Anime fantastisch - Alexander Braun - E-Book

Anime fantastisch E-Book

Alexander Braun

0,0
24,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

ANIME, die japanische Form des Zeichentrickfilms, hat auch die westliche Kultur von den 1970ern bis heute geprägt. Die erste Generation, die mit Wickie, Biene Maja, Heidi und Captain Future aufwuchs, bemerkte dabei gar nicht, dass sie japanische Filme guckte. Die Generation Dragon Ball und Sailor Moon dagegen empfand ab den 1990ern gerade die Exotik dieses dynamischen Mediums als so stimulierend, dass sich eine globale Jugendkultur herausbildete – bis hin zum "Cosplay". Zeitgleich eroberte das Studio Ghibli mit Premium-Animes die großen Filmfestivals der Welt und wurde 2003 für Chihiros Reise ins Zauberland mit einem Oscar ausgezeichnet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 189

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alexander Braun

ANIMEfantastisch

Die Kunst des japanischen Zeichentrickfilms

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2020

© 2020 der Originalausgabe by Alexander Braun

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Dieses Buch bildet Originalwerke von japanischen Zeichentrickfilmen aus Privatsammlungen ab. Diese sind Gegenstand der Ausstellung ANIMEfantastisch im schauraum: comic + cartoon, Dortmund (2020), gewesen. Entlang der Abbildungen sind die Studios ausgewiesen, in denen die Animes entstanden sind. Diese sind – angesichts von komplizierten Produktionszusammenschlüssen oder Vorlagen (Mangas, Computerspiele etc.) – nicht zwangsläufig auch die Inhaber von Urheber-, Figuren- und Markenrechten.

Trotz gewissenhafter Recherche ist es nicht in allen Fällen gelungen, die rechtmäßigen Urheber aufzuspüren und auszuweisen. Alle diese Urheberrechte werden uneingeschränkt anerkannt. Abbildungen ohne Nennung sind entweder gemeinfrei oder folgen dem wissenschaftlichen Zitatrecht. Bei etwaigen berechtigten Ansprüchen, bitten wir darum, sich an den Verlag zu wenden.

Astro Boy und Kimba wurden erdacht von Osamu Tezuka. Der Schöpfer von Ultraman ist Eiji Tsuburaya. Das Dragon Ball-Universum stammt von Akira Toriyama, Sailor Moon von Naoko Takeuchi. Die Pokémon-Welt wurde von Satoshi Tajiri für Nintendo erdacht. Die Transformers basieren auf Spielzeugfiguren der Firmen Takara und Hasbro, alle Gundam-Rechte liegen bei Bandai. Tokyo Ghoul wurde von Sui Ishida kreiert, Attack on Titan von Hajime Isayama. Alle Rechte an Disney-Figuren liegen bei Disney Enterprises, Inc., die der Ghibli-Filme beim Studio Ghibli. Die Rechte an den Fotografien von Philip-Lorca diCorcia und Beat Streuli liegen bei den Künstlern.

Provenienz der Exponate:

Sammlung Frostrubin: Seite 25, 54, 60–63, 109–113, 115–118, 121, 122, 128, 148, 167, 179, 273, 276.

German Academy of Comic Art (Dank an zwei japanische Privatsammlungen, die nicht genannt werden wollen):

Umschlag vorne und hinten, Vorsatz/Nachsatz, Seite 1–24, 26–53, 56–59, 64–78, 86–106, 114, 120, 124–127, 133–147, 153–162, 170, 171, 185–190, 196–232, 240–247, 250–258, 263–272, 274, 280–288.

Text, Lithos und Gestaltung: Dr. Alexander Braun

Lektorat: Dr. Ulrich Merkl

Druck: Livonia Print, Riga

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1504-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1173-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1174-7

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

ANIME Japanzeichentrick

FULL + LIMITED Genga und Douga und Cel

JUGEND kultur

FRUCHTBARE Augenblicke

VON EDO nach Tokio

DER WEG ZUR POSE extrem

ANIME in Deutschland

KAWAII Der - Schmelz des Niedlichen

GROSSE AUGEN Fenster zur - Seele

MIYAZAKI VERSUS TEZUKA Ghibli versus Disney

DRAGON BALL mania

MECHAS und Transformers

CYBUSTER Masoukishin des Windes

JAPAN Horror

HENTAI Nur keine - Schamhaare

ANHANG Abbildungen

ANIME Japanzeichentrick

Der Begriff »Anime« hat sich im westlichen Kulturkreis als Synonym für den japanischen (mitunter auch allgemein asiatischen) Zeichentrickfilm eingebürgert. Die Herleitung vom Wort »Animation« (im Japanischen: »animēshon«, als Lehnwort des englischen »animation«) ist offenkundig, unterscheidet sich allerdings von der Bedeutung in Japan selbst, wo Anime nicht nur für die heimischen Produktionen Anwendung findet, sondern alle Formen von Zeichentrickfilmen meint. Auch die Filme von Walt Disney sind in Japan Animes.

Der Begriff setzte sich in Japan allerdings auch erst im Laufe der 1970er-Jahre durch, gewissermaßen als Reflex auf seine wachsende Wahrnehmung im Westen. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es in Japan eine eigene Trickfilmproduktion, die sich allerdings stilistisch stark vom heutigen Erscheinungsbild unterscheidet, das mit dem Begriff Anime assoziiert wird. Die Gründe dafür sind nicht nur ästhetischer Natur, sondern haben auch wirtschaftliche Ursachen. Westliche Zeichentrickfilme – insbesondere amerikanische, aber auch deutsche, wie die Scherenschnitt-Filme von Lotte Reiniger (1899–1981) – waren in Japan durchaus bekannt und wurden aufgeführt, nur reichten die kommerziellen Möglichkeiten der japanischen Zeichentrickindustrie nicht aus, um an die Perfektion der westlichen »Vorbilder« heranzureichen. Thesen, die die Eigenarten japanischer Produktionen allein mit künstlerischen Traditionslinien einer anderen, fernöstlichen Kultur festmachen wollen, sind darum mit großer Vorsicht zu genießen. Japan war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Ende der Shogunen-Herrschaft kein abgeschotteter Kulturraum mehr. Ganz im Gegenteil: Die Restauration der Meiji-Ära (1868–1912) öffnete das Land nicht nur wirtschaftlich gegenüber dem Westen, sondern sog geradezu sehnsüchtig westliche Kulturprodukte und Moden auf.

Es spricht dennoch einiges dafür, im westlichen Kulturkreis den Begriff des Anime auf die moderne japanische Trickfilmproduktion seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beschränken. Bestrebungen in Japan, den ambitionierten, aufwendigen Anime in Spielfilmlänge begrifflich vom schnell produzierten TV-Anime zu unterscheiden (»Full Animation« versus »Limited Animation«, vgl. S. 29), greifen im westlichen Kulturkreis ebenfalls schwer, weil der Anime hier vornehmlich über seine spezifische Optik rezipiert wird. Auch das Bewusstsein, dass der Anime keinesfalls ein Medium ausschließlich für Kinder und Jugendliche ist, setzt sich nur sehr zögerlich durch. Zu sehr sind im Westen die Standards als Kinder- und Familienunterhaltung durch die Studios Disney, Warner Bros. oder Hanna-Barbera gesetzt worden. Entsprechend groß waren auch die Missverständnisse, als Animes ab den 1980/90er-Jahren als mediales Phänomen irgendwo zwischen Action und Pornografie (»Hentai«, vgl. S. 261) rezipiert wurden. Wer kannte im Westen schon Animes (oder Mangas: die Grenzen sind hier fließend), die sich ausschließlich mit einzelnen Sportarten beschäftigen oder das Feld der Spitzengastronomie zum Thema haben? Wer hatte je von Geschichten gehört, die allein dem alten chinesischen Spiel Mah-Jongg gewidmet sind? Bereits die enorme Ausdifferenzierung des Zielpublikums nach Geschlecht, Lebensalter oder Gattungsvorlieben ist erstaunlich und im westlichen Kulturkreis ohne Vergleich: Animes für Mädchen, Animes für Jungen, Animes für Mädchen mit Fokus auf Familie und Schule, Animes für Mädchen mit einem Schwerpunkt auf Romantik und Liebe, Animes für Mädchen, bei denen die Protagonistinnen die Welten wechseln können, also Fantasy im weitesten Sinne. Entsprechendes gibt es selbstverständlich auch für Jungen, plus Science-Fiction, plus Roboter und Mechas und alles auch wiederum in anderer, komplexerer Weise für ein erwachsenes Publikum. Die letzten Glühwürmchen (jap. Hotaru no Haka) von Isao Takahata (Studio Ghibli, 1988) etwa erzählt vom verzweifelten Überlebenskampf eines Geschwisterpaars in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Der Film beginnt gleich mit dem Ende, indem er die Vierjährige sagen lässt: »Am 21. September 1945 bin ich gestorben«. Die Ernsthaftigkeit und die gleichermaßen schwer zu ertragende wie zu Tränen rührende Dramatik des Anime ließ Amerikas mächtigsten Filmkritiker Roger Ebert anlässlich der US-Veröffentlichung im Jahr 2000 schreiben: »Die letzten Glühwürmchen ist eine so machtvolle emotionale Erfahrung, dass es eine Neubewertung von Zeichentrickfilmen geradezu erzwingt.« Als Entsprechung fällt einem bestenfalls Raymond Briggs’ (geb. 1934) Wenn der Wind weht (When the Wind Blows, GB 1986) ein, die Geschichte eines Rentnerpaars während eines Atomkriegs. Wenn im Westen überhaupt je der Tod in einem Zeichentrickfilm thematisiert wurde, dann als kathartisch rührige Exposition, um danach den Kampf um Glück (Bambi, 1942) oder Macht (König der Löwen, 1994) noch heroischer inszenieren zu können. Das Sterben von Kindern als Thema und Konklusion für sich selbst stehen zu lassen, ohne einen Weg tröstlicher Erlösung zu weisen, ist für ein westliches Publikum schwer auszuhalten – zumal in der Ästhetik eines Zeichentrickfilms, der für solch schwere Themen tabu zu sein scheint.

The Ultraman, 1979, Studio Sunrise, drei Key-Animation-Dougas

Ultraman, TV-Serien seit 1966, Kinofilme seit 1967 und Animes seit 1979

Vor dem großen Manga- und Anime-Boom am Ende des 20. Jahrhunderts stand Japans Filmindustrie in den Augen westlicher Betrachter vor allem für trashig anmutende, (gegenüber der Konkurrenz aus Hollywood) schlecht getrickste Monster- und Science-Fiction-Filme. Neben Godzilla erwies sich dabei Ultraman als größter Quotenbringer: Bis heute sind 38 TV-Serien (darunter auch Animes), 30 Kinofilme, 94 Computerspiele und unzählige Video-Veröffentlichungen produziert worden. Von 1966 bis 1987 hatte die Marke Ultraman dem Lizenzhalter Tsuburaya Productions (inflationsbereinigt) 17 Milliarden Dollar in die Kassen gespült.

In Japan wird es aber noch komplizierter: Es gibt Animes, die Liebe zwischen Frauen zeigen. Ebensolche, die die Liebe zwischen Männern thematisieren, die allerdings als Zielpublikum nicht auf homosexuelle Männer zielen, sondern wiederum auf Frauen. Das erklärt sich erst, wenn es einem gelingt, das westliche Stereotyp des maskulinen Mannes (dominant, muskulös, ein Macher und Beschützer) zu überwinden und sich für die Reize der Androgynität zu öffnen – ein zugegebenermaßen schwerer Schritt für eine Gesellschaft, die in komplett anderen Geschlechterrollen konditioniert ist. Eines der attraktivsten Rollenbilder für junge japanische Frauen ist das eines zarten, femininen Mannes. Und die Darstellung dieser Art Mann ist derart feminin, dass westliche Augen darin eher ein Mädchen mit Penis sehen – was wiederum eine andere falsche Spur eröffnet, denn Transsexualität ist auch nicht gemeint.

Ultraman, 2019, Anime

Den jüngsten Reboot von Ultraman unternahm 2019 der US-Streaming-Dienst Netflix. Die erste Staffel des digital animierten Anime lief so erfolgreich, dass die Serie 2020 fortgesetzt wird.

Die japanische Gesellschaft ist in dieser Beziehung viel weniger prüde als die westliche, was nicht unerhebliche Probleme und Missverständnisse beim Export von Animes beschert. Wenn sich die Schulmädchen in Sailor Moon in Kriegerinnen verwandeln, sind sie für einen kurzen Moment nackt. Diese Art von Nacktheit ist in Japan auch für ein junges Publikum nicht befremdlich und erregt keine Gemüter. Das tut sie aber unter Umständen, wenn dasselbe Produkt am Sonntagvormittag in amerikanische oder europäische Kinderzimmer gesendet wird. Hier sehen die Verantwortlichen nicht jene ursprüngliche und unschuldige Form von Nacktheit jenseits jeglicher sexuellen Orientierung, die gemeint ist (denn die primären Geschlechtsorgane werden entweder gar nicht gezeigt oder nur vage angedeutet), sondern unterstellen eine versteckte pädophile Offerte: ein gewaltiges interkulturelles Missverständnis.

The Ultraman, 1979, Studio Sunrise, Cel

Isao Takahata (1935–2018), Die letzten Glühwürmchen, 1988, Studio Ghibli

Mehr als ein Jahrzehnt hatte es gedauert, bis diese zweite bahnbrechende Produktion des Studio Ghibli (als Doppelfeature veröffentlicht mit Hayao Miyazakis Mein Nachbar Totoro) den Westen erreichte – in den meisten Ländern jedoch nicht auf der Kinoleinwand, sondern auf Video.

Mitunter sind die Missverständnisse, die der Transfer eines japanischen Kulturprodukts in die westliche Hemisphäre mit sich bringt, so vielfältig, dass zu befürchten ist, dass das Publikum nach dem Export einen völlig anderen Film sieht als das japanische. Die bereits angesprochene Verwandlung der Sailor Moon-Heroinen ist hier ein beredtes Beispiel. Aber auch mit umgekehrten Vorzeichen gibt es Missverständnisse, dann nämlich, wenn in Japan explizit sexuelle Konnotationen gemeint sind, von denen der westliche Betrachter aber nicht einmal den Anflug einer Ahnung hat. Wenn einem Protagonisten etwa die Nase blutet – egal welchen Geschlechts –, ist das ein Hinweis auf sexuelle Erregung (oder wahlweise auch große Scham). Im übertragenen Sinne kann es auch bedeuten, dass der Charakter in einen neuen, reiferen Lebensabschnitt eintritt.

Extrem weit spritzendes Blut kann im Anime als Analogie zu einem Orgasmus gedeutet werden und charakterisiert die Szene somit nicht als übertriebene Splatter-Orgie, sondern als vieldeutigeres Psychogramm. Die Analogie zur Sexualität lässt den Gewaltakt psychologischer erscheinen, die Rache befriedigender, oder die Schuld, die das Opfer unter Umständen auf sich geladen hat, erscheint so vor seinem inneren Auge als auf »befriedigende« Weise gesühnt.

Nasenbluten im Anime

In der Regel steht Nasenbluten im Anime für sexuelle Erregung (in selteneren Fällen auch für Scham). Dabei gibt es das langsame Fließen oder Tropfen, wenn der Protagonist schüchtern ist, oder ein explosionsartiges Spritzen wie hier im Fall von Master Roshi, dem Lehrmeister von Son-Goku in Dragon Ball, der sich als lüsterner Greis erweist und sich die Zeit mit pornografischer Lektüre vertreibt.

Wenn der westliche Betrachter in einem Anime einen blühenden Kirschbaum sieht, dann erfreut er sich an dessen Schönheit und liest den Hinweis jahreszeitlich: Endlich ist es wieder Frühling, wie schön. Der japanische Zuschauer versteht dasselbe Bild dagegen als Vanitas-Symbol. Wenn die Kirschblüten vom Wind erfasst werden und fallen, weiß er, dass ein Todesfall zu erwarten ist. Vermutlich sind die Stunden desjenigen gezählt, der im Kontext der Kirschblüte auftritt. Die enorme Schönheit der Kirschbaumblüte (die in Japan mit einem eigenen Fest begangen wird) zeitigt schnelle Vergänglichkeit. In Japan wird dieser Bewusstseinszustand als »mono no« bezeichnet: Die Zeitspanne der Schönheit und des Glücks ist so kurz, dass es einem kaum gelingt, den Augenblick zu fassen. Samurai-Krieger, die in die Schlacht ziehen, oder die Kamikaze-Flieger (jap. »kamikaze«, dt. »göttlicher Wind«) des Zweiten Weltkriegs wurden in der japanischen Kultur häufig mit fallenden Kirschblüten verbildlicht.

Besonders komplex werden die zu entziffernden Metaphern und Symbole, wenn sie aus dem Feld der Religion stammen. Wer kennt sich im Westen schon mit Shintoismus und Buddhismus oder der spezifischen Kombination aus beiden in der japanischen Gesellschaft aus? Wenn in Animes pagodenhafte Gebäude oder hölzerne Torbögen zu sehen sind, sind das für den westlichen Betrachter lediglich pittoreske Versatzstücke in der Landschaft. Im besten Fall handelt es sich um Indizien, die zu erkennen geben, dass es sich bei dem Schauplatz der Handlung um Japan handelt: eine ernüchternd kurz gefasste Leseleistung, die wesentliche Aspekte der Handlung verstellt. Gebäude in Pagodenform stellen buddhistische Tempel dar, während Torbögen auf einen in der Nähe befindlichen Schrein hinweisen, der Bestandteil des Shintoismus ist und an ausgewählten, häufig schattigen Orten in der Natur platziert ist: an Steinen, Bäumen etc. Beide Religionen werden in Japan praktiziert und nach individuellem Befinden kombiniert, wobei der Shintoismus eher die Religion des Lebens ist, während der Buddhismus stärker mit Lebensende, Begräbniszeremonien und Tod assoziiert wird (vgl. S. 235). Bereits der Umstand, zwei unterschiedliche Religionen kombinieren zu können, stellt sich für den monotheistischen Gläubigen des Westens (der unter Umständen bereits katholisch/evangelisch als konträre Glaubensrichtungen empfindet) als intellektuelle Herausforderung dar. Den Japanern geht ein solches einvernehmliches Denken leicht von der Hand, weil beide Religionen im Kern sehr abstrakt sind, eher auf philosophischen Lebensprinzipien aufbauen als auf dogmatischen Glaubensgrundsätzen.

Entsprechend schwierig ist es andersherum für Japaner, die Idee des Christentums zu verstehen. Für sie ist das eine seltsam martialische und fleischliche Religion, dunkel und unheimlich, mit einem ans Kreuz genagelten Sohn Gottes. Wenn also christliche Symbole in Animes auftauchen, dann nicht um einen ausgleichenden Proporz der Religionsgemeinschaften herzustellen, sondern um auf okkulte oder exorzistische Praktiken zu verweisen, so wie das Bannen von Vampiren durch das Kruzifix. Ein Protagonist, der auffällig ein Kreuz um den Hals trägt, ist eher selten ein Priester, sondern vielmehr jemand, der über übernatürliche Kräfte verfügt.

VS Knight Ramune & 40 Fire, 1996 Ashi Productions, Cel

Selten sind die Bösen im Anime langweilig oder stereotyp dargestellt. In der Regel glänzen sie durch eine schillernde Persönlichkeit und entfalten eine Herkunftsgeschichte, die erklärt, warum sie wurden, wie sie sind.

Schwierig wird es auch, wenn die Tonspur eines Animes mehr ist als nur ein Begleitsound, sondern eine dramaturgische Funktion übernimmt, die sich einem japanischen Publikum unmittelbar erschließt: etwa das Schlagen von Holzklappern, wie es im Nō- oder Kabuki-Theater Tradition ist, um Spannung zu erzeugen oder den Auftritt eines Dämons anzukündigen. Wenn es im Anime romantisch wird, schwingen sich keine symphonischen Geigen auf, sondern es erklingt das Saiteninstrument Samisen, das traditionell von Geishas gespielt wird. Und wer kennt schon die Farben und Muster des Vorhangs beim Bunraku-Puppentheater, so dass er den Verweis auf Puppen versteht, wenn ein solches Muster im Hintergrund erscheint?

Hayao Miyazaki Mein Nachbar Totoro, 1988, Studio Ghibli

Gleich zu Beginn des Films fährt die Familie wie durch Zufall an einem Shinto-Schrein vorbei. Vergleichbare Szenen werden sich im Laufe der Handlung wiederholen. Auch einer Buddha-Statue erweisen die Mädchen Satsuki und Mei im Verlauf der Handlung Respekt.

Im Einzelnen mögen das Marginalien sein und das Verständnis der Gesamthandlung nicht wesentlich verzerren. Schwerer wiegen dagegen die vielfältigen Eingriffe der westlichen Fernsehanstalten, die versuchen, durch Synchronisation und Schnitte Animes als ein Rohprodukt zu interpretieren, das man einkauft, um es dann für den westlichen Markt neu zu konfektionieren. Wenn die Andachtsgeste einer Figur vor einem Shinto-Schrein als Marien-Verehrung um-synchronisiert wird, dann erinnert das an das Entenhausen der 1950er- und 1960er-Jahre, als die deutsche Disney-Übersetzerin Dr. Erika Fuchs das traditionelle amerikanische Thanksgiving-Dinner in ein deutsches Weihnachtsessen »übersetzte« oder den Bootsausflug von Donald Duck und seinen Neffen auf dem Eerie-See, der in der Geschichte dramatisch in den Niagarafällen mündet, kurzerhand zum Rheinfall von Schaffhausen erklärte.

Auf dramatische Weise unverständlich wird ein Anime jedoch, wenn zudem die Erzählstruktur auf den Kopf gestellt wird: Eine der herausragenden Qualitäten japanischer Zeichentrickserien ist die Entwicklung ihrer Charaktere. Selten verfügt eine Figur am Ende über dieselbe Persönlichkeit wie zu Anfang der Geschichte. Das betrifft Heldenfiguren ebenso wie die »Bösen«, die selten auf stereotype Weise böse dargestellt werden, sondern in der Regel über eine differenzierte Lebensgeschichte verfügen. Zum einen werden so die Gründe dafür geschildert, warum eine Figur so handelt, wie sie handelt, zum anderen kann der Betrachter mitverfolgen, wie die Handlung Auswirkungen auf die Persönlichkeit nimmt. Widersacher sind zudem nicht zwingend auch äußerlich als solche zu erkennen, sondern werden im Gegenteil gerne in Hinsicht auf ihre Handlungen konterkariert, indem sie etwa als besonders attraktive oder modisch herausgehobene Persönlichkeiten inszeniert werden. So oder so, ein differenziertes horizontales Erzählen führt zwingend zu einer aufeinander aufbauenden Struktur. Der westliche Medienkonsum präferiert dagegen abgeschlossene Episoden, die möglichst in beliebiger Reihenfolge gesendet werden können. Jede Diskontinuität in der Ausstrahlung einer Anime-Serie zerschießt aber das narrative Gefüge, und am Ende bleiben befremdliche Fragmente übrig, die sich dann tatsächlich dazu eignen, die Argumente der Gegner zu bekräftigen, die nur unzusammenhängende Action, Kämpfe oder emotionale Exploitation zu sehen glauben.

Hier prallen grundsätzlich unvereinbare kulturelle Konzepte aufeinander, die in erster Linie auf Missverständnissen beruhen sowie der mangelnden Bereitschaft, die andere Kultur und ihre Rezeptionsmodi verstehen zu lernen. Dabei hat der japanische Blick auf die Dinge schon früh im 20. Jahrhundert Eingang ins westliche Kulturleben gefunden (auch jenseits des euphorisch grassierenden Japonismus in der bildenden Kunst seit Ende des 19. Jahrhunderts).

Theatermacher wie Bertolt Brecht und später Peter Brook oder Robert Wilson haben Prinzipien des japanischen Nō-Theaters in ihre eigenen Arbeiten integriert. Gerade Brecht wollte nachhaltig mit dem Theater-Naturalismus in der Tradition des Aristoteles brechen. Das Publikum sollte sich nicht länger möglichst intensiv einfühlen und das Bühnengeschehen als Realität empfinden, sondern eine kritische, analytische Distanz zu Text und Spiel bekommen. So setzte Brecht auf Verfremdungseffekte, die den Illusionismus unterlaufen sollten, und von denen einige dem traditionellen japanischen Theater entlehnt waren: zum Beispiel die Stilmittel eines nichtlinearen Erzählens oder einer stark stilisierten Sprache, die jede Alltagsillusion überhöht – sowie spartanisch sparsame Bühnendekorationen.

Titel unbekannt zwei Cels und Background

Animes, die im Alltag spielen, fungieren häufig als Rollenmodelle für unterschiedliche Lebensentwürfe. Die blonde Frau im Hintergrund scheint mit Bluse, Rock und Kette eher in ein traditionelles Business zu streben, während die Dunkelhaarige im Vordergrund mit Latzhose und Hoody eher einen alternativen Lebensstil verkörpert. Das hindert aber beide nicht daran, Freundinnen zu sein.

Magical Girl Pretty Sammy, 1995–97 Studio AIC und Pioneer LDC, Cel und Background

Dieser Anime beruht ausnahmsweise einmal nicht auf einem Manga, sondern auf einer Hörspielreihe von 1993: Sasami Kawai ist ein süßes Mädchen mit türkisen Haaren, das von der Zauberkönigin Tsunami von Juraihelm gebeten wird, »Magical Girl Pretty Sammy«, Verfechterin der Gerechtigkeit, zu werden. Viele Aspekte der Geschichte lassen sich als Parodie auf Sailor Moon lesen.

Viele der als typisch japanisch rezipierten Kunstformen sind Ausdrucksweisen einer Reduktion, eines hohen Grades von Abstraktion und eines Denkens in Symbolen: Der japanische Stein- oder Zengarten etwa soll die Wahrnehmung des Hier und Jetzt fördern, bei gleichzeitiger Ausblendung des rationalen Denkens. Ikebana, die Kunst des Blumensteckens, ist ein hochartifizieller und stilisierter Umgang mit Natur, der die kosmische Ordnung versinnbildlichen soll. Während der Westen bei Blumengebinden den Fokus auf Farben und Blütenpracht legt, achtet der Japaner vornehmlich auf die linearen Aspekte der Arrangements, bei denen gerade dem Verlauf der Zweige und der Anordnung der Blätter Bedeutung zukommt. In der Teezeremonie kommt es mehr auf die Zeremonie an als auf das Trinken von Tee, und die Kalligraphie meint den Vorgang selbst, also das Wie und nicht das Was. Last but not least hat Japan der Weltliteratur die kürzeste denkbare Gedichtform beschert, das Haiku, ein Dreizeiler, der sich formal nicht reimt, aber einen Rhythmus wahrt und im Inhalt ein poetisches Bild entwirft, das nicht ausdekliniert wird, sondern atmen und sich vielfältig frei entfalten darf.

All das ist nicht zwingend im Anime wiederzufinden, bildet aber mentalitätsgeschichtlich die Grundlage. Der wahre Geist des Anime wird sich nicht entschlüsseln lassen, wenn man nicht bereit ist, hinter die bloße Oberfläche zu schauen. Bei explodierenden Autos (Speed Racer, vgl. S. 103) oder Raumschiffen, die an Planeten zerschellen (Captain Future), einen »body count« der Opfer vorzunehmen, ist auf haarsträubende Weise absurd, weil eine solche wörtliche Lesart jegliche Existenz von Stilmitteln negiert. So wird es dann auch schwierig werden, zu erklären, warum eine Nation, deren Medienprodukten Gewaltverherrlichung vorgeworfen wird, zu den höflichsten und friedfertigsten der Erde zählt. Tokio ist mit knapp 10 Millionen Einwohnern (bzw. 40 Millionen inklusive Umland) die größte Stadt der Welt und unterbietet sich selbst von Jahr zu Jahr in seiner Kriminalitätsstatistik: 2019 gab es lediglich 0,4 Morde auf 100.000 Einwohner. Im Vergleich: Auch New York verbesserte sich in den letzten beiden Dekaden enorm, allerdings auf hohem Niveau. 1992 zählte New York City noch 27,5 Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner. Bis 2017 konnte die Rate auf 3,4 pro 100.000 gesenkt werden: ein toller Erfolg, aber immer noch fast neun Mal so viele Mordopfer wie in Tokio. Selbst in Berlin lebt man mehr als doppelt so gefährlich (im Schnitt beträgt die Rate in Deutschland 1/100.000).

Nicht viel anders stellt sich die Statistik bei Sexualdelikten dar. Japan hat die radikalste und enthemmteste Manga-(und Anime-)Pornografie der Welt zu bieten (in der zwar die Schamteile rudimentär verpixelt sind, die dafür aber an jedem Kiosk frei zu erwerben ist und völlig ungeniert in der U-Bahn gelesen werden kann, vgl. S. 261), und trotzdem kommen nirgendwo sonst auf der Welt die Frauen nachts so sicher durchs Parkhaus. Während der Rest des Planeten glaubt, dass jeder japanische Mann von Sex mit Minderjährigen in Schuluniform träumt, sind die Schulwege japanischer Mädchen die am wenigsten gefährdeten der Welt.

Highschool-Anime (Titel unbekannt) Zwei Cels und Background

Ein großer Teil der Animes spielt im Schul- oder Highschool-Milieu und verhandelt neben romantischen Aspekten den Alltag der Schüler und Schülerinnen. Die wenigsten dieser Serien haben es allerdings nach Deutschland geschafft, weil den Sendern angesichts unterschiedlicher Schulsysteme das Identifikationspotential zu gering erschien: Schon das Tragen von Schuluniformen wirkt auf deutsche Jugendliche befremdlich.