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Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. Der Unfall ereignete sich in den frühen Morgenstunden. Fürst Alexander von Thorsten-Thorn sah nur das bezaubernde Bild der aus dem Meer aufsteigenden strahlenden Sonne, als er den Strand entlang galoppierte. Aber der Fahrer des Motorrollers sah den Reiter, riß geistesgegenwärtig den Roller nach rechts, konnte aber nicht vermeiden, daß das Vorderrad den Bordstein streifte. Der Roller senkte sich zur Seite, und der Fahrer flog nach links in den Sand, den der Wind vom Strand her in die Straße gefegt hatte. Im Nu brachte der Fürst seinen Braunen zum Stehen und schwang sich aus dem Sattel. Mit ein paar Schritten stand er neben dem verunglückten Fahrer. Der saß im Sand, hatte die Hände um die hochgezogenen Knie gelegt und blinzelte zu dem Reiter auf. »Erlauben Sie mal«, herrschte der Fürst die unglücklich im Sand hockende Gestalt an. »Wie kommen Sie dazu, zur nachtschlafenen Zeit durch die Straßen zu rasen?« Ein paar tiefblaue Augen mit langen dunklen Wimpern blitzten ihn an. »Kann ich dafür, daß Sie auf Ihrer alten Mähre schlafen?« »Erlauben Sie mal«, braust der Fürst auf, wird aber mit einer ungnädigen Handbewegung unterbrochen. »Ich erlaube Ihnen höchstens, mir beim Aufstehen zu helfen«, kommt es befehlend, und sofort greift er dem Fahrer unter die Arme, um ihm auf die Beine zu helfen. »Uff!« macht dieser und reißt sich den leuchtendroten Sturzhelm vom Kopf. Eine Flut blauschwarzer Haare fällt bis auf die Schultern, und der Fürst prallt zurück. »Sie – mein Gott – Sie sind –«
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Seitenzahl: 195
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Der Unfall ereignete sich in den frühen Morgenstunden.
Fürst Alexander von Thorsten-Thorn sah nur das bezaubernde Bild der aus dem Meer aufsteigenden strahlenden Sonne, als er den Strand entlang galoppierte. Aber der Fahrer des Motorrollers sah den Reiter, riß geistesgegenwärtig den Roller nach rechts, konnte aber nicht vermeiden, daß das Vorderrad den Bordstein streifte. Der Roller senkte sich zur Seite, und der Fahrer flog nach links in den Sand, den der Wind vom Strand her in die Straße gefegt hatte.
Im Nu brachte der Fürst seinen Braunen zum Stehen und schwang sich aus dem Sattel. Mit ein paar Schritten stand er neben dem verunglückten Fahrer. Der saß im Sand, hatte die Hände um die hochgezogenen Knie gelegt und blinzelte zu dem Reiter auf.
»Erlauben Sie mal«, herrschte der Fürst die unglücklich im Sand hockende Gestalt an. »Wie kommen Sie dazu, zur nachtschlafenen Zeit durch die Straßen zu rasen?«
Ein paar tiefblaue Augen mit langen dunklen Wimpern blitzten ihn an.
»Kann ich dafür, daß Sie auf Ihrer alten Mähre schlafen?«
»Erlauben Sie mal«, braust der Fürst auf, wird aber mit einer ungnädigen Handbewegung unterbrochen.
»Ich erlaube Ihnen höchstens, mir beim Aufstehen zu helfen«, kommt es befehlend, und sofort greift er dem Fahrer unter die Arme, um ihm auf die Beine zu helfen.
»Uff!« macht dieser und reißt sich den leuchtendroten Sturzhelm vom Kopf. Eine Flut blauschwarzer Haare fällt bis auf die Schultern, und der Fürst prallt zurück.
»Sie – mein Gott – Sie sind –«
»Jawohl! Ich bin eine Frau.« Die Fahrerin stockt. »Und Sie Sie sind…. ach, du lieber Himmel!«
Damit stürzt sie sich auf ihren Roller, bringt ihn in Gang, schwingt sich auf den Sitz und braust davon, den Fürst in eine Staubwolke einhüllend.
Als Fürst von Thorsten sich den Sand aus den Augen gewischt hat, ist die Straße wie leergefegt. Kopfschüttelnd kehrt Fürst von Thorsten zu seinem Rassepferd zurück. Er liebkost seinen »Sturmwind« und flüstert ihm dabei ins Ohr:
»Hast du das gehört, Sturmwind? Eine alte Mähre hat sie dich genannt, dieses kleine freche Biest. Und wir wissen nicht einmal wer sie ist. Aber hübsch sah die Kleine aus, nicht wahr?«
Nach diesem einseitigen Gespräch mit seinem Pferd sitzt Fürst von Thorsten auf und reitet im Trab dem Fürsten-Palais zu. Er reitet durch das Tor, an der präsentierenden Wache vorbei und übergibt dem herbeieilenden Reitknecht sein Pferd. Mit großen Schritten springt er die Freitreppe hinan und verschwindet durch das säulengetragene Portal.
Er sucht sofort seine Räume auf, nimmt ein Bad und kleidet sich um. Pünktlich erscheint er im Frühstückszimmer, wo er, wie immer, seine Groß-mutter, die Fürstin-Mutter, wie sie allgemein genannt wird, vorfindet.
Ja, es ist wirklich wahr, daß Thorsten-
Thorn ein kleines Fürstentum ist, von dem Fürst Alexander spöttelnd behauptet, er könne sein Land mit drei Schritten durchqueren.
Thorsten-Thorn ist eine Dreiecksinsel, auf deren Südspitze der Landsitz der von Thorsten-Thorn liegt. Ein zauberhaft schönes Anwesen, weißleuchtend mit einer wunderbaren Aussicht auf das blaue Meer.
Und Fürst Cornelius, Heribert, Alexander von Thorsten-Thorn ist der regierende Fürst. Er hat sehr viel für sein kleines Land und seine Leute getan.
Fürst von Thorsten-Thorn hat es verstanden, sein Land zu einem vornehmen Erholungsgebiet zu machen, so daß man von einem soliden Wohlstand sprechen kann. Haupteinnahmen aber ergeben die Weinberge. Die größten besitzt der Fürst. Aber er hat dafür gesorgt, daß auch der kleinste Bauer einen Weinberg sein eigen nennt. Und die milden, blumigen Weine sind weltbekannt.
Nur eine Sorge hat das Fürstentum. Es möchte seinen Fürsten, der allgemein geliebt und verehrt wird, gern verheiratet sehen. Man will neben dem Landesherren eine junge Frau sehen.
*
Mit viel Geknatter lenkt Beatrix Chapu ihren Roller in die schmale Einfahrt neben dem kleinen Haus, das sie mit ihrer Mutter, der Musikpädagogin Germaine Chapu, bewohnt. Bevor sie das Haus betritt, sieht sie noch einmal an ihrem Anzug hinab, klopft die schmutzigen Stellen aus und eilt ins Haus.
Germaine Chapu, die ebenfalls Frühaufsteherin ist, hat ihre Tochter kommen gehört und tritt ihr im Flur entgegen.
»Ausgetobt, Kind?« begrüßt sie das junge Mädchen und küßt sie auf beide Wangen. Beatrix bedeutet ihr alles und sie behütet sie wie ihren Augapfel. Beatrix dankt es ihrer Mutter durch grenzenlose Liebe und Vertrauen.
Germaine Chapu genießt als Musiklehrerin einen guten Ruf, und sie erteilt allen heranwachsenden Töchtern der Familien der Gesellschaft Musikunterricht. Im übrigen wird sie nicht als gesellschaftsfähig angesehen, und es flattert sehr selten eine Einladung in das kleine Haus der Chapus, so daß Beatrix wenig Zerstreuung hat. Nun, das junge Mäd-chen macht sich sehr wenig daraus.
»Schön, daß du schon da bist, Beatrix. Wir können gleich frühstücken. Während ich den Kaffee aufbrühe, kannst du dich rasch umkleiden.«
»Sofort, Musch.« Beatrix küßt die Mutter schnell noch einmal, wird aber lachend von dieser fortgeschoben. »Beeil dich, Kind. Wir wollen die Kaffeestunde genießen.«
Wie jeden Tag wird es eine recht gemütliche Kaffeestunde. Germaine Chapu tut alles für Beatrix, nur in einem ist sie unerbittlich. Beatrix besitzt einen zauberhaften Sopran, von dem Ger- maine behauptet, da sie Beatrix natürlich selbst ausbildet, daß es eine solche Stimme kaum noch einmal gäbe.
Beatrix versucht immer wieder, ihre Mutter zu überreden, sie einmal bei einer öffentlichen Veranstaltung singen zu lassen, was diese jedoch strikt ablehnt, ohne einen stichhaltigen Grund anzugeben. Und dieses »Nein« findet Beatrix unerbittlich und ungerecht.
Alljährlich findet der sogenannte »Fürstenball« im Palais Thorsten statt, und dazu wählt Germaine jeweils die Künstler aus, die dazu ausersehen sind, das Fest zu verschönern.
An einem solchen Fest möchte Beatrix sehr gern einmal teilnehmen, was ihr jedoch von seiten der Mutter bisher jedesmal verwehrt wurde.
Auch heute versucht sie es wieder, jedoch ohne Erfolg.
»Ich verstehe dich wirklich nicht, Musch. Immer wird Renata Orgon in das Palais geschickt. Die ist doch viel zu alt und könnte gut und gern der Jugend Platz machen«, mault Beatrix.
Mit einer Handbewegung bringt Germaine die Tochter zum Schweigen.
»Du weißt genau, daß ich das nicht bestimme, sondern die Fürstin-Mutter. Bisher hat sie immer noch Frau Renata Orgon verlangt.«
Beatrix seufzt tief auf und räumt das Geschirr zusammen.
»Was nützt mir eine schöne Stimme, wenn ich sie nicht hören lassen darf?« In Beatrix’ Stimme schwingen Tränen.
»Du singst doch wirklich genug und zu deiner eigenen Freude.«
Beatrix fährt erregt herum. An den langen, gebogenen Wimpern glänzen wirklich Tränen.
»Du selbst hast gesagt, es sei ein Vergehen an der Menschheit, ihr eine gute Stimme vorzuenthalten.«
Germaine Chapu erschrickt. So heftig hat Beatrix noch nie ihren sehnlichsten Wunsch geäußert.
»Du bist noch längst nicht das, was man bühnenreif nennt, mein Kind. Als deine Lehrerin kann ich das wohl beurteilen.«
Beatrix nimmt das Tablett auf und verschwindet. Germaine verfolgt die liebliche Erscheinung mit einem sehr nachdenklichen Blick, dann läßt sie sich bequem in ihren Sessel zurücksinken und grübelt vor sich hin. Es sind teils erfreuliche, teils sehr traurige Bilder, die an ihrem geistigen Auge vorüberziehen.
*
»Also gut, Großmama«, erklärt Fürst Alexander, »ich werde mir also auf dem diesjährigen ›Fürstenball‹ eine Frau aussuchen.«
»Endlich!« Die Zwillinge, Schwestern des verstorbenen Fürsten Ferdi-nand, die eben ihre Tassen zum Munde führen wollten, hätten sie beinahe fallen lassen. Fürst Alexander wirft den beiden grauen Gestalten, die er insgeheim die »Spitzmäuse« nennt, einen kurzen zornigen Blick zu. An den Zwillingen, die leider keinen Mann gefunden haben und weil sie arm sind, in der Familie Thorsten einen geruhsamen Lebensabend verbringen, ist wirklich alles grau.
Die immer noch schönen, klaren Augen der Fürstin-Mutter leuchten auf. Sie liebt ihren Enkel Alexander von ganzem Herzen, und er hat ihr nie Kummer bereitet, obwohl sie selbst seine Erziehung übernehmen mußte. Seine Mutter mußte bei der Geburt das Leben lassen, und so gab sie all ihre Liebe dem mutterlosen Kind.
Fürst Ferdinand, ihr einziger Sohn, hatte nicht wieder geheiratet. Er war bei einer Segelpartie verunglückt, als sein Sohn Alexander zweiundzwanzig Jahre alt war. Danach mußte der die Regierung des Fürstentums übernehmen.
Fürst Alexander glich in seinem Wesen sehr seiner Großmutter. Er war von Natur aus fröhlich und gerecht. Und sein verbindliches Wesen schaffte ihm überall Freunde. Außerdem nahm er die ihm nach dem Tode seines Vaters übertragenen Pflichten sehr ernst und galt allgemein als äußerst zuverlässig und gewissenhaft.
»Alexander!« ruft die Fürstin-Mutter freudig erregt aus. »Treibst du auch keinen Scherz?«
»Bestimmt nicht, Großmama. Ich werde mir also eine passende Frau suchen. Sie muß standesgemäß sein, Geld haben, schön sein und klug.«
»Irrtum!« fällt die Fürstin-Mutter ihm in die spöttische Rede. »Sie muß eine tadellose Vergangenheit haben und kerngesund sein.«
»Nun, das wird wohl aufzutreiben sein«, spöttelt Fürst Alexander weiter. »Die Ausstattung des Festes lege ich in deine bewährten Hände, geliebte Großmama.«
»Und wenn dir keine der jungen Damen gefällt?« wagt Fernande, eine der Zwillinge,einzuwerfen.
Fürst Alexander grinst die beiden Prinzessinnen an. »Dann nehme ich die erste beste, die mir in den Weg läuft.«
»Aber – aber…« Den Zwillingen bleibt vor Schreck der Mund offenstehen.
»Was ist denn? Ihr wollt durchaus eine Fürstin haben, also sollt ihr sie bekommen.« Fürst Alexander küßt seine Großmutter und den Tanten die Hand und verläßt mit einer Verbeugung das Frühstückszimmer. Er hinterläßt zwei aufgeregt durcheinanderschwatzende Tanten und eine belustigt zuhörende Großmutter. –
Pfeifend durcheilt Fürst Alexander die Flure, steigt eine Marmortreppe empor und betritt sein Arbeitszimmer, wo er bereits seinen Sekretär, Studiengenossen und treuen Freund, Baron Felix von Horby bei der Arbeit vorfindet. Der Baron ist dabei, den Stapel eingegangener Post zu sortieren.
»Na, altes Haus«, begrüßt Fürst Alexander den Freund, »schon fest bei der Arbeit? Warum warst du nicht im Frühstückszimmer?«
Baron von Horby schiebt seine Hornbrille auf die Stirn.
»Donnerwetter, Alex, das habe ich tatsächlich vergessen.«
»Dann hol es schleunigst nach, sonst bekommen die Tanten zuviel«, meint der Fürst und schwingt sich auf die Lehne des Sessels, in dem der Baron sitzt. Mit einem Male ist der Ausdruck von Sorglosigkeit aus seinen Zügen wie fortgewischt. Der Freund blickt ihn nachdenklich von der Seite an.
»Es hat wohl was gegeben?« fragt er.
»Stimmt, Felix. Man hat mir das Versprechen abgerungen, mir zum ›Fürstenball‹ endlich die passende Frau zu suchen.«
»Ach, du meine Güte«, stöhnt der Baron auf. »Du hast dich so einfach überrumpeln lassen?«
»Leider!« Fürst Alexander zuckt resignierend die Schultern. »Nun geht es nicht anders. Ich muß auf Brautschau gehen.«
»Und deine kleine süße Unbekannte?« wagt der Baron den Einwurf. »Hast du sie vergessen?«
»Keineswegs«, erwidert der Fürst ernst. »Ich denke ständig an sie. Wenn ich bloß eine Ahnung hätte, wo ich sie finden könnte. Hast du nichts erfahren?«
Baron von Horby schüttelt den Kopf. »Nach deinen dürftigen Angaben…«
»Finde ich gar nicht. Ein solch liebliches Menschenkind muß ja auffallen und gibt es meiner Meinung nach überhaupt nicht zweimal. Bitte, streng dich ein bißchen an, damit du sie findest.«
»Sie braucht doch nicht unbedingt hier zu wohnen, kann zum Beispiel zu Besuch bei irgendeiner Familie sein. Soll ich etwa einen Aufruf in den Zeitungen erlassen?« fällt der Baron ihm in die Rede.
»Gar nicht schlecht.« Fürst Alexander wiegt den Kopf. »Es müßte dann ungefähr so heißen: ›Rekordwütige junge Dame auf einem roten Motorroller‹.«
Baron Felix bricht in schallendes Ge-lächter aus. »Halt ein, Alex, man bekommt ja Lachkrämpfe. Weißt du was? Such du deine rekordwütige Rollerdame selbst.«
Der Fürst durchmißt den weiten, kostbar eingerichteten Raum, der mit allerlei Andenken an die großen Reisen des Fürsten, die ihn in alle Welt geführt haben, angefüllt sind.
»Am liebsten würde ich mich dem ganzen Rummel durch eine Reise um die ganze Welt entziehen«, meint er aus seinen Gedanken heraus.
Baron Felix macht eine entsetzte Handbewegung.
»Das laß dir ja nicht einfallen, mein Lieber. Hast du ›A‹ gesagt, mußt du auch ›B‹ sagen, und von deiner schönen Unbekannten kannst du schon jetzt Abschied nehmen.«
»Schöne Aussichten sind das!« knurrt Fürst Alexander wütend.
»Tscha«, macht der Baron scheinbar ungerührt. »Hättest dir eine andere Wiege aussuchen sollen, nicht eine mit einer siebenzackigen Krone. Das verpflichtet, mein Lieber, hörst du, das verpflichtet, um mit den Worten von Prinzessin Ulrike zu antworten.«
»Geh mir bloß mit der alten Schachtel weg. Nur weil sie keinen Mann mitgekriegt hat, soll ich durchaus heiraten, nur damit sie endlich einmal eine Hochzeit erlebt und wenn es auch nicht die eigene ist.«
Baron Felix wendet sich dem Schreibtisch wieder zu. »Du, Alex, hör mal. Ist dir bekannt, daß dein Vater eine Schwester Henriette hatte?«
Fürst Alexander sieht den Freund ungläubig an. »Mein Vater eine Schwester? Unmöglich, Felix! Es gibt nur die Zwillinge Fernande und Ulrike. Von einer Schwester Henriette ist mir nichts bekannt. Wie kommst du darauf?«
Baron Felix schiebt dem Freund das dicke Buch zu, in das er eine Eintragung machen wollte. Es ist der Familien-
Stammbaum derer von Thorsten-Thorn. Ȇberzeug dich selbst, Alex. Hier steht: Prinzessin Henriette von Thorsten-
Thorn, geboren am… warte mal, sie müßte jetzt ungefähr zweiundvierzig Jahre alt sein. Wäre sie gestorben, müßte eine Eintragung dasein. Du bist jetzt zweiunddreißig Jahre alt. Du wärest zu ihren Lebzeiten zehn Jahre alt gewesen und müßtest dich ihrer doch erinnern können.«
Fürst Alexander schüttelt den Kopf. »Das ist merkwürdig, Felix. Ich kann mich nicht an eine Tante dieses Namens erinnern.«
Der Baron erwidert: »Deine Groß-mutter müßte dir doch Auskunft geben können über ihre Tochter Henriette.«
Fürst Alexander nickt.
»Darüber werde ich sie befragen. Das interessiert mich.«
Doch vorläufig kommt Fürst Alexander nicht dazu, da ihm sein Tagesablauf keine Zeit dazu läßt. Erst bei der Abendtafel fällt es ihm wieder ein. Und so wendet er sich, nachdem der Mokka serviert und die Familie unter sich ist, an die Großmutter. Baron Felix von Horby zählt man längst zur Familie.
»Wie kommt es, daß man noch nie etwas von Henriette von Thorben-Thorn gehört hat?«
Lähmendes Schweigen legt sich über die kleine Runde, in das Fürst Alexander mit einer neuen Frage einbricht.
»Ist sie tot?«
»Nein! Durchgebrannt ist sie, unsere mißratene Schwester.«
»Schweig!« verweist die Fürstin-Mutter ihre Tochter streng. Fürst Alexander blickt auf die vorlaute, sensationslüsterne Tante.
»Es ist aber doch wahr. Sie ist mit ihrem Musiklehrer durchgebrannt«, sagt sie schrill.
Fürst Alexander bricht in ein helles Gelächter aus.
»Ach nee, sehr interessant«, macht Fürst Alexander belustigt. »Daß es so was in unserer hochnoblen Familie gegeben hat. Wirklich interessant. Was war sie für ein Mensch?« Diesmal wendet er sich wieder an die Fürstin-Mutter, deren Gesicht sich verfärbt hat. Sie zögert eine Weile, dann entschließt sie sich, zu sprechen.
»Sie war ein wunderbarer Mensch, Alexander, und hätte jedem Fürstenthron zur Ehre gereicht. Sie wurde in einem der vornehmsten Schweizer Internate erzogen und besaß eine einzigartig schöne Stimme. Wäre sie eine Bürgerliche gewesen, sie hätte sich mit dieser Stimme ein Vermögen ersingen können.«
»Also zog sie es vor, mit ihrem Mu-
siklehrer durchzubrennen«, wirft Fürst Alexander ein, als die Fürstin-Mutter eine Pause macht. »Hast du dich nie wieder um deine Tochter gekümmert, Großmama? Hast du irgendwelche Nachforschungen angestellt?«
»Natürlich habe ich das. Aber alles mußte in aller Heimlichkeit geschehen. Wir durften es doch zu keinem Skandal kommen lassen. Leider war es damals so. Auch ich, als Mutter, mußte mich dem Hausgesetz fügen und durfte von Stunde an den Namen meiner Tochter Henriette nicht mehr nennen. Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht. Bei Gott, ich habe es hundertmal bereut, mich nicht einfach über diesen Zwang hinweggesetzt zu haben und weiter nach ihr zu forschen.
Heute existiert dieses Gesetz nicht mehr, Gott sei Dank. Du wirst der erste von Thorsten-Thorn sein, der frei nach seinem Herzen wählen darf.«
Das Gesicht der Fürstin-Mutter scheint wie versteinert und sieht verfallen aus. Fürst Alexander empfindet tiefes Mitleid mit ihr. Er weiß, daß sie heimlich sehr gelitten haben muß.
»Aber jetzt steht es dir doch frei, nach deiner Tochter Nachforschungen anzustellen«, sagt Fürst Alexander nach einer Pause. »Wäre es für dich nicht eine große Beruhigung, zu wissen, was aus Henriette geworden ist?«
Die Fürstin-Mutter sieht ihn aus wie erloschen wirkenden Augen an. Mit Anstrengung erhebt sie sich, hält sich ein paar Sekunden am Tisch fest und strafft ihre Gestalt.
»Bitte, Alexander, ich wünsche über die Angelegenheit nicht mehr zu sprechen. Du weißt alles, was du wissen mußt.«
In vorbildlicher Haltung verläßt sie die Abendtafel. Mit Bestürzung sehen die Zurückbleibenden hinter ihr her.
*
»Mutti!« Madame Chapu legt das soeben von der Fürstin-Mutter eingegangene Schreiben aus der Hand und blickt erwartungsvoll auf ihre Tochter.
»Ja, Kind?«
»Kommt zum diesjährigen ›Fürsten-
Ball‹ wieder Madame Orgon in das Palais?«
»Gewiß, Kind. Man teilt es mir soeben mit, daß ich alles in die Wege leiten soll.«
Ungestüm erhebt Beatrix sich und läßt sich neben dem Sessel ihrer Mutter nieder.
»Muschi«, bittet sie mit der ganzen Unwiderstehlichkeit der Jugend, »muß denn unbedingt die Orgon singen? Kannst du mich nicht ins Palais schikken?«
Entsetzt wehrt Germaine Chapu ab. »Aber Kind, was denkst du dir? Es
geht auf gar keinen Fall. Es geht
nicht, Beatrix, es geht wirklich nicht. Was meinst du, was für Unannehm-
lichkeiten für mich daraus entstehen würden. Die Orgon wäre fähig, alle
meine Schüler gegen mich aufzuhetzen, vielleicht die Schüler nicht so sehr, als deren Eltern. Gib dich damit zufrieden, Liebes. Außerdem bist du viel zu
jung.«
»Das finde ich gar nicht«, läßt sich eine dunkle wohltönende Stimme hören, bei deren Klang Mutter und Tochter erschreckt zur Tür schauen.
Lächelnd kommt die Fürstin-Mutter näher, die das Mädchen, das sie anmelden wollte, einfach zur Seite schob und den Wohnraum des ihr sehr bekannten Hauses betritt und so Zeuge der leidenschaftlichen Bitte Beatrix’ wurde.
»Durchlaucht!« Wie elektrisiert fährt Germaine Chapu von ihrem Sitz auf und geht der vornehmen Besucherin entgegen. Auch Beatrix steht langsam auf und starrt auf die Fürstin-Mutter, die sie heute zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen bekommt. Sie war schon häufig Gast in dem kleinen Haus, aber nie durfte Beatrix dabei in Erscheinung treten.
»Wer ist denn diese junge, impulsive Dame?« erkundigt die Fürstin-Mutter sich und betrachtet mit Wohlgefallen das schöne Mädchen.
Madame Chapu sieht verstört aus. Ihre Augen wandern von der Fürstin-Mutter zu Beatrix.
»Es ist, es ist meine Tochter«, stammelt sie.
»Ihre – Tochter?« erwidert die Fürstin gedehnt und schüttelt den Kopf. »Aber, meine Liebe, warum haben Sie mir denn dieses liebliche Kind unterschlagen?«
»Ich, ich hatte meine Gründe«, versetzt Madame Chapu reserviert und preßt die Zähne zusammen. Ein kurzer, scharfer Blick streift die Sprecherin, dann wendet sie sich Beatrix zu.
»Ich verstehe. Nun, man soll sich nicht in die Angelegenheiten fremder Menschen stecken. Und warum lassen Sie Ihre Tochter nicht zum ›Fürsten-Ball‹ singen? Das ist eine Angelegenheit, die auch mich angeht. Und finden Sie es besonders nett, daß Sie mir bis jetzt Ihre Tochter noch nicht vorgestellt haben?«
»Verzeihung, Durchlaucht. Es gibt wenige Menschen, die um die Existenz meiner Tochter wissen«, weicht Ger-maine Chapu aus.
»Singen kann sie auch? Haben Sie Ihre Ausbildung übernommen?« forscht die Fürstin weiter.
Germaine Chapu zuckt mit den Schultern. »Es gibt nichts, was ich meiner Tochter noch beibringen könnte.«
Beatrix errötet bis unter das schwarzblaue Haar. Noch nie hat sie jemals von ihrer Mutter ein Lob in dieser Form gehört.
»Waas?« Die Fürstin ist ehrlich erstaunt. »Das sagen Sie so einfach dahin?« Und noch lebhafter setzt sie hinzu: »Jetzt haben Sie mich so neugierig gemacht, daß ich Ihre Tochter unbedingt singen hören muß. Wollen Sie, mein Kind?« wendet sie sich direkt an Beatrix.
»Sehr gern, Durchlaucht«, versichert sie eifrig und macht eine kleine einladende Handbewegung zum Nebenzimmer.
Der Flügel singt und klingt unter Germaine Chapus Händen, und dann setzt Beatrix mit ihrer glockenreinen Stimme ein. Sie hat das Gebet aus der Oper »Tosca« gewählt. Schon bei den ersten Tönen neigt die Fürstin-Mutter sich interessiert vor, als könne sie dadurch das junge Mädchen besser in Augenschein nehmen. Und von Minute zu Minute wächst ihr Erstaunen.
Die Fürstin-Mutter lehnt sich zurück und schließt die Augen. Die Wände des Zimmers scheinen zurückzutreten, und sie sieht eine andere Frauengestalt und ein anderes Frauenantlitz vor sich. Sie hört eine andere Stimme, die auch so rein, so warm und so voll Innigkeit war. Nein! Es ist nur eine Erinnerung.
Allmählich kehrt die Fürstin in die Wirklichkeit zurück. Sie mißt Beatrix mit einem langen, eingehenden Blick und sagt spontan in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet:
»Madame, Sie werden am 6. Februar Ihre Tochter in das Palais zum Fürstenball begleiten. Eine Sondereinladung erhalten Sie noch.«
»Und Renata Orgon?« entfährt es Germaine Chapu.
»Sie wird ebenfalls zum Fürstenball erscheinen und sich einmal anhören müssen, wie sie nicht einmal zu ihrer Glanzzeit gesungen hat. Auf Wiedersehen. Es war mir eine große Freude.« Sie reicht Germaine die Hand und Beatrix fährt sie über die heißglühende Wange. »Sie werden singen dürfen, mein Kind. Dafür lassen Sie mich sorgen. Eine passende Balltoilette lasse ich Ihnen zugehen.«
»Aber, Durchlaucht!« wirft Ger-
maine scheu ein.
»Sie sind sozusagen meine Entdeckung und mit dieser will ich auf der ganzen Linie glänzen, verstanden?«
»Vielen Dank, Durchlaucht!« Beatrix verneigt sich vor der Fürstin. Sie findet erst wieder in die Gegenwart zurück, als ihre Mutter neben ihr auftaucht, die der Fürstin-Mutter das Geleit bis zu ihrem Wagen gegeben hat.
Germaine Chapu sinkt erschöpft in den nächsten Sessel, und dann kniet
Beatrix vor ihr und umarmt sie.
»Oh, Mutti, ich weiß gar nicht, was ich vor Freude machen soll. Stell dir vor, ich darf im Palais singen. Keiner wird es mir verbieten dürfen, selbst eine Renata Orgon nicht. Die Fürstin-Mutter selbst hat es so bestimmt.«
Germaine kann sich der Umarmungen kaum erwehren. Als sie endlich Luft schnappen kann, sagt sie trocken:
»An deiner Stelle würde ich ins nächste Mauseloch kriechen, wenn die Orgon hier aufkreuzt und ich ihr sagen muß… nein! Das gibt eine Katastrophe. Sie wird dich und mich in der Luft zerreißen und niemals glauben, daß ich am Zustandekommen dieser Einladung völlig unschuldig bin.«
Beatrix springt auf. Unternehmungslustig blitzt sie ihre Mutter an.
»Sie soll nur kommen, Muschi. Jetzt werde ich ihr etwas von ihrem Hochmut und ihrer Arroganz heimzahlen.«
»Nichts wirst du tun, du unmögliches Mädchen«, herrscht Germaine ihre Tochter an. »Du wirst wie immer unsichtbar bleiben.«
Erstaunt mißt Beatrix die Mutter aus großen Augen. Diesen Ton ist sie nicht gewohnt.
»Nun gut, Mutti«, sagt sie recht kleinlaut und ungewöhnlich ernst. »Ich werde also wieder einmal unsichtbar bleiben, weil du es wünschst.«
»Beatrix!« flüstert Germaine Chapu tonlos. Aber der Ruf ist viel zu schwach, um Beatrix’ Ohr zu erreichen. Leise klappt die Tür hinter der schmalen Mäd-chengestalt ins Schloß.
»Mein Gott!« raunt Germaine Chapu. »Habe ich alles falsch gemacht?«
Beatrix ahnt nicht, daß sie eine völlig verwirrte Frau zurückgelassen hat, die mit der Vergangenheit nicht fertig werden kann.
In großer Niedergeschlagenheit betritt Beatrix ihr kleines Reich, das liebevolle Mutterhände zu einem trauten Heim gestaltet haben. Sie öffnet den Wandschrank. An der Innentür ist jedes Plätzchen mit Fotografien bedeckt. Sie zeigen alle verschiedene Aufnahmen eines einzigen Mannes, den Beatrix verehrt, bewundert und heimlich anbetet. Es sind aus Zeitschriften ausgeschnittene Aufnahmen des Fürsten Alexander von Thorsten-Thorn.
*
Wie in jedem Jahr herrscht in jedem Haus, das eine Einladung zum »Fürsten-Ball« erhalten hat, erhebliche Aufregung.
Es wird entworfen und verworfen. Ratschläge werden erteilt, wenn man zuviel des Guten tun will.
Diese Sorgen quälen Beatrix Chapu nicht. Ihr ist von der Fürstin- Mutter mit einem Handschreiben versehen, ein Kleid ins Haus gebracht worden, das einfach überwältigend ist. Fasziniert steht Beatrix vor diesem Wunderwerk, das sie zum »Fürsten-Ball« tragen soll.
Aber einmal gehen die Wogen der Erregung im Hause Chapus, in die Höhe, nämlich als Renata Orgon, der bisher unerreichte Star des Hoftheaters zwar zum »Fürsten-Ball« eingeladen ist, jedoch nicht singen wird.
Wie eine Gewitterwolke braust sie in das kleine Haus Germaine Chapus und ihr Temperament entlädt sich wie ein Unwetter über dem unschuldigen Haupt der Musiklehrerin.