Anne nimmt alle Hürden - Lise Gast - E-Book

Anne nimmt alle Hürden E-Book

Lise Gast

0,0

Beschreibung

Anne hat sich das Leben auf dem Gutshof komplett anders vorgestellt als es tatsächlich ist. Sie steht unter permanentem Stress: Die vielen organisatorischen Aufgaben benötigen ihre gesamte Zeit und sie kommt überhaupt nicht dazu um sich um ihre geliebten Pferde zu kümmern. Wenn sie dann einmal alles erledigt hat, verbringt Anne aber jede freie Minute im Sattel und auf dem Rücken der Pferde und dann ist restlos glücklich... Für eine Weile sieht es so aus als würde sich die stressvolle Situation verbessern, doch als unvorhergesehene Ereignisse zu einem Wasserschaden und Hochwasser führen, beginnt das Chaos erst richtig... - Eine humorvolle Geschichte über die Alltäglichkeit des Lebens.-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 412

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lise Gast

Anne nimmt alle Hürden

Saga

Anne nimmt alle Hürden

German

© 2000 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711508329

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Anne nimmt alle Hürden

„Trrrr!“

„Anne, es klingelt!“

„Ich bin nicht da!“

„Trrrr!“

„Anne! So geh doch und mach auf!“

„Herrje, ich kann jetzt nicht.“

„Ich auch nicht. Ich bin noch nicht mal halb fertig.“

„Trrrrrrrr ...“

„Du, das sind bestimmt die ersten –“

„Bloß nicht! Zum Fasching kommt niemand pünktlich, geschweige denn eher. Mein einer Stiefel geht nicht ans Bein, ich weiß nicht, woran das liegt. Und mein Zylinder ist weg!“

Bava – eigentlich Barbara-Eva, Annes etwas ältere Schwester – stülpte die Perücke über und rannte selbst zur Flurtür. Zu acht Uhr war eingeladen, und jetzt war es zwanzig vor. Dann konnten es doch wahrhaftig noch keine Gäste sein!

Doch! Natürlich waren es Eingeladene, zwei Freunde von Harm, dem ältesten der Geschwister, der schon studierte. Sie hatten den elektrischen Klingelknopf der Etagentür heruntergedrückt und ein Streichholz hineingeklemmt und nun bekamen sie das nicht wieder heraus. Es schrillte gellend und ununterbrochen.

„Seid ihr wahnsinnig?“

„Ja, seit wir dich gesehen haben, o schönste aller Frauen!“

Bava reagierte auf dieses erste Kompliment des Abends nicht, sondern rannte schweigend in die Wohnung zurück, stöberte im Handwerkskasten und erschien dann mit einer Zange am Tatort. Gleich darauf schwieg die Klingel.

„Kommt rein“, sagte Bava atemlos, „wir sind noch lange nicht fertig. Wie könnt ihr auch so zeitig kommen!“

„Wir wollen mit Harm zusammen die Bowle ansetzen“, sagte der eine, der aussah wie ein Marsmensch. Er steckte in Papphülsen, die Metall vortäuschen sollten, und bewegte sich in der Manier eines schlecht geölten Roboters.

„Wie der tanzen will, ist mir schleierhaft“, dachte Bava. „Harm, los, wo steckst du?”, rief sie. „Eckart und Dieter sind da!“

Damit verschwand sie aus dem Korridor, um sich im Schwesternzimmer fertig zu schminken. Dort traf sie auch Anne und Heide, das Nestküken, das mit seinen 14 Jahren den ersten richtigen Hausball erleben sollte und entsprechend aufgeregt war.

Anne, die mittlere der Schwestern, größer als Bava, langbeinig und schulterschmal, mit ziemlich kurz geschnittenem Haar, stand vor dem Spiegel und sah sich prüfend an.

„Wie Fasching sehe ich eigentlich nicht aus“, murmelte sie. Bava hob den Blick und sah sie an.

„Nein, da hast du Recht. Kannst du nicht ...“

Anne trug Harms abgelegte schwarze Breecheshose, Reitstiefel, weißes Hemd und Zylinder. Sie sah hübsch und sauber, aber sehr sachlich und in keiner Weise dionysisch aus, wie Bava feststellte. Bava hatte schon das Abitur und studierte Philologie, sie musste es wissen.

„Was macht man denn da?“, fragte Anne kleinlaut.

„Pass auf.“ Bava wusste immer Rat. „Zieh das Hemd aus und meine Bluse an.“ Sie warf ihr ein weißes Etwas zu. Anne strahlte auf.

Bava besaß eine Bluse, um die sie sie immer beneidet hatte: vorn richtiger, klassischer Hemdblusenschnitt, hinten rückenfrei bis auf den Hemdkragen. „Darf ich wirklich?“, juchzte sie unterdrückt.

„Na klar. Schnell, und auf den Rücken –“

Bava stand hinter der Schwester und zückte den Lippenstift. „Halt still, sonst verwackelt es“, mahnte sie und malte.

„Was schmierst du mir denn da drauf?“

„Einen Steigbügel. Wundervoll! Hier, guck dich an!“

Anne nahm den Handspiegel und drehte und wand sich.

Wirklich, jetzt wurde die Sache schon besser. „Und nun noch – pass auf!“ Bava nahm ein paar bunte Papierschlangen und wand sie um Annes Zylinder, sodass sie hinten herunterwehten.

„Fertig. Großartig. Was meinst du, Heide?“

„Ja wirklich! Und ich?“

„Du bist süß, mein Küken“, sagte Bava zärtlich, „mit Augenmaske erkennt dich keiner. Die Lebedame, wie sie leibt und lebt!“ Sie steckte der kleinen Schwester noch ein künstliches Sträußchen an die Schulter des urkomisch altmodischen Seidenkleides. „Du wirst uns alle abschießen mit deinem Kostüm.“

Eben donnerte es an die Tür. „Ja? Mach auf, das ist Roland.“

Er war es, der fünfte der Birkner-Geschwister. Sechzehn, ungeheuer groß – größer noch als Harm, was den cand. med. insgeheim ärgerte –, und noch mit der Tapsigkeit dieses Alters behaftet, stand er jetzt vor den Schwestern, etwas schüchtern, da er fürchtete, ausgelacht zu werden, gleichzeitig aber durch die Maskierung schon etwas kühn gemacht. „Kann ich so gehen?“

Er trug zur weißen Rennfahrerkombination, an der die Reißverschlüsse glänzten, eine rote Lederkappe mit Autobrille. Dadurch wirkte er noch größer. Anne lachte.

„Herrlich siehst du aus, zum Verlieben. Nimm dich in Acht!“ Sie rannte an ihm vorbei in den Flur. „Mutti, Muttiiiii, wo steckst du denn? Mutti, kann ich wirklich so gehen?“

Frau Birkner stand in der Küche und verteidigte den Salat, der das kalte Büffett und damit die Grundlage für die Bowle abzugeben hatte, gegen den Marsmenschen, einen Zirkusdirektor und ihren eigenen Ältesten, der in einem weißen Kittel steckte und sich irgendwo im Krankenhaus requirierte Abhörschläuche in die Ohren gesteckt hatte. Um den Kopf trug er ein Stahlband mit dem Rachenspiegel, der ihm fortwährend über die Augen rutschte. „Bis er in der Bowle liegt!“, jammerte Frau Birkner. „Nein, den Salat gibt’s jetzt noch nicht, erst wenn alle da sind. Machen Sie sich dünne, Herr Doktor!“

„Nur kosten! Nur prüfen! Ich bin vom Gesundheitsamt und beauftragt, nachzuforschen, wieviel Prozent Nitrit sich ...“

„Im Kartoffelsalat ist kein Nitrit“, fuhr Anne empört dazwischen, „Hering ist da drin, wenn du’s wissen willst. Raus mit euch aus der Küche, da klingelt es schon wieder! Los, macht auf!“ Sie trieb die Männer hinaus. „Mutter, du kannst dich ruhig anziehen, ich mach das hier schon fertig.“ Sie hatte nach der Uhr gesehen. Frau Birkner tat das auch.

„Ich weiß nicht, Anne, soll ich nicht doch lieber dableiben?“

„Aber Mutti! Soll Vater vergeblich auf dich warten? Fix, ins gute Kleid und ab durch die Mitte!“

Die „Kinder“ hatten Vater und Mutter gebeten, ihren Karneval allein feiern zu dürfen, und ihnen, um sie zu versöhnen, zwei Karten für eine Prachtaufführung der „Fledermaus“ spendiert. „Und hinterher geht ihr noch aus und trinkt einen, hört ihr? Oder zwei. Ihr sollt es doch auch lustig haben!“

Frau Birkner gab nach. Sie lief ins Schlafzimmer und zog sich um. Natürlich durfte sie ihren Mann nicht versetzen.

Ein Glück nur, dass er überhaupt drauf eingegangen war, an diesem Abend auszugehen. Sie hatte ihm zugeredet, soviel sie konnte.

„Die Kinder sind jung, und Jugend will unter sich sein. Ich begrüße noch die Gäste, und spätestens halb zwölf sind wir zurück. Das genügt. Dann wird noch ein wenig weitergefeiert, und wir beide tanzen ein-, zweimal herum, du mit Bava und ich mit Harm.“ Mutter tanzte sehr gern. Herr Birkner sah sie misstrauisch an.

„Muss ich das?“

„Du musst nicht, aber du wirst bestimmt gern wollen“, hatte sie das Gespräch geschickt und diplomatisch beendet, „und nun sag schon ja. Ich jedenfalls freu mich auf die ‚Fledermaus‘.“

Das tat sie wirklich, auch heute wieder, als sie sich in Windeseile umzog. Im Flur traf sie auf neu hereinströmende Gäste. Sie kannte und duzte alle Freunde ihrer Kinder. „Jaja, ich komme wieder. Ich bleibe euch nicht erspart!“, rief sie und entwand sich männlichen Armen, die sich kühn um sie zu schlingen versuchten. „Ihr wisst ja, dass ich gehe, da ist es leicht, mutig zu tun.“ Hinaus war sie. Die jungen Leute lachten.

„Frau Birkner ist in Ordnung!“

Das Motto dieses Faschingsabends hieß: „Du und ich in fünfzehn Jahren.“ Zwar fanden alle jugendlichen Gäste, dass sie nach Ablauf dieser unendlich langen Zeitspanne eigentlich schon uralt und sozusagen nicht mehr zu rechnen seien, aber man schwelgte trotzdem in Wunschträumen. Jeder hatte Berufspläne, die jetzt für ein paar Abendstunden Wahrheit werden sollten, und wenn es auch nur das Kostüm war.

Zunächst aber stürzten sich Chirurgen und Marsreisende, Lebedamen und Nobelpreisträger auf den Heringssalat, denn die meisten von ihnen waren Studenten und demnach chronisch hungrig, zumal jetzt gegen Ende des Semesters. Anne und Bava schleppten noch zwei große Holzteller voll Anschovis- und Käsebrötchen heran – einen dritten ließen sie vorsichtshalber versteckt in der Speisekammer –, und Harm füllte die Bowlengläser. Ehe aber der erste Schluck getrunken war, klingelte es, und Anne stürzte zur Tür. Ihr war im selben Augenblick eingefallen, dass ja Margot, ihr „Blutsbruder“ aus frühen Indianerspielen des Landlebens, noch fehlte. Richtig, sie war es.

Und ihr Erscheinen erweckte allgemeines begeistertes Bravo. Denn sie hatte, uneitel, wie sie war, als einzige der Damen gewagt, nicht auf hübsch, sondern auf komisch zu kommen. Jungen taten das eher, Mädel fast nie, was ja begreiflich ist.

Schon an sich nicht schlank, hatte sie die Breite ihrer Hüften noch übertrieben, „untermauert“, wie sie sagte, ein bäuerliches Kleid darüber gezerrt und ihr rotbackiges Gesicht mit einem knallbunten Kopftuch eingerahmt. Bäuerin – wer wollte heutzutage wohl noch Bäuerin sein? Margot. Unter einem Arm trug sie eine lebendige Gans, unter dem andern – kein Wunder, dass alles brüllte – ein ebenso lebendiges Ferkel.

„Deshalb komm ich ja so spät“, japste sie, „das Ferkel ist mir in der Straßenbahn ausgerückt. So ein Ferkel! Klar, ich hatte es in einer Kiste, aber ein Mitfahrender wollte unbedingt reingucken, und da musste ich auch noch nachzahlen!“

Margot stammte aus dem Dorf, in dem der Großvater der Birkner-Kinder, Muttis Vater, Arzt war. Dort hatte Anne drei unvergessliche Jahre ihrer Kindheit verlebt. Aus einem sechswöchigen Aufenthalt war so eine lange Zeit geworden. Anlass dazu war eine simple Grippe mit hartnäckigem Husten. Erfolg: eine solch wertbeständige Freundschaft wie die mit Margot und eine immer währende, nicht auszukurierende Sehnsucht nach dem Land.

Margot brachte sofort noch mehr Leben in die Bude. Sie ließ das Ferkel laufen und die Gans flattern. Allgemeines Gekreisch, das der Gäste aus Vergnügen, das der Gastgeber doch etwas erschrocken.

„Gut, dass Vater nicht da ist.“ Sogar Anne war nicht ganz wohl in ihrer Haut. Alles aber erwies sich als halb so wild. Das Ferkel kam in die Badewanne, die mit Holzwolle gepolstert einen schönen Behelfsstall abgab, und die Gans –

„Der hab ich eine Windelhose angezogen. Aus Billroth-Batist. Da kann nichts passieren“, beruhigte Margot und schob sich an den Tisch heran, „wie ist das, kriegt man hier was zu futtern?“

Als die Eltern Birkner kurz nach Mitternacht heimkamen, lief das Fest in vollen Touren. Der Plattenspieler dudelte, und im Jungenzimmer, zu diesem Zweck ausgeräumt und wild dekoriert, hopsten die Rock’n’Roll-Tänzer und -Tänzerinnen hin und her, dass man selbst Lust bekam, mitzumachen. Der Marsmensch hatte längst die unbequemen Umhüllungen abgeworfen und brachte der kleinen Lebedame, deren Backen ohne Schminke roter glühten als seine angemalte Nase, die ersten Tanzschritte bei. Anne und Margot hockten, in ein eifriges Geflüster vertieft, auf der Kinderbank im Flur. Die Bowle war noch nicht zur Hälfte ausgetrunken, man hatte anscheinend keine Zeit dazu. Auch geraucht wurde wenig, die meisten der jungen Leute waren entweder Sportler oder Nichtraucher von Natur oder aus Prinzip.

Groß war das Beifallsgeheul, als Frau Birkner jetzt, rasch aus Mantel und Hut geschält, mit Kaffee und Kuchen aufwartete. Anne und Margot waren aufgesprungen und reichten Tassen und Teller herum. Im Nu hatte sich alles um die große Kanne versammelt. Da der Tisch hinausgeräumt war, balancierte man Tasse und Kuchen mehr oder weniger geschickt in den Händen.

„Ihr Kuchen ist ein lyrisches Gedicht“, versicherte der Zirkusdirektor und machte kugelrunde Augen, während er ein unwahrscheinlich großes Stück in den Mund verfrachtete. Er konnte trotzdem weitersprechen. „Ich werde ihn zeit meines Lebens rühmen und nie vergessen, Frau Birkner!“

Mutter lachte.

„Bitte, Herr Birkner, Sie müssen auch eine Tasse trinken“, bat Margot und lief, um eine zu holen, als sie Annes Vater etwas unschlüssig an der Tür zum Jungenzimmer entdeckte. Alle Türen standen offen, das Fest wogte durch alle Räume. „Und hier, ein Stück Bienenstich, bitte, versuchen Sie doch mal!“

„Einen Moment, ich möchte mir erst die Hände waschen.“ Vater Birkner verschwand hinter der Badezimmertür. Margot, plötzlich an ihr lebendiges Requisit denkend, ließ vor Schreck beinah ihre Tasse fallen. „Was wird er jetzt sagen!“

Er sagte nicht viel. Dazu war die Stunde nicht angetan und die Fröhlichkeit zu groß und zu mitreißend. Und Margot erklärte wortreich, dass sie, sie allein schuld sei. Sie kannte Annes Vater.

Nein, er verdarb keine Stimmung. Es wurde fröhlich weitergefeiert, und als die andern gingen, blieb Margot noch da, räumte mit den Geschwistern das Nötigste zusammen, um später auf dem zerlegenen Diwan im Schwesternzimmer zu nächtigen. So war es immer, weil sie so weit entfernt wohnte. Auch Anne blieb stets bei ihr über Nacht, wenn sie dort zu Besuch war.

Am andern Vormittag gab es ein großes Katerfrühstück, es war Sonntag, die Sonne schien, und das ganze Fest wurde noch einmal erzählender- und lachenderweise mit vielen „Weißt-du-nochs“ durchgenommen.

„Ungeschminkt gefallt ihr mir besser“, sagte Herr Birkner und sah Töchter und Söhne der Reihe nach an, auch Margot. „Aber es gehört ja wohl dazu. Früher hatten wir allerdings immer ein Motto bei solchen Festen. Das gibt’s wohl jetzt nicht mehr?“

„Doch! Unseres hieß: Du und ich in fünfzehn Jahren!“, sagte Margot und biss in eine Gewürzgurke. „Ich hoffe nur, in fünfzehn Jahren nicht ganz so dick zu sein wie gestern.“

„Aber euer Gut bewirtschaften, das möchtest du doch“, sagte Harm vergnügt. „Mach dir keine Sorgen, so eine richtige dicke Doppelschulzin ist auch was wert!“

„Danke. Ich wollte nur, dass ihr alle günstig abstecht mit euren Figuren, daher nahm ich das Opfer auf mich.“

„Sicher! Nur!“

„Und du, Anne? Was bedeutete dein Kostüm?“, fragte der Vater. „Turnierreiterin? Eine zweite Helga Köhler?“

Anne wurde rot, so sehr sie es zu verhindern suchte.

„Nein. Nur Reitlehrerin“, sagte sie halblaut. Und damit war die Fackel im Pulverfass.

Übrigens – zur Explosion kam es nicht. In dieser Stunde nicht. Frau Birkner stand, wie ach so oft, als wachsamer Hellebardier Posten. Sie beruhigte und glich aus, verstand, das Thema zu wechseln und den Zorn ihres Mannes zunächst abzufangen. Trotzdem merkten alle die Gefahr, auch Margot. „Au backe, das rauchte“, sagte sie nachher zu Anne, als sie im Mädelzimmer stand und ihren Koffer packte. „Ich hatte mehr Angst als heute Nacht wegen des Ferkels. Ich dachte, er wüßte es schon!“

„Ach wo, er hat es nie für bare Münze genommen“, murmelte Anne. Es klang verzagt. „Immer meinte er, es wäre nur Luftschloss und Illusion bei mir. Dabei ist es doch heute gar kein aussichtsloser Beruf mehr!“

„Gar nicht. Reiten ist wieder modern. Jeder sieht das“, sagte Margot eifrig. „Überall werden Reitvereine gegründet, überall Reitlehrer gesucht. Reiten ist als Gegengewicht gegen das Managertum und die Motorisierung jetzt die Masche. Außerdem gibt es wieder Gestüte, die Bereiterinnen suchen. Mein Onkel hat eins, bei Oldenburg. Der nimmt viel lieber Frauen als Männer.“

„Natürlich.“ Anne saß auf einem kleinen Fußbänkchen, die Arme auf die Knie gestützt und die Hände um die Wangen gelegt. „Aber sag das mal Vater! Der will am liebsten, dass wir alle Beamte werden, mit Pensionsberechtigung.“

„Ach Quatsch, dein Bruder wird doch auch Arzt, und was ist das heute für ein schwerer Beruf!“, sagte Margot. „Mein ältester Bruder studiert auch Medizin, ich weiß, wie schwer es ist, da hineinzukommen. Wenn er das durchgesetzt hat –”

„Ja, aber Arzt ist was anderes. Das ist etwas Seriöses, und das hat es immer schon gegeben. Wenn Vater mich wenigstens jetzt Ostern mit der mittleren Reife aus der Schule gehen ließe!“, seufzte Anne. „Denn Vater als Landgerichtsrat will eben mit seinen Kindern auf Nummer Sicher gehen.“

Dasselbe sagte in diesem Moment Annes Mutter zu ihrem Mann, freundlich, vorsichtig, auf die ihr eigene, nette Art.

„Es gibt in jeder Generation neue Berufsmöglichkeiten. Und je weniger üblich ein Beruf ist, desto eher hat man Chancen, etwas darin zu leisten und hochzukommen“, sagte sie. „Anne ist nun einmal für die Stadt verdorben, sie gehört aufs Land. Ich fände es sehr vernünftig, wenn wir sie diese Ostern aus der Schule nähmen.“

„Und Reitlehrerin werden ließen! Wo soll ich denn nur das Geld für so einen Wahnsinnsberuf hernehmen?“, fragte Herr Birkner aufgebracht. „Teure Ausbildung, überhaupt keine Aussichten, und wer sagt denn, dass sie sich überhaupt dafür eignet?“ Sein Gesicht war vor Zorn gerötet. „Ich finde, du solltest Vernunft annehmen und das Mädel in seinen unreifen Ideen nicht auch noch unterstützen. Lehrerin soll sie werden, das ist etwas Solides, und da kann sie auch aufs Land. Die Ausbildung ist nicht lang und verhältnismäßig billig. Dazu braucht sie aber das Abitur.“

„Sie möchte aber gern ...“

Vater ließ sie nicht ausreden. „Reitlehrerin! Ihr seid von allen guten Geistern verlassen!“

Das Letzte sagte er so laut, dass man es auf dem Flur hörte. Dort gingen gerade Anne und Margot vorbei, leise, nicht um zu lauschen, sondern um das Ferkel aus dem Bad zu holen und wieder zu verpacken. Anne fasste unwillkürlich nach Margots Hand.

Margot packte mit ihrer fest zu.

„Still!“, flüsterte sie leise, aber energisch. „Das tritt sich alles fest, sagte Kornelius, als ich das erste Mal vom Satan sauste ...“

Anne stand am Zugfenster, sie brachte es einfach nicht fertig, sich hinzusetzen, so kribbelte es in ihr vor Ungeduld und Spannung. Sie steckte das ganze Abteil an. Und zwei Stationen vor Lauterbach hatte sie schon die Mütze auf dem Kopf, den Mantel an, die beiden Koffer bei Fuß und die Fahrkarte in der Hand. Endlich quietschten die Bremsen.

Der kleine Bahnhof lag friedlich und still im Schein der Aprilsonne da. Niemand außer Anne stieg aus. Sie fühlte eine plötzliche Beklommenheit und sah sich Hilfe suchend um, da winkte es auch schon beidarmig über den Zaun. So winkte nur eine: Margot. Nun war alles gut.

„Ja, da staunst du, aber ich konnte dich doch nicht allein hier in der Landschaft stehen lassen“, sprudelte Margot hervor und stemmte die beiden Koffer auf den kleinen, leichten Wagen hinauf, „da bin ich einfach eine Stunde eher aufgestanden und hab vorgearbeitet. So was erlaubt die Königin, die ist überhaupt ein Prachtkerl. Und hier auf dem Bock, das ist der Hermann, der ist auch einer, und das hier ist Harras.“

Sie war vorn vor das Pferd getreten und streichelte seinen Kopf. Anne grub bereits heftig in den Taschen nach Zucker.

„Da, mein Guter, du bist das erste Lauterbacher Pferd, das ich kennen lerne. Schmeckt’s? Komm, noch einen! Ja, brav bist du.“

„Gib ihm nur reichlich, er verdient’s“, sagte Margot. „Er bekommt das Gnadenbrot und tut nur noch Gelegenheitsdienste.“

Sie kletterten auf den Wagen, und Harras zog an. Margot redete drauflos, unbekümmert um Hermann, der sich zuweilen schmunzelnd nach den beiden „Frolleins“ umsah. Anne holte tief Luft.

„Margot, ich freu mich so!“

„Und ich erst! Nun erzähl! Ging alles glatt? Niemand was gemerkt?“

„Du meinst, meine Eltern? Nein, wie sollten sie? Sie wissen ja nur, dass Lauterbach eins der besten Lehrgüter ist, auf dem man alles lernt, was nötig ist, wenn man landwirtschaftliche Lehrerin werden will oder ...“

„Oder etwas ganz anderes“, vollendete Margot und lachte.

„Du hast doch nicht etwa – du hast doch Frau König nicht etwa gesagt ...“

„Dass du eigentlich Reitlehrerin werden willst? Oder Bereiterin? Nein, das hab ich nicht gesagt“, sagte Margot und lachte noch mehr, „das ist auch vollkommen überflüssig. Das sieht sie dir nämlich an der Nasenspitze an, auf den ersten Blick. Die Königin sieht alles, verlass dich drauf.

Aber sie hat nichts dagegen. Das ist nämlich ihr Geheimnis, ihr Trick, stets die besten Lehrlinge zu haben.“

„Das versteh ich nicht“, sagte Anne langsam.

„Glaub ich, aber wart nur ab. Zunächst sind wir erst mal da, das ist das Gut! Komm, ich bring dich in unser Zimmer. Die beiden andern Neuen sind schon gestern angekommen, jetzt sind wir vollzählig. Los, hopp, in zehn Minuten läutet’s zu Mittag, und vorher sollen wir noch zur Königin kommen.“

Sie liefen die Treppe hinauf. Am Ende des Ganges nach Süden zu mit einem wunderschönen Blick auf den Garten hinaus lagen die beiden Lehrlingszimmer. Margot, die schon ein halbes Jahr hier als Lehrling tätig war, riss die Tür auf und schob Anne hinein. Von nebenan hörte man auch eifriges Schwatzen.

„Sind sie genießbar?“, fragte Anne und deutete, während sie ihr Kleid zuknöpfte, mit dem Kopf nach dem Nebenzimmer.

„Ich hoffe. Herta sieht tüchtig und vernünftig aus, sie stammt von einem größeren Gut. Erika ist aus der Stadt, schmächtig, aber nicht dumm, soviel ich mitgekriegt habe. Soweit man das sagen kann von jemandem, der aus der Stadt ist ...“

„Du“, drohte Anne, „ich bin schließlich auch ...“

„Ach Quatsch bist du“, lachte Margot, „wie lange warst du in Neuhausen? Na? Drei Jahre und alle Ferien. Ich glaube, das genügt. Ach Anne, schön war das damals!“

„Ja.“ Anne lachte auch. Es waren die bisher schönsten Jahre ihres Lebens gewesen, diese drei Jahre auf dem Dorf bei den Großeltern. Von da stammte auch ihre Liebe zu den Pferden.

Die musste allerdings schon in ihr gesteckt haben, so etwas kommt nicht von außen, von einem zufälligen Aufenthalt auf dem Land. Großvater war auch ein begeisterter Reiter, und unter seinen Ahnen gab es viele Landwirte. Vater war ein bisschen aus der Art geschlagen mit seinem Beruf, fand sie im Stillen, wie überhaupt jeder Beruf, der nicht mit Pferden zu tun hatte, für sie im Grunde gar nicht zählte. Margot hatte andere Pläne.

„Ich will die Landwirtschaft von allen Seiten lernen“, sagte sie, „ich übernehme das Gut doch einmal. Heinz will Forstmann werden und Helmut Arzt. Aber reiten tu ich natürlich mit.“

Anne fragte sofort wieder, sooft sie es in letzter Zeit, sobald sie mit Margot zusammen war, auch schon gefragt hatte:

„Gibt es denn so was? Weißt du auch bestimmt, dass Frau König es auch dies Jahr erlaubt?“

„Komm, los, es läutet. Pünktlichkeit wird hier groß geschrieben!“, sagte Margot statt aller Antworten und fegte hinaus. Eben ging auch die Zimmertür von nebenan auf, und zu viert liefen sie die Treppe hinunter, standen dann zu viert – denn Margot pochte nicht auf ihr Recht als „Ältere“– vor der Königin, wie Frau König bei den Lehrlingen nun einmal hieß.

„Ich freu mich, dass ihr da seid“, sagte diese nach der Begrüßung und sah lächelnd in die gespannten Gesichter, „Margot hat euch sicher schon manches erzählt. Aber es ist vielleicht trotzdem gut, dass ich in kurzen Zügen alles noch einmal wiederhole. Spitzt die Ohren, ich sage nicht gern etwas zweimal, das könnt ihr euch als allererstes merken.

Um es gleich vorwegzunehmen: Ja, ihr dürft reiten lernen. Ich habe es immer erlaubt, weil ich selbst als junges Mädel leidenschaftlich gern ritt. Und mein Bruder tut euch den Gefallen, er tut es – um euch gleich auch dieser Sorge zu entheben – unentgeltlich, nicht nur, um, wie er sagt, seine Pferde zu bewegen, sondern weil er große Freude an reitender Jugend hat, an männlicher und weiblicher. Wenn ihr also die elterliche Erlaubnis erhaltet und den kleinen Versicherungsbeitrag aufbringt, steht dem Reiten nichts im Wege.“

„Erzählt mir nicht“, sie lächelte flüchtig, was ihrem festen, gesunden Frauenantlitz gut stand, „dass ihr nicht deshalb hergekommen seid! Ich habe bisher nur Lehrlinge gehabt, die um des Reitens willen kamen, und bin mit allen gut ausgekommen. Bitte merkt euch aber: Ihr müsst es euch verdienen. Ich kann nicht dulden, dass auch nur eine einzige euch anvertraute Arbeit vernachlässigt wird, weil ihr reitet. Ich verlange äußerste Pflichterfüllung, und zwar von euch allen. Wenn sich eine von euch keine Mühe gibt, entziehe ich euch allen die Erlaubnis zu reiten. Verstanden?“

Alle vier nickten. Allen vieren klopfte das Herz: Werde ich auch alles können, was von mir verlangt wird?

„Gut.“ Die Königin lächelte wieder, und ihre Stimme klang mild und gut: „Es ist kein Meister vom Himmel gefallen, das weiß ich auch. Ich merke sehr gut, wer den guten Willen hat und wer nicht. Fehler können immer mal unterlaufen. Vertuscht sie nicht, sondern versucht, daraus zu lernen. Helft euch gegenseitig und habt Vertrauen zu mir, das ist die beste Grundlage. So, das wär’s. In der ersten Woche wird noch nicht geritten. Schreibt hübsch nach Hause um die elterliche Erlaubnis zum Reiten. Ohne die darf euch mein Bruder nicht unterrichten. Durch den Betrieb gehen wir heute Nachmittag.“

Anne wagte bei der Mahlzeit kaum aufzublicken. Es war alles so neu für sie und viel schwieriger, als sie es sich eigentlich vorgestellt hatte. Würde sie es schaffen?

„Sieh mal, wenn man nun ausgesprochen dumm ist, ungeeignet für die Landwirtschaft“, sagte sie nachher verzagt zu Margot, als sie in ihr Zimmer gingen, „Landwirtschaft ist kein Kinderspiel, das wenigstens weiß ich genau. Landwirtschaft ist etwas ungeheuer Kompliziertes, Weitgreifendes – und wenn nun einer das nicht begreift, dürfen wir alle nicht reiten.“

„Ach, was heißt dumm. Zu lernen ist das doch alles“, sagte Margot mit der Unbekümmertheit des geborenen Landkindes, „und sie sagt ja ausdrücklich, wenn wir uns Mühe geben.“

„Aber wenn man zu schwach ist? Es gibt doch Mädel ...“

„Du meinst Erika? Ja, zum Bäumeausreißen sieht sie nicht gerade aus“, sagte Margot, „aber dann helfen wir ihr eben. Das hat die Königin doch ausdrücklich erlaubt.“

„Hm.“ Anne sah nachdenklich vor sich hin. „Du, ich glaube, die Königin ist furchtbar gescheit“, sagte sie auf einmal aus tiefstem Herzen. Margot lachte los.

„Du merkst auch alles. Geht dir ein Licht auf, warum die Lauterbacher Lehrlinge immer so gut in der Prüfung abschneiden?“

Aller Anfang ist schwer. Anne merkte das sehr genau. Sie, der doch ein landwirtschaftlicher Betrieb nichts Neues war, die mit Margot Scheunen und Ställe, Keller und Böden, Wirtschaftsgebäude und Gärten durchstreift hatte, von Feldern und Koppeln nicht zu reden, sie stand doch bange und den eigenen Fähigkeiten misstrauend davor, von nun an selbst ein Rad im Getriebe zu sein. Es gab vier Abteilungen für Lehrlinge: die Milchwirtschaft, das Geflügel, die Herrschafts- und die Leuteküche. Dazu kam die gemeinsame Gartenarbeit unter Anleitung des Gärtners, die allmonatliche Hauswäsche, gelegentlicher Einsatz auf dem Felde. „Mein Gott, wie sollen wir das alles schaffen“, sagte Erika, als der Rundgang beendet war.

„Keine Bange, bis jetzt habe ich es mit den Mädeln immer geschafft“, sagte Frau König lächelnd. „Ich denke, wir teilen ein wie folgt: Herta, Sie übernehmen unsere Küche und Erika die Verpflegung der Leute. Im Allgemeinen wird in beiden Küchen dasselbe gekocht, ausgenommen, wenn Jagd ist, Besuch kommt oder Prüfungen stattfinden. So können Sie sich gegenseitig an die Hand gehen. Margot übernimmt das Geflügel, das ist jetzt im Frühjahr bei den vielen Jungtieren die schwierigste Aufgabe, und Anne wird Milchmamsell. Beim Buttern helfen Sie ihr, Margot, überhaupt lernen Sie Anne an. Dafür können Sie sich Anne als Hilfe nehmen, wenn Sie Brennnesseln holen gehen, wir brauchen jetzt viele; jeden Tag.“

Margot nickte vergnügt. Besser konnte es gar nicht passen. Die Königin schien die Zimmerbelegung auf die Arbeiten zu übertragen. Stets war es am besten so gewesen, dass die beiden Küchenlehrlinge einerseits und die Geflügel- und Milchlehrlinge andererseits miteinander arbeiteten.

„Ich hab mich darauf fast genauso gefreut wie auf das gemeinsame Reiten“, sagte Margot, „reiten ist wunderbar, aber zusammen schuften auch. Wenn man morgens zum Kükenstall hinausläuft, und alles ist noch nass und so frisch vom Tau, das ist herrlich. Oder das Sausen der Zentrifuge – na, du wirst ja alles selbst erleben. Jetzt komm, ich muss noch rasch das Futter für morgen früh hereinholen, das macht man besser zu zweit. Dafür helfe ich dir, die Deputatmilch auszugeben. Da denkt der Anfänger immer, er lernt es nie. Aber in vier Wochen kennst du jede Milchkanne und jeden Krug. Von den Gesichtern unserer Leute ganz zu schweigen.“

„Meinst du?“, fragte Anne zaghaft.

„Natürlich, das hat noch jede gelernt. Komm, hier liegt der Nachweizen, den bekommen die Küken als Frühstück. Wenn du dich hier schon ein bisschen auskennst, ehe du verantwortliche Hühnermutter wirst, fällt es dann leichter. Hier, das ist der Schlüssel.“

Anne griff mit zu, spitzte die Ohren und sperrte die Augen auf. Nachweizen, angekeimte Gerste, Kartoffelflocken, Rüben, gewärmtes Trinkwasser – es schwirrte ihr im Kopf. Sie bewunderte Margot, die so tat, als sei das alles kinderleicht, und bemühte sich, so viel wie möglich zu behalten. Nachher gingen sie miteinander hinüber zum Milchgewölbe. Margot erklärte Anne die Handhabung der Zentrifuge. Schon klapperten die Holzpantoffeln der beiden Melker im Vorraum. Margot riss die Tür auf. Dröhnend setzten die Männer den Riesenbottich mit Milch ab.

„Schönen Dank. Großartig, dass ihr so zeitig kommt!“, rief Margot vergnügt. „Hier ist ein neuer Milchlehrling, Anne Birkner, und das sind unsere beiden Cowboys. Die schaffen die schwerste Arbeit von uns allen auf dem Gut, von früh um drei an, auch im Winter, Anne, davor müssen wir uns alle verstecken.“

„Na, na, Fräulein Margot“, brummte der ältere der beiden Männer stolz-bescheiden. Beide gaben Anne die Hand – Pranken waren es eigentlich, riesige, bärenstarke, hornharte Pranken.

„Stimmt das?“, fragte Anne nachher. „Ich meine, das mit der schweren Arbeit?“

„Ja, das stimmt“, sagte Margot. „Melker ist ein sehr schwerer Beruf, und das soll man anerkennen. So, und jetzt können wir die Zentrifuge laufen lassen, hier, siehst du, das ist der Schalter.“

Am Abend saßen sie noch ein bisschen zusammen auf dem Fensterbrett ihres Zimmers, ehe sie schlafen gingen. Anne hatte die ganze Zeit über das Reiten mit keinem Gedanken streifen können, so sehr hatte die neue Arbeit sie in Anspruch genommen. Es gab so unendlich viel Neues, Schwieriges und Wichtiges – und Margot war, trotz aller Munterkeit und Lachlust, ein sehr strenger Lehrmeister.

Sie ließ nichts durchgehen, das hatte Anne schon gemerkt. Jetzt kamen sie wieder auf ihr Lieblingsthema, die Pferde, zurück.

„Also schreib an deine Eltern, dass sie es gestatten sollen. Schreib, wir hätten die Möglichkeit, bei Frau Königs Bruder unentgeltlich Reitstunden zu nehmen. Wie oft, das brauchst du nicht gerade hinzumalen. Außerdem wissen wir das wirklich selbst noch nicht. Im Sommer werden wir nämlich oft verzichten müssen, wenn es dringende Arbeit auf dem Feld gibt.“

Anne setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben. Margot blieb auf dem Fensterbrett sitzen und rauchte eine Zigarette. Draußen rauschten die großen Bäume des Parks. Anne vergaß diesen ersten Abend in Lauterbach nie. Er war so ein bewusster Schritt in ein neues Leben hinein. Was würde dieses neue Leben ihr bringen, Glück oder Enttäuschung, die Erfüllung ihres heißesten Wunsches oder ein Versagen? Unwillkürlich sah sie nach Margot hin und nickte ihr zu – es war so gut, einen treuen Kameraden neben sich zu wissen. Das gab Halt und Mut und Zuversicht. Nein, sie hatte keine Angst vor dem neuen Leben.

Anne hatte sich das Kopftuch fest umgebunden, war in die frische Schürze geschlüpft und bearbeitete eben ihre Hände mit heißem Wasser und Kleie. Sie sollte heute zum ersten Mal allein buttern. Margot reinigte den Hühnerstall. Sie hatten vereinbart, dass Anne nur im äußersten Notfall um Hilfe rufen würde.

Das Butterfass drehte sich mit gleichmäßigem, platschendem Geräusch um sich selbst. Gleich war die Zeit um. Anne brühte noch rasch die Holzform und warf sie ins kalte Wasser. Dann schaltete sie aus.

Es war ungeheuer spannend, dies alles allein zu machen. Welche Werte waren in ihre Hand gelegt! Gerade jetzt verarbeitete sie den Milchertrag einer halben Woche. Mit der Butter, die daraus gewonnen werden sollte, wurde gerechnet, genau wie man mit dem Ertrag eines Feldes rechnete. Wenn die Butter jetzt grießelig wurde? Oder überhaupt nicht zusammenhielt?

Sie begriff, wie wichtig auch kleine landwirtschaftliche Betriebe waren. Man konnte Schulen schließen, manche Fabriken, die Universität, ein Bauer aber durfte keinen Tag ungenützt verstreichen lassen. Und sie gehörte nun zu diesem Stand, für ein ganzes Jahr, sie musste sich bewähren und keine Pflicht versäumen. Oh, es war doch nicht nur das Reiten, das lockte, wenn sie sich so konzentriert auf ihre Arbeit stürzte.

Sie schraubte den Deckel des Behälters auf und guckte gespannt in das Innere des Fasses. Die Buttermilch roch so würzig – vorsichtig fischte sie mit dem Holzlöffel darin herum und atmete dann hörbar auf. Dicke gelbe Butterklumpen schwammen darin, genau wie am Donnerstag, als Margot ihr das alles zeigte.

Während sie die Masse knetete und bearbeitete und immer wieder frisches Wasser darüberlaufen ließ, damit auch der letzte Rest Buttermilch herausgespült würde, versuchte sie zu schätzen, wie viel Stücke zu je einem halben Pfund es wohl diesmal geben würde. Voriges Mal waren es vierzig. Ob sie die Stücke auch so gut aus der Form brachte wie Margot?

Die Nachmittagssonne schien schräg in den Raum herein, und Anne hob gerade das Brett mit den geformten Stücken aufs Regal, als sie Schritte hörte.

„Na, wie ist’s gegangen? Alles in Butter?“

„Ich hoffe. Guck doch mal, sieht das nicht fein aus?“

„O ja. Und du hast ganz rote Backen, richtig Reklame für die gute Lauterbacher Landbutter“, sagte Margot lachend.

„Ja? Ach, du, es war alles so aufregend für mich, aber wie siehst du denn aus?“, fragte Anne jetzt. Margot stand vor ihr in weißer Hemdbluse und schwarzer Reithose, die hohen Stiefel blank geputzt.

„Gut hoffentlich oder etwa nicht? In fünf Minuten sollst du auch so aussehen, sagt die Königin. Wenn du magst, heißt das.“

„Wir dürfen ...“

„Jawohl, seine Majestät der Herr Reitlehrer haben geruht, anzurufen.“

„Ach du meine Güte, hilf mir bloß, dass ich schnell fertig werde. Jetzt gleich? Du, ich hab Lampenfieber!“

„Ich auch, vor jeder Reitstunde. Aber das hilft nichts. Komm schnell, wenn die Abendmilch kommt, müssen wir wieder zurück sein.“

Sie schlossen den Milchraum zu und rannten miteinander über den Hof.

„Deine elterliche Zustimmung hab ich vorhin schon hinübergetragen ins Schloss“, sagte Margot im Laufen, „ich wusste, wo der Brief lag. Es musste schnell gehen.“

„Ja, danke dir. Und die beiden andern?“

„Die kommen heute auch mit. Später wechseln wir beide dann mit ihnen ab. Damit wir nicht immer alle vier vom Betrieb abwesend sind. Aber die Anfangsrede will Kornelius nicht zweimal vom Stapel laufen lassen.“

„Kornelius?“

„Ja, diesen hochtrabenden Namen führt der Gestrenge. Versprich dich nur nicht. Mit Nachnamen heißt er Reuter. Und sei ja de- und wehmütig, wenn er schimpft. Das tun alle Reitlehrer. Und ohne Schinderei lernt man nichts.

Morgen kannst du keinen Schritt laufen, ohne auweh zu schreien.“

Sie waren in ihrem Zimmer angelangt, und Anne fuhr hastig in die Reithose. Es war noch dieselbe vom Fasching, kein Staatsstück, aber wie sollte sie zu einer richtigen Ausrüstung kommen? Dafür waren die Stiefel sehr gut, ein Geschenk des Großvaters, weich und tadellos im Sitz. Margot beäugte Anne kritisch.

„Du siehst aus – eigentlich unverschämt gut. Ich selbst mache nur eine sehr mittelmäßige Figur zu Ross, mild gesprochen.“

„Ach du! Schon immer hast du auf Pferden gesessen, und hier hast du doch einen Vorsprung von einem halben Jahr!“

„Wennschon. Ich bin zu füllig.“ Margot lachte und klopfte sich auf die Stelle, wo ihr Gürtel wirklich recht stramm saß. „Auf dem Pferd kommt alles zu Tage, da kannst du nichts vertuschen, da ist es Essig mit Schlankwirken und so. Du wirst es selbst sehen, das heißt, wenn du erst so weit bist, dass du beim Reiten in den Spiegel gucken kannst.“

„Spiegel?“

„Natürlich. In der Reithalle sind doch überall Spiegel. Man bekommt das große Grausen, sag ich dir, wenn man sich sieht.“

„Seid ihr fertig?“, rief es von nebenan. Dann kamen Herta und Erika herein, ebenso aufgeregt und glühend wie Anne, auch in Reithosen und Stiefeln.

„Kinder, hab ich Angst!“, flüsterte Erika.

„Das gehört sich so ...“

„Los, Kornelius darf nicht warten!“, mahnte Margot.

Sie hasteten die Treppe hinunter und holten ihre Räder. Es war nicht weit bis zum Schloss, aber jede Minute kostbar. Margot fuhr voran durch den Park, dann einen schmalen Weg an der Koppel entlang, ein Stück Feldweg und –

„Dort ist das Schloss. Los, tretet noch ein bisschen schneller!“

Die Ketten surrten. Dann waren sie angelangt, stellten die Räder im Schlosshof ab und folgten Margot klopfenden Herzens in den Stall. Kornelius Reuter, Frau Königs jüngerer Bruder, stand an der Tür. Er begrüßte die Mädel mit prüfenden Blicken, sah ihr Lampenfieber und lächelte kaum merklich. Zwei junge Männer führten gerade ihre Pferde hinaus.

„Wer sind denn die?“, flüsterte Anne.

„Bauernsöhne aus der Umgebung“, sagte Margot, „sie gehören zum ländlichen Reitverein.“ Anne machte ein bestürztes Gesicht. Auch noch Zeugen zu haben bei der ersten Reitstunde!

„Also, Sie können mit Pferden umgehen, wie Margot berichtete?“, fragte Reuter in seiner knappen Art, die sehr an die seiner Schwester erinnerte. „Ja? Wissen Sie Bescheid? Nie ohne Anruf in den Stand gehen, immer von links, ruhig und ohne Angst. Sie haben schon selbst gesattelt, alle? Gut. Margot, Sie nehmen den Bubi. Sie, Herta – ich nenne Sie der Einfachheit halber alle mit Vornamen – die Fortuna, Erika den Felix. Sie“, er sah kurz auf einen der Zettel herab, den er in der Hand hielt, „Angelika ...“

Anne zog ein Gesicht, als habe sie unvermutet auf etwas Hartes gebissen. Angelika – gewiss, so war ihr Rufname, aber –

„Na, was gibt’s denn?“, fragte Kornelius Reuter erstaunt.

„Bitte, ich bin kein Engelchen“, sagte Anne. Reuter lachte.

„Nein? Ich dachte gerade, Sie seien eins. Heißen Sie nicht so?“

„Doch, leider. Aber ich kann nichts dafür, dass meine Eltern in ihrer Verblendung ...“

Er lachte noch mehr.

„Oh, Sie Arme! Verblendete Eltern! Die hab ich übrigens auch gehabt. Kornelius ist ebenso schön wie Angelika. Wollen wir uns miteinander trösten?“

„Ich bitte ...“, sagte Anne und stockte. Sie war wütend. Wie oft hatte sie schon solche Situationen erlebt.

„Also, was bitten Sie?“

„Alle nennen mich Anne.“

„Und ich darf keine Ausnahme machen?“ Reuter betrachtete belustigt Annes wütendes Gesicht. Sie sah in diesem Augenblick wirklich nicht nach einem Engelein aus, sondern eher wie ein Funken sprühender Teufel. „Dafür bekommen Sie also den Satan, wenn das nicht ein lustiges Paar ergibt.“

„Du, den Satan, den hat er noch niemandem für die allererste Ausprobier-Stunde gegeben, der ist für den Anfang nicht so leicht zu reiten“, flüsterte Margot aufgeregt, als sie den Stallgang entlanggingen. Im Augenblick vergaß Anne ihren Ärger. Der geliebte Stallgeruch nahm sie ganz gefangen. Oh, Pferde! Sie sattelten. Reuter sah ihnen dabei scharf auf die Finger, fand aber soweit nichts auszusetzen, auch bei Anne nicht. Als sie die Pferde hinausführten, flüsterte Margot noch: „Aber rassig sieht er aus, der Satan. Den reitet er auch manchmal selber, und ich bin auch schon runtergesegelt, und wie!“

„Ruhe. Ich will nichts mehr hören!“, klang jetzt die Stimme des Reitlehrers scharf und knapp. „Nachgurten. Aufsitzen. Nein, ohne Bügel. Na, wer hängt denn da am Sattel wie ein Mehlsack? Los, los, immer noch nicht oben?“

Anne mühte sich aus Leibeskräften. Sie war schon oft ohne Bügel aufgesessen, aber der Satan war so entsetzlich hoch, und er stand nicht still. Du meine Güte, sie kam nicht hinauf! Mit zusammengebissenen Zähnen mühte sie sich ab, glaubte, aller Augen spöttisch auf sich gerichtet zu sehen, stieß sich ab und zog sich hoch. Margot saß schon auf ihrem Bubi, der war aber auch niedriger als der Satan, und Margot hatte mehr Übung. Und jetzt war auch Herta oben. Die Fortuna war eine ziemlich faule, gutmütige Stute, der flüchtigen Göttin des Glücks, deren Namen sie trug, recht unähnlich. Sie ließ sich alles gefallen. Erika mühte sich an ihrem Felix ebenso vergeblich ab wie Anne am Satan.

„Ich denke, Sie sind schon geritten?“, fragte Reuter harmloshinterhältig. Anne schwitzte.

„Noch mal hopp und los! Nein, Satan, stehen bleiben musst du schon.“

Reuter trat jetzt zu Erika und half ihr hinauf. Anne fühlte, wie ihre Knie weich wurden.

„Wenn ich ein Englein wär’ und auch zwei Flüglein hätt’, flög’ ich hinauf“, sang Reuter vor sich hin. Anne ließ sich noch einmal auf den Boden gleiten und schöpfte Atem. Jetzt trat er neben sie.

„Soll ich helfen?“

„Nein“, sagte sie kurz und nahm alle Kraft zusammen. Wirklich, es ging. Es fehlten nur noch fünf Zentimeter – geschafft! Sie saß oben, Gott sei Dank!

Reuter trat zurück, befriedigt und ein Lächeln unterdrückend. Seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass er die Neuen wieder einmal richtig eingeschätzt hatte. Herta – zuverlässig, energisch, ruhig, ohne Angabe. Erika – schnell entflammt, ohne große Ausdauer, sicher mehr von einem schicken Reitanzug als vom Reiten begeistert. Anne – tja, das ließ sich nicht mit drei Worten sagen. In diesem jungen und noch glatten Gesicht waren ein Paar Augen, die etwas versprachen, und ein eigenwilliges Kinn. Wenn Anne neben der Energie, die aus ihren Augen funkelte, die nötige Liebe zum Pferd besaß – das würde sich erst nach Wochen und Monaten zeigen, er wusste das –, dann konnte etwas aus ihr werden. Wer mit solch stummer und verbissener Entschlossenheit handelte und jede Hilfe von außen abwies, der ließ sich von nichts abschrecken, von keinem Muskelkater und keinem Sturz, von keinem noch so mühseligen Trab mit hochgeschlagenen Bügeln. Reuter ließ die Neulinge stets das erste Mal so aufsitzen, und wie sie sich dabei verhielten, das sagte ihm oft schon genug. Er hatte sich fast nie geirrt, so viel junge Menschen zu Pferde er schon erlebt hatte. Allerdings: die Liebe zum Pferd gehörte auch dazu, sie war genauso wichtig, wenn nicht wichtiger.

„Anreiten. Linke Hand. Peter nimmt die Tete.“

Die Pferde folgten überraschend. Erika war sehr erleichtert, sie glaubte, der Felix gehorche ihr. Anne wusste es besser, die Pferde kannten die Befehle und gingen geduldig und brav, eins hinter dem andern. Als Erste ritten die beiden jungen Männer, dann Herta, Erika, Anne; Margot machte den Schluss. Ihr Bubi hatte heute seinen nervösen Tag, er warf den Kopf, legte die Ohren zurück und versuchte auszubrechen.

„Margot, passen Sie doch auf. Nehmen Sie ihn kürzer, wie soll denn das nachher werden! Kürzer, zum Kuckuck! So, nun ist er schon wieder heraus.“

Margot biss die Zähne zusammen und versuchte, das Pferd auf seinen Platz in der Abteilung zurückzubringen. Reuter sah kopfschüttelnd zu.

„Eine halbe Parade – rechter Schenkel ran. Natürlich folgt er dann, der Goldjunge. Anne, nehmen Sie die Zügel kürzer. Erika, Sie sitzen ja wie Ihre eigene Großmutter. Hoch den Kopf, Schultern zurück. Lang die Beine! Herta, mitreiten, treiben Sie, wozu haben Sie die Gerte! Zum Spazierentragen? Sie schlafen ja ein.“

Lautlos gingen die Pferde in der weichen, dunklen Lohe. Anne fühlte trotz aller Beklommenheit, dass sich ihr Herz vor Glück weitete. Endlich, endlich war es erreicht! Sie saß zu Pferd, fühlte den warmen Tierkörper, hielt die Zügel, atmete den geliebten Geruch. Wie lange hatte sie darauf gewartet! Nun galt es, sich zu bewähren. Ein undeutliches, aber starkes Gefühl sagte ihr, dass Reuter trotz seines Spottes und seiner scharfen Bemerkungen ein guter Lehrer sein müsse. Reitlehrer sind meistens grob, sagte Großvater einmal. Sie meinen es nicht so, es tut ihnen nur Leid, wenn die Reitschüler ihren Pferden wehtun. Wenn sie nur etwas lernte, wenn sie nur nicht wegen völliger Untauglichkeit hinausflog!

„Im Arbeitstempo Terrab!“

Die Pferde trabten an. Erika griff Hilfe suchend nach dem Sattel, auch Anne hätte es beinah getan. Herta brachte ihre Fortuna nicht vorwärts, die beiden jungen Männer trabten ihr davon, der Abstand wurde immer größer. Margots Bubi wollte an Satan vorbei, kurz, es war ein heilloses Durcheinander. Reuter lachte.

„Scherrit! So, nun erst einmal die Abstände ausgleichen. Sechs Schritt Abstand, reiten Sie nicht von hinten aufs Vorderpferd, Margot, zum Kuckuck! Und Sie, Herta, treiben Sie Ihren Hafersack doch an! Peter und Karl, ihr trabt viel zu schnell. Wer hat denn was von Mitteltrab gesagt, na? Wer sich unsicher fühlt – von den Damen, meine ich –, nimmt die Zügel in eine Hand und greift mit der andern in den Sattel. Noch einmal: im Arbeitstempo Terrab!“

Jetzt ging es besser. Die beiden Jungen trabten ruhig und verhalten. Herta bekam ihr Pferd, das merkte, es wurde ernst, endlich in Schwung, Felix ließ sich auch herab, zu gehorchen. Anne hob sich in den Bügeln, sie war doch schon oft leicht getrabt. Nach einigen Versuchen fand sie in den richtigen Rhythmus hinein. Der Sattel jankte leise.

„Gut so, Anne. Linker Zügel etwas kürzer – jawohl. Na also, was wollen wir denn mehr? Margot, leicht reiten! Was, Sie fassen noch in den Sattel? Sie meinen wohl, heute müssten Sie den Anfänger mimen, damit Sie nicht auffallen? Haha, gibt’s nicht. Weg die Hand. Das ist nur in den ersten vier Stunden erlaubt ...“

„Hört denn das nie auf“, dachte Erika verzweifelt. Sie hatte das Gefühl, über dem Pferd zu fliegen und bald rechts, bald links darauf herunterzufallen. Wie das stauchte und warf! Sie klammerte sich mit beiden Händen an den Sattel.

„Scherrit. Zügel lang, Pferde loben!“ Ein allgemeines Aufatmen. Anne rückte sich zurecht und warf einen verstohlenen Blick in den Spiegel. Nein, es war nicht leicht, es war sogar höllisch schwer, viel, viel schwerer, als sie das von ihren Versuchen auf der Koppel gedacht hatte.

„Noch einmal: Zügel aufnehmen. Im Arbeitstempo – Terrab! Nein, sitzen bleiben jetzt, aussitzen, nicht leicht reiten, Margot. Aussit – sitzen! Karl, mach die Beine lang, du sitzt ja wie ein Affe auf dem Schleifstein! Peter, nimm dir Zeit – herrje, er läuft dir ja davon! Das nennt ihr reiten? Das ist nicht mal oben sitzen, das ist höchstens oben hängen!“

Allmählich fühlte sich auch Anne der Verzweiflung und dem Aufgeben nahe. Eine Runde nach der andern deutschen Trab. Hatte Reuter denn kein Erbarmen? Noch einmal herum und noch einmal. Es warf sie, dass sie glaubte, sich nicht mehr halten zu können. Die Beine, die sich an das Pferd klammerten, schmerzten und begangen nachzulassen ...

Endlich, endlich das ersehnte Kommando: „Scherrit!“

Während sich die Neulinge zurechtsetzten, die Bügel wieder zum Ballen vorschoben und sich verstohlen übers Haar fuhren, musterte der Reitlehrer seine Abteilung kritisch.

„Peter, du machst einen Rücken – so! Gerade sitzen, Schultern zurück, Kreuz anspannen. Karl, du knickst in den Hüften ab. Und Fräulein Margot ...“

Margot biss sich auf die Lippe. Wenn er „Fräulein“ sagte, dann wurde es ernst.

„Na, was haben wir falsch gemacht?“

„Alles!“, sagte sie und lachte schon wieder. Nun war es egal.

„Na, gut, dass wir’s einsehen. Schluss für heute. In Abständen rechts aufschließen.“

Anne knickte in den Knien ein, als sie absprang. Du lieber Himmel, jeder einzelne Knochen tat weh! Man merkte bei dieser Gelegenheit erst, wie viel Knochen der Mensch eigentlich hat. Sie suchte in den Taschen nach Zucker.

„Brav bist du, mein Satan, brav! Brav!“

„Nun, haben wir die Nase voll, Fräulein Angelika?“, fragte Reuter herantretend.

„Danke, es reicht für heute, Herr Kornelius“, gab Anne wütend zurück. Dass er wieder davon anfing!

„Verzeihung. Ich meinte Fräulein Anne“, sagte er, als er ihre zornfunkelnden Augen sah. „Haben Sie genug? Oder kommen Sie wieder?“

„Natürlich komm ich wieder“, sagte Anne mit gesenktem Kopf. Dann hob sie mit einem plötzlichen Entschluss die Augen.

„Schinden können Sie mich, soviel Sie wollen. Hauptsache, ich lerne was. Aber das mit dem Namen ...“

„Kommt nicht mehr vor“, sagte er freundlicher. „Nun führen Sie Ihren Satan hübsch hinaus. Und übermorgen um dieselbe Zeit – vielleicht wagen wir uns da schon an einen kleinen Galopp? Wie wär’s?“

„Rrrrrrr!“, surrte der Wecker. Margot brummte und angelte mit der Hand nach dem Störenfried, um ihn unter die Bettdecke zu stopfen. Dort randalierte er noch eine Weile, gab dann als der Klügere nach und verstummte. Anne hatte ihn auch gehört, aber sie war so müde, so müde ...

Es war gerade vier. Und heute am Sonntag könnte sie noch anderthalb Stunden schlafen. Wenn sie halb sechs zur Milch lief, genügte es. Aber ...

Huh, es war schwer, nicht schwach zu werden. Aber sie hatte sich so fest vorgenommen –

„Margot!“, rief sie halblaut.

Aber Margot hörte nicht. Sie lag tief ins Kissen gewühlt und schnarchte schon wieder. Anne warf das Deckbett weg und tappte zum Fenster.

Nein, sie ging nicht wieder ins Bett. Wenn sie sich beeilte, konnte sie heute füttern und putzen helfen. Schwankend vor Müdigkeit taumelte sie ins Bad.

Das eiskalte Wasser machte munter. Und draußen war so herrliches Wetter. Sie zog sich schnell an und rannte in die Milchküche hinüber. Wenn nur die Milch nicht später kam als sonst!

Aber Margot hatte Recht: Tag für Tag, Sommer wie Winter, wochen- wie feiertags taten die Melker ihren Dienst, ohne eine halbe Stunde Verzögerung. Anne drehte den Separator auf und füllte nach – ja, dagegen hatte sie es fürstlich!

Sie achtete sorgfältig darauf, dass alles, aber auch alles in Ordnung ging. Die Königin war trotz aller Strenge menschlich, aber der Chef! Vor dem sauste auch dem tüchtigsten Verwalter der Frack, wie Margot sagte, ihm entging nichts. Anne maß das Lab im Probiergläschen genau ab und rührte es unter die Magermilch, schüttete die geronnene Milch vom Tag zuvor in den Quarksack. Und die Sahneeimer mussten genau in einer Reihe stehen, sie visierte, während sie ein Auge zukniff. Sicher machte der Chef ausgerechnet heute eine Inspektionsrunde. So, fertig. Nein, sie bereute nicht, so früh aufgestanden zu sein! Nun hatte sie frei – gefrühstückt wurde sonntags erst um halb neun.

Margot lag wahrhaftig noch in den Federn. Anne gab ihr einen Puff.

„Verschlaf bloß nicht. Ich lass die Hühner noch heraus, ehe ich gehe“, rief sie ihr ins Ohr.

„Mhm. Wohin gehst du denn?“

„Mensch, wohin wohl. Ins Schloss! Wehe, wenn du weiterpennst!“

Der Tau blitzte in der Sonne, als sie durch den Park radelte. Sie hatte noch rasch an Hertas und Erikas Tür gebummert, damit sie aufstanden und den Hühnern das erste Frühstück gaben. Wenn Margot nun noch eine halbe Stunde länger schlief, schadete das nichts. Eine von den beiden würde sich wohl aufrappeln.

Wirklich, die Königin war listenreich! Bisher war noch nichts verbummelt worden, kein Essen versalzen, kein Milchdienst verschlafen, kein Hühnerfutter vergessen. Oft saßen die Mädel noch lange nach Feierabend alle zusammen in der Küche und schälten Kartoffeln oder putzten Gemüse für den nächsten Tag. Niemand trug ihnen das auf. Aber es konnte doch sein, dass es Herta oder Erika sonst am nächsten Vormittag nicht schafften. Im Milchraum blitzten die Geräte und im Hühnerstall hätte man vom Fußboden essen können, so sauber sah es aus.

„Lauter neue Besen. Hoffentlich kehren sie auch weiterhin so gut“, hatte Frau König gestern nach dem Samstagrundgang gesagt. Das bedeutete ein großes Lob, Margot behauptete das befriedigt. Und die anderen glaubten es nur zu gern.

Alfred und Hannes, die beiden Pferdeknechte, waren schon bei der Arbeit, als Anne, im Schloss angelangt, in den Stall flitzte.