Annette, ein Heldinnenepos - Anne Weber - E-Book

Annette, ein Heldinnenepos E-Book

Anne Weber

5,0

Beschreibung

Mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet Was für ein Leben! Geboren 1923 in der Bretagne, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, schon als Jugendliche Mitglied der kommunistischen Résistance, Retterin zweier jüdischer Jugendlicher — wofür sie von Yad Vashem später den Ehrentitel »Gerechte unter den Völkern« erhalten wird –, nach dem Krieg Neurophysiologin in Marseille, 1959 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wegen ihres Engagements auf Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung… und noch heute an Schulen ein lebendiges Beispiel für die Wichtigkeit des Ungehorsams. Anne Weber erzählt das unwahrscheinliche Leben der Anne Beaumanoir in einem brillanten biografischen Heldinnenepos. Die mit großer Sprachkraft geschilderten Szenen werfen viele Fragen auf: Was treibt jemanden in den Widerstand? Was opfert er dafür? Wie weit darf er gehen? Was kann er erreichen? Annette, ein Heldinnenepos erzählt von einer wahren Heldin, die uns etwas angeht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 222

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anne Weber

Annette, ein Heldinnenepos

Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen.

Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf

diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch

Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs.

Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie.

Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.

Sie ist sehr alt, und wie es das Erzählen will,

ist sie zugleich noch ungeboren. Heute,

da sie fünfundneunzig ist, kommt sie

auf diesem weißen Blatt zur Welt –

in eine undurchdringliche Leere, in die sie

lange runde Maulwurfblicke wirft und die sich

nach und nach mit Formen und mit Farben,

mit Vater Mutter Himmel Wasser Erde füllt.

Himmel und Erde sind bleibende Erscheinungen,

das Wasser aber kommt und geht, es strömt

ins trockne Bett des Flusses Arguenon, wo es

zweimal am Tag die Boote aufrichtet, die schon seit

Stunden auf der Flanke liegen. Zweimal am Tag

zieht sichs ins Meer zurück, Ärmelkanal

nennt man es hier, auch kurz La Manche, Der

Ärmel, obwohl es kein Kanal und auch kein Ärmel ist,

nichts Hohles also, eher schon ein Arm: der

Meeresarm, den der Atlantik zur

Nordsee rüberstreckt. Sachte legen sich die

Boote wieder seitlich auf den Bauch.

Im All des Zimmers, dem noch unbewohnten,

schwimmen vier und auch manchmal sechs

glänzende Gestirne oder Augen. Wie in der Dunkelkammer

langsam Konturen aus dem Nichts aufsteigen,

beginnen sich um die Gestirne

Gesichter abzuzeichnen. Mutter. Großmutter.

Vater. Das Kind, das Anne heißt und alle

Annette nennen (sprich Annett) bringt diese

Planeten zum Kreisen.

Von Annette ist Anne (die Heutige) dem Alter nach

doppelt so weit entfernt, wie ihre

Großmutter es damals war, aber irgendwo

erstaunlich fern und nah

gibt es noch dieses Kind. Es ist eins mit ihr,

ist nicht verkümmert und nicht tot, es schläft,

es ist noch da.

Geboren wird Annette in einer Sackgasse,

und das nicht bloß im übertragnen Sinne

wie wir alle. Das Haus der Großmutter schließt

eine Reihe unverputzter Fischerhäuschen ab, die

mit ihm unvermittelt endet vor dem Fluss.

Ein jedes Häuschen hat unten einen Wohnraum

und rechts und links eine Kammer unterm Dach.

»Das Haus der Großmutter« heißt nicht, dass es

das ihre wäre. Sie wohnt zur Miete. Die Unterkunft

ist kümmerlich, und dementsprechend

niedrig ist die Miete, doch das Geringe ist

noch viel für sie, die früh verwitwet ihre Kinder

mit dem Ertrag der pêche à pied oder des

Fischens ohne Boot herangezogen hat:

Tag für Tag macht sie sich bei Ebbe auf den Weg

und stöbert ausdauernd im nassen Sand allerlei

Meeresgetier auf: Venusmuscheln Strandkrabben

Teppichmuscheln Wellhornschnecken, die sie

in einem Korb auf ihrem Rücken in viele Dörfer der

Umgebung trägt und dort – in Saint-Éniguet,

La Ville Gicquel, Le Tertre, Notre-Dame-du-Guildo

oder Le Bouillon – verkauft.

Die Mutter ihrer Mutter ist im 19. Jahrhundert

in der Bretagne, also gewissermaßen

noch zwei Jahrhunderte zuvor geboren, als

eines vieler Kinder habeloser Bauern, die ihre

Kinder nicht ernähren können und sie daher

eins nach dem anderen bei Reicheren in Dienst geben.

Die kleine Kuhmagd ist sehr arm. Lange Zeit trägt sie

– o Schock später für ihre kleine Enkelin! –

keine Unterhose. Sie hatte keine. Schlief im Stroh. Ihr

Jahreslohn war ein Paar neue Holzschuhe, und alle

zwei Jahre gabs entweder einen Umhang und dazu

ein Paar Strümpfe oder auch einen Rock und eine Jacke, was

deshalb schon kein Luxus war, weil sie noch gar nicht

ausgewachsen war. Sie ging nie zur Schule. Illettré

sagt man dazu, wenn eine ihresgleichen oder einer

weder des Lesens noch des Schreibens kundig ist.

Mit fünfzig Jahren wird ihr erstmals klar – Annette

ist vielleicht sieben –, dass sie von ihrer Mutter

nie einen Kuss bekam, und sie, die bisher

nie geklagt hat, bricht in Tränen aus. So

sitzen sie, Großmutter und Enkelin,

und küssen sich und küssen sich und küssen sich

und weinen. Von ihrem Vater weiß sie nur,

wie grob er war. Ihre Geschwister, Kinderknechte

und -mägde wie sie selbst, erwähnt sie nie,

sie sind vielleicht inzwischen tot oder verschollen

oder sie leben in der Nähe. Annette

liebt über alles diese Großmutter, die

reich ist nicht an Gütern und gebildet

nicht durch Lektüren.

Wie jeder von uns hat sie

noch eine zweite. Die liebt sie weniger.

Es ist die Mutter ihres Vaters, eine Beaumanoir,

was Schönes Herrenhaus bedeutet und

in der Tat d i e bessere Familie ist in einem Ort,

der keine wirklich hohen Kreise kennt.

Auch Madame Beaumanoir ist Witwe und sie ist

Tochter des Notars. In ihren ersten Lebensjahren

bekommt Annette Großmutter zwei

nicht zu Gesicht. Die Brücken zwischen

ihr und deren Sohn sind abgebrochen

am Tag, an dem sie ihm verboten hat, das Mädchen

aus dem Fischerhäuschen – eine der Töchter von

Großmutter eins – zur Frau zu nehmen,

worunter Madame Beaumanoir sicher

gelitten haben mag, aber was tun?

Alles in ihr sträubte sich gegen

die ungleiche Verbindung, der dann

zu ihrem Leidwesen auch prompt

eine Annette entsprang. Sie hält den Sohn

für etwas Besseres und sie hat recht damit,

er ist auch etwas Besseres, denn er verzichtet

auf ihre achtbare Gesellschaft und sein Erbe

zugunsten seiner Liebsten. Zu diesem Zeitpunkt

sind die beiden fast noch Kinder, nicht volljährig

nach dem Gesetz und ohne elterliche Zustimmung

zur Heirat unfähig, so dass Annette ganz wie in einem

Märchen – einem bretonischen – im armen

Fischerhäuschen von Großmutter eins und

außerhalb der Ehe, aber nicht außerhalb der Liebe

geboren und vorläufig in kein Geburtsregister

eingetragen wird.

Sie hat glückliche Eltern, möchte man

behaupten, aber ist das denn richtig und

so allgemein gesprochen möglich?

Heißt es nicht immer, einen Glückszustand gäbs

höchstens für Momente? Sie aber sind glücklich

jederzeit, und wer Beweise hat fürs Gegenteil, der

möge widersprechen, jetzt ist dazu Gelegenheit.

Glück ist der Grundton ihres Alltags. Von Anfang an

durchdrungen von dieser unhörbaren wärmenden Musik,

ausgestattet mit den hellen Augen und dem

unerschrocknen Herzen ihrer Eltern

tritt Annette auf.

Die Eltern sind nicht nur, was man so

glücklich nennt, sie sind auch noch das

Gegenteil vom jeweils anderen. Jean ist groß und

Petite Marthe ist klein, er ist bedächtig und gelassen,

sie redefreudig-wuselig, aber vernünftig

ist sie auch, dazu eine Erzählerin, der man lauscht,

mit offnem Mund. Er nennt sie gerne

»meine Suffragette«, womit er nicht so sehr ihren

Feminismus meint, als ihre Neigung, sich über Unrecht

heftig zu erzürnen und vor Wut zu schnauben; in ihrem

eigenen Idiom wäre sie soupe au lait oder auch

milchsuppig, von jener Suppenart auf jeden Fall, die

sehr schnell überkocht. Sie hat sich alles selber beigebracht,

und »alles« ist vielleicht nicht alles, aber doch sehr viel,

die Leselust, das Pingpongspielen, nur Autofahren

glückt ihr nicht, weil sie dazu zu stürmisch ist.

Kein Wunder, könnte man jetzt denken, bei diesen

günstigen Bedingungen, dass aus der Tochter wurde,

was dann aus ihr wurde und was der Klappentext, schon

weil die Fülle von Jahrzehnten Taten Mühen weit über

jeden Buchdeckel hinausragen, nur schlecht zusammenfasst.

Wenn es so wäre, dass die Bedingungen allein die

Zukunft vorgeben, wären wir jegliche Verantwortung,

jedes Gefühl für Schuld, jedes Gewissen los. So

einfach ist es aber nicht. Die Hauptsache

kommt immer noch; sie bleibt zu tun.

Vorerst ist Annette fast fünf, ja, sie hat bald

Geburtstag, aber wird sie ihn erleben? Von

heute aus gesehen eine blöde Frage,

doch damals ist die Antwort durchaus

ungewiss. Denn sie ist sehr schwer krank

und gar nicht bei Bewusstsein,

aber dann wacht sie auf und sieht als Erstes

gleich das Fahrrad, das man ihr zum

Geburtstag schenkt. Von der Weltwirtschaftskrise

haben ihre Eltern nicht Notiz genommen, sie hatten

ihre eigne Große Depression, saßen am Bett der

einzigen Tochter und beteten nicht, sondern

befolgten mit verzweifelter Genauigkeit die

Vorschriften des Arztes, der selbst nicht

wirklich daran glaubte, dass das Kind noch zu retten sei.

Hirnhautentzündung. – Das Schlimmste

ist vorbei. Annette ist bei sich, was aber nicht

per Knopfdruck geht, sondern ein

langsamer Prozess ist, denn noch

neunzig Jahre später weiß sie, dass ihre

Muskeln Haut Gelenke Sehnen und

Gedärme sich als Erste wieder meldeten,

und erst, als auch das Ohr sich wieder einfand,

konnte sie die Stimmen ihrer Eltern hören.

Am Lager der Genesenden findet ein

Gipfeltreffen statt mit beiden Großmüttern.

Madame Beaumanoir trifft auf La Mère Brunet,

wie Großmutter eins im Dorf genannt wird.

Enchantées, ja, überaus enchantées sind die beiden,

allerdings hauptsächlich über die

Heilung dieser Kleinen. Annettes Eltern

sind inzwischen volljährig und verheiratet.

Annette trägt jetzt den Namen ihres Vaters

und der versöhnten Großmutter zwei

und heißt auf dem Papier Raymonde Marcelle

Anne Beaumanoir. Das Fischerhäuschen hat sie

längst verlassen und ist mit ihren Eltern und Mémère

jenseits der Eisenbrücke über den Arguenon

oder Pont du Guildo gezogen, die mitzubauen

Mémères Mann, ein Schmied, hierhergekommen war,

doch schon fünf Jahre und drei Kinder später war er

(Schwindsucht) tot. Das neue Haus, das wieder

nur ein Häuschen ist, steht am anderen Ufer, ihrem

Geburtshaus gegenüber. Vom Fluss, der

die zwei Häuser trennt – bei Hochwasser ein

breiter Strom –, bleiben bei Ebbe nur zwei Rinnsale.

Sieh da, die Glückshäuser, könnte wohl

einer denken, der heute auf der

Brücke stünde und auf die beiden Häuschen blickte

rechts und links. Im Flur des zweiten,

zwischen der Eingangstür und der des elterlichen

Schlafzimmers, welche als Tore dienen, spielt die

Familie vor dem Abendessen Fußball,

bis das zehnte Tor gefallen ist.

Danach entbrennt ein Ringkampf,

wie es in Glückshäusern passieren kann,

wo es ein Zeichen ist – na ja, von Glück.

Wenn Ball ist und aufgespielt wird unten

an der Brücke, tanzen Mémère und Annette

bei offnem Fenster in der Küche Polka.

Jean, Annettes Vater, ist ein Sozialist,

aber der Pfarrer – wir sind in der Bretagne

und der Pfarrer ist katholisch –

also monsieur le curé kommt öfter mal

zum Abendessen, was nicht weiter

erstaunlich ist, sobald man weiß, dass er

sofort bei Amtsantritt die gleiche Kerze für alle,

vielmehr die gleiche Kerzengröße eingeführt hat.

Bis dahin trug bei Kommunionsfeiern – je

nachdem, wie reich die Eltern waren – einer

ein fingergroßes Kerzlein, der andere

– der kleine Dibonnet z. B. –

eine Art Kerzenpfahl so vor sich her.

Der Vater kommt gut aus mit diesem Pfarrer,

und um ihm keinen Kummer zu bereiten,

schickt er Annette zur ersten Kommunion

(die Mutter, Marthe, ist davon nicht sehr

angetan, aber sie mag den Pfarrer auch). Daraus

ergeben sich zwei Wochen »explosiver Mystik«

(Zitat Annette), was gewiss nicht nichts, doch

über beinahe ein Jahrhundert weg

doch eher wenig ist. Vorher und nachher:

nichts. Wie in Dumas’ Roman

gibt es im Ort die Blauen und die Weißen,

also die Republikaner und die Royalisten,

wobei Letztere nicht mehr unbedingt

Royalisten, aber doch Traditionalisten

und katholisch sind. Die Blauen sind

weiterhin Republikaner, und Laizisten

sind sie auch, was heißt, dass sie die Kirche

trennen wollen, von sich natürlich und

vor allem von dem Staat, und wenn es geht

soll sie auch nichts zu sagen haben.

Das ist in der Bretagne noch ein frommer

oder eher unfrommer Wunsch. In Le Guildo

gibts eine Mädchenschule, die katholisch ist, in die

die meisten Kinder gehen, sogar die

Töchter der paar reichen Bauern und die der Pächter

fürstlicher Ländereien, denn einen Fürsten

gibt es auch und dazu noch ein Schloss.

In der zweiten Schule, die der Staat betreibt, treffen sich

die ärmeren bis bitterarmen Töchter von

Seeleuten au long cours oder auf großer Fahrt,

die vor Neufundland Kabeljau in großen Mengen fischen,

den sie Monate drauf als Stockfisch, eingesalzen also,

mit nach Hause bringen. Auch Küstenfischer-

Töchter sind dazwischen und zwei, drei

Bauernkinder, insgesamt dreißig Mädchen, also eine Klasse,

zu mehr reicht es nicht in der école laïque.

Annette lernt dort das Lesen und das Schreiben, und

kaum weiß sie in etwa, wie das geht, da

fängt sie an, Mémère zu unterrichten, die

tatsächlich weder das eine noch das andre kann.

Als Klassenzimmer bietet sich die Höhle

unter Annettes Bettdecke gut an. Es dauert ein paar

Monate, dann können beide lesen oder sagen wir:

entziffern. Mit Annettes Hilfe schreibt Mémère

den denkwürdigen Satz: »Heute

habe ich mit den Kartoffeln und dem Lauch

aus dem Garten eine Suppe gekocht.« Ihrem

Schwiegersohn liest sie zwar etwas mühsam,

aber immerhin eine Erklärung vor

aus einem Wörterbuch, leider ohne dass

überliefert wäre, um welches Wort es ging.

Aber man sieht: Unter der Bettdecke

hat das Wort Aufklärung noch einen Sinn.

Ein Vierteljahrhundert später liegt die Großmutter

im Sterben. Annette ist bei ihr, und

um den Abschied zu ertragen, hält sie sich

an dem Buch fest, das sie gerade liest

d. h. eigentlich nicht liest, sondern

dabeihat. Es ist von Arthur Koestler

und heißt Darkness at Noon, ins Deutsche übersetzt

unter dem Titel Sonnenfinsternis. Auf dem Umschlag

der französischen Ausgabe steht Le zéro

et l’infini, Die Null und die Unendlichkeit,

drei Titel also, denen dieses Sterbezimmer

jeweils eine neue Bedeutung verleiht.

Die Sterbende streckt ihre abgezehrte

Hand aus nach dem Buch, betrachtet es

sehr lange und zeigt dann – ein Lächeln, angedeutet,

auf den Lippen – mit ihrem knorrigen und

kleinen Finger auf das z von zéro, und ganz leise

und ein bisschen schalkhaft sagt sie: An den

konnt ich mich nicht erinnern.

Pause.

Zurück zum Anfang, denn das Leben der

Annette hat gerade erst begonnen. Wie gesagt

ist sie 1929 bereits im Besitz eines Fahrrads,

was zweifellos nicht jede Fünfjährige von sich

sagen kann, zumal wenn sie wie Annette keine

besonders reichen Eltern hat, doch

ist nicht jedes Kind in ihrem Alter die

Tochter eines Fahrradchampions,

also gut, Champions ist zu viel gesagt,

aber doch eines Sportlers, der bei der

Tour de France teilgenommen hat, und zwar

Anfang der 20er, noch vor Annettes Geburt.

Am Quai du Guildo, gleich unterhalb des

Hauses an der Brücke, hat er später ein Geschäft

für Fahr- und sonstige Räder aufgemacht –

CYCLES ET PETITES MACHINES AGRICOLES

steht auf dem Schild. Danach hat er das

einzige, nein, zweiteinzige Automobil im Dorf,

allerdings benützt er es im Wesentlichen dazu,

wechselnde Nachbarn da- und dorthin zu chauffieren:

In Le Guildo gab es bis dahin großen Mangel

an einem Gratistaxi. Ein Stückchen weiter an dem

selben Quai wohnen im Winter in drei Planwagen

was früher mal Zigeuner waren und auf Französisch

romanichels, eine Zirkusfamilie, der er ebenfalls umsonst

das Einrad und was sonst noch anfällt repariert

und mit deren Tochter – einer der Töchter –

Annette gerne spielt, obwohl Mémère

nicht davon abzubringen ist, dass diese

Läuse hat. Hätte der Papst das Gegenteil

behauptet, hätte sie ihm nicht geglaubt,

und sie ist die Einzige in der Familie,

die ihm überhaupt was glaubt.

Vergeblich strengt sich Mémère an,

damit die beiden ihre Köpfe nicht

zusammenstecken, und sie bearbeitet die Kleine

sachte mit ihrem feinen Kamm,

wonach sie sie mit Crêpes verwöhnt.

Man sieht, die drei Generationen und

vier Personen Beaumanoir sind gute, eigentlich

die besten vorstellbaren Nachbarn, und die

Zigeunerfrauen segnen sie am laufenden Band.

Wie ihre Eltern sind die Kinder in der Schule

zweigeteilt: Es gibt die vom Land

und die vom Meer,

die Bauern und die Seeleute,

die, die mit Wörtern gurgeln und

neben denen sich die übrigen wie

zivilisierte Menschen vorkommen.

Wer an der Mündung des Flusses wohnt, ist,

auch ohne selbst zur See zu fahren, dem

Meer, dem Offnen zugewandt.

Die Flut bringt kleine Frachtschiffe den

Fluss hinauf, die schnell, bevor das Wasser

sich zurückzieht, entladen werden müssen.

Oft springen Seeleute an Land, die

kein Mensch versteht und mit denen man

sich trotzdem unterhält. La maîtresse,

die Volksschullehrerin, ist Witwe eines Handelsmarine-Offiziers,

dessen Schiff mitsamt

Besatzung der nordwestliche Atlantik vor

Island irgendwann verschlang.

Sie selbst steht jeden Morgen unverschlungen

vor der Klasse, in der zwei kleine Mädchen

namens Germaine ungefähr gleich schlecht sind,

doch zieht die maîtresse nur eine der beiden

zur Strafe an den Zöpfen. Welche davon

mag wohl die Bürgermeisterstochter sein?

Dass Annette früh einen Sinn für

Ungerechtigkeit bekommt, ist unter

anderem dem einschneidenden Einfluss

dieser ersten Lehrerin zu verdanken.

Sie wird interne im Collège von Dinan,

der öffentlichen Schule für die Schüler

ab elf Jahren. Interne heißt, dass sie

in der Schule wohnt und isst und nur

alle zwei Wochen heimkommt zu den

Eltern und Mémère. Im Bus beäugt sie

einen Jungen namens Jean-Baptiste, nein

wie er wirklich heißt, das weiß sie nicht,

aber sie nennt ihn so, weil er so schmal und

dunkellockig wie Johannes der Täufer ist.

Das fängt ja früh an! Aber der Junge merkt es nicht.

Mit dreizehn Jahren, 1936, verbringt sie

ihren letzten Sommer im Elternhaus am

Meer. Mais qu’est-ce que c’est que

tout ce monde? Was wollen, lieber Himmel,

diese ganzen Leute hier? Die Sozialisten und

die Kommunisten haben den bezahlten

Urlaub eingeführt, bloß vierzehn Tage,

aber immerhin, es lebe die Volksfront,

der Front Populaire. Sie steigen massenhaft

aus Bummelzügen, Kleinbussen, aus allem,

was da rollt, sie schwenken Fangnetze und

Schippchen und tragen Urlaubskleider, die

eine spezielle Sorte Sonntagskleider und

eingeschwärzt vom Rauch der Dampfloks sind.

Und sie sind überall, sie singen, spielen Ball.

Wo einmal Meeresfront war, ist jetzt nur eine

breite Volksfront. Die Besucher werden,

wo immer sie auch herkommen, Pariser,

also nicht was Sie denken, sondern Parisiens,

anders gesagt, Hauptstädter genannt.

Sommer ’36. Was in Deutschland los ist,

ist bekannt. Über Italien herrscht Mussolini.

In Spanien fängt der Bürgerkrieg an.

Von einer Dreizehnjährigen in einem

kleinen Ort in der Bretagne scheint das alles

weiter weg als heute von uns Syrien oder

der Tschad, doch der Schein trügt,

wie es seine Gewohnheit ist, denn schon

tauchen die ersten Spanier auf, genau

genommen Spanierinnen, deren Männer tot,

verletzt oder gefangen sind und die mit ihren

Kindern in der Bretagne Zuflucht finden.

Annette ist nicht länger interne, seit ihre Eltern

das Flussmündungsdasein aufgegeben

und sich in Dinan niedergelassen haben,

wo sie den geflüchteten Spanierinnen helfen

und außerdem ein Café-Restaurant betreiben,

was im Grunde auch nichts wesentlich

anderes ist als das Empfangskomitee,

in dem sie ehren- oder vielmehr

freundlichkeitshalber mitmachen. Annette

ist Pazifistin, bis sie mit fünfzehn

lieber Terroristin werden will. Ihr hat es

Ch’en, eine der Hauptfiguren aus Malraux’

La condition humaine angetan, der ’27 in Shanghai

während eines Aufstands von Arbeitern und Kommunisten

über den Mord zum Selbstmordanschlag kam. So

lebt der Mensch, indem er stirbt. Indem er stirbt

für andere? Oder indem er sterben, nichts als

sterben will. Das Sterben-Wollen rettet ihn vorm

Sterben-Müssen und somit vor der condition humaine.

Malraux bekommt den Prix Goncourt und ist, wenn

wir dem Binnenreim und der Kritik hier Glauben schenken,

eine recht zwielichtige Figur. Aber peu importe, darum

geht es hier jetzt nicht, sondern um die exaltation,

das Mitgerissen-Sein und das Gefühl, für eine

Kausa einen Zweck ein Ideal sein Leben

hingeben zu müssen. ’38 kommt der erste

deutsche Flüchtling an, der eine Flüchtlingin ist und

Else heißt. »Obwohl sie Deutsche war und also Feindin

auf den ersten Blick, war sie sehr hübsch.« (Zitat Annette)

Else ist aus Berlin, redet nicht viel und wenn, dann

schlechtes Französisch, aber verstehen tut sie

doch einiges, z. B. dass ihr Misstrauen entgegenschlägt,

und so erzählt sie dann von ihrem Onkel, der

in seinem eigenen Geschäft von ein paar Kerlen,

die dort ein und aus gingen, gelyncht wurde.

Es ist klar, dass sie die Wahrheit sagt.

Darauf beginnt ein Krieg, der, wenigstens

in Frankreich, noch gar keiner ist, eher

ein Stillehalten oder -sitzen, und den

die Franzosen, obwohl er rein gar nichts

Amüsantes hat, la drôle de guerre, den

komischen Krieg nennen. Nicht, dass sie so viel

mehr Humor hätten als ihre Nachbarn, aber

Asse in Fremdsprachen sind sie nun grade nicht,

und so haben sie statt phoney war, also falscher Krieg,

wie die Engländer dafür sagen, funny war verstanden.

Dann kommt der unkomische Krieg ins Land.

Die Offensive fängt am 10. Mai 1940 an und ist

am 22. Juni abgeschlossen. Diese sechs Wochen

– dass es sechs Wochen sind und nicht

wenigstens Monate und dass die deutschen Truppen

statt auf Beton auf Butter stoßen – sitzen den

Franzosen achtzig Jahre später noch immer

in den Knochen. Im Juli marschieren die Deutschen

im pas de l’oie oder Gänsemarsch, auf Deutsch Parade-

oder Stechschritt, durch Dinans Straßen.

Annette ist siebzehn und sieht sich das mal lieber

aus der Nähe an. Jetzt, in diesen Wochen, entscheidet

sich für sie etwas – falls es sich nicht viel früher schon

an der Flussmündung des Arguenon entschieden hat.

Wenn das Meer herandrängt, leistet der Fluss ihm

Widerstand. Im Frühling und im Herbst schlagen

Flut und Ebbe weiter aus denn je, man sagt dazu

les grandes marées oder auch die lebendigen Gewässer,

les vives-eaux. Wo das salzige Wasser und das süße

wuchtig aufeinanderstoßen, kommt es vor, dass sich

unvermutet eine Wand aus Wasser, ein wandernder

Wasserdamm, ein sogenannter mascaret erhebt.

Es fängt klein an. Sie ist siebzehn, es sind

Sommerferien, jemand spricht sie an, ein Mann.

So könnte eine Liebe ihren Anfang nehmen, aber

nein. Der Mann heißt S., ist Kriegsgefangener,

und mit zwei anderen, die wie er für die

Kommandantur Übersetzungsdienste leisten,

wird er durch die Stadt geführt. Die Männer werden

eher nachlässig bewacht. S. kann mit Annette,

die gerade da vobeikommt, ein paar

unauffällige Worte wechseln. Es geht darum,

vor der Mauer der ehemaligen Kaserne –

jetzt Gefangenenlager – einige Päckchen

in Empfang zu nehmen und zu der

Adresse zu befördern, die auf dem kleinsten

davon steht (auf den anderen stehn

Fantasie-Adressen). Würde sie das wohl

machen? Na, was denken Sie? Genau: Sie

machts. An der bezeichneten Adresse wohnt

eine schöne, tapfere Schneiderin, die aus

nichts etwas zu machen weiß, also doch wohl

erst recht aus diesen Päckchen. Sie hat ihr

blondes Haar zu einem Diadem geflochten

und steht im Ruf, eine vie de folie, ein verrücktes

oder vielmehr -werfliches Leben in Paris

hinter sich zu haben, von dem ein Sohn zeugt,

der nun Gefangener in Deutschland ist.

Annette sieht S. noch zwei, drei Mal,

bevor er sich davonmacht, und zwar nach

London, wie es sich Jahre später rausstellt.

Er überlässt ihr unter anderem Die Hoffnung,

L’Espoir, was schon wieder ein Roman Malraux’ ist

– über den spanischen Bürgerkrieg, den S.

von innen kennt –, und noch ein paar

andere Bücher aus seinem Gepäck.

Dann ist er weg. Nun lernt sie

neue Leute kennen, die sie mit Mitgliedern der

Résistance zusammenbringen, einen instit z. B., also einen

Volksschullehrer, für den sie dann in diesem und im

nächsten Sommer allerlei mit dem Fahrrad hier- und

dorthin transportiert. Denn wie das meiste

ist auch das Widerstehen anders, als man es sich

denkt, nämlich kein einmaliger Entschluss,

kein klarer, sondern ein unmerklich langsames

Hineingeraten in etwas, wovon man

keine Ahnung hat. Das Erste, dems

zu widerstehen gilt, das ist man selbst.

Der eigenen Angst. Was, wenn ihr jemand auf die

Spur kommt und sie erwischt mit Schriften

oder Gütern, die verboten sind? Sie lernt, dass

Angst was ist, was überwunden werden kann.

Ein Jahr verstreicht, und sie ist immer noch blutjung.

Gehts vielleicht auch ein bisschen schneller mit dem

Erwachsenwerden? Wie lange soll das alles noch

auf diese öde, für ihren Geschmack viel zu

tatenlose Weise weitergehen? Halbherzig

fängt sie in Rennes ein Studium an, und zwar

der Medizin, während sie ganzherzig von einem

Schicksal träumt, von Opfern und von Heldentaten.

Leider fehlts an Gelegenheiten. Zwar

hat sie über den instit ein paar »Kontakte«, die

anders als die heutigen nicht jeder x-beliebige

Bekannte, sondern im Gegenteil nur ein paar

wenige verlässliche Personen mit gleichen oder

ähnlich heimlichen Absichten sind. Doch wann

wirds endlich ernst, warum vertraut ihr keiner

eine wichtige Mission an? Wann werden diese

Grünspanfarbenen, die vert-de-gris, wie die

deutschen Soldaten heißen, fortgejagt? Und

warum sieht es in Rennes’ Straßen nicht längst aus wie

in den revolutionsgeschüttelt-kantonesischen aus

dem Roman Die Eroberer, Les conquérants, schon

wieder von André Malraux? Der Gegner

ist nur nebenbei ein deutscher Nazi und im

Hauptberuf Imperial-, Kapital- und Nationalist.

Einstweilen gilt leider: abwarten und radfahren.

Eine Minimission führt Annette ins Zentrum der

Bretagne, zu einem Weiler in der Nähe von Uzel,

der so klein ist und so unscheinbar, dass er seither

gar nicht mehr aufzufinden ist. Dort steht bereits

ein Fahrrad in der Scheune, seltsam, das ihres Vaters

sieht ganz ähnlich aus, ach … es ist seins … da

kommt er. Er also … auch? Er gibt ihr zu verstehen,

dass niemand, auch nicht die Mutter alias

Petite Marthe, von ihrem zufälligen

klandestinen Treffen zu erfahren braucht.

Das alles ist schon schön und gut, aber

doch eindeutig zu wenig abenteuerlich.

»Es ist unmenschlich« (Zitat Annette), jemanden

so lange zappeln zu lassen, der entschlossen ist,

sein Leben für eine ferne Zukunft, nein, noch

nicht einmal für eine Zukunft, sondern für ein

Ideal, für etwas also, was nicht zu erreichen ist,

aufs Spiel zu setzen. An der Uni trifft sie schließlich

Ze Ha, Trotzkist. Der schickt sie zu einer

Versammlung nach Brest, wo es regnet, wie es

zu erwarten ist. Die schwarzblauen Kriegsmarine-

Männer verschmelzen mit der Nacht. Annette biegt

von einer dunklen Gasse in eine noch dunklere,

klopft erst vier Mal, dann zwei Mal an eine Tür

und sagt: Hier ist Dinan! So ist es ausgemacht.

Sie ist Dinan, die würdige Verkörperung der Stadt.

Dann zwingt die Sperrstunde die Anwesenden

(paar Männer und drei Frauen mit Annette),

den Rest der Nacht zu diskutieren. Was dabei

rauskommt, ist ein halbwegs auf Deutsch verfasster

Aufruf an die grünspanfarbenen Soldaten,

sich von den Braunhemden & Schwarzröcken zu

distanzieren. Wie? Diese Nachtschwärmer wollen

tatsächlich die deutschen Soldaten überreden,

sich abzukoppeln? Ihrer Regierung abzuschwören?

Ist das an Naivität denn noch zu überbieten?

In einem Park, in dem das deutsche Fußvolk gerne

rumspaziert, soll Annette diese Flugblätter verteilen,

doch zu unserem Glück und ihrem Ärger

wartet sie umsonst auf deren Lieferung. Leere

Versprechungen! Kümmerlich-kühne Initiativen,

die aber im Sommer 42 zu Verhaftungen in ihrem

Umkreis führen. Die Vorsicht gebietet – und

manchmal gehorcht Annette ihr gar –,

Rennes zu verlassen. Sowieso sehnt sie sich

nach ernsthafteren Taten und hat längst begonnen,

in Richtung PC zu schielen. Der ist weder der

personal computer noch die political correctness,

die er heute meint, sondern eine Partei, die

seit September 39 verboten ist.

»Wenn man mit sechzehn keine starken

Überzeugungen hat« (Zitat Annette), »hat man

gute Chancen, nie welche zu haben« (Zitat

Nichtannette). Vor Toten und Terror und was

aus Revolutionen gewöhnlich sonst noch so wird,

verschließt man die Augen, »man hofft und

rennt los« (in der Überstürzung: Zitanette),

und zwar auf einen Ort zu, den es gar nicht gibt

und auch nie geben wird, den Ort, wo

Frieden, Freiheit und Brüderlichkeit nicht

herrschen, sondern eher … walten? Paris

heißt ein solcher Ort eher nicht, doch dies

ist ausgerechnet die Stadt, wo die

Losrennende jetzt landet und bald tätig wird.

Ihr Zimmer liegt am Boulevard Kellermann,

ein Elsässer, der mit Dumouriez zusammen die

Preußen in Valmy besiegte. Jetzt, im September 42,

liegt am Boulevard, der seinen stolzen Namen trägt,

– Annettes Unterkunft quasi gegenüber – eine

Fabrik mit Namen Gnome et Rhône, was beinahe

nach Verbrüderung, nach deutsch-französischer