die Räder kam.“
„Ja, eine Tragödie, die die ganze Welt erschütterte“, sagte Clete. „Ich hörte, dass sie in Palermo für zwei Minuten halbmast geflaggt hatten.“ Er beobachtete den schwarzhaarigen Beifahrer, der mit einer Werkzeugkiste zu Cletes Caddy ging. „Sagen Sie Ihrem Mann, dass er jetzt besser keinen Fehler macht. Wenn er meint, mein Auto aufknacken zu können, werd ich ihm die Backen aufreißen.“
„Halt an, Quince, halt an!“, rief der Fahrer. „Wir werden jetzt brav Mr. Purcels Angebot akzeptieren. Er wird umgehend sein Zelt abbrechen und in …“, er schaute fragend zu Clete hinüber, „… in fünf bis zehn Minuten verschwunden sein?“
Clete räusperte sich kurz und schüttete seinen Kaffee ins Feuer. „Ja“, sagte er, „sollte machbar sein.“
„Man sieht sich“, sagte der Fahrer.
„Wie war noch Ihr Name? Ich muss ihn vorhin überhört haben.“
„Ich hatte mich noch nicht vorgestellt. Macht aber nichts. Lyle Hobbs ist der Name. Vielleicht geht Ihnen jetzt ein Licht auf?“
Clete vermied jedwede Reaktion und starrte ins Leere. „Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das beste.“
Der Mann, der sich als Lyle Hobbs vorgestellt hatte, trat näher an Clete heran und neigte seinen Kopf leicht zur Seite. „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“
Clete setzte seinen Kaffeebecher ab, schob beide Hände in seine Gesäßtaschen und baute sich provokativ vor dem Fahrer auf. Halt jetzt besser den Mund, sagte er zu sich selbst.
„Das Talent, seine Gedanken zu verbergen, ist in Ihrem Fall nicht sonderlich ausgeprägt“, sagte der Fahrer. „Sie haben eins dieser Psychodrama-Gesichter, die mehr sagen als 1 000 Worte. Sie wären besser mal Schauspieler geworden.“
„Sie hatten eine sexuelle Missbrauchsklage an der Backe“, sagte Clete. „Und wanderten hinter Gitter. Das Mädchen war 13. Sie widerrief ihre Aussage später – was Ihnen erlaubte, wieder für Sally Dee zu arbeiten.“
„Na also! Wusste ich doch, dass Sie ein prima Gedächtnis haben. Ich hatte von Anfang an nicht den Hauch einer Chance. War halt eine Affäre mit der falschen Frau. Arbeitete am Blackjack-Tisch in Tahoe. Es gibt nichts Schlimmeres als die Rache einer gekränkten Frau. Verstehen Sie? Aber Sally Dee hab ich trotzdem nicht chauffiert. Ich fuhr für die Firma, die er zu diesem Zweck engagiert hatte.“
„Klar, so muss es gewesen sein“, sagte Clete und konzentrierte sich auf ein Loch in der Luft.
„Schönen Tag noch“, sagte der Mann, der sich Lyle Hobbs nannte. Er hatte seinen Kopf noch immer zur Seite geneigt und grinste ihn an. Sein schlimmes Auge erinnerte Clete an das trübe Grau einer Bleikugel.
„Gleichfalls“, sagte Clete.
Die beiden Männer gingen zu ihrem Wagen zurück und wendeten, während er damit begann, sein Zelt abzubauen und zu einem sauberen Quadrat zusammenzufalten. Er spürte die Hitze in seinem Nacken, seinen ausgetrockneten Mund und den erhöhten Blutdruck in seinen Adern. Halt dich zurück!, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Halt dich bloß zurück! Er hörte, wie die Monstertruck-Reifen über den Kies knirschten und die stählerne Stoßstange kurz den Felsboden aufkratzte. Er hob gerade noch rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie einer der überdimensionalen Reifen über seine Fenwick-Rute rollte und Graphitkolben, Spule, Rutenführung und Angelschnur in ein Rattenloch quetschte.
Clete erhob sich. „Das haben Sie absichtlich gemacht“, rief er.
„Hab’s nicht gesehen“, sagte der Fahrer entschuldigend, „großes Pfadfinderehrenwort! Und übrigens: Ich habe gesehen, wie sie die Reste von Sally Dee und seiner Crew aus den Bäumen kratzten. Du bist mir schon ein gigantisches Arschloch. Der öffentliche Campingplatz ist acht Kilometer weiter südlich. Und viel Glück beim Fischen!“
Clete, meine Frau Molly und ich hatten den Trip gemacht, weil uns ein gemeinsamer Freund namens Albert Hollister eingeladen hatte. Albert war ein pensionierter Englischlehrer und hoffnungsvoller Schriftsteller, der hier im westlichen Montana seinen Lebensabend verbringen wollte. Sein Haus stand in einem Tal, das die Bundesstraße kreuzte, die dann über den Lolo-Pass ins benachbarte Idaho führte. Er ließ ständig den Exzentriker und Störenfried raushängen, war im Grunde aber ein herzensguter Mensch. Als Jugendlicher war er einmal straffällig geworden und hatte, ohne dass seine späteren Kollegen je davon erfuhren, in einer Chain-Gang in Florida schuften müssen. Anschließend hatte er sich ein paar Jahre als Herumtreiber und Handlager über Wasser gehalten, bis er sich mit 20 im gleichen Arme-Leute-College einschrieb, das auch ich besuchte.
Für seinen Mut und seine kreativen Talente habe ich Albert immer bewundert. Meine Begeisterung ging allerdings nie so weit, diesem geborenen Don Quichotte auf seinen Feldzügen gegen alle Windmühlen dieser Welt zu folgen. Seine rostige Rüstung war immer griffbereit, auch wenn es in seinem Leben von zerbrochenen Lanzen nur so wimmelte. Dummerweise waren viele seiner Kämpfe durchaus berechtigt. Die Tragik war eigentlich nur die, dass sie nicht zu gewinnen waren. Und sie waren nicht zu gewinnen, weil die Mehrheit der Menschheit nicht gewillt ist, sich an das Kreuz auf einem biblischen Hügel nageln zu lassen.
Aber Albert blieb Albert – ein großzügiger, mutiger Mann, der sich um die wilden Tiere und Truthähne kümmerte, die sich auf sein Grundstück verliefen, der streunende Hunde und Katzen fütterte und Landstreicher und kaputte Cowboys anheuerte, denen die meisten Leute umgehend aus dem Weg gegangen wären.
Er stellte meiner Frau und mir eine Blockhütte zur Verfügung, die hinter der Scheune an einem lauschigen Bach stand und von schattigen Pappeln umrahmt wurde, während Clete im unteren Drittel des geräumigen Wohnhauses sein Quartier bezog. Unser Plan sah vor, den Sommer fischenderweise zwischen Blackfoot und Bitterroot River zu verbringen – mit möglichen Abstechern zum Lochsa River in Idaho oder gen Osten, wo wir zwischen Jefferson und Madison County die kontinentale Wasserscheide überqueren würden. Die Topografie der dortigen Wasserwege gehört mit Sicherheit zu den größten Attraktionen, die es auf diesem Planeten zu bewundern gibt: endlose Reihen von Espen und Pappeln an den Ufern, pink- und orangefarbene Steilhänge, die in die aufgewühlten Stromschnellen stürzen, gleich gefolgt von flachen, fast bewegungslosen Gewässern, die so grün und klar sind, dass sie aus transparenter Gelatine zu bestehen scheinen. Es ist der Stoff, aus dem gewöhnlich elegische Gedichte gemacht werden, doch in diesem Fall war es nicht nur Realität, sondern, wie John Steinbeck einmal schrieb, der Beginn einer lebenslänglichen Liebe.
Vom Sheriff’s Department im Iberia Parish, wo ich als Deputy meinen bescheidenen Lebensunterhalt verdiente, hatte ich mich auf unbestimmte Zeit beurlauben lassen. Rita und Katrina, ein Hurrikan tödlicher als der andere, hatten unser Haus in New Iberia verschont, doch Clete hatte hautnah verfolgen müssen, wie seine Heimat im Wasser versank. Er hatte die Katastrophe noch immer nicht völlig verarbeitet und ich war mir nicht einmal sicher, ob es je dazu kommen würde. Montana, hoffte ich, würde ihn wieder auf Vordermann bringen. Doch Clete war nun mal einer dieser Menschen, die alles in sich hineinfressen und die Warnzeichen ignorieren. Es gab da nur ein Problem: Seine Schmerzen gingen dadurch nicht weg und Alkohol, Gras und Pillen verfehlten längst ihre Wirkung.
Er hatte sich tags zuvor verabschiedet, um einen zweitägigen Trip zu Swan River Country zu machen. Doch schon am nächsten Tag sah ich, wie sein rostbrauner Caddy zur Mittagszeit an Alberts Haus vorbeischoss und mit überhöhtem Tempo in den Feldweg zu unserem Blockhaus einbog. Es war ein sonniger Tag, der perfekt begonnen hatte, doch in diesem Moment beschlich mich das dumpfe Gefühl, dass die Stimmung schnell umschlagen sollte. Und um ganz ehrlich zu sein: Ich verspürte in diesem Moment eigentlich keinerlei Bedarf, den Beichtvater zu spielen.
Er erzählte mir, was am Tag zuvor auf der Ranch passiert war – und dass diese Ranch einem gewissen Ridley Wellstone gehöre.
„Ja und? Glaubst du etwa, das sind Neonazis oder ähnliche Spinner, die sich da verstecken?“, fragte ich ihn.
„Ein Typ im Rathaus sagte mir, dass Wellstone ein reicher Kerl aus Texas sei, der erst vor einem Jahr in die Gegend gezogen sei. Was mich an der ganzen Geschichte stört, ist dieser Typ, der absichtlich über meine Angel fuhr. Er sagte, dass er mich von Lake Tahoe kenne, wo er als Chauffeur für einen Fahrdienst gearbeitet habe. Dann erwähnte er beiläufig, dass er mit eigenen Augen gesehen habe, wie man Sally Dio und seine Männer aus dem Baum gepult habe.“
Clete bemühte sich, mir in die Augen zu schauen, blickte aber schnell wieder weg. Seine Beziehung zu Sally Dio war ein Thema, dem er lieber aus dem Weg ging – genau wie den Umständen des Flugzeugabsturzes, bei dem Dio ums Leben kam.
„Nun spuck’s schon aus“, sagte ich.
„Der Typ erwähnte mehrfach, dass er nicht für Dio gearbeitet habe. Gleichzeitig machte er aber kein Geheimnis daraus, dass er ihn in Nevada chauffiert habe und auch am Ort des Flugzeugabsturzes gewesen sei. Ist es nicht seltsam, dass er sich just in dem betreffenden Reservat in Montana aufhält, wo Dios Maschine abschmiert?“
„Mit anderen Worten: Er war einer von Dios Leuten?“
„Und obendrein ein perverser Hund, der 13-jährigen Mädchen nachstellt.“
„Nun mach mal halblang“, sagte ich. „Eins nach dem anderen.“
Wir hatten uns inzwischen auf den Stühlen der kleinen Veranda niedergelassen. Meine Hüftstiefel hingen an Holzdübeln auf der Frontseite der Hütte, während ich die Angeln gegen die Balustrade gelehnt hatte, die früher einmal zum Anbinden der Pferde gedient hatte. Die Hügel von Alberts Ranch waren mit Ponderosa-Kiefern, Lärchen und Douglas-Tannen bedeckt und wenn einmal der Wind pfiff, erzeugten sie einen Klang, als würde eine Flutwelle durch ein ausgetrocknetes Flussbett schießen.
„Der Typ rollte absichtlich über meine Angel und hatte dann noch die Dreistigkeit, mir ins Gesicht zu lügen.“
„Reg dich ab, Cletus. Man schießt sich nur selbst in den Fuß, wenn man sich zu sehr in eine Sache verbeißt.“
„Hab ich ja versucht. Aber jetzt hab ich das Gefühl, als habe mir jemand Rotz ins Ohr gespuckt, der sich inzwischen dort festsetzt.“
Ich wusste natürlich, was an ihm nagte. Nachdem Sally Dees Flugzeug in einen Hügel der Flathead Indian Reservation gekracht war, hatte die Flugaufsichtsbehörde festgestellt, dass jemand Sand in die Kerosintanks geschüttet habe. Clete hatte seitdem einen Bogen um Montana geschlagen, als sei der ganze Bundesstaat toxisch verseucht. Inzwischen war die Geschichte Schnee von gestern, doch Clete konnte nicht verhindern, dass einer von Dees Männern das Feuer wieder zu entfachen versuchte.
„Vielleicht ist er ja wirklich nicht absichtlich über deine Angel gerollt. Warum sollte ein Typ wie er einen Streit mit dir vom Zaun brechen? Sally ist tot. Du hast es selbst gesagt. Der Typ im Truck ist ein Pädo. Willst du dir etwa an diesem Abschaum die Hände schmutzig machen?“
„Guter Versuch.“
„Du kannst meine Fliegenrute benutzen. Komm, lass uns noch runter zum Bitterroot fahren.“
Clete dachte einen Moment nach, lüftete den Hut und drückte ihn wieder in die Stirn. „Klar“, sagte er, „warum nicht.“
Ich beglückwünschte mich dazu, den Tag gerettet zu haben. Doch das ist eine trügerische Art zu denken, wenn man nur in Plattitüden spricht und sein Selbstbewusstsein auf Kosten anderer aufbaut.
Es war früher Abend, als der rote Truck mit dem röhrenden Diesel den Feldweg entlanggebraust kam. Obwohl das Tal nur teilweise im Schatten lag, hatte er das Fernlicht an und fuhr so schnell, dass die Monstertruck-Reifen im Stakkato durch die Schlaglöcher ratterten. An der Einfahrt zu Alberts Haus bremste er kurz ab, ganz so, als wolle man die Hausnummer am Eingang überprüfen. Cletes Caddy stand auf der Böschung neben der Garage und sah mit seinem weißen Hardtop und der gewachsten Lackierung wie die fleischgewordene Autoreklame aus den Fünfzigern aus.
Der Truck beschleunigte wieder, verschreckte prompt die Pferde auf der Weide und näherte sich unserer Hütte. Molly war drinnen und bereitete gerade die Forellen fürs Abendessen vor, zu dem wir auch Albert und Clete geladen hatten. Ich verfolgte, wie der Truck in unsere Einfahrt einbog und verspürte das gleiche dumpfe Gefühl, das mich beim Erhalt einer nebulösen Einschreibsendung beschleicht. Ich hatte die Bedeutung der Begegnung, die Clete mit den Sicherheitsleuten der Wellstone-Ranch hatte, offensichtlich sträflich unterschätzt.
„Kann ich helfen?“, fragte ich und stand von meinem Stuhl auf.
Die beiden Männer, die aus dem Truck kletterten, sahen exakt so aus, wie Clete sie beschrieben hatte. Der Mann mit dem lädierten Auge schaute zur Veranda hoch und grinste mich unmerklich an. Er trug ein kurzärmliges, bedrucktes T-Shirt, das ihm über die Hose hing. „Mein Name ist Lyle Hobbs“, sagte er. „Das da drüben ist Albert Hollisters Haus, oder?“
„Was ist damit?“
Er schaute auf das Nummernschild hinten auf meinem Truck, das mich eindeutig als Bewohner Louisianas identifizierte.
„Weil mir der Fahrer des Caddys da drüben hoch und heilig schwor, dass er nicht für irgendwelche Naturschutz-Seelchen arbeiten würde. Was aber offensichtlich nicht der Fall ist. Er hat mich also belogen.“
„Er arbeitet für niemanden, zumindest nicht in diesem Bundesstaat.“
„Wenn ich zwei und zwei zusammenzähle, komme ich zu einem anderen Schluss. Und ich hasse es, belogen zu werden, Mister. Es macht mich fuchsteufelswild.“
Ich ließ die Unterstellung unbeantwortet. „Dann sollten Sie’s vielleicht mit einem Tapetenwechsel versuchen.“
Der andere Mann – unrasiert und mit dichten, ungepflegten schwarzen Haaren, die erste Grautöne zeigten – kam um den Wagen und stellte sich vor seinen Freund. „Wie heißen Sie, Bürschchen?“
„Wie haben Sie mich genannt?“
„Ich habe Sie gar nichts genannt. Ich habe Sie nach Ihrem gottverdammten Namen gefragt.“
Ich hörte, wie Molly auf die Veranda kam. Die Augen der beiden Männer wanderten zu ihr hinüber.
„Was ist los, Dave?“, fragte sie.
„Nichts.“
„Sagen Sie Mr. Purcel, er soll seine Nase gefälligst nicht in anderer Leute Angelegenheiten stecken“, sagte der Typ, der sich Lyle Hobbs nannte. „Mr. Wellstone ist ein honoriger Mann. Wir werden nicht zulassen, dass Wanzen wie Mr. Purcel seinen Namen beschmutzen. Richten Sie ihm das gefälligst aus!“
„Richten Sie’s ihm doch selber aus“, sagte Molly. Sie hielt eine schwere gusseiserne Pfanne in der Hand, mit der man gewöhnlich Arbeitertrupps oder andere größere Gruppen bekocht.
Der Mann mit den schwarzen Haaren fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger am unrasierten Hals hoch, rollte ein Streichholz zwischen seinen Lippen und ließ einen interessierten Blick über Mollys Figur gleiten. „Da steht wohl einer schwer unterm Pantoffel“, meinte er spöttisch.
Ich ging die Stufen der Veranda hinunter und spürte, wie sich mein alter Feind in meiner Brust zu Wort meldete. Die Nerven in meinen Händen waren elektrisch geladen. „Ich würd euch jetzt dringend empfehlen, eure Ärsche umgehend von hier zu entfernen“, sagte ich ruhig.
Der Mann namens Lyle Hobbs starrte mir noch immer unverwandt ins Gesicht, konnte ein Flackern in seinen Augen aber nicht verbergen. „Okay“, sagte er, „wir machen jetzt die Biege. Sie sorgen dafür, dass wir nicht zurückkommen müssen. Und glauben Sie mir: Diese Worte meine ich ernst.“
Er ging zurück zu seinem Truck, drehte sich aber noch einmal um und steckte den kleinen Finger in eins seiner Ohren. Nachdem er fündig geworden war, schnippte er das Ohrenschmalz mit seinem Fingernagel weg. In einer Ecke seines Mundes hatte sich eine Furche gebildet, die plötzlich so markant war, als sei sie in Stein gemeißelt. „Robicheaux“, sagte er. „Stimmt’s?“
„Und?“
„Was Sally Dee für Sie und Mr. Purcel empfand, war der reine und ungefilterte Hass. Er pflegte sich immer auszumalen, was er eines Tages mit Ihnen anstellen würde. Ich sah einmal, wie er einer Nutte ein Glasauge ausschlug, nur weil sie Ihren Namen erwähnt hatte. Wenn der Gute erst einmal in Fahrt kam, konnte er schon ein richtiger Stinker sein.“
Als er mit seinem Kumpan zurück zur Bundesstraße fuhr, hatten die letzten Sonnenstrahlen das Tal in ein dunkles Rot getaucht.
„Was war das denn, Dave?“, wollte Molly wissen.
„Ärger.“
Das Tal war bereits im Dunkel versunken, auch wenn die Sonne noch immer am Himmel stand, und Alberts Gangpferde mümmelten zufrieden am Bach, als ich nach dem Abendessen das Gespräch auf unsere Besucher brachte.
„Und sie arbeiten als Security für einen Mann namens Ridley Wellstone?“, fragte Albert. „Aus Texas?“
„Sie schienen dich namentlich zu kennen.“
Albert hatte hohe Wangenknochen, intensive Augen und eine feinporige Gesichtshaut, die von dem Missbrauch früherer Jahre kein Zeugnis abzulegen schien. Er hatte weiße Haare, die über den Kragen gingen, und trug oft einen australischen Schlapphut, der an einer Lederschnur um seinen Nacken hing. Sein Profil erinnerte mich immer an Lord Byron – ein Poet, der durch die Ruinen der Zivilisation wandert und gelegentlich ein Steinfragment in die Hand nimmt, das ihn an das verflossene Empire erinnert.
„Sieht mir ganz danach aus, als seien das unwichtige Statisten“, sagte er. „Wie war nochmal der andere Name, der in eurem Gespräch auftauchte?“
„Clete hatte mal eine üble Phase in seinem Leben, in der er mit undurchsichtigen Zockern in Vegas und Tahoe zu tun hatte. Einer von ihnen war Sally Dio.“
„Sprechen wir hier über die Dio-Familie aus Galveston?“
Ups.
„Genau die“, sagte ich.
„Das waren aber keine Zocker, sondern Zuhälter. Sie kontrollierten ausnahmslos alle großen Bordelle. Und für die hat Clete gearbeitet?“
„Nur kurz. Bis sie seine Hand in eine Autotür hielten und die Tür zuknallten.“
Albert legte seine Stiefel auf die untere Planke der Balustrade und ließ seinen Blick über die Wiesen schweifen. Vor drei Jahren hatte er seine Frau verloren. Parkinson. Keine Kinder. Sein Leben bestand nun ausschließlich aus dieser Ranch und einer Pferdezucht, die er auf der anderen Seite des Berges betrieb. Ich fragte mich, wie ein so impulsiver Mensch wie er mit der Einsamkeit klarkommt. Ich fragte mich auch, ob ihn seine Gedanken nicht manchmal in den Wahnsinn treiben. „Falls die Typen noch einmal aufkreuzen sollten, schick sie zu mir“, sagte er.
Was definitiv keine gute Idee war.
„Hast du gehört, Dave?“, fragte er.
„Klar, Albert.“
„Schau dir die Pferde da drüben im Gras an. Gibt es einen schöneren Platz irgendwo auf der Welt? Ich wüsste nicht, wozu ich fähig wäre, wenn mir jemand diesen Platz wegzunehmen versuchte.“
Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich an so etwas wie Karma glaube, doch wenn man die Summe all seiner Erfahrungen Revue passieren lässt, fällt es schwer, nicht über gewisse Gesetzmäßigkeiten zu stolpern. Schließlich würde auch niemand behaupten, dass Metallpartikel, von einem Magneten angezogen, völlig zufällig geometrische Muster erzeugen.
Am Samstagmorgen fuhren Molly und Albert nach Missoula, um im Costco am Rande der Stadt ein paar Lebensmittel zu kaufen. Auf dem Rückweg legten sie noch einen Zwischenstopp ein, um den neuen Circle Y-Sattel abzuholen, den Albert in Auftrag gegeben hatte. Die betreffende Sattlerei befand sich gleich auf der Rückseite einer Cenex-Tankstelle. Während Albert seinen Sattel bezahlte, hatte sich Molly einen Softdrink gekauft und schaute nun zu, wie Kunden ihre Autos betankten oder sich beim Drive-In des benachbarten Fast-Food-Restaurants einreihten. Es war ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch. Der Himmel erstrahlte in seinem tiefsten Blau, während der Neuschnee, der über Nacht auf die Rattlesnake Mountains niedergegangen war, die strahlend weißen Tupfer lieferte. Ein Samstag in Amerika, dachte sie, wie er amerikanischer nicht sein könnte: Die Familie deckt sich für die Woche mit Lebensmitteln ein und redete spontan und gutgelaunt mit Nachbarn wie Fremden.
Auf dem Zeitschriftenständer hinter ihr machte der Missoulian mit der Schlagzeile auf, dass in einem nahen Canyon, nicht weit vom Campus der University of Montana entfernt, die Leiche einer Studentin gefunden worden sei. Auf dem Foto, dem Jahrbuch ihres letzten Highschool-Jahres entnommen, sah das Mädchen milde die Menschen an, die nun gefühllos an ihr vorbeigingen.
Eine weiße, anscheinend vollbesetzte Limousine hatte an einer Tanksäule angehalten. Ein Mann, der nahezu zwei Meter messen musste, stieg hinten aus, stützte sich auf zwei Alu-Krücken und näherte sich der Tankstelle. Er trug einen grauen Stetson, spitze, glänzende Stiefel, ein lila Hemd mit offenem Kragen sowie einen grauen Anzug mit lila Nadelstreifen. Doch es war sein eingefallenes, schmerzverzerrtes Gesicht, das die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Zu allem Überfluss hatte er sichtlich Mühe, eigenhändig die schwere Glastür der Tankstelle zu öffnen. Molly wunderte sich schon, warum niemand seiner Begleiter ausgestiegen war, um ihm dabei zu helfen. Sie musste sich geradezu zwingen, möglichst unbeteiligt nach vorne zu schauen, um den Eindruck zu vermeiden, ihn unverhohlen anzustarren. Als er in der Schlange vor der Kasse stand, um seine Zeitung und eine Packung Zigarillos zu bezahlen, beobachtete sie aus den Augenwinkeln seine verkrampften Kiefer und die unnatürliche Körperhaltung. Sie sah eine muskuläre Anspannung, die man gewöhnlich nur bei Patienten mit schwerem Rückenleiden sieht. Die Schmerzen am Ende des Rückgrats werden dann so unerträglich, als würde man mit dem Daumen direkt auf den Ischiasnerv drücken.
Die Kassiererin versuchte die Packung zu scannen, bekam aber nur eine Fehlermeldung. „Wissen Sie vielleicht, was der Preis ist?“, fragte sie.
„Nein, weiß ich nicht“, sagte der Mann.
„Tut mir leid, aber ein Kollege muss schnell einen Preis-Check machen“, sagte die Kassiererin.
„Kein Problem“, sagte der Mann.
Aber er hatte Probleme. Er drückte seine Hände so fest gegen die Griffe der Krücken, dass seine Knöchel schon weiß waren. Sein Gesicht war grau und grobkörnig, das Atmen fiel ihm schwer. Einmal, als er sein Gewicht zu verlagern suchte, sah sie, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Der Junge, der den Preis finden sollte, kam zurück und sagte kleinlaut, dass er das Regal mit den Zigarillos nicht finden könne.
„Sir“, sagte Molly, „kann ich vielleicht behilflich sein?“
„Danke“, sagte der Mann, „ich komme schon zurecht.“
„Ich hab früher mal als Krankenschwester …“
„Mir geht’s gut“, sagte er mit ausdruckslosem Gesicht, ohne sie dabei anzuschauen.
Sie fühlte sich in ihrer Haut zunehmend unwohl und entschloss sich, nach draußen zu gehen. Als sie ihre leere Dose in den Abfall warf, sah sie Albert, der gerade seinen neuen Sattel in den Hardtop-Aufsatz seines verkratzten Pick-ups warf. Er schloss die Tür und riss die Verpackung eines Hershey-Riegels auf. „Kannst du fahren?“, fragte er.
Als Molly mit dem Wagen zurücksetzte, war ihre Sicht begrenzt. Die Reflektionen der gleißenden Morgensonne hatten die Funktion des Rückspiegels auf ein Minimum reduziert. Dummerweise hatte die weiße Limousine, die einem einparkenden Campmobil Platz machen wollte, ebenfalls den Rückwärtsgang eingelegt. Mollys Anhängerkupplung krachte ins Hecklicht der Limo und ließ einen Haufen Scherben und Chromsplitter auf dem Boden zurück.
Lyle Hobbs öffnete die Fahrertür und stieg aus, um den Schaden zu inspizieren. Er biss sich auf die Lippe, stemmte seine Fäuste in die Hüften, atmete einmal tief durch und nahm seine Pilotensonnenbrille ab.
„Vielleicht hätten Sie mich ja gesehen, wenn ich auf einem Elefanten geritten wäre“, bluffte er Molly an.
„Das haben Sie hübsch gesagt. Tatsache ist aber nun mal, dass man nach dem Tanken nicht rückwärts die Tankstelle verlässt. Es gibt hier eine Einfahrt und eine Ausfahrt: Man fährt in die Einfahrt, tankt und fährt dann durch die Ausfahrt hinaus. Jedenfalls halten das die meisten zivilisierten Leute so. Vielleicht haben Sie ja Probleme mit Ihren getönten Scheiben? Kann man durch die Dinger überhaupt etwas sehen?“
„Mrs. Robicheaux, wenn ich nicht irre?“, fauchte er. „Sagen Sie jetzt besser nichts. Ich mag mein Glück nicht fassen, dass uns der Zufall schon wieder zusammengeführt hat.“
„Der Truck ist mein Eigentum“, sagte Albert, der inzwischen ebenfalls ausgestiegen war. „Sprechen Sie also besser mit mir.“
Lyle Hobbs ignorierte ihn und starrte weiterhin in Mollys Gesicht. „Vielleicht können Sie mir mal erklären, warum wir immer nur Ärger mit Leuten wie Ihnen haben? Hat das etwa damit zu tun, dass ich ungewollt über Mr. Purcels Angel gerollt bin?“
„Ich habe den Eindruck, als würden Sie mit Leuten wie Ihnen auf eine ganz spezifische Gruppe anspielen, die sich mir aber nicht erschließt. Was genau verstehen Sie unter Leuten wie Ihnen? Das ist eine Frage, auf die ich mir schon immer eine Antwort gewünscht habe.“
Die grau getönten Scheiben der Limo wurden ein Stück heruntergelassen. Eine goldblonde Frau auf dem Rücksitz beugte sich heraus. Die Sonne gab ihrem Teint und den blauen Kontaktlinsen eine dramatische Wirkung. „Wir sind spät dran, Lyle“, rief sie. „Schau dir ihre Autoversicherung an und stell sicher, dass sie nicht abgelaufen ist. Um den Rest kann sich unser Anwalt kümmern.“
„Ihr Anwalt kann mich mal, Ma’am“, sagte Molly. „Ihr Wagen ist eindeutig rückwärts in meinen gefahren.“
Molly war sich schmerzlich bewusst, dass sie nicht so überzeugend klang, wie sie es sich erhofft hätte. Der Mann, der hinter der goldblonden Frau saß, schaute sie grinsend an – wenn grinsend denn das treffende Wort war. Seine Haut sah aus wie eine rote Gummimaske, die jemand einer Schaufensterpuppe übers Gesicht gespannt hat, war gleichzeitig aber auch abstoßend runzelig. Die Nase war nicht mehr als ein kleiner Hubbel mit zwei Löchern, der Mund – offensichtlich eine chirurgische Rekonstruktion – ähnelte eher einem schief hängenden Schlüsselloch und legte ungewollt beide Zahnreihen offen. Der Mann hatte ein Champagnerglas in der Hand und toastete Molly zu.
Sie fühlte eine Mischung aus Ekel und Scham. Hinter sich hörte sie das Klappern metallischer Krücken.
„Ich hab aus der Tankstelle alles gesehen“, rief der Mann mit den Krücken. „Es war unsere Schuld. Wir werden auch für Ihre Reparatur aufkommen.“
„Dieser Mann hier ist Albert Hollister, Mr. Wellstone“, sagte Lyle Hobbs.
Der Mann mit den Krücken hielt an. „Sie sind Hollister? Wirklich?“
„Was soll das denn bedeuten?“, fragte Albert.
„Ach, vergessen Sie’s“, sagte Wellstone. „Wie groß ist der Schaden an Ihrem Wagen?“
„Die Stoßstange ist leicht verkratzt. Das ist alles.“
„Dann hat sich das Problem also hiermit in Luft aufgelöst“, sagte Wellstone. „Sehe ich das richtig?“
„Ihr Fahrer schuldet Mrs. Robicheaux eine Entschuldigung.“
„Es tut ihm leid“, sagte Wellstone.
Er öffnete die Beifahrertür, stieg ein und lehnte seine Krücken neben sich gegen den Ledersessel. Während er mit einer Hand die Tür zuschlug, öffnete er mit der anderen die Zeitung.
„Warum habe ich das unschöne Gefühl, als habe mir gerade jemand auf die Schuhe gespuckt?“, fragte Molly.
Albert versuchte gerade, einen Geruch zu erschnüffeln, der ihm vorher nicht aufgefallen war. Er bückte sich und schaute unter die Stoßstange.
„Was ist los?“, fragte Molly.
„Die Anhängerkupplung hat ein Loch in den Benzintank geschlagen. Ich muss einen Abschleppwagen besorgen. Der Tank muss entweder geschweißt oder ausgetauscht werden.“
„Ich hätte die Limo sehen müssen“, sagte Molly. „Dave und ich werden den Schaden bezahlen.“
Albert war in Gedanken woanders. „Mir fiel ein, wo ich den Namen dieses arroganten Flegels schon mal gehört habe.“
Im Lokalfernsehen drehte sich an diesem Nachmittag alles um den Mord an der Studentin. Bei Sonnenuntergang am Abend zuvor war sie mit ihrem Freund zu einer kleinen Klettertour aufgebrochen, die sie von der University of Montana hinauf in die Berge führte. Zuletzt wurden sie gesehen, als sie den Trampelpfad verließen und sich querfeldein durch die Bäume Richtung Berggipfel schlugen. Das Mädchen wurde drei Kilometer weiter in einem ausgetrockneten Flussbett gefunden. Ihr Schädel war zerschmettert, ihr Körper mit Blutergüssen übersät. Von ihrem Freund fehlte jede Spur.
Der High Sheriff von Missoula County hieß Joe Bim Higgins und war ein lebender Anachronismus. Er hatte sein Amt angetreten, nachdem sich sein Vorgänger bei einem Sturz vom Scheunendach das Genick gebrochen hatte. Joe Bim rollte seine Zigaretten selbst, zumindest wenn er sich unbeobachtet wähnte, und stopfte seine Hosen in mexikanische Stiefel, die mit rotgrünen Blumenmustern verziert waren. 1983, bei der US-Invasion in Grenada, hatte ein Einsatz am sogenannten Heartbreak Ridge bei ihm bleibende Spuren hinterlassen: Als drei Meter neben seinem Schützengraben eine Phosphorgranate einschlug, hatte die plötzliche Hitze eine Gesichtshälfte derart versengt, dass sie anschließend mehr Ähnlichkeit mit einer verwelkten Tapete hatte. Higgins trug einen der übergroßen Filzhüte, die Tom Mix in seinen Westernfilmen trug, doch sein Aussehen interessierte ihn ebenso wenig wie die Aussicht auf weitere Beförderungen.
In den frühen Morgenstunden waren wir kurz wach geworden. Wir hatten den Eindruck, als sei auf der anderen Seite des Bergkamms, ein Stück hinter Alberts Haus, ein Blitz eingeschlagen. Nicht auszuschließen, dass der Blitz auch ein Feuer ausgelöst hatte. Doch als ich auf die Veranda trat, sah ich in einen klaren Himmel mit blinkenden Sternen hinauf. Von einem Feuer war weit und breit nichts zu sehen. Dann aber sahen wir das kreiselnde Rot-Blau von mehreren Unfallwagen, die sich offensichtlich einen Weg durchs benachbarte Tal bahnten. Kurz darauf tauchte am Horizont sogar ein Hubschrauber auf, der mit einem Scheinwerfer den entfernten Hang abtastete.
Bei Sonnenaufgang bog Joe Bim Higgins’ Dienstwagen in Alberts Einfahrt ein. 15 Minuten später – Molly hatte sich noch nicht einmal angezogen – standen beide vor unserer Holzhütte und klopften an der Tür. Ich trat auf die Veranda und drückte die Tür wieder ins Schloss, da es morgens doch noch unangenehm kalt war. Ein Hubschrauber, diesmal ohne Scheinwerfer, sauste direkt über unsere Köpfe und jagte den weidenden Pferden einen Schrecken ein.
Joe Bim nahm seine Selbstgedrehte aus dem Mund. Das Papierchen am Ende der Zigarette war schon völlig durchnässt. Er fragte mich, ob ich vor zwei Tagen vielleicht ungewöhnliche Aktivitäten hinter Alberts Haus beobachtet habe.
„Gesehen hab ich nichts“, sagte ich. „Könnte sein, dass ich ein Fahrzeug gehört habe.“
„Um welche Zeit?“
„Nach Mitternacht. Ich hab der Angelegenheit aber nicht übermäßig viel Aufmerksamkeit geschenkt.“
„Was für ein Fahrzeug?“
„Ein gewöhnlicher Pkw, würde ich meinen.“
Er holte einen Notizblock heraus. „Und Sie hielten es nicht für ungewöhnlich?“, fragte er, ohne von seinen Notizen hochzuschauen.
„Soweit ich weiß, arbeiten dort gerade ein paar Holzfäller der Pine Creek Company“, sagte ich.
„Nach Mitternacht?“ Er schaute mir ins Gesicht.
„Wie gesagt: Ich hab mir nicht groß Gedanken gemacht. Es gab keinen Anlass dazu.“
„Ich weiß, dass Sie selbst ein Polizist sind, Mr. Robicheaux. Mir macht es absolut keinen Spaß, mit der Ambulanz tote Studenten abzutransportieren. Das ist der zweite in zwei Tagen. Der Gerichtsmediziner meint, dass er seit mindestens 36 Stunden tot ist. Hat Ihre Frau vielleicht etwas gehört?“
„Nein.“
„Ich würde ihr gern die Frage persönlich stellen.“
„Sie hat sich noch nicht angezogen“, sagte ich.
Albert mischte sich ein. „Wie wär’s, wenn wir erst einmal frühstücken und dann dieses Gespräch fortsetzen?“
Joe Bim Higgins antwortete nicht, sondern ließ seinen Blick über die Hügel gleiten. Er atmete schwer. Schließlich klappte er seinen Notizblock zu, steckte ihn in die Gesäßtasche und knöpfte sie zu. Er sah müde aus. „Haben Sie an vielen Mordfällen gearbeitet?“, fragte er.
„Dann und wann.“
„Donnerstagabend machte ein Mädchen namens Cindy Kershaw mit ihrem Freund eine Klettertour zum Mount Sentinel, gleich hinter der Universität. Wir fanden das Mädchen unten im Canyon mit einem zertrümmerten Schädel. Da wir kein Lebenszeichen von ihrem Freund bekamen, gingen wir bereits davon aus, dass er in den Mord verwickelt sein könnte. Doch letzte Nacht bekamen wir einen anonymen Anruf aus einer Telefonzelle. Ein Mann behauptete, der Junge sei noch am Leben, aber an einen Baum gefesselt. Er beschrieb uns die Lokalität und sagte, wir sollten uns beeilen. Haben Sie schon mal derartige Tipps bekommen?“
„Ja, von Leuten, die uns von den eigentlichen Verdächtigen ablenken wollen.“
„Der Name des Freundes ist Seymour Bell, 20 Jahre alt. Er war aber nicht an einen Baum gefesselt, sondern tot. Vier Schüsse, alle direkt ins Gesicht. Der Gerichtsmediziner meint, dass er an Ort und Stelle erschossen worden sei. Die Flecken auf seiner Kniebundhose legen die Vermutung nahe, dass er auf dem Boden kniete, als er erschossen wurde. Der Täter sammelte offensichtlich alle Geschosse ein. Und Sie haben wirklich keine Schüsse gehört?“
„Nein, Sir.“
„Waren Sie in Vietnam?“
„Für ein paar Monate. Bevor’s richtig aus dem Ruder lief.“
„Vielleicht benutzte der Wichser einen Schalldämpfer. Was meinen Sie: Warum ermordete er das Mädchen an einem Platz und den Jungen an einem anderen?“
„Wurde das Mädchen vergewaltigt?“
„Sie hatte jedenfalls vor ihrem Tod noch Geschlechtsverkehr. Es war wohl das, was man gewöhnlich rough sex nennt. Was aber so gar nicht zu dem passt, was uns die Leute über sie und ihren Freund erzählen.“ Dann erzählte er im Detail, was der Vergewaltiger mit ihr angestellt hatte.
„Sieht so aus, als sei das Mädchen das eigentliche Ziel gewesen“, sagte ich. „Der Täter trennte die beiden, um sich in Ruhe dem Mädchen widmen zu können. Vielleicht setzte er den Jungen außer Gefecht, indem er ihn zunächst in seinen Kofferraum sperrte. Kann man den Berggipfel mit dem Auto erreichen?“
„Ja, es gibt auf dem gesamten Bergkamm eine Feuerwehrzufahrt.“
Als ich nicht reagierte, schaute er wieder zum Hügel hinauf. Es war leicht bewölkt heute Morgen. Die Wildblumen und Tussockgräser wiegten sich im Wind. Weiter unten im Tal quoll Rauch aus einem Schornstein, auf dem der Raureif noch nicht geschmolzen war. „Wenn ich könnte, würd ich meinen Job umgehend an den Nagel hängen und mit Albert tauschen“, sagte er. „Ich würd mich tagsüber mit den Pferden beschäftigen und abends Forellen fangen. Mit Untersuchungen wie dieser hier würd ich mich jedenfalls nicht mehr rumschlagen.“
Am Nachmittag half ich Albert, seine Wiese von Sommerwurz und Wolfsmilch zu befreien. Sommerwurz ist im Westen der USA eine Plage, Wolfsmilch eine Gottesstrafe. Wolfsmilchwurzeln erreichen einen Radius von sieben Metern und bilden ein dichtes Geflecht, das sich weder mit Chemikalien noch Maschinen ausrotten lässt. Man könnte ein ausgewachsenes Shoppingcenter darüber bauen und trotzdem würden die Wurzeln solange weiterwachsen, bis sie irgendwann das Sonnenlicht erreichen. Und das ist keineswegs metaphorisch gemeint.
Albert, der den Boden mit einer Breithacke bearbeitete, konnte seinen Schweiß nicht mehr stoppen. Seine Handschuhe waren mit der dickflüssigen Masse bedeckt, die aus den gebrochenen Stängeln der Wolfsmilchstauden quoll. Er hatte seit fast einer halben Stunde kein Wort mehr gesagt.
„Sollte es neben dem Unkraut noch etwas anderes geben, das dir auf dem Magen liegt?“, fragte ich ihn.
„Dieser Wellstone schuldet mir einen neuen Tank“, knurrte er nur.
Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass seine schlechte Laune nur einem banalen Benzintank geschuldet war. Seine glasigen Augen suggerierten mir eher, dass sich Albert an einen Ort zurückgezogen hatte, den er nur ungern mit anderen teilte.
„Molly erwähnte, dass du dich an den Namen des Typen erinnert hättest.“
„Als ich 18 war, steckten sie mich in einen Knast namens Angola, gleich an der Grenze von Louisiana und Texas. Zur damaligen Zeit schickten sie den elektrischen Stuhl noch von einem County zum nächsten. Ich wurde einmal Zeuge, wie sie ihn mit einem Sattelschlepper anlieferten. Die Generatoren waren mit Planen abgedeckt, damit die Leute nicht sahen, was man mit unseren Steuergeldern alles so anstellt. Meine Iso-Zelle war gerade mal zehn Meter von dem Raum entfernt, in dem sie das arme Schwein mit Strom vollpumpten. Am nächsten Morgen hatte ich eine Auseinandersetzung mit einem der Wachbullen.“
Ich starrte bewegungslos geradeaus und sagte keinen Ton.
„Er legte mir Hand- und Fußketten an und schob mich in eine Einzelzelle. Ich hab fast 50 Jahre gebraucht, um jemandem erzählen zu können, was er in der Zelle mit mir angestellt hat. Als ich 21 war, traf ich ihn in Beaumont wieder, in einem Laden für Farmbedarf; er arbeitete damals als Vormann auf einer Rinderfarm in der Nähe. Er wusste nicht mehr, wer ich war, aber ich hatte den Mann, der mir ein halbes Jahrhundert Albträume bescheren sollte, natürlich nicht vergessen. Er fragte mich, warum ich ihn so anstarren würde. Als ich ihm keine Antwort gab, belehrte er mich, dass es unhöflich sei, fremde Menschen zu begaffen.
Ich hatte mir in dem Laden gerade eine Handsichel gekauft. Die Klinge war so scharf, dass man sich die Armhaare damit hätte rasieren können. Ich starrte ihn weiter an. Er lachte nur dumm, weil er mich davon nicht abhalten konnte. Er meinte: ‚Was immer dir gerade durch den Kopf geht, mein Junge, solltest du besser schnell vergessen.‘ Ich trat näher an ihn heran und drückte die Spitze der Sichel gegen seine Hüfte. ‚Ich war drauf und dran, Sie umzubringen‘, sagte ich. ‚Sollten Sie mir noch einmal unter die Augen treten, garantiere ich für nichts.‘“
Ich schaute Albert von der Seite aus an. Sein Gesicht erinnerte mich an ein Feuer, das nicht nur erloschen, sondern bereits erkaltet ist. „Und, hast du ihn je wiedergesehen?“
„Hab ich, auf der Wellstone-Ranch bei Beaumont. Ich war gerade auf der Suche nach Arbeit. Die Eigentümer waren im Öl- und Gas-Geschäft und betrieben die Farm nur noch nebenher. Sie unterstützten auch diverse religiöse Gruppen, die früher mal mit dem Zelt durch die Gegend zogen, inzwischen aber das große Geld mit Fernseh-Evangelisten machten.“
„Wenn ich an deiner Stelle wäre, würd ich den Namen Wellstone schnellstens vergessen. Und diese ganze Geschichte gleich mit.“
„Hab ich ja. Bis mir Wellstone ein Loch in den Tank fuhr. Ich rief ihn übrigens gestern Abend zuhause an. Eine Frau nahm ab, legte aber gleich wieder auf. Vermutlich die blonde Frau, die in der Limo auf dem Rücksitz saß.“ Er streckte seinen Rücken und kniff dabei die Augen zusammen. Dann starrte er auf den Hügel hinter seinem Haus. „Wusstest du eigentlich, dass Chief Joseph und der ganze Nez Perce-Stamm genau über diesen Abhang herunterkamen? Sie waren auf der Flucht vor der US-Army, wurden aber da unten am Big Hole gestellt und brutal abgeschlachtet – Kinder, Frauen und Alte inklusive. Die Soldaten verstümmelten sogar die Leichen und verwüsteten später die Gräber.“
„Und warum erzählst du mir das?“, fragte ich ihn.
„Der Ort mag friedvoll aussehen, ist aber genau das Gegenteil. Das Tier, das den Studenten auf dem Gewissen hat, ist der tödliche Pilzbefall, der eine unschuldige Rose zerstört. Niemand kann ihm entkommen. Es ist immer der gleiche Typ und er war es schon, als ich mit 18 im Gefängnis saß.“
Am Nachmittag kam Clete zu unserer Hütte und fragte, ob wir ihn auf einem Spaziergang begleiten wollten.
„Wohin soll’s denn gehen?“
Er deutete mit den Augen zum Hügel hinter Alberts Haus.
„Wozu?“, fragte ich.
„Der Sheriff – wie heißt er nochmal? … Higgins – ist der Meinung, dass der Ort des Mordes keinerlei Bedeutung hat, obwohl er gleich hinter Alberts Haus liegt.“
„Aber du bist nicht der Meinung?“
„Higgins erwähnte, dass Albert den Studenten offensichtlich kannte und keine allzu hohe Meinung von ihm hatte. In der Lokalzeitung nannte Albert ihn ein Naturschutz-Früchtchen und einen wehrdienstverweigernden Burschenschafts-Trottel. Die Zeitung druckte den ganzen Brief ab. Der Student hatte sich auch dafür starkgemacht, eine hochgiftige PCB-Verbrennungsanlage aus der Stadt zu verbannen. Wegen irgendeiner Bardame brachte er sogar eine Horde von Bikern gegen sich auf. Er stand wohl im Ruf, immer und überall nur für Ärger zu sorgen.“
„Und jemand knallt diesen auf Knien rumrutschenden Jungen ab, um sich damit an Albert zu rächen?“
„Jemand rief 911 an und machte die Polizei auf die Location aufmerksam. Der Anrufer sagte auch, der Junge sei noch am Leben. Ich sage dir: Dieser Mann wollte so viel Chaos säen, wie er nur irgendwie konnte. Ich glaube, dass Higgins nicht den Hauch einer Ahnung hat, mit wem er’s hier zu tun hat. Und Albert ebenso wenig.“
„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“
„Um deine eigenen weisen Worte zu zitieren: Warum machen Scheißer so ’nen Scheiß? Weil sie Bock drauf haben! Das ist schon alles. Glaub mir, Streak, der Typ, der sich diese Schweinerei ausgedacht hat, hatte mit Albert noch eine Rechnung offen.“
Clete ächzte und stöhnte, als wir uns die Serpentine hinauf zum Gipfel des Hügels quälten. Auf dem Kamm angekommen, liefen wir durch Kiefern und Tannen einen leichten Abhang hinunter, bis wir zu einem ebenerdigen Ort kamen, der mit gelbem Absperrband markiert war. Offensichtlich hatten Hirsche oder Elche das Tape bereits an einigen Stellen zerrissen. Auf dem Feldweg, der von hier aus zum nächsten Hügel führte, sah man frische Furchen eines Geländewagens. Die Luft hier oben war bereits deutlich kälter. Der Wind, der unter uns durchs Tal pfiff, hatte auch die ersten Tröpfchen eines zunehmenden Nieselregens im Gepäck.
In meinen Augen war der Besuch des Tatorts nur vergeudete Zeit. Selbst wenn das Absperrband bereits beschädigt war, hatten wir keinen Anlass, den Tatort zu besuchen. Obendrein war der Boden aufgeweicht und mit den Spuren der Ermittler bereits übersäht. Nach menschlichem Ermessen waren alle gerichtsmedizinischen Beweise entweder in Polizeibesitz oder aber so fragwürdig und anfechtbar, dass sie keinen Wert mehr besaßen. Eigentlich gab es nur noch ein Beweisstück, das eine eindeutige Sprache sprach: Auf einem Felsbrocken, der die Form und Größe eines Ambosses hatte, sah man noch immer das Blut. Fast hatte man den Eindruck, als sei es eine Farbe, die ein Künstler dort säuberlich mit dem Pinsel aufgetragen hatte.
Clete steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und spähte durch die Zweige auf das Dach von Alberts Haus. Er lüftete seinen Porkpie, drehte ihn gedankenverloren in den Händen, setzte ihn wieder auf und zog die Krempe herunter. Nur um ihn ein weiteres Mal abzunehmen. Diesmal steckt er seinen Zeigefinger unter die Krempe und ließ den Hut kreiseln.
„Na, was liegt dir denn auf dem Magen?“, fragte ich ihn schließlich.
„Der Typ, der mit dem Studenten hierherkam, muss seinen Wagen ganz schön gequält haben. Warum riskiert jemand Achse und Spurstangen, wenn er genauso gut einen Ausflug in den Nationalpark hätte machen können. Der Junge war auf den Knien, als er starb. Wahrscheinlich zwang ihn der Mörder, um sein Leben zu flehen oder anderweitig einen Idioten aus sich zu machen. Und all das machte der Mörder in unmittelbarer Nähe zu Alberts Haus! Er konnte Alberts Haus von hier aus sehen, ohne selbst entdeckt zu werden. Er wählte diesen Ort ganz bewusst, weil er wusste, wer in diesem Haus lebt. Dieses Arschloch ist der klassische Psychopath, Dave. Er drückt die Knöpfe, er hat die volle Kontrolle, er fügt anderen Menschen grundlos Schmerzen zu – und er tut das alles in der direkten Nähe von Menschen, denen seine Anwesenheit nicht einmal bewusst ist.“
„Was aber noch immer nicht bedeutet, dass er Albert auch kennt.“
„Mag sein“, sagte Clete geistesabwesend. Er war mit seinen Gedanken schon woanders und schaute eine kleine Böschung herab.
„Was gibt’s denn da?“, fragte ich.
Clete stieg vorsichtig die Böschung hinunter und hielt sich dabei an den Stämmen junger Kiefern fest. Er nahm einen Kuli aus der Hemdtasche und wollte damit ein Lederschnürchen aufpicken, an dem ein kleines Kreuz hing. Doch die Schnur war bereits gerissen und rutschte ihm vom Kuli.
„Clete, hör auf, mit Beweismaterial rumzuspielen“, sagte ich.
„Wenn wir nicht drüber gestolpert wären, hätte niemand davon erfahren“, sagte er. Immerhin berührte er die Schnur nicht mit den Fingern, sondern hob sie schließlich doch noch mit seinem Kuli hoch. „Schau nur: Die Bruchstelle ist frisch und zeigt noch keine Verfärbungen. Entweder hat der Junge dem Mörder die Schnur abgerissen oder der Mörder dem Jungen.“
„Oder aber ein Forstarbeiter hat sie hier verloren.“
„Nein, wir haben es hier mit einer absonderlichen Konstellation zu tun, die sich mit normalen Mordmotiven nicht erklären lässt. Ich werde Higgins jedenfalls informieren, dass ich neues Beweismaterial gefunden habe.“
„Okay, Partner. Meinst du nicht, dass du dem Fund zu viel Bedeutung beimisst?“
Er zog sich wieder die Böschung hoch. Die Anstrengung, kombiniert mit der dünneren Höhenluft, hatte rote Flecken auf sein Gesicht gezaubert. Er schaute mich lange an.
„Spuck’s aus!“, sagte ich.
„Was genau hat der Typ mit dem Mädchen angestellt, bevor er sie umbrachte?“
„So ziemlich alles, was man sich vorstellen kann“, sagte ich. „Gleichzeitig hat er höllisch aufgepasst, keine DNA zu hinterlassen.“
„Ich sag dir was: Wir werden von diesem Typen noch mehr hören, als uns lieb ist. Und du weißt, dass ich recht habe, Dave. Tu nicht so, als wärst du nicht längst zu dem gleichen Urteil gekommen.“
Der Dunst, der durch die Bäume waberte, war dichter und weißer geworden. Auch wenn die Sonne fast völlig verschwunden war, hatte das Blut auf dem Felsen seinen Glanz nicht verloren. Ich griff nach einem Tannenzapfen und feuerte ihn hoch in die Luft.
In den nächsten Tagen rissen die neuen Informationen über Ridley Wellstone und seine Familie überhaupt nicht mehr ab. Es war das altbekannte Phänomen: Hat man einen Begriff oder Namen zum ersten Mal gehört, hört man ihn plötzlich einen Monat lang fast stündlich.
Als sie nach Montana kamen, hatten die Wellstones gleich mit dem Scheckheft gewedelt, ähnlich den Hollywood-Größen und Silicon Valley-Millionären, die in den Neunzigern hier aufkreuzten und so taten, als sei die wilde Schönheit der Rockies ein Bonus, den die Götter des Kapitalismus für sie bereithalten.
Ich sollte an dieser Stelle ein Geständnis ablegen. Nach dem Vorfall mit der Wellstone-Security hatte ich Clete empfohlen, nicht nur die Angel, sondern die ganze Angelegenheit schnell zu vergessen. Genau das Gleiche hatte ich auch Albert ans Herz gelegt. Meinen Worten der Mäßigung zum Trotz konnte ich mir aber nicht verkneifen, ein paar Anrufe zu tätigen. Ich rief Freunde in Dallas und Lafayette an, die selbst im Öl- und Gas-Geschäft tätig waren. Die Informationen über die Wellstone-Familie, die ich auf diesem Weg zusammentragen konnte, schienen aus einem längst vergessenen Jahrhundert zu stammen, klangen für einen Südstaatler aber durchaus vertraut und plausibel.
Die harte und entbehrungsreiche Kindheit, die spitzen Ellenbogen beim Kampf um die vollen Tröge, die rücksichtslose Ausbeutung der Mitmenschen – all das waren abstoßende Initiationsriten, über die aber schnell niemand mehr sprach. Der vom Kampf erschöpfte Ritter, der bei seiner Rückkehr das blutige Schwert müde hinter sich herzieht, verspürt keine Veranlassung, sich für seine Taten erklären zu müssen. Warum sollte er sich mit dem Anblick brennender Bauerndörfer beschäftigen, wenn ihm die siegreichen Trompeten den Weg zum Triumph weisen?
Ridley und Leslie waren die Kinder eines texanischen Spekulanten namens Oliver Wellstone. Mit zehn Jahren hatte ihr Vater noch Wassereimer für die Bohrtrupps geschleppt, die im Spindletop Field bei Beaumont ihrer schweißtreibenden Arbeit nachgingen. Mit 23 – es war die Zeit der Großen Depression – pumpte er sich 100 Dollar von einem reisenden Bibelverkäufer und überredete einen farbigen Farmer, ihm zwei Morgen eines sumpfigen Zypressenwaldes zu verpachten. Der Förderturm wurde aus alten Eisenbahnschwellen gebaut, der Bohrer von einem zwölfzylindrigen Motor betrieben, den man in einem verschrotteten Packard fand.
Drei Wochen nach Bohrbeginn stieß der Bohrer auf einen Hohlraum, aus dem Salzwasser und eine übelriechende Flüssigkeit schossen, die sich über den ganzen Sumpf ausbreitete. Als sich der Gestank wieder verzogen hatte, kam Oliver Wellstone zu der Einsicht, dass seine Träume von Ruhm und Reichtum wohl Schall und Rauch waren. Doch plötzlich rumpelte es im Boden und das schönste schwarze Rohöl, das man sich vorstellen konnte, schoss wie ein Geysir aus dem Förderkopf und rieselte über seinen Körper, als sei es ein Geschenk des Himmels. Mit offenem Mund und ausgestreckten Armen schaute er in die Wolken hinauf und ließ das Öl ungehindert über sein Gesicht rinnen. Wenn es so etwas wie ein weltliches Pendant zur christlichen Taufe geben sollte: Oliver Wellstone war gerade in seinen Genuss gekommen.
Zehn Jahre später besaß er sechs profitable Ölfelder in Texas und Louisiana, drei Farmen, eine Handvoll Konservenfabriken und eine Radiostation in Austin. Er selbst zog nach Houston und kaufte sich ein Haus in River Oaks – einer grünen Oase mit hohen Bäumen und palastartigen Anwesen, wo Erfolg auf der Tagesordnung stand und die Nöte der Armen nur Schimären kommunistischer Schwärmer waren. Doch so sehr er sich auch mühte: Die soziale Akzeptanz für sich und seine Familie konnte er sich noch immer nicht erkaufen.