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Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. »Papi, lieber Papi«, flüstert Ann Forster, und ihre kleine Hand sucht Halt an der ihres Vaters. Gedankenlos umschließt er die zarten, eiskalten Händ-chen seiner kleinen Tochter. Martin Forster ist zumute, als sei er leer und ausgebrannt, als habe er weder Herz noch Hirn. Wie versteinert steht er inmitten der unübersehbaren Trauergemeinde. Er hat sogar vergessen, daß die geliebte Frau ihm ein Vermächtnis in Gestalt ihrer kleinen Tochter Ann hinterlassen hat. Nur an sein verlorenes Glück denkt er, das so über alle Maßen berauschend und sonnig war, wie es selten zwei Menschen wie ihm und Elena beschieden war. Und nun ist alles zu Ende, und völlige Dunkelheit ist in ihm und um ihn. Er bemerkt kaum die vielen Trauergäste, die vollzählig versammelte Familie Elenas, die ihn anfangs nie gemocht hat und sich erst viel später mit dieser Ehe abgefunden hatte, als sie das Glück der beiden Menschen feststellen mußten. Es ist ein sonniger Junitag. Wolkenlos und hellblau spannt sich der Himmel über die Erde. Blumen verströmen einen süßlichen Duft. Elena hat Blumen so sehr geliebt. Überhaupt war sie ein besonderes Menschenkind; lachend ist sie durch das Leben gegangen, lachend dem Tod in die Arme gesunken. Noch glaubt er die traurige Stimme des Hausarztes zu hören. »Es tut mir unendlich leid, Herr Forster, aber ich habe Ihre Gattin nicht retten können. Wer wußte denn auch, daß sie einen schweren Herzfehler hatte. Hinzu kamen die inneren Blutungen. Seien Sie überzeugt, daß ich alles Menschenmögliche getan habe.« Er hat keine Worte darauf gefunden.
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»Papi, lieber Papi«, flüstert Ann Forster, und ihre kleine Hand sucht Halt an der ihres Vaters. Gedankenlos umschließt er die zarten, eiskalten Händ-chen seiner kleinen Tochter.
Martin Forster ist zumute, als sei er leer und ausgebrannt, als habe er weder Herz noch Hirn. Wie versteinert steht er inmitten der unübersehbaren Trauergemeinde. Er hat sogar vergessen, daß die geliebte Frau ihm ein Vermächtnis in Gestalt ihrer kleinen Tochter Ann hinterlassen hat. Nur an sein verlorenes Glück denkt er, das so über alle Maßen berauschend und sonnig war, wie es selten zwei Menschen wie ihm und Elena beschieden war.
Und nun ist alles zu Ende, und völlige Dunkelheit ist in ihm und um ihn. Er bemerkt kaum die vielen Trauergäste, die vollzählig versammelte Familie Elenas, die ihn anfangs nie gemocht hat und sich erst viel später mit dieser Ehe abgefunden hatte, als sie das Glück der beiden Menschen feststellen mußten.
Es ist ein sonniger Junitag. Wolkenlos und hellblau spannt sich der Himmel über die Erde. Blumen verströmen einen süßlichen Duft. Elena hat Blumen so sehr geliebt. Überhaupt war sie ein besonderes Menschenkind; lachend ist sie durch das Leben gegangen, lachend dem Tod in die Arme gesunken. Noch glaubt er die traurige Stimme des Hausarztes zu hören.
»Es tut mir unendlich leid, Herr Forster, aber ich habe Ihre Gattin nicht retten können. Wer wußte denn auch, daß sie einen schweren Herzfehler hatte. Hinzu kamen die inneren Blutungen. Seien Sie überzeugt, daß ich alles Menschenmögliche getan habe.«
Er hat keine Worte darauf gefunden. Was hätte er auch sagen sollen? Elena, die schöne, strahlende, lebensfrohe Frau war für immer von ihm gegangen, und das allein ist es, was er nicht fassen kann.
Selbst die gütigen Worte des Pfarrers sind ungehört an ihm vorbeigerauscht.
Ann, das kleine Mädchen, seine kleine Tochter, weiß nicht genau, um was es geht. Man hat ihr wunderschönes kastanienbraunes Haar lieblos in zwei abstehende Zöpfe geflochten, hat ihren zarten Körper genauso lieblos in einen schwarzen Hänger gehüllt.
Sie weiß nur, daß man sie nicht zu der vergötterten Mama gelassen hat. Aber als die in starre weiße Seide gehüllte Mama auf ihrem breiten Bett lag, durfte sie zu ihr.
Nur ganz kurze Zeit hat man sie bei der stummen Mutter gelassen. Willig hat sie alles über sich ergehen lassen. Keiner ist so lieb zu ihr, wie es ihre schöne, fröhliche Mama war, die ihr kleines Mädchen über alles liebte.
Einmal hat sie Ann dem Gatten zugeschoben und dabei lachend gesagt: »Ist Ann nicht das reizendste und süßeste Kind in der ganzen Umgebung?«
Aber er hat immer nur die berückende Frau gesehen. Nicht das Kind.
Anns Augen sind ohne jede Träne. Aber sie weint nach innen, und das tut viel weher. Sie muß manches mitleidige Streicheln über den Kopf über sich ergehen lassen. Sie muß Hände drücken und immer wieder knicksen.
Ihr ist übel. Der betäubende Blumenduft, der Geruch der Erde, die nach Fäulnis riecht.
Ann hält sich tapfer. Sie hat ja einen Halt an der Hand des Vaters gefunden, wenngleich er ihr merkwürdig verändert scheint.
An seiner Seite verläßt sie den Friedhof und sitzt ganz in die Ecke gedrückt im Wagen.
Eine Reihe schöner, moderner Autos folgen. Die Familie Elenas ist nicht nur zahlreich, sondern auch sehr wohlhabend. Alle sind sie gekommen, das Furchtbare kaum fassend.
Das breite Tor ist weit geöffnet. Die Wagen rollen über die kiesbestreute Auffahrt und halten vor dem säulengetragenen Portal. Einige Stufen führen in die geräumige Halle. Wenn man sie durchschreitet, betritt man den hinteren Garten, der groß wie ein Park ist.
Elenas Familie macht sich breit im Haus. Es wird eifrig debattiert und dazwischen auch geweint. Die Mädchen haben die Tafel gerichtet. Martin Forster ist verschwunden. Er hat sich im Zimmer seiner Frau eingeschlossen. Hilflos, verloren und unsagbar einsam steht die kleine Ann herum und ist jedem und allem im Wege.
Mami! Mami! Immer verzweifelter wird das kleine Mädchen, von keinem beachtet und von niemand zum Tisch geführt. Keine liebevollen Mutterarme umschlingen sie, keiner lacht ihr so herzerfrischend zu wie Mami!
Mit einem erstickten Wehlaut wirft Ann sich herum und fegt über die breite Treppe hinauf in ihr Zimmer. Erst als sie dieses mit aller Liebe und Fürsorge eingerichtete Zimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen hat, beginnt sie hemmungslos zu weinen.
Sie wirft sich auf das dicke Eisbärfell, das vor ihrem Bett liegt, und weint und weint. Sie weint solange, bis sie vor Jammer in einen tiefen Erschöpfungsschlaf sinkt.
Von diesem Tage an ist Ann, das mit Liebe verwöhnte Kind, einsam und sich beinahe selbst überlassen. Nur Pluto, der große Schäferhund, bleibt an ihrer Seite. Sie läuft vor den vielen Tanten und Onkels, die alle noch als Gäste im Hause bleiben, in den hinteren Teil des Parkes, an dem der Gärtner nur soviel machen durfte, daß er nicht gerade zur Wildnis wurde.
Hierhin war Elena Forster oft gegangen, wenn sie Ruhe haben wollte und Ann ist auf ihren damals dicken Beinchen hinterhergewackelt.
Jetzt ist Ann ein zartes, dünnes Mädchen. Keiner bürstet mehr ihr wunderschönes Haar, wie es Elena mit viel Eifer getan hat. Sie darf es auch nicht mehr lose in Locken bis auf die Schultern fallend tragen. Sie darf auch nicht mehr jauchzend, von Pluto verfolgt, über die Kieswege jagen. Sie will es auch nicht mehr, denn es gibt keine lachende, lockend voranstürmende Mami mehr. Und Papi sieht sie nur zu den Mahlzeiten. Dann streicht er ihr wohl hin und wieder über den Kopf, aber sie fühlt, daß seine Gedanken nicht bei ihr sind. Dabei möchte sie sich in seine Arme werfen und mit ihm um Mami weinen und mit ihm über sie sprechen.
Müde und gleichgültig schleppt sich das kleine Mädchen über die ihr so vertrauten Wege, Pluto am Halsband. –
Indessen hat sich ein Teil der Familie – der andere ist bereits abgereist – im Salon versammelt und wartet auf den Hausherrn
Endlich erscheint Martin Forster, er läßt seine Augen über die Anwesenden gleiten.
Sie strahlen alle dieselbe Atmosphäre aus, die von Reichtum und behaglicher Wohlhabenheit spricht. Er haßt sie, diese selbstzufriedenen Gesichter, angefangen von den Frauen bis hin zu ihren Männern, und wieder einmal wundert er sich, wie Elena in diese Familie geraten ist. Zwar war sie auch in Reichtum aufgewachsen, den sie als etwas Selbstverständliches hinnahm. Aber nie hat sie sich über Geld den Kopf zerbrochen. Alles mußte er, Martin, für sie regeln. Sie war ein fröhliches, verspieltes Kind geblieben bis zu ihrem letzten Atemzug.
Er war Kunstmaler. Er hatte sich mit größtem Taktgefühl schnell in die neuen Verhältnisse eingelebt. Daß darunter sein Künstlertum unweigerlich versanden mußte, erkannte er nicht. Die Liebe zu Elena erfüllte ihn ganz und gar. Sie hatte er in allen möglichen Stellungen gemalt. Immer nur Elena. Ihr schönstes Bild, das aus tiefdunklen, lachenden Augen auf den Beschauer herabblickt, hängt im Salon, in eben diesem Salon, in dem sich die noch anwesenden Verwandten eingefunden haben und zu denen er sich mit unbeweglicher Miene setzt.
»Du mußt schon entschuldigen«, beginnt Reinhardt Volker, Elenas ältester Bruder, und nimmt dabei dem Diener ein Glas vom Tablett, stellt es vor sich nieder und spricht weiter. »Also, mein lieber Martin, wir wollen gewiß nicht deine Trauer stören. Doch es muß sein. Es geht um Ann.«
Überrascht hebt Forster den schmalen Kopf mit den tiefliegenden grauen Augen und den eingefallenen Wan-
gen.
»Um Ann?« fragt er verwundert. »Was ist mit Ann?«
Reinhardt Volker räuspert sich, ehe er seine wohlgesetzte Rede beginnt. »Ann ist jetzt sechs Jahre alt. Du bist selbst noch jung, wirst vielleicht eines Tages wieder heiraten –«
»Niemals!« unterbricht Martin seinen Schwager unwillig.
Volker macht eine Handbewegung, die Martin in Wut versetzt. Verbissen schweigt er und starrt vor sich hin. Die salbungsvolle Stimme Volkers rauscht an seinem Ohr vorüber. Hängen bleibt in seinem Gedächtnis nur der eine Satz:
»Wir halten es für unsere Pflicht, Ann zu uns zu nehmen und ihr eine standesgemäße Erziehung zu geben.«
Da fährt Martin Forster aus seiner Versunkenheit auf. Nein! Niemals soll Ann in diesen Verhältnissen groß werden.
»Nein!« Das klingt hart und ab-schließend. »Ann kommt in ein Internat, und ich gehe vorläufig auf Reisen.«
Peinliche, verlegene Stille folgt diesen Worten. Volker hustet laut in sein Taschentuch.
»Natürlich, du kannst es dir ja jetzt erlauben, da Elena dich zu ihrem Erben eingesetzt hat«, sagt er, und man kann unmöglich die darin versteckte Bosheit überhören.
Forster erhebt sich. Ihm ist dieser sogenannte Familienrat, dem er schon einmal Rechenschaft über seine Zukunft hat ablegen müssen, und zwar damals, als er um Elenas Hand anhielt, in tiefster Seele zuwider.
»Für mich ist die Angelegenheit erledigt«, sagt er höflich, aber zurückhaltend. »Ihr könnt als meine Gäste solange bleiben, wie es euch gefällt. Auf meine Gesellschaft müßt ihr aber verzichten.«
Er spürt förmlich die haßerfüllten Blicke in seinem Rücken, als er das Zimmer hinter sich schließt. Jetzt werden sie über ihn, den Eindringling, den Habenichts, herfallen. Aber was kümmert ihn das noch. Er hat mit der Familie der Volkers nichts mehr zu schaffen. Er will allein sein, allein mit seiner Trauer um Elena.
Schon will er die Tür seines Zimmers öffnen, als ihm Ann einfällt. Er hat sich in den vergangenen Tagen so wenig um sie gekümmert. Er sucht ihr Zimmer auf, findet es leer und fragt ein zufällig vorbeilaufendes Mädchen.
»Ann ist mit Pluto in den Garten gegangen.«
»Danke!«
Er steigt die Treppe wieder hinab, ohne auf das Stimmengewirr im Salon zu achten, und geht durch die hintere breite Glastür in den Garten. Tausend schöne Erinnerungen an Elena werden wach und quälen ihn. Gewaltsam zwingt er sich zur Ruhe und setzt seinen Weg fort.
Auf der Bank, wo sie oft zu dritt gesessen haben, findet er Ann, Pluto liegt wie ein treuer Wächter zu ihren Füßen.
Über der kindlichen Gestalt liegt so viel Traurigkeit und Verlorenheit, daß er tief erschüttert ist.
»Ann!«
Mit einem Jubellaut wirft Ann sich in seine weitgeöffneten Arme.
»Liebes, was machst du hier so allein? Wo ist Fräulein Irma?«
Ann hält den Hals ihres Vaters fest umklammert. Ihr kleines Herz klopft wie wild. Sie weint bitterlich an seinem Halse, und erst nach vorsichtigem Fragen erfährt er, daß sich niemand um sie gekümmert hat.
»Aber daran ist Irma nicht schuld, Papi«, verteidigt die Kleine ihre Erzieherin. »Die Tanten haben sie immer fortgeholt.«
Forsters Züge nehmen einen erbitterten Ausdruck an. Als ob nicht genug Personal im Hause wäre. Muß man da auch noch seiner kleinen Tochter die einzige Vertraute ausspannen?
Zugleich erkennt er, daß er sich ja selbst in seiner Trauer nicht um sein Kind gekümmert hat.
»Ich bin müde, Papi!«
Forster nimmt die leichte Last auf seine Arme und fühlt mit Beglückung, wie sie ihre weiche Wange an ihn schmiegt.
»Ich bringe dich in dein Zimmer und schicke dir Irma. Du wirst schön schlafen, nicht wahr?«
»Ja, Papi!«
»Hast du auch ordentlich gegessen?«
»Ein bißchen«, wispert sie an seinem Ohr.
Auf dem Weg ins Haus und bis hinauf in ihr Zimmer ist Ann eingeschlafen. Er läutet Sturm. Auf das eiligst herbeilaufende Stubenmädchen fährt er wütend los.
»Ich wünsche Fräulein Irma zu sprechen.«
»Aber – aber die hat die gnädige Frau doch weggeschickt, in den Ort, um Besorgungen für sie zu machen.«
»Welche von den Damen?«
»Die Frau von Herrn Reinhardt Volker.«
»Schöne Zustände«, herrscht er das völlig verstörte Mädchen an, »das ganze Haus wimmelt von Angestellten, und ausgerechnet meine Tochter wird sträflich vernachlässigt. Ziehen Sie Ann aus, und wenn sie erwacht, bringen Sie ihr ein ordentliches, leichtes Abendessen. Fräulein Irma schicken Sie dann zu mir. Ich bin in meinem Arbeitszimmer.«
»Jawohl, Herr Forster.«
Martin Forster möchte am liebsten grimmig auflachen. Na, die soll etwas erleben, diese hochmütige Josephine Volker.
Er stürmt in den Salon, daß die Damen pikiert zusammenzucken.
»Gut, daß du noch einmal zurückkommst«, hört er Reinhardt Volker sagen, dabei räkelt er seine massige Gestalt in dem wuchtigen Sessel, in dem einst Elenas Zierlichkeit versank.
»Bitte!« Forster dämpft seinen Ärger.
»Wir sprachen gerade darüber, daß es doch besser wäre, du würdest deinen Teil von Elenas Vermögen für Ann sicherstellen.«
In Forster steigt eiskalte Wut empor.
»Ich möchte euch bitten, euch dar-über nicht den Kopf zu zerbrechen. Ann ist meine Tochter, und ich gestatte keinem, in meine Angelegenheiten hineinzureden.«
Er wendet sich an die völlig verstört dreinblickende Josephine. »Und ich möchte dich ebenso nachdrücklich wie höflich bitten, Fräulein Irma nicht mehr für deine Dienste in Anspruch zu nehmen. Sie ist Anns Erzieherin und nicht dein Laufbote. Ich hoffe, mich unzweideutig ausgesprochen zu haben. Gute Nacht!«
Mit einer knappen Verbeugung verläßt er die reglos Dasitzenden. Er weiß genau, was sie hinter ihm hersagen werden. Doch es stört ihn nicht.
In seinem Arbeitszimmer findet er bereits Irma, die Erzieherin seiner kleinen Tochter, vor. Sie macht einen blassen, abgehetzten Eindruck, und sofort verschwindet seine Empörung. Er selbst ist früher schon schlecht gegen Josephines Willen angekommen. Um wieviel weniger könnte es eine Angestellte.
»Setzen Sie sich, Fräulein Irma.« Er selbst nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz. »Sie scheinen zu ahnen, weshalb ich Sie zu mir bitten ließ?«
Sie läßt schuldbewußt den Kopf hängen und nickt.
»Ann braucht Sie jetzt am allernötigsten, ist Ihnen das klar?«
Sie hebt die hellbraunen Augen zu ihm auf. Er hat ihre sanfte Art immer gern gemocht. Auch mit dem Kind ist sie liebevoll umgegangen.
»Seit dem Tode der gnädigen Frau habe ich mich keine Minute mehr um Ann kümmern können.« In Irmas Stimme schwingen Tränen. »Es hat mir sehr leid getan, aber die –«
Forster unterbricht sie mit einer gelassenen Handbewegung.
»Sie brauchen mir nichts weiter zu erzählen. Ich weiß es auch so genau. In Zukunft wird das anders. Meine Schwägerin weiß Bescheid.« Er spielt mit dem goldenen Brieföffner, um seine Nervosität zu verbergen. »Was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, hat mit dem, was gewesen ist, nichts zu tun. Das nur zu Ihrer Beruhigung.
Ann soll in ein Internat in der Schweiz kommen. Zunächst werde ich mich genauestens erkundigen, wo Ann am besten aufgehoben ist. Solange möchte ich Sie bitten, Ihr Amt bei Ann weiterhin zu verwalten. Sie können mich und das Kind auch in die Schweiz begleiten. Für die Kosten der Hin- und Rückreise komme ich selbstverständlich auf. Den Haushalt werde ich bis auf einen Teil der alten Dienerschaft auflösen, da ich auf Reisen zu gehen gedenke.
So, Fräulein Irma. Das wäre alles.«
Irma erhebt sich zögernd. Es tut ihr sehr leid, dieses schöne, immer fröhliche Haus und das zärtliche Kind verlassen zu müssen.
»Ich – ich werde es mir überlegen, ob ich Sie in die Schweiz begleite«, sagt sie mit unsicherer Stimme. »Es könnte sein, daß ich inzwischen ein anderes Angebot erhalte.«
»Dann sind Sie selbstverständlich sofort frei«, versichert er ihr und geleitet sie höflich zur Tür.
Ihr »Gute Nacht« klingt so leise, daß er es kaum hört. Nachdenklich kehrt er ins Zimmer zurück, lehnt sich an das geöffnete Fenster und starrt aus brennenden Augen in die langsam einfallende Dämmerung, die hohen Bäume werfen bereits lange Schatten.
Es wird dunkel, so dunkel wie es in seinem Innern geworden ist.
*
Am nächsten Morgen, nachdem Martin Forster ein einsames Frühstück eingenommen hat, beginnt das Haus infolge der Abreise der Verwandten äußerst lebendig zu werden.
Von seinem Zimmer aus sieht er einen Wagen nach dem anderen vorfahren, Chauffeure verstauen Gepäck, öffnen und schließen die Türen und dann gleiten sie fast lautlos die Auffahrt hinab.
Tiefes Aufatmen geht durch seinen ganzen Körper. Endlich ist er allein, nichts stört mehr seine Ruhe und seine Trauer um Elena.
Im Kinderzimmer hält Irma die weinende Ann in den Armen. Unter bitterlichem Schluchzen stößt das Kind hervor: »Nun fahren sie alle fort, Irma. Warum kommt meine Mami nicht?«
Irma preßt den zitternden Kinderkörper an sich. Mein Gott, da hat man die Kleine mit zum Friedhof geschleppt, hat sie zum letzten Lager der vergötterten Mutter gebracht, und ihr nicht gesagt, was das alles bedeutet.
»Mami! Mami!« schluchzt Ann sehnsuchtsvoll. Irma nimmt Ann auf ihre Arme und trägt sie zum Sessel. Auf den Knien läßt sie sich vor ihr nieder.
»Hör mal gut zu, mein Liebling«, spricht sie mit schwerem Herzen tröstend auf das Kind ein. »Deine Mami ist im Himmel. Sie war sehr krank und nun ist sie wieder so fröhlich wie früher.«
Unter tränenschweren, dichten, seidigen Wimpern blinzelt Ann hinüber zum Fenster und in den Himmel.
»Aber – aber dann müßte ich sie doch sehen, Irma.«
»Das kann man nicht, Liebes«, erklärt Irma mit unsicherer Stimme. »Wenn du ein weißes Wölkchen am Himmel siehst, da sitzt bestimmt deine Mami darauf und blickt auf dich herab. Dann freut sie sich, daß ihr kleines Mädchen nicht mehr weint. Sonst wäre sie sehr traurig, und das willst du doch nicht.«
Ein Weilchen überlegt Ann, dann schüttelt sie heftig den Kopf.
»Nein, traurig soll Mami nicht sein«, erwidert sie und schluckt tapfer an den nachdrängenden Tränen. »Aber ich werde jeden Tag nach den weißen Wölkchen Ausschau halten.«
Irma küßt die weiche Kinderwange. »Ja, so wirst du es machen, Ann. Und jetzt wollen wir gemeinsam frühstücken.«
Ängstlich blickt Ann auf ihre Erzieherin.
»Aber – aber ich habe doch gar keinen Hunger.«
Irma erhebt sich von den Knien. »Doch, mein Liebling, du hast Hunger. Du mußt sogar essen, sonst wirst du krank.«
»Komme ich dann auch auf ein weißes Wölkchen?« fragt Ann voller Unschuld.
Abermals umschlingt Irma das Kind. »Du sollst aber nicht krank werden, Ann. Dein Papi ist jetzt schon traurig genug. Also, wir werden gemeinsam essen.«
*
Gelangweilt, gleichgültig greift Martin Forster zum Telefon, dessen schrilles Klingeln ihn aus seinen Grübeleien gerissen hat. Er meldet sich.
»Bist du es, Martin?«
»Ja – wer ist dort?«
»Hier Carola! Carola Knauer.« Die Stimme kommt wie aus weiter, weiter Ferne. »Ist es wahr, Martin?«
»Was?« fragt er gedankenlos zurück.
»Das mit Elena?« Jetzt glaubt er leises Schluchzen zu vernehmen, und nun kann er sich auch erinnern.
»Es ist wahr, Carola.«
»Oh, Martin, wie schrecklich.« Stille und dann die leise, flehende Stimme: »Darf ich zu euch kommen, zu dir und Ann?«
Schon hat Martin eine Absage auf der Zunge, als er sich an die vergangene schöne Zeit gemeinsam mit Carola und Elena erinnert. Sie ist eine begabte Malerin und hat durch eine ihrer letzten Ausstellungen eine gewisse Berühmtheit und gute Aufträge erhalten, die sie schlagartig aus einer trostlosen finanziellen Lage rissen.
Es wird ihm guttun, wieder einmal mit Carola, der kunstverständigen, natürlichen Frau, plaudern zu können.
»Wo bist du, Carola? Kann ich dich abholen?«
»Nicht nötig, Martin. Ich sitze hier im Gasthof und habe draußen meinen Wagen stehen. In zehn Minuten kann ich bei dir sein.«
»Gut, Carola, ich erwarte dich«, sagt er jetzt interessierter als vorher.
Als er das Hupen hört, geht er rasch durch die Halle und hilft Carola Knauer aus dem Wagen.
Sie hat ein verweintes Gesicht. Wortlos drückt sie ihm die Hand. Sie vermeidet seinen Blick weiterhin, denn sie ist von der darinliegenden Verzweiflung bis ins Herz erschrocken.
Auf der Terrasse nehmen sie Platz. Der Park liegt in Sonne getaucht vor ihnen.
Sie will den Mund öffnen, aber sie wagt nicht, ihn in seiner Versunkenheit zu stören. Sie nimmt ein paar hastige Schlucke von dem Kaffee, den das Mädchen inzwischen vor sie hingestellt hat und lehnt sich dann in ihren Sessel zurück.
Verstohlen beobachtet sie ihn. Sie hat ihn immer geliebt, aber sie wußte von vornherein, daß diese Liebe aussichtslos war. Er hat nie mehr als Kameradschaft für sie empfunden; diese hat er ihr weiterhin gehalten, auch, als er die schöne Elena zu seiner Frau machte.
Sie kann ihm nachfühlen, daß eine Welt in ihm zusammengebrochen ist. Sie grübelt und grübelt und bricht schließlich die erdrückend wirkende Stille.
»Was macht deine Arbeit, Martin?«
Er zuckt zusammen. Sein Mund verzieht sich bitter.
»Sträflich vernachlässigt habe ich sie«, gibt er wahrheitsgemäß zu.
»Aber das wäre doch ein Halt, der Anfang zu einem neuen Leben, Martin«, läßt sie mit der ihr eigenen Zähigkeit nicht locker. »Das wird dich über den Schmerz hinwegbringen.«
Sie neigt sich etwas über den Tisch.
»Mein Gott, Martin«, redet sie ihm zu. »Du bist jung, du hast eine Zukunft vor dir, wenn du dich hinter deine Arbeit klemmst. Elena würde ihre Freude daran haben.«
Mißtrauisch ruhen seine grauen Augen auf ihrem bewegten Gesicht. Sie ist ein schöner Mensch, denkt er flüchtig, ohne daß ihn diese Schönheit irgendwie erwärmt, mit ihrem schwarzglänzenden Haar, das sich wie eine seidige Kappe um den feinmodellierten Kopf schmiegt. Die hellen Augen mit den grünlichen Lichtern. Die schmale Nase, der schöne, leidenschaftliche Mund. Ihre gutgeformte Gestalt. All das ist anziehend.
Warum sie eigentlich nicht verheiratet ist? An Verehrern hat es ihr sicherlich nicht gefehlt.
»Warum starrst du mich so an?« fragt sie errötend.
»Ach nichts –« Er wendet den Kopf seitwärts und atmet tief den Blumenduft ein. »Du kannst ja mal mit mir in mein Atelier gehen. Aber erschrick nicht. Dort sieht es verheerend aus.«
Eine vage Hoffnung befällt sie. Es genügte schon, wenn sie ihn aus seiner Lethargie irgendwie herausreißen könnte. Und das kann nur durch Arbeit geschehen.
»Und dann hast du Ann«, sagt sie aus ihren Überlegungen heraus. »Ann gleicht Elena heute schon. Sie wird einmal ebenso schön werden wie ihre Mutter.«
»Ach, Ann!« Er macht eine kurze Handbewegung. »Ann hat Elena noch nötiger als ich.«
Carola beginnt ihre nie versiegende Tatkraft erneut unter Beweis zu stellen. Sie schiebt die Tasse von sich.
»Bitte, Martin, laß uns gleich mal in dein Atelier steigen«, fordert sie ihn auf und erhebt sich. Unwillig folgt er ihr ins Haus.
Sie steigen bis unter das Dachgeschoß, wo Elena ihm ein geräumiges, helles Atelier eingerichtet hat.
»Immer wieder bin ich von dem Raum begeistert«, sagt Carola leise. Andächtig betritt sie ihn. Aber sie ist gleichzeitig erschüttert. Überall liegt der Staub fingerdick. Eine entsetzliche Unordnung herrscht hier. Bilder, die alle Elena darstellen, sind wahllos an den Wänden aufgestellt.
»Hast du nichts anderes gemalt?«
Sie blickt ihn forschend aus den Augenwinkeln an.
»Nein. Nur immer Elena. Sie war mein schönstes Modell.« Er geht von Bild zu Bild und berauscht sich an der Schönheit der geliebten Frau. Nie wieder wird er ein so geeignetes Modell wie Elena finden. Von all den Bildern sehen ihn ihre nachtdunklen, unergründlichen Augen an. Er legt das Gesicht in die Hände und stöhnt tief auf.
»Mit mir ist es vorbei.«
»Unsinn«, sagt Carola beherrscht. Sie möchte am liebsten den hochgewachsenen Mann an den Schultern rütteln, damit er aufwacht. Niemand kann seine Trauer besser verstehen als sie. Aber gehenlassen darf er sich nicht. Er darf sich nicht verlieren, selbst wenn die Wunde noch blutet.
»Du bist doch kein Stümper, Martin. Sieh dir all diese Bilder an. Sie leben. Warum suchst du nicht nach anderen Motiven?«
»Du meinst es sicher gut mir mir«, sagt er nach einer Weile. »Aber hier könnte ich sowieso nicht schaffen. Ich werde auf Reisen gehen.«
Sekundenlang denkt sie nach; dann sagt sie:
»Bestimmt ist das im Augenblick das allerbeste für dich. Aber was wird aus Ann? Willst du sie mitnehmen?«
Er wendet sich zur Tür, öffnete sie und läßt ihr den Vortritt. Dabei entwickelt er ihr seine Pläne. Sie schüttelt den Kopf.
»Ich weiß nicht, ob es das richtige ist, Martin. Ann ist viel zu klein. Das Kind braucht Nestwärme –«
»Und eine gütige Mutter, so wie Elena eine war«, unterbricht er sie spöttisch. »Glaube mir, ich finde schon das richtige Heim, in dem Ann sich wohl fühlen kann, wo sie unter gleichaltrigen Mädchen ist. Kinder vergessen schnell.«
»Wenn du meinst. Kann ich Ann sehen?« fragt sie. Sie hat richtig Sehnsucht nach dem kleinen Mädchen.
»Später, Carola, ich sah Ann mit ihrer Erzieherin in den Park gehen.«
»Dann später.«
Sie möchte ihn bitten, mit ihr zu Elenas Grab zu fahren, sie will dort ein paar Blumen niederlegen. Aber sie fürchtet, die Wunde noch mehr zum Bluten zu bringen.
So plaudert sie leise, munter fließt das Bächlein ihres Redestromes dahin. Er hört wohl ihre Stimme, aber das Gesagte geht nicht in ihn ein. Er antwortet nur mit »ja« oder »nein«.
»Du kannst zum Essen hierbleiben – oder hast du etwas Besseres vor?«
»Danke, ich bleibe gern, wenn ich dich nicht störe.«
»Dann wirst du auch Ann sehen können. Sie wird sich über deinen Besuch freuen«, bemerkt er und raucht schweigend eine Zigarette.
Die Mahlzeit vereinigt die kleine Familie mit dem Besuch. Ann kommt auf Carola losgestürmt.
»Tante Carola! Tante Carola!« jubelt sie und wirft sich beglückt in die Arme, die sie umfangen.