Die Höhle - Liebold Norman - E-Book

Die Höhle E-Book

Norman Liebold

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Beschreibung

Der Psychologie-Doktorand Manuel geht daran, die Phobien seiner Liebsten therapieren zu wollen. Er führt sie an den unheimlichsten Ort, den er kennt - die Ofenkaulen unter dem Petersberg, um sie, wie er wortreich ausführt, zu „desensibilisieren“. Doch was dort auf ihn wartet, sind seine eigenen Ängste, und er wird in einen Abgrund aus Grauen geschleudert, in dem er sich ihnen stellen muss. Tief unter dem Petersberg verschmilzt Liebold Psychoanalyse und uralte Mythen zu einem Horrorroman, der mit Urängsten ebenso spielt wie mit dem Leser. Und er nimmt den Leser mit auf eine Reise durch sich selbst.

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Seitenzahl: 160

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Norman Liebold

Die Höhle

Siebengebirgs-Horror

Illustriert von

Alexander Lebedev und Norman Liebold

Für Anke.

Danksagung

L‘enfer, c‘est les autres.

Jean-Paul Sartre

Authorisierte Ersterscheinung 2011.

Amator Veritas Buch Nr. IL
Titelfoto und Covergestaltung von N.Liebold.
Illustriert von Norman Liebold und Alexander Lebedev.
Copyright © 2011
Norman Liebold und Amator Veritas Verlag, Hennef.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und elektronische Medien, sowie der Übersetzung auch einzelner Teile.
ISBN-13 (Print): 978-3-937330-35-9

Steinbruch

Rückblickend würde Manuel sagen, dass es im Steinbruch begann. Als er mit aufgeschrammten Rippen an der Klippe hing und sich mit rasendem Herzen und keuchendem Atem in die Wurzeln des Holunderbusches krallte. In jenem Augenblick, als die Basaltsäule aus der Felswand kippte, um mit Getöse in den See zu stürzen. Während er an einer Hand über dem Wasser sieben Meter unter ihm hing und zuschaute, wie die Steinsäule in die Tiefe sank, brach irgendetwas in ihm auf. Vielleicht, weil er sich selbst in diesem Moment sah: unter dem Felsen, der ihn hinab in die kalten Fluten riss. Er erlebte, wie er er verzweifelt versuchte, sich unter ihm hervorzuwinden. Der Quecksilber-Spiegel der Wasseroberfläche schwebte immer schneller von ihm fort. Ringsum kroch die Dunkelheit heran: zuerst tiefblau, dann schwarz. Ihm ging der Atem aus und seltsame Bilder krochen aus seinem Unterbewusstsein. Schleimig-kalte Tentakel, die nach ihm griffen, große, schlangenartige Körper, die in der Tiefe an ihm vorbei zogen.

Aber er war nicht von der Basaltsäule mitgerissen worden. Er hatte sich nach vorn geworfen und die Wurzel des Hollerbusches zu fassen bekommen. Und auch wenn er mit den Rippen über die scharfen Kanten des Basalts gerutscht war, mehr als ein paar unangenehme Schrammen würde er kaum davon tragen. Er atmete tief durch und suchte mit den Zehen Halt. Seine Linke tastete nach einer Kante. Langsam, unter Stöhnen, zog er sich hoch. Als er den Sims erreicht hatte, rollte er sich auf den Rücken und atmete tief durch. Über ihm ragte die Wand aus regelmäßigen, achteckigen Säulen weitere zwanzig Meter auf, gekrönt von Buchen und Birken. Das Laub begann sich bereits zu verfärben, es war Ende September. Der Himmel glänzte in jenem gläsern-blassen Blau, das Manuel so am Herbst liebte.

Er wälzte sich auf die Seite.

Unter ihm streckte sich der kleine See; das Wasser war, wo die Herbstsonne hinein schien, von einer hellen türkisenen Farbe, im Schatten unter der Felswand von sattem Blau. Auf der anderen Seite, im hellen Sonnenlicht, ragte ein verwitterter Steg in das Türkis. Auf ihm saß Silvia, seine Liebste. Er sah ihre Haut hell zu ihm herüber glänzen und dachte daran, dass ihre Augen von derselben türkisgrünen Farbe waren wie das Wasser des Steinbruchs. Die Wut in seinem Bauch war verflogen und er sehnte sich in diesem Augenblick nur noch danach, bei ihr auf dem Steg zu liegen und seinen Kopf an ihrer Brust zu bergen. Die dunklen Bilder aus der Tiefe des Sees waren noch ihm; die Furcht saß in seiner Magengrube, und so irrational sie auch sein mochte und so sehr er auch wusste, dass sie grundlos war – es änderte nichts daran, dass sie von innen her nach seinem Herzen griff. Er stand auf und befühlte seine Rippen. Die scharfen Kanten des Basalts hatten drei große Schrammen hinterlassen, die sich wie von einer riesigen Pranke geschlagen über seine Seite zogen. Sie bluteten nur an einigen Stellen ganz leicht. Oberflächliche Aufschürfungen, mehr nicht.

Trotzdem war die ganze Aktion sowohl dämlich als auch albern gewesen: wie ein Besessener war er über den See geschwommen; nicht gemütlich, sondern die knapp einhunderfünfzig Meter mit wirbelnden Armen kraulend. Aus Wut, oder vielmehr, um die Wut loszuwerden. Und warum? Weil Silvia nicht ins Wasser wollte. Er betrachtete die Situation in der Erinnerung und verstand sich selbst nicht mehr so richtig. Er hatte ihr diesen versteckten See zeigen wollen, den er selbst durch Zufall entdeckt hatte. Ein Kleinod, ein türkisener Edelstein; eingefasst in dunkelgraue, von Moos überzogene Basaltwände, die senkrecht in das kristallklare Wasser hinab fielen. Einer dieser Orte, die nur märchenhaft genannt werden konnten: die unglaubliche Farbe des Wassers; die regelmäßigen, riesigen Säulen, die wirkten wie gigantische Kristalle. Silvia liebte solche Orte, und er hatte sich gefreut, als sie von ihrer sonst so schamhaften Art abgekommen war und sich mit ihm nackt auf den Steg in die Sonne gelegt hatte. Er schmeckte noch ihre Küsse, die leidenschaftlicher und tiefer waren an diesem verwunschenen Ort. Er hatte das Gefühl gehabt, lebendiger als sonst zu sein; die Wellen glitzerten, die Sonne und die Hände Silvias liebkosten seine Haut und ihm war die Lust gekommen, in diesen türkisenen Wassern zu schwimmen. Ihm war klar gewesen, dass die paar sonnigen Tage den Steinbruch höchstens oberflächlich aufgewärmt haben würden – aber es war ihm egal, als er sich kopfüber vom Steg hinein hechtete. Und, trotzdem empfindlich kalt, war es wunderbar. Ein wenig verrückt, aber genau darum nach Freiheit und Lebenslust schmeckend. „Komm rein!“, hatte er Silvia zugerufen.

Sie hatte auf dem Steg gesessen und irgendwie erschrocken ausgesehen, mit angezogenen Knien und darum geschlungenen Armen. In ihren türkisgrünen Augen war jene dunkle Tiefe, die ihn oft genug irritierte. „Nein“, hatte sie gesagt und damit das verrückt-frohe der Situation zerbrochen. „Ich habe Angst.“

„Wovor denn? Das Wasser ist gar nicht so kalt.“ Er hatte sich rücklings treiben lassen, und hier oben war das Wasser von den frühherbstlichen Sonnenstrahlen angenehm aufgeheizt. Sie hatte geschwiegen, und dann, sehr leise, gesagt: „Ich weiß nicht recht. Der See macht mir irgendwie ein komisches Gefühl. Er ist so tief ...“

Das war der Auslöser. In ihm machte sich etwas breit, dass alles mögliche an Gefühlen vermischte. Genervtheit vor allem, dass sie schon wieder mit ihren irrationalen Ängsten einen wildromantischen Moment zerstörte, der so schön hätte sein können. Was konnte es schöneres geben, als nackt im Herbst im türkisenen Wasser eines verzauberten Sees zu schwimmen? Enttäuschung, dass ihm dieses Erlebnis kaputt gemacht wurde, und – das konnte er jetzt vor sich selbst zugeben, mit zerschrammter Brust im Schatten unter der Felswand – weil sie damit etwas in ihm anrührte, vor dem er selbst Angst hatte. Der See war sehr tief. Er wusste selbst nicht, wie tief. Bei seinen Versuchen, bis zum Grund hinab zu tauchen, war ihm immer die Luft ausgegangen, ehe er den Boden auch nur sehen konnte – und er war ein sehr guter Taucher. Und manchmal, wenn er hier schwamm, wurde ihm unheimlich zumute, besonders, wenn ihn eine der kalten Strömungen traf. Er vermutete, dass es an der großen Tiefe lag und daran, dass der See immer zum Teil im Sonnenlicht und zum Teil im Schatten der Felswände lag. Jedenfalls gab es Ströme von kaltem Wasser, die einen unvermittelt trafen und erschrecken ließen. Die plötzlich Furcht weckten, dass etwas Riesenhaftes vorbei getaucht war. Etwas, das man nicht sehen konnte unter sich – von grotesken Formen und spitzen Zähnen oder mit langen, kaltschleimigen Fangarmen.

Das ging vielen so, das wusste Manuel. Vielleicht war das einer der Gründe, warum er sein Psychologie-Studium begonnen hatte. Die Ängste, wenn er in einem tiefen See schwamm; vor einer dunklen Höhle oder nachts mitten im Wald. Es hatte etwas mit Kontrolle zu tun. Genauer: mit Kontrollverlust. Man wusste nicht, was unter einem war, man konnte es nicht sehen mit dem Kopf über der spiegelnden Wasseroberfläche. Genauso, wie das Auge die Finsternis nicht durchdringen kann nachts im Wald oder in der Tiefe einer Höhle. Was der Augenmensch nicht sehen kann, entzieht sich seiner Kontrolle. Alles lauert dort, jede Inkarnation sämtlicher Ängste, die man je ausgestanden hat. Sie kommt mit geiferndem Maul herangeschlichen, aus der Tiefe von See oder Höhle emporgetaucht – und man weiß es noch nicht einmal, kann weder davonlaufen oder wegschwimmen, noch sich zur Verteidigung rüsten – ausgeliefert sein, eine Kontrolle über die Situation. Ein Spalt für das Unbewusste, das Verdrängte, Verschobene. Projektionsflächen. Genau wie alles Fremdartige – zu andersartig, als dass man es verstehen könnte, seine nächste Reaktion voraussehen. Wie Insekten in ihrer unübertroffenen Andersartigkeit. Oder Spinnen.

Man konnte den irrationalen Ängsten und Projektionen nachgeben. Bis sie unüberwindbare Phobien wurden. Oder sich ihnen stellen. Hindurchgehen. Immer wieder. Bis man gelernt hat, dass da keine Riesenkraken im Steinbruchsee des Siebengebirges lauern und, während man schwimmt, ihre Tentakeln tastend nach einem ausstrecken. Dass kein Ungeheuer aus der Höhle hervor gesprungen kommt, einen zu verschlingen, und kein wildes Raubtier hinter dem Baum in der Nacht. Die Angst blieb. Nicht mehr drängend, aber als Druck in den Eingeweiden, als mulmiges Gefühl. Aber sie beherrschte einen nicht mehr so sehr. Und jedes Mal weniger.

Silvia hingegen schaffte es, sie wieder in sein Bewusstsein treten zu lassen. Ihre Angst brachte längst beherrschte Ängste in ihm wieder zum Schwingen. Manuel war zu erfahren darin, sich selbst zu reflektieren, als dass er ihr die Schuld dafür gab.

Aber etwas in ihm war ihr dennoch böse darum. Und weil er seine eigene Angst nicht zugeben wollte, verkleidete sich das Gefühl in Genervtheit.

Wie er auf dem Felsensims stand und über das Wasser zu ihr hinüber schaute, wurde ihm mehr als jemals zuvor bewusst, dass er ihr helfen konnte und helfen musste. Und er war sich sogar klar darüber, dass er das nicht zuletzt seiner selbst Willen wollte. Soviel Ehrlichkeit musste sein.

Sein Blick streifte über den etwa zwei Meter breiten Absatz in der Felswand. Früher mochte hier ein Weg gewesen sein, auf dem die Arbeiter die gebrochenen Basaltsäulen abtransportiert hatten. Jetzt war er mit Gras bewachsen, kleinen Bäumen und Büschen. An der Abbruchkante wuchs eine Wegwarte, ihre Blüten waren so blau wie der herbstliche Himmel. Halb aus Versöhnungswillen, halb aus einem plötzlich unbändig in ihm aufkeimenden romantischen Gefühl heraus, ging er hin und pflückte eine besonders schöne Blüte. Ein Lächeln sprang ihm ins Gesicht. Er war über den See geschwommen, trotz der Monstren, war unter Lebensgefahr die Felswand hinauf geklettert, fast unter tonnenschwerem Fels begraben worden, und das alles, um seiner Liebsten die Blaue Blume aus dem Reich des Schattens zu holen. Er fand es selbst romantisch, umschloss die Wegwarte fest mit den Fingern und trat an den Felsabbruch, um hinunter ins Wasser zu springen und zurück zu schwimmen.

Als er hinunter schaute, kroch ihm die Angst erneut in die Eingeweide. Der Fels unter ihm fiel fast senkrecht sieben Meter auf das dunkle Wasser hinab, spitze Vorsprünge ragten hervor und weckten Bilder, wie er beim Absprung abrutschte, fiele und auf sie aufschlüge, um mit zerschmetterter Stirn und Blauer Blume in die Tiefe zu sinken. Die sieben Meter wirkten von hier oben wie zwanzig. Und auch wenn er sie zu unterdrücken versuchte, von tief drinnen kamen schemenhafte Bilder von seltsamen, riesigen Wesen, die da unten ihre Tentakel und Kiefer streckten. Er schloss kurz die Augen, erklärte sich selbst, wie albern seine Ängste wären, hielt sich vor, dass er schon häufiger von dieser Stelle in den See gesprungen war und spürte, wie sein Herz rasend gegen die Rippen klopfte und sein Atem schnell und flach ging. Dann, mit einem inneren Schrei, sprang er. Panik kochte in ihm hoch, während er fiel. Die Wasseroberfläche raste näher, und die grauenhaften Bilder überfluteten alles. Unbeschreibliche Angst vor dem Aufschlagen und Untertauchen dehnte die Zeit; ihm war, als hinge er für Minuten in der Schwebe. Dann traf das Wasser seiner Füße wie ein harter Schlag mit einem Brett. Die Kälte nahm ihm den Atem und für einen Moment glaubte er, sein Herz würde einfach aussetzen. Wild begann er nach oben zu rudern und sein Kopf durchbrach nach gefühlter Ewigkeit die Oberfläche. Er spürte den Stängel der Kornblume in seiner Hand, sah die glitzernde Fläche des Sees und den herbstblauen Himmel darüber, und ein Lachen brach aus ihm hervor. Er lachte seine Angst aus, denn er war lebendig und auf der anderen Seite wartete seine Liebste auf ihn. Er zwang sich, gleichmäßig und ruhig zu schwimmen. Aber jedes Mal, wenn eine der eigenartigen kalten Strömungen ihn traf, begann sein Herz zu rasen. Bilder überfielen ihn von Dingen, die unter ihm schwammen und jeden Moment zupacken würden. Als er am Steg ankam, setzte er ein fröhliches Gesicht auf, aber in seinem Inneren herrschte immer noch die irrationale Angst, dass im letzten Moment ein baumstarker, glitschiger Tentakel sich um seine Beine wickeln und ihn in die Tiefe zerren würde.

Seine Liebste saß mit angezogenen Knien und darum geschlungenen Armen auf dem Steg und starrte ins Glitzern des Sees. Sie drehte sich nicht zu ihm um, als er geräuschvoll auf den Steg kletterte. Die Erleichterung, auf dem Trockenen und der Angst im Wasser entronnen zu sein, machte Enttäuschung Platz. Er hatte es sich so schön vorgestellt, wie er mit Kornblume aus dem Wasser steigt und seiner Wunden auf den Rippen nicht achtend seinem Schatz die Blaue Blume reicht. Er hatte sich ihr Lächeln ausgemalt, das freudige Glitzern ihre grün-türkisenen Augen, die Umarmungen, den Kuss. Nicht wegen der Blume, aber weil sie die Geste erkannte, sah, dass er nicht mehr böse war und sich genauso wie er wünschte, dass alles wieder in Ordnung wäre.

Er griff sich sein Handtuch und rieb sich trocken. Sie saß weiter und starrte auf das Wasser hinaus. Kein Entgegenkommen. Wie immer. Wieder musste er nachgeben, und er war es so leid, dass sie ihn auf diese Weise zwang, zu Kreuze zu kriechen.

„Hab dir was mitgebracht von drüben“, sagte er mit beiläufigem Tonfall, als er hinter sie trat. Er ließ die Kornblume auf ihre Knie fallen. Silvia fing sie nicht auf, und sie rollte über ihren Arm, fiel auf die Kante des Stegs und schwankte einen Moment wie ein Waagbalken, ehe sie kippte und im Wasser landete. Silvia hatte sich die ganze Zeit nicht bewegt, und sie machte keine Anstalten, sein Geschenk aus dem See zu fischen. Ohne dass er sagen konnte, warum, fühlte er eine unendliche Verletzung. Die Blume wurde zum Sinnbild. Zum Sinnbild für seine Liebe, für alle seine Bemühungen, die genauso an ihr abglitten wie die fallende Blume. Wie viele Stunden hatte er verständnisvoll mit ihr geredet, sie im Arm gehalten, wenn sie wieder einmal hemmungslos weinte, von irgendwelchen Erinnerungen oder absurden Ängsten geschüttelt wurde oder schlicht an sich selbst verzweifelte.

„Es reicht! Mir reichts wirklich, Silvia!“, rief er lauter, als er gewollt hatte. Sie drehte sich langsam um. In ihren Augen schwamm eine tiefe Traurigkeit. Und auch ihre Stimme klang traurig. Traurig und ruhig. „Was reicht dir, Manuel?“, fragte sie.

Für einen Moment war er sprachlos und ihm wurde bewusst, wie lächerlich das Ganze war: Seine Wut darüber, dass sie nicht Ende September in einem kalten Steinbruch baden wollte; sein wildes Schwimmen; das gefährliche Hochklettern an der Steilwand; das Hinunterspringen in ein unbekanntes Gewässer aus sieben Metern Höhe und seine Reaktion darauf, dass die Kornblume ins Wasser gefallen war. Vielleicht war es Trotz, vielleicht Wut über sich selbst, vielleicht der Wille, einfach Recht zu behalten. Oder er fühlte sich bloßgestellt in seiner offensichtlich unangemessenen Reaktion. Jedenfalls quoll ihm im nächsten Augenblick alles mögliche über die Lippen: „Alles reicht mir, Sylvia! Deine Launen, deine absurden Ängste, dein Herumtrotzen. Mir reicht es, dass du immer schöne Momente kaputt machen musst! Ständig diskutieren wir über irgendwelche sinnlose Scheiße, du liegst stundenlang bei schönstem Wetter im Bett herum und suhlst dich in Selbstmitleid. Machst mir ständig Vorwürfe! Am laufenden Band machst du mir Vorwürfe!“ Silvia schwieg. Sie sah ihn nur traurig an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Und jetzt fang nicht wieder mit Heulen an! Ständig drückst du Tränen raus, wenn ich die Wahrheit sage! Das nennt man emotionale Erpressung, weißt du das? Du fängst an zu flennen, wenn es unbequem für dich wird, ich fühl’ mich scheiße und komm’ angekrochen und mache dir alles recht, nur damit du aufhörst mit weinen.“

Silvia sagte immer noch nichts, schaute einfach, und die Tränen rannen über ihre Wangen. Manuel fühlte eine seltsame Zwiegespaltenheit. Auf der einen Seite tat es ihm weh, sie weinen zu sehen. Er fühlte sich mies, dass er sie zum Weinen gebracht hatte, und er sah sich selbst, wie er immer weiter auf sie einredete und verbal regelrecht auf sie einschlug. Er wollte aufhören, die Zeit zurück drehen und anstatt wild über den See zu schwimmen aus dem Wasser klettern, um sie in den Arm zu nehmen. Auf der anderen Seite kamen all die Situationen der letzten Wochen in ihm hoch, all die Momente, wo ein schöner Tag, ein Besuch bei Freunden, ein Ausflug in Tränen und Streit und Schweigen geendet hatten, nur weil irgendetwas Nebensächliches dazwischen gekommen war. Eine dumme kleine Spinne, die Silvias Weg unverzeihlicher Weise gekreuzt hatte; etwas, das sie an irgend eine schlechte Sache aus der Vergangenheit erinnert hatte; ein nicht ganz geschickt gewähltes Wort. Oder eine seltsame Stimmung an irgend einem vielleicht etwas eigenartigen Ort. Wie hier im Steinbruch. „Guck dir doch an, wie das heute gelaufen ist! Es ist ein wunderschöner Tag, die Sonne scheint, und dieser Ort ist ein Traum. Wir sitzen nackt auf dem Steg, wir könnten uns küssen, zusammen schwimmen, Liebe machen – aber nein – du hockst da wie zehn Tage Regenwetter und starrst vor dich hin, keine Ahnung warum!“

„Manuel“, sagte Silvia leise. Ihre Wangen waren nass von Tränen, ihre Stimme klang verschluckt. „Bitte hör auf! Komm einfach her und nimm mich in den Arm!“