Ansichten eines Aktmodells - Norman Liebold - E-Book

Ansichten eines Aktmodells E-Book

Norman Liebold

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Beschreibung

„Ansichten eines Aktmodells“ rankt sich um neun Geschichten, die von Psychothriller („Euthanatus“) über mystische Erlebnisse ind er esotherischen Szene der Eifel - den „Eifelindianern“ - („Die Schwitzhütte“) bis hin zu verspielten Märchen („Der Wassertropfen“), amüsante Kurzgeschichten („Der Egoismus des Herrn Amselfink“) und Phantastik („Dialog mit einer Ulme“) reichen. Erzählperspektiven, Genres, Blickwinkel vermischen sich und verweben Dichtung und Wahrheit zu einem Geflecht, das als Roman die Selbstbefreiung des Menschen, zur Menschwerdung thematisiert. Was nach experimentaler, schwierig zu lesender Kopfgeburt klingt, ist jedoch ein Stück unterhaltsamer, in flüssiger, lebendiger, fesselnder Sprache verfasste Literatur, die das Erzählen feiert, die Macht der Geschichten und das Leben. Um die Hauptfigur des Romans – das Aktmodell – realistisch beschreiben zu können, stand Norman Liebold zwei Jahre regelmäßig in der Kunstakademie Hennef den Zeichnern nackt Modell und schwitzte bei den Eifelindianern. Tatsächlich (auch wenn nicht mehr kenntlich) spielt ein Teil der Handlung im Aktraum der RSAK. Aber auch andere Orte der Region – das Steigenberger Grandhotel auf dem Petersberg, das Tattoostudio „Tintenrausch“ in Köln-Gremberg, die Region um Mechernich in der Eifel, Maria Laach – sind wiedererkennbar und verorten und verankern die Geschichten im Wirklichen. Liebold spielt in diesem Buch wie in keinem anderen mit dem Vermischen und Verweben realer Begebnisse und Fiktionalität. Im Gegensatz zu den einzelnen Geschichten, die sich in Liebolds Sprach- und Erzählwelten bewegen, kann die eigentliche Handlung des Romans im Ganzen nicht wirklich beschrieben werden -- sie kann nur im Leser oder Zuhörer geschehen. Sie lädt ihn zu einer Verwandlung ein.

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Norman Liebold

Ansichten eines Aktmodells

Deutsche Erstausgabe.
Amator Veritas Buch Nr. XLV (45)
Copyright © 2014 Amator Veritas Verlag, Hennef.
Titelphoto: Anke Böser
Lektorat durch Anke Böser
Satz, Gestaltung, Artwork Titelbild: Norman Liebold
Illustrationen von Norman Liebold.
Illustration „Der Euthanatus“, S. 223: Katharina Theine.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und elektronische Medien sowie der Übersetzung auch einzelner Teile.

Etwas war anders als sonst. Das war mir bereits klar, als ich die letzten Stufen zum Aktraum emporstieg. Die Stahltür, die rechts in den großen Raum unter dem Giebel führte, summte geradezu von den Stimmen dahinter. Mir schien es, als wäre dieses Summen und Vibrieren mit einer aufgeregten Erwartung aufgeladen. Ab und an perlte ein mädchenhaftes Lachen über das Stimmengewirr. Ich war spät dran, der Unterricht hatte längst begonnen, und abgesehen von einigen verstreuten Rauchern im Regen war mir niemand begegnet. Nicht, dass mich das Zuspätkommen bekümmerte – ich studierte nicht an dieser Akademie, und überhaupt waren die Zeiten, in denen ich mich zu bestimmten Stunden in irgendwelchen Hörsälen oder Seminarräumen einzufinden hatte, schon seit ein paar Jahren vorbei. Trotzdem war mir eigenartig zumute, als ich meine Hand auf die Klinke legte und zögerte, sie niederzudrücken. Es schmeckte nach Schicksal.

Der lange Raum mit dem bis auf Hüfthöhe hinabreichenden Dachschrägen war für gewöhnlich ein Ort des konzentrierten Arbeitens, und ich kannte ihn kaum anders als mit einer Handvoll Studenten, um das Podest in der Mitte gruppiert, das Modell darauf in einer Pose erstarrt. Das Geräusch von Bleistiftmienen und Tuschefedern auf Papier, zu dieser Jahreszeit das Surren des Heizgebläses und die Schritte des Dozenten, der von Student zu Student ging und ab und an Anweisungen in gebrochenem Deutsch gab. Er war Russe, hatte die klassische Ausbildung an der Petersburger Akademie der Künste noch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs absolviert und war der Grund, warum ich hier war. Er hatte mir angeboten, in seinen Unterricht zu kommen, damit ich am Modell Zeichnen üben konnte – ein Freundschaftsdienst, den ich leider viel zu selten in Anspruch nehmen konnte.

Heute war der lange Raum mit Studenten angefüllt. Sie standen in mehreren Reihen um das Podest im Zentrum, saßen auf den Tischen, die unter die Schrägen geschoben worden waren. Ich hatte den Aktraum noch nie so voll gesehen, das Gemurmel der Stimmen, das Lachen und Kichern hatte schon fast etwas von einem Theaterpublikum, das auf das Heben des Vorhangs wartet. Ich drückte mich durch die Reihen, grüßte hier und da und gelangte schließlich zum Dozententisch. Pjotr saß, klein und nervös, auf seinem Stuhl und trug etwas in eine seiner vielen Listen ein. Er hatte einen ganzen Ordner voll mit Listen, und zuweilen kam es mir vor, als ob er ein seltsames Vergnügen dabei hatte, seine Kreuzchen und Zahlen und Häkchen darin einzutragen – jetzt aber schien er seine Aufregung damit besänftigen zu wollen.

„Morgen, Pjotr“, grüßte ich. Er schaute hoch und reichte mir die Hand. „Was ist denn hier los?“

Er zuckte mit den Schultern und ließ den Blick über seine Studenten schweifen. Ich bemerkte, dass es fast ausnahmslos jene waren, die er gerne als „seine” Studenten bezeichnete. Aus jedem Semester die, die sich mit Hingabe und Ausdauer dem Zeichnen widmeten und oft sogar während ihrer Freistunden hinauf in den Aktraum kamen, um zu üben.

„Ich nicht genau weiß“, erklärte Pjotr. „Aktmodell, junge Mann, kommt letzte Mal.“ Sein Blick ging erneut über die gut vierzig Schüler, die sich versammelt hatten. „Hat eingeladen, alle.“

Eine Studentin, die gleich vor uns stand, drehte sich um und erklärte: „Er will so etwas wie eine Vorstellung geben.“ Sie kramte in ihrer Tasche und holte einen Flyer hervor, professionell gedruckt. Darauf war unverkennbar ein nackter Mann abgebildet, in Denkerpose auf einem Podest. Ich kannte den Mann und hatte ihn schon mehrfach gezeichnet – er war eines der Modelle, die am häufigsten Akt saßen. In klaren, serifenlosen Lettern war unter dem Bild zu lesen:

BEKENNTNISSE EINES AKTMODELLS. 21. MÄRZ. 10 UHR. AKTRAUM.

Ich drehte den Flyer um, aber auf der Rückseite waren keine näheren Infos zu finden, nur die Zeichnung eines Salamanders. Das Aktmodell war Zentrum etlicher Gerüchte und Spekulationen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Modellen sprach dieses nie, bis auf eine freundlich-höfliche Begrüßung und eine ebensolche Verabschiedung. Niemand wusste etwas Genaueres und nichts heizt die Gerüchteküche mehr an, als ein Mangel an Wissen. Wie es jungen Leuten zueigen ist, hatte man verschiedentlich versucht, es aus der Reserve zu locken und zu provozieren. Aber all diese Versuche waren stets mit derselben ruhigen Höflichkeit an ihm abgeperlt, um nur um so mehr die Spekulationen zu befeuern.

Ich schaute auf die Uhr. Zehn nach zehn. Das Podest in der Mitte des Raums, aus weiß gestrichenen Holzwürfeln zusammengesetzt, war leer. Ich konnte das Modell nirgends sehen. Die Studenten wurden unruhiger. Wäre das ein Bühnenauftritt, ging es mir durch den Kopf, dann konnte keinen besseren Zeitpunkt geben, wollte man die Spannung auf die Spitze treiben. Just in diesem Augenblick bewegte sich die Klinke und die Tür öffnete sich. Es wurde schlagartig still.

In der Tür stand das Aktmodell und lächelte. „Guten Morgen.“ Nichts an ihm ließ auf Nervosität schließen oder auch nur auf Verwunderung angesichts des mit Leuten vollgestopften Raums. Aber natürlich hatte es auch Flyer drucken lassen und dürfte ebenso sehr vorbereitet sein wie der Schauspieler, wenn sich der Vorhang hebt. Die Studenten grüßten mit neugierigen Mienen. Langsam, fast schon aufreizend gelassen, bewegte sich das Aktmodell von der Tür weg auf die Mitte des Raumes zu. Beinahe wirkte der Mann wie ein hoher Würdenträger oder ein Magier, der schweigend durch die respektvoll oder auch nur irritiert zurückweichende Menge schritt. Sein Gesicht war von einer ganz eigenen Ruhe erfüllt, die ihn unangreifbar erscheinen ließ. Hätte ich ihn nicht als Modell gekannt, würde ich ihn am ehesten für einen Dozenten gehalten haben – er war etwa in meinem Alter, gut zehn Jahre über dem Durchschnitt der Studenten, und zeichnete sich durch Unaufdringlichkeit in der Kleidung aus – und durch die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der er sich bewegte.

Er blieb vor dem Podest stehen und drehte sich mit einer bühnenhaft geschmeidigen Bewegung auf dem Absatz um. „Vielen Dank, dass ihr so zahlreich erschienen seid“, sagte er, und seine Stimme war nicht die leise, höfliche Stimme, die ich kannte. Es war eine Bühnenstimme, und sie füllte den Raum ohne jede Schwierigkeit. „Heute ist mein letzter Tag, man könnte auch sagen: Heute ist mein erster Tag. In jedem Fall aber möchte ich mich von euch verabschieden und für die Zeit bedanken, die ich hier bei euch sein durfte.“ Er lächelte in die Runde, ein dankbares, liebevolles Lächeln – aber dahinter blitzte ein Satyr auf, ein verschmitzter Schalck, der vor gefährlichen Spielen und Scherzen keinen Halt machen würde.

„Warum hörst du dann auf?“, fragte eine Studentin mit frecher Stupsnase und einem wilden Lockenkopf. „Hast du einen besseren Job gefunden?“ Zwischen den Worten schwang etwas provozierendes als auch eine gewisse Anzüglichkeit mit. Plötzlich mußte ich mich fragen, was einen schätzungsweise zwei- oder dreiunddreißig Jahre jungen Mann dazu brachte, sich nackt vor anderen auszuziehen? War das nicht ein überaus eigenartiger Job, hatte das mit ehrlicher Arbeit zu tun, war das nicht peinlich? Stellt es nicht sogar eine Form der Prostitution dar, war nicht Taxifahren eine ehrlichere Sache, als einfach seine Nacktheit gegen Geld zur Schau zu tragen? Was musste man dafür schon können als einfach still zu halten und einen Mangel an Schamgefühl zu besitzen? Oder eine überentwickelte Selbstverliebtheit? Hatte er überhaupt einen Beruf gelernt, studiert? Oder noch nicht einmal einen ordentlichen Schulabschluss? Mir fiel sogar auf, dass sein Körper nicht besonders durchtrainiert war – definiert, wie Pjotr sagen würde – er war nicht schlecht gebaut, aber wenn er schon sein Geld als Zeichenobjekt verdiente, sollte er nicht zumindest seine Muskeln etwas besser ausbilden? Der Mann da konnte der letzte Versager sein oder Uniabsolvent mit x Abschlüssen und einer exhibitionistischen Perversion.

„Ihr macht euch ein falsches Bild von mir“, unterbrach das Modell meine wuchernden Gedanken. Es war auf das Podest gestiegen, die Stimme war ruhig mit amüsiertem Unterton. „Nicht nur, weil ihr ja erst einmal richtig zeichnen lernen wollt – ihr habt einfach ein falsches Bild von der Welt. Aber ich bin nicht hier, um euch über die Welt zu belehren. Ich bin nur ein Modell. Aber als Modell vielleicht modellhaft. Deswegen will ich, dass ihr meine Wahrheit kennt, meine nackte Wahrheit sozusagen, die Wahrheit, die sich mir unverhüllt offenbarte.“

„Du willst uns jetzt einen Vortrag halten, warum du dich für Geld ausgezogen hast?“, kam von hinten. Der Sprecher wirkte recht gelangweilt. „Vom höheren Sinn des Exhibitionismus, oder so?“

Hinter dem Studenten stand ein Mann, der mir eigenartig auffiel. Ich hatte ihn bisher noch nicht an der Akademie gesehen, und auch niemand anders schien ihn zu kennen – er stand etwas abseits, niemand kümmerte sich weiter um ihn. Das Auffällige an ihm war seine Unauffälligkeit. Als ich ihn fixierte, hob er den Kopf um keine zwei Millimeter. Unter den Brauen stachen graugrüne Augen sengend hervor, beängstigend wach, die Auge eines getarnten Jägers, eines Raubtiers, lauernd und gefährlich. Und kaum hatte er den Blick wieder gesenkt, schrumpfte das Gesicht zu einer langweiligen Allerweltsvisage, von der man nicht einmal genau sagen konnte, ob sie Student, Dozent oder ein verirrter Fremder sein mochte. Hätte ich nicht nach dem störenden Studenten geschaut, er wäre mir nicht aufgefallen. Und einen Moment später war er fast wieder vergessen.

„Nein, ich halte keinen Vortrag“, antwortete das Aktmodell. „Ich erzähle euch Geschichten. Und die Geschichten erzählen euch meine Geschichte.“ Er setzte sich und begann, seine Schnürsenkel zu öffnen. Er stellte die Schuhe akurat vor das Podest. Es folgten die Strümpfe, das Hemd. Beim Unterhemd veränderte sich die Stimmung im Raum.

Es wurde still.

Dass Aktmodelle sich stets in separaten Räumen ausziehen, hinter Wandschirmen und mühsam improvisierten Vorhängen, hat meiner Meinung nach seine Gründe. Der Mensch, der hinter dem Wandschirm hervortritt, einen Bademantel lose um die Schultern, ein Handtuch um die Hüfte oder einen legeren, togaähnlichen Kittel, wie Klimt ihn gerne trug – er ist nicht derselbe Mensch, der mit einem „Guten Morgen” in Straßenkleidung durch die Tür gekommen war. Er ist jetzt das Modell, der Nackte, das Zeichenobjekt.

Dieses Aktmodell durchbrach ganz bewusst das ungeschriebene Gesetz: Fast genüsslich entledigte es sich seiner Kleidung, und ich glaube, er war sich sehr der Wirkung bewusst. Tatsächlich war sie geradezu spürbar: Dieselben Studenten, die mehrere Stunden wöchentlich nackte Menschen zeichneten, ja, auch diesen Mann hier schon oft genug gezeichnet hatten, in Positionen, die nicht das Geringste verbargen – sie schauten jetzt betreten irgendwo im Raum herum oder glotzten mit einer gewissen Sensationsgier auf das Podest. Ich hörte nervöses Räuspern, Husten, geflüsterte Kommentare, die keinen anderen Zweck hatten, als den Moment der Scham zu überbrücken.

Als letztes zog er – und er ließ sich Zeit damit – seine Shorts aus und legte sie wie die anderen Dinge auf das Säuberlichste gefaltet auf den Wäschestapel am Fuße des Podestes. „Jetzt“, sagte er in die Stille hinein, „bin ich nackt.“

„Wäre mir nicht aufgefallen“, frotzelte der rote Lockenkopf, und wie immer sie es auch schaffte, in meinem Kopf begannen erneut Zwischenzeilen zu sprechen. In dem lakonischen Kommentar war plötzlich ein Anprangern zu hören, zumindest für mich. Ich fragte mich, warum dieser Mensch, der es doch besser wissen müsste, ganz gezielt die Schamgrenze der Anwesenden überging und sie offensichtlich mit voller Absicht in Verlegenheit brachte. Für was er sich eigentlich hielt, sich so zu inszenieren, und was ihm glauben machte, dass wir ihm zuhören sollten bei dem seltsamen Vortrag, den er meinte, uns halten zu müssen. Und wiederum war es seine Stimme, die in der ruhigen, gelassenen, ein wenig amüsierten Art gleichsam den Ballon zum Platzen brachte, der sich an Gedanken in meinem Kopf aufzublähen begann.

„Ich bin viel nackter, als man denken sollte“, sagte er. „Vielleicht sogar nackter, als ihr es euch vorstellen könnt.“ Er beugte sich vom Podest herunter und griff sich einen der Schemel, die direkt davor standen. Er stellte ihn zu sich aufs Podest und machte es sich sichtlich bequem darauf. „Ich bin nicht so nackt, wie ihr es seid, wenn ihr unter der Dusche steht oder beim Umkleiden für einen Moment zwischen Jeans und Schlafanzug nichts anhabt. Ich bin nicht so nackt, wie ihr es seid, wenn ihr beim Geliebten liegt oder an einem verspielten Wochenende unbekleidet durch eure Wohnung springt. Ich bin nicht einmal so nackt, wie es vielleicht der eine oder andere von euch ist, wenn er ab und an Freikörperkultur pflegt – wobei auch das ja erheblich aus der Mode gekommen ist in unserer so frei sich gebenden aber unglaublich schamhaften Gesellschaft. Nein, ich bin nackt unter lauter Angezogenen. Und nicht nur das: Ich bin auch das Zentrum aller Aufmerksamkeit.“

„Wenn dich das stört, hättest du dir einen anderen Job aussuchen sollen!“, quakte der Lockenkopf. Er fing an zu nerven, denn tatsächlich begann mich in den Bann zu ziehen, was das Aktmodell erzählte. Von dieser Warte betrachtet hatte ich es noch nie betrachtet. Ich kam und zeichnete, was auf dem Podest stand, oft unterhielt ich mich mit den Modellen, aber, um ehrlich zu sein: Ich hatte mir noch nie um den Grad der Nacktheit unter den Augen von Angezogenen Gedanken gemacht. Würde ich mich ausziehen? Mehr noch: Würde ich jetzt nach vorn gehen können, um mich ganz einfach bis auf die Haut zu entkleiden?

„Ich habe mir diesen Job ausgesucht“, erklärte das Aktmodell. „Ich wollte das und nichts anderes. Ich habe mich an mehreren Stellen beworben.“

„Exhibitionist, und dann auch noch dafür bezahlt werden, wie?“ Entweder war sie tatsächlich ziemlich berechenbar, oder aber – ein amüsanter Gedanke – das Ganze geschah auf Absprache, und sie spielte den Advocatus Diaboli, um die richtigen Stichworte zu geben.

„Vielleicht habe ich eine exhibitionistische Ader, allerdings hatte ich vor so ziemlich nichts mehr Angst, als mich vor anderen nackig zu machen.“ Er lächelte ein kurzes Lächeln, das weniger Lächeln war als vielmehr die Erinnerung an einen Schmerz. „Dabei meine ich gar nicht so sehr die körperliche Nacktheit. An die gewöhnt man sich recht schnell. Nein, ich meine die Abstinenz der Masken.“ Er wandte sich in unsere Richtung, hob die Stimme und rief: „Pjotr, hast du eine etwas längere Pose für den Anfang? Meine erste Geschichte ist eine von den umfänglichsten.“

Pjotr, von seinem Dozententisch aus, rief zurück: „Sitzen, auf Hocker, ist okay.“ Er erhob sich und drängelte sich durch den Pulk von Studenten nach vorn. „Kannst du drehen ein wenig? Spannend ... ja?“

„Ich brauche eine gute halbe Stunde, etwa, vielleicht mehr. Eine schwere Pose kann ich nicht so lang halten.“ Das Aktmodell veränderte seine Haltung auf dem Stuhl, bis der Rücken eine deutliche Drehungen aufwies.

„Das nicht spannend“, bemängelte Pjotr. „Drehen noch etwas mehr!“ Das Aktmodell verdrehte sich noch ein Stück, dann legte er leicht den Kopf zurück – Pjotrs Lieblingshaltung, wie ich wusste, und tatsächlich klatschte dieser in die Hände und rief: „Ja! Perfekt! Phantastisch!“ Der kleine Mann lief zu Betriebsamkeit auf, wuselte zwischen den Studenten hindurch und rief sein: „Was ist? Modell ist da! Zeichnen, Leute, zeichnen!“

„Aber wir haben noch gar keinen Unterricht!“, maulte der Lockenkopf.

„Du hier. Modell da. Also: Zeichnen!“

Tatsächlich, und das mag wohl durchaus daran gelegen haben, dass in der Hauptsache Pjotrs Lieblingsschüler anwesend waren, hockten sich die Studenten auf die Stühle. Einige versuchten, sich die kleinen Klappgestelle heranzuziehen, die als Zeichenauflagen dienten. Aber es war viel zu voll dafür, die meisten hatten noch nicht einmal einen Sitzplatz. Und ich war froh darum, denn ich hasse diese Gestelle, die bei allen sich bietenden Gelegenheiten zusammenklappen und mit lautem Knallen auf den Boden krachen. Scharren und Rücken, Zeichenblöcke hervorkramen und Stifte sortieren. Nur langsam kam Ruhe in den Raum.

Das Aktmodell saß währenddessen in der verdreht sitzenden Stellung erstarrt und wartete. Als es still geworden war, erhob es die Stimme: „Wie gesagt, ich hatte gute Gründe, mir genau diesen Job auszusuchen. Aber Gründe zu haben, lassen einen noch lange nicht etwas Grundlegendes unternehmen und die Situation völlig umwerfen, in die man sich eingewöhnt hat.

Dazu braucht es einen Auslöser. Einen Augenöffner. Das Bewusstsein, dass ein Ausharren sehr viel mehr Schmerzen bedeutet, als ein Aufraffen und Ändern.“ Er machte eine rhetorische Pause, und tatsächlich: Ich bemerkte, dass die Studenten nicht nur zeichneten, sondern auch zunehmend gespannt zuhörten. „Zum Beispiel die Bedrohung des eigenen Lebens. Ich möchte als erstes von dem Erlebnis erzählen, das mich zwar noch nicht auf die Erkenntnis stoßen ließ, dass Aktsitzen mich retten könnte – mir aber die Augen öffnete. Oder, treffender gesagt, das mir die Lider von den Augen riss, so dass ich meinen Blick nicht mehr verschließen konnte.“

Etwas an dem Aktmodell veränderte sich. Ich sollte dies während dieser Stunden hier oben im Aktraum noch mehrfach erleben. Als Literaturwissenschaftler würde ich vielleicht den Vergleich wagen zwischen einem Vorwort zu einem Roman und dem Moment, in dem man die nächste Seite umschlägt und auf die ersten Zeilen der eigentlichen Geschichte blickt. Das Modell wurde, und das trotz seiner verdrehten Haltung und seiner Nacktheit, plötzlich zum Geschichtenerzähler. Und ich, der ich dies hier zu berichten mir vorgenommen habe, gehe nicht nur soweit, den Geschichten des Modells einen Titel zu überschreiben. Ich verzichte auch auf jeden Einwurf der Studenten, jede umfallende Staffelei und alles, was den Erzählfluss für Dich, verehrter Leser, stören könnte.

Euthanatus

Vielleicht erinnert ihr euch an Rhein in Flammen dieses Jahr, es war der erste warme Tag nach diesem kalten, langen Winter. Es gibt wohl keinen schöneren Ort hier in der Gegend als den Petershof, um einen solchen Frühjahrsabend zu genießen.

Ich saß auf der Terrasse, vor mir ein kühles Blondes, und führte meinen Blick über die Zinnen und Zacken des Drachenschlosses, den kariösen Zahn der Drachenburg und die steilen Klüfte des Drachenfelsens spazieren, als ein Schatten über Tisch und das kondensbeperlte Kölschglas fiel.Vor mir stand der Inbegriff des gutbürgerlichen Beamtentums im Ausflügler-Modus: Kurze Hosen, weiße Socken, Sandalen und kurzärmeliges Hemd, auf dem Kopf einen geflochtenen Sonnenhut und eine dieser unsäglichen Kunstledertaschen über die Schulter gehängt, wie sie in den Siebzigern in Mode gewesen sein mochten.

„Entschuldigen sie bitte, ist dieser Platz noch frei? Mir steht es fern, sie stören zu wollen, aber mir scheinen alle anderen Plätze belegt zu sein.“ Ich zuckte mit den Schultern, nickte und wandte mich wieder dem glitzernden Band des Rheins zu, wie er sich zwischen Bonn und Beul hindurch schlängelt. In den Auen ragte schon das Riesenrad empor, und ich freute mich auf den Einbruch der Dämmerung, wenn es im schwindenden Tageslicht in allen Farben erglühen würde.

„Ein herrliches Wetterchen“, kam von rechts. Etwas widerwillig wandte ich mich vom weit schweifenden Panorama ab und meinem Tischnachbarn zu. Er hatte den Strohhut abgenommen und wischte sich mit kariertem Taschentuch die Stirn. Er mochte Ende dreißig sein oder auch Mitte fünfzig, diese merkmalslose Allerweltsbeamtenmaske ließ beides zu, aber der spärlichen, farblosen Haarreste wegen nahm ich eher Letzteres an.

„In der Tat“, sagte ich möglichst lakonisch, denn wenn ich auf eines keine Lust verspürte, dann auf plattes Gerede über das Wetter. Er entschloss sich jedoch, das mit leutseligster Miene zu ignorieren und plapperte fort: „Gerade recht, um es sich an einem so schönen Ort bei einem Bierchen wohl sein zu lassen, nicht wahr? Und die Augen an Gottes wunderbarer Schöpfung zu weiden.“

„Lassen sie ihre Augen weiden, wenn sie Lust dazu verspüren.“ Der Ausflügler schaffte es, auch hier die Spitzen nicht zu bemerken und streckte mir eine säuberlichst manikürte Hand über den Tisch. „Krause“, sagte er. „Manfred Krause. Mein Name. Meine Freunde nennen mich Manni.“ Die Hand schwebte über dem Tisch zwischen uns, ich schaute sie an, und es verstrichen jene kostbaren Sekunden, in denen der andere die für beide Seiten dankbare Möglichkeit hat, zu begreifen, dass man kein Interesse hat und er ohne Peinlichkeit die Hand zurückziehen kann. Dann kommen die Sekunden, wo sich das Ganze mit exponentiell sich steigernder Peinlichkeit in Richtung grobe Unhöflichkeit bewegt, und dieser Kerl mit feinen Schweißperlen auf Stirn und Nasenrücken stand immer noch da mit seinem höflich biederen Lächeln voll unbedarfter Aufgeschlossenheit. Und kurz bevor die Sekunde kam, wo die grobe Unhöflichkeit sich in direkte Beleidigung verwandelte, gab ich soviel penetranter Liebenswürdigkeit nach und reichte meine Hand mit innerlichem Widerwillen herüber.

Die Hand war nicht die weich-schwammig verschwitzte Beamtenflosse, die ich erwartet hatte. Sie war ein trockener, rauer Schraubstock aus Sehnen. Für einen winzigen Moment schauten unter den buschigen Brauen zwei stechend grüngraue Augen hervor. Das fast debile Lächeln darunter veränderte sich jedoch nicht im Geringsten, mit der unschuldigsten Stimme nannte er meinen Namen, um ein harmloses „Nicht wahr? Sehr angenehm” hinterherzuschicken. Ich war ein wenig verstört, meine Hand schmerzte mich tatsächlich vom Händedruck, und ich war froh, als der Kellner kam und der Mann beim Bestellen auch ihn mit Betrachtungen über das schöne Wetter beglückte. Ich zog mein Notizbuch hervor, das ich immer bei mir habe, falls mich die Lust überkommt, eine Zeichnung zu machen. Ich heftete meinen Blick auf den Drachenfels und zog die erste Linie. Seit Monaten hatte ich nicht gezeichnet, und schon wollte ich dem komischen Herrn eine gewisse Dankbarkeit zollen. Immerhin brachte er mich zum Arbeiten, auch wenn ich das Buch nur aufgeschlagen hatte, um mich dahinter zu verschanzen. Aber da steckte er den Kopf schon neugierig zu mir hinüber und ich hörte den abgedroschensten Satz, den man bei solchen Gelegenheiten hören kann: „Sind sie Künstler? Wie schön!“ Ich seufzte innerlich und verfluchte die leutselige Penetranz dieser Rheinländer, die völlig unfähig waren, einen in Frieden zu lassen und die sich immer mit allen und jedem gemein machen müssen.

„Es gibt Leute, die es sich nicht verkneifen können, mir so etwas zu unterstellen“, gab ich zurück.

„Wie interessant. Dürfte ich vielleicht einmal sehen?“

Ich blickte auf die verlorene Linie auf dem weißen Papier, die mich nur zu sehr daran erinnerte, wie lange ich nicht hatte arbeiten können. Sie zog vage den Höhenzug hinter dem Drachenschloss nach und deutete die Krümmung des Flusses an. „Da ist noch nichts zu sehen“, sagte ich abweisend.

„Nicht so bescheiden“, ließ er nicht locker, und sein dümmlich-aufmunterndes Lächeln machte mich irgendwie wütend. Mir war danach, ihm zu sagen, was für eine lächerliche, armselige Person er war, dass er mich mit seinen aufdringlichen Annäherungsversuchen gefälligst in Ruhe lassen sollte, aber ich schluckte es hinunter. Wahrscheinlich würde ihn das ebenso wenig davon abhalten, mich mit seinen plumpen Plattheiten zu behelligen, wie meine Versuche, ihn einfach zu ignorieren. Ich klappte also mein Buch zu und blickte ihn an. Er setzte gerade sein Glas ab, auf der Oberlippe saß ein kleines Bärtchen Schaum, und natürlich gab er ein behagliches Seufzen von sich. „Wunderbar.“

Hinter dem verlängerten Glas-Penis der Telekom sank die Sonne als purpurroter Ball in die Stadt, vom Osten her kam das samtene Blau der Nacht mit dem Blinzeln der Venus. Ich atmete das aufgeregt-fröhliche Plaudern der Vorfreude auf die Nacht des Feuerwerks und versuchte, die Menschen zu lieben. Einschließlich penetranter Rheinländer in Tennissocken und Sandalen.

„Und, was machen sie so, wenn sie nicht ihren freien Tag genießen bei einem Bierchen auf dem Petersberg?“, fragte ich so freundlich-interessiert, wie ich nur heucheln konnte.

Er lächelte. Meine Frage schien ihn zu irgendwelchen amüsanten Betrachtungen zu animieren, denn es dauerte eine Weile, bis er schließlich gedehnt antwortete: „Nun, das ist nicht so einfach zu beantworten, aber vielleicht, ja, vielleicht käme man der Sache durchaus nahe, wenn man sagte, ich wäre in der ... Schädlingsbekämpfung tätig, ja, Schädlingsbekämpfung, das passt schon irgendwie.“

„Interessant“, sagte ich und hörte, dass es nicht nur in meinem Inneren wie das Gegenteil klang. Mir drängte sich das Bild auf, wie dieser Herr mit sauber manikürten Händen und fiesem Grinsen weißbekittelt vergiftete Köder auslegte und sich an der Vorstellung erwärmte, wie irgendwelche kleinen Nager sich unter Schmerzen krümmend langsam und qualvoll verreckten. „Ja, in der Tat, das ist eine sehr interessante Tätigkeit. Abwechslungsreich, nicht ungefährlich und, ja, ich würde mich nicht scheuen zu behaupten, dass ich – auf meine Art, verstehen sie – ja, dass ich durchaus eine Art Künstler bin.“

„Ah.“ Mehr brachte ich nicht heraus.

„Nun, sehen Sie, es ist eine Art Berufung. Aber ich möchte sie wirklich nicht langweilen.“

„Tun sie nicht“, kam es automatisch aus meinem Mund. Mein Blick ging den Rhein hinauf. Die Sonne war inzwischen untergegangen, die Dämmerung kroch schnell und blau über die sieben Berge, und unten im Tal, in den Rheinauen, begannen die Lichter des Jahrmarkts in den unterschiedlichsten Farben zu glühen.

„Kennen sie den Gemeinen Nörgler?“, fragte der Ausflügler. Auf der Terrasse war es schnell dunkel geworden, die Kerzen in den Windgläsern waren noch nicht entzündet.

Die Person mir gegenüber wirkte im Zwielicht anders. Wenn man kurzärmeliges Hemd und Tennissocken nicht direkt sah, fiel die drahtige, gespannte Figur des Mannes plötzlich ins Auge. Und das Gesicht, auf die notwendigsten Linien reduziert, bekam etwas Hartes, Markantes. Unter dem Dunkel der Hutkrempe konnten, das Bild wollte mich nicht loslassen, jene kalten, stechenden Augen liegen oder auch die weichlichen mit dümmlicher Liebenswürdigkeit.

„Gemeiner Nörgler?“, fragte ich und versuchte belustigt zu klingen. „Ist das Kammerjäger-Jargon für ein besonders lästiges Krabbeltier?“

„Gemein nicht im Sinne von hinterhältig oder böse, sondern klassisch wie bei der Gemeinen Kiefer oder dem Gemeinen Buchfink.“

„Nein, tut mir leid. Das sagt mir nichts.“

„Sie kennen sie bestimmt.“ Seine Stimme hatte, schien es mir, den fistelig-leutseligen Charakter verloren und klang tiefer, kraftvoller. Aber das mochte auch einfach an der Dunkelheit liegen.

„Möchten sie etwas trinken?“, kam plötzlich von hinter mir, und für einen Moment zuckte ich zusammen. Der Kellner beugte sich über den Tisch, eine Flamme sprang in seiner Hand auf, und er entzündete die Kerze. Krause verwandelte sich wieder in den Ottonormalverbraucher. Alle Bedrohlichkeit fiel von ihm ab.

„Kennen sie nicht diese Menschen, die sich nicht unterstehen können, an ihnen herum zu kritisieren? An allen möglichen Leuten zu kritteln und zu nörgeln?“

„Sicher, wer kennt die nicht?“

„Sehen Sie. Das machen viele Leute, und meistenteils sind sie schlimmstenfalls lästig. Aber es gibt welche darunter, die sind, nun, krasser.“ „Aha.“ „Ich rede von ... Macht.“ Der Kellner brachte die bestellten Kölsch, und während er sie auf den Tisch stellte, fragte ich mich, wovon dieser Krause mir eigentlich erzählte. „Lassen sie mich eine kleine Geschichte erzählen.“

„Nur zu.“ Ich blickte den Rhein Richtung Königswinter hinunter, mittlerweile war es völlig dunkel geworden, und bald würden sich die Schiffe den Fluss hinauf sammeln und das bengalische Feuer die Ufer zum Glühen bringen.

„Jede echte Berufung hat ihre Geschichte, und meine hat mit meinem Bruder zu tun. Ein Augenöffner, verstehen sie? Etwas, das den Blickwinkel verschiebt, und dann erkennen sie. Ich will ihnen nicht damit zur Last fallen, dass ich ihnen lang und breit erzähle, wie er alles, was ich anfing, alles, was ich tat, alles, wofür ich mich begeisterte, heruntermachen musste, für nichtig erklärte und mir beständig das Gefühl zu geben versuchte, ich sei ein Versager – unbedarft, eingebildet, unfähig ...“ Ich stöhnte innerlich auf. So einer, der herum psychologisierend seine eingebildeten Kindheitstraumata für die eigene Unfähigkeit verantwortlich machte. Ich versuchte, einfach die Punkt für Punkt über den silbernen Rand des Rheins aufblitzenden Sterne zu genießen und ihn reden zu lassen. „Ich will Ihnen nur von der Straßenbahn erzählen.“

„Der was?“

„Der Straßenbahn.“

„Ah.“

Der Große Bär erschien schief über der Drachenburg.

„Sehen sie, als mein Vater gestorben war, und natürlich ich – und ganz allein – Beerdigung und Nachlass hatte regeln müssen, während ich zugleich der einzige war, der meine Mutter aufrecht halten musste, damit sie sich nicht etwas antat, und das, verstehen sie, während ich mitten im Studienabschluss stand und meine eigene Welt in sich zusammen fiel – da ging ich wider besseren Wissens auf den Vorschlag des Bruders ein, die Mutter in seine Stadt zu holen. Die Familie wieder zusammen bringen, der freudespendende Enkel, er konnte sehr überzeugend sein, zumal – das war egoistisch, ja – ich nur zu froh bei dem Gedanken war, die Verantwortung für eine Zeit von den Schultern zu bekommen.

Stellen sie sich eine Frau vor, der gerade ihr ganzes Leben zu Staub zerfallen ist, alle Träume, alle Hoffnungen für die Zukunft. Im Inneren zerrissen und wund, ängstigt sie sich vor allem. Mit der Scheckkarte am Automaten Geld abzuholen wird unlösbares Problem, der Mann hat es ja stets getan, und sie steht zitternd vor dem unbekannten Apparat und ist voller Angst, einen unverzeihlichen Fehler zu machen. Sie ist verloren in einer fremden Stadt, wo sie keinen kennt, nur den Sohn ...“

„Ihren Bruder ...“, flocht ich ein. „Ich kann ihnen trotzdem nicht ganz folgen. Wollten sie nicht von einer Straßenbahn ...“

„Ja, natürlich. Verzeihen sie, ich schweife ab. Ohne erkennbaren Anlass begann mein Bruder, sie mit den unglaublichsten Vorwürfen zu quälen. Sie sei eine Rabenmutter, der ihre Kinder – entschuldigen sie den Ausdruck – scheißegal wären. Sie wäre gefühllos, kalt, ein berechnender Machtmensch, der alle unter seiner Knute haben wollte, eine, wie er es aus unerfindlichen Gründen nannte, Dragonerin ...“

„Straßenbahn?“

„Straßenbahn. Danke, es wühlt mich immer noch so auf, wenn ich davon erzähle.“ Mir lag der Kommentar auf der Zunge, dass er es doch dann einfach sein lassen möge.

„Die Straßenbahn führte er stets an – und mit stets meine ich jeden einzelnen Besuch und jedes verschissene – Entschuldigung – Telefonat, um seine völlig verqueren Vorwürfe zu untermauern.“

„Ich kann ihnen immer noch nicht folgen.“

„Sie hatte fast panische Angst davor, mit der Straßenbahn zu fahren. Vor dem Fahrkartenautomaten begann sie hektisch zu werden, zu zittern und verzweifelte daran, sich ein Ticket zu ziehen. Sie war noch nie mit den Öffentlichen gefahren, zumindest nicht in den letzten dreißig Jahren, und sie hatte noch nicht einmal eine vage Vorstellung von der neuen Stadt und wie sie wohin kommen sollte – und vergessen sie nicht ihren völlig labilen Zustand immer am Weinkrampf und der totalen Verzweiflung entlang.“

„Ja, das ist durchaus nachvollziehbar, aber ...“

„Sie fuhr deswegen nicht allein zu meinem Bruder. Und das war der Beweis, dass er ihr egal war, sie eine schlechte Mutter sei, erwartete, dass man sie von vorn und hinten bediente, sich nicht bemühte, herrschsüchtig sei, kein Herz habe ... und, und, und.“

„Und ihr Bruder ritt darauf herum wie ein Irrer. Verstehe. ihre Mutter muss schrecklich gelitten haben. Aber vielleicht kam ihr Bruder nicht mit seinem eigenen Schmerz klar ...“

Krause unterbrach mich. „Dann war ihr sechzigster Geburtstag. Ich war das halbe Tausend Kilometer gefahren, und am Abend rief mein Bruder an. Er könne nicht kommen ...“

„Vielleicht ist ihm etwas sehr wichtiges ...“

Unter dem Schirm des Sommerhutes hervor, im unsteten Kerzenflackern, glitzerte für einen Moment der grüngrau stechende, eiskalte Blick hervor und ließ mir das Wort im Halse stecken bleiben.

„Ja, was glauben sie, was seine Gründe waren? Sie scheinen ihn ja gut zu kennen.“ Er schwieg eine kleine Weile, als ob er auf eine Antwort wartete. Ich brachte nur ein „Entschuldigen sie bitte, fahren sie fort” hervor. Mir saß ein eigenartiger Kloß im Hals.

„Seine Lebensabschnittsgefährtin hätte das Auto, das war seine Begründung.“

„Vielleicht ...“

„Nein, nicht vielleicht. Er wohnte keine fünf Kilometer weit entfernt. Ach ja, und an seinem Rad wäre kein Licht. Ahnen Sie, welche Frage mir sofort über die Lippen kam?“

„Ich bin mir nicht ...“

„Warum er nicht einfach die Straßenbahn nimmt.“ Krauses Stimme war lauter geworden, und sie hatte nichts mehr vom kleinen, grauen Beamtenmäuschen. „Und wissen Sie, was er sagte? Er wüsste nicht, welche Bahnen führen, und ob es eine direkte Verbindung gäbe. Das wäre ihm zu stressig, er könnte doch am nächsten Morgen ... Ich sagte sehr leise und sehr deutlich und sehr kalt: ‚Du Arschloch.‘ Und ich fügte hinzu, dass, wenn er nicht in einer Stunde da sei, wir geschiedene Leute wären. Ich hängte auf und ignorierte alle weiteren Anrufversuche. Und als er dann tatsächlich kam, mit dem Rad, blieb ich im Gästezimmer, denn ich fürchtete zu Recht, dass es zum heftigsten Streit kommen würde, und ich wollte Mutter nicht den Geburtstag vollends zur Hölle machen.

Und dann ... dann hörte ich Geschrei aus dem Wohnzimmer. Das Brüllen meines Bruders, nur allzu bekannt, und dazwischen dann das, was mich meine Beherrschung verlieren ließ – das flehentliche, verweinte Rufen meiner Mutter: ‚Bitte, hör auf, ich kann nicht mehr!‘ Ich eilte ins Wohnzimmer und fand sie zusammengekauert im Sessel, die Arme schützend um ihre Mitte gekrallt, als fürchtete sie, zu zerreißen. Mein Bruder stand über ihr, in der einen Hand ein Sektglas, in der anderen eine Zigarette, und er schrie im für ihn typischen Stakkato auf sie ein, nein, er brüllte sie vielmehr zusammen: ‚Du bist ein selbstsüchtiger Mensch! Denkst nur an dich! Alle musst du beherrschen! Eine Dragonerin bist du, ja, das bist du. Eine Dragonerin. Deine Kinder sind dir scheißegal, du Rabenmutter! Und dein Enkel genauso, hast ja kein Herz! Das sieht man daran, dass du noch nicht einmal die kurze Strecke mit der Straßenbahn fährst, so wenig bedeuten wir dir!‘ An diesem Punkt entfuhr mir ein sarkastisches Lachen, und in meinem Bauch kochte eine Wut hoch, die ich nicht beschreiben kann. Verstehen sie, ich begriff in diesem Moment, was geschah. Was all die Jahre auch mir widerfuhr. Dieser Mensch quälte und zerstörte und verletzte, und das gerade bei dieser wehrlosen Person, und das mit Lust, mit Lust an der Macht. Wenn er jetzt aufgehört hätte, wenn mein böses, warnendes Lachen ihn zum Schweigen gebracht hätte, vielleicht hätte ich ihn nur mit Fußtritt aus der Wohnung befördert ...“

„Aber er hörte nicht auf?“

„Nein. Es wurde noch schlimmer. Er brachte etwas, das alles veränderte, und warum ich das alles ihnen erzählen musste.“

„Ich bin sehr gespannt, was er jetzt noch draufsetzen könnte.“ Ich war selbst erstaunt, aber der Mann hatte es tatsächlich geschafft, mich mit seiner Geschichte zu fesseln.

„Er brachte Vater ins Spiel. Er schrie, dass Mutter ihn unter der Knute gehalten und beherrscht hätte. Ihm alles genommen hätte, was er liebte. Dass sie ihm sein Mannsein vergällt und ihn zum bloßen Pantoffelhelden gemacht hätte. Und das – und das ist das Unglaubliche – dass sie ihn auf diese Weise unter die Erde brachte, verstehen sie? ‚Du bist schuld an Vaters Tod!‘, brüllte er ihr ins Gesicht.“ Krause nahm einen langen Schluck aus seinem Glas, drehte es eine Weile zwischen den Händen.

„Was haben sie getan?“

Er schaute hoch, seine Augen waren kalt und gelassen, und mit der ruhigsten, gleichgültigsten Stimme sagte er: „Ich habe ihn getötet.“