Gläserner Sarg - Norman Liebold - E-Book

Gläserner Sarg E-Book

Norman Liebold

0,0

Beschreibung

Liebolds Protagonist ist ein eigenwilliger Held: Ein manisch-depressiver Bauer mit einer Vorliebe für große Traktoren im Kampf mit dem allgewaltigen Überwachungsstaat hier und seinem eigenen Wahn dort. Eine doppelte Geschichte, die den Leser auf mehr als eine Gradwanderung führt. Was ist erschreckende Wirklichkeit, wo fängt Wahnsinn und Verschwörungstheorie an? Oder ist es ein und dasselbe? [.] Liebold beschreibt lebendige, glaubwürdige Charaktere, er bleibt nicht in enger Staatskritik und Polemiken stecken, sondern spiegelt auch sie noch einmal ironisch gebrochen – er polemisiert Polemik und ironisiert Ironie – und ist dabei erfrischend humorvoll. Neue Rheinische Zeitung

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 145

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Norman Liebold

Gläserner Sarg

Ein Siebengebirgs-Krimi

Vom Autor durchgesehene und überarbeitete 2. Auflage 2011.

(Ersterscheinung 2008.)
Amator Veritas Buch Nr. XLI
Titelfoto und Covergestaltung von N.Liebold.
Copyright © 2011
Norman Liebold und Amator Veritas Verlag, Hennef.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und elektronische Medien, sowie der Übersetzung auch einzelner Teile.

Widmung

Für Walter, der im Licht ebenso fest seinen Weg geht wie in finsterster Nacht – ein Philosoph, der aus dem Buch des Lebens schöpft und mich reich durch Wort und Sein beschenkt.

"The consciousness of being at war, and therefore in danger, makes the handing−over of all power to a small caste seem the natural, unavoidable condition of survival." 1984 by George Orwell

"No longer anonymous, but named, identified, the procession marched slowly on; on through an opening in the wall, slowly on into the Social Predestination Room." Brave New World by Aldous Huxley

"And some day we‘ll remember so much that we‘ll build the biggest goddam steam-shovel in history and dig the biggest grave of all time and shove war in and cover it up. Come on now, we‘re going to go build a mirror-factory first and put out nothing but mirrors for the next year and take a long look in them." Fahrenheit 541 by Ray Bradbury

Prolog

Wenn es heiß genug wird, verlieren Verbote ihre Bedeutung. Selbst in Deutschland. Wobei im Rheinland die dafür notwendige Temperatur gemeinhin etwas niedriger ausfällt als anderswo. Vielleicht liegt das in der alljährlichen Erfahrung, dass vor der Fastenzeit Anstandsregeln ebenso wie geschriebene und ungeschriebene Gesetze für einige Tage ausgehebelt werden können, ohne dass das Weltgefüge in sich zusammen oder der Himmel einem auf den Kopf fällt. Verordnungen jeglicher Art dürften infolge dessen hier auch den Rest des Jahres einige Schwierigkeit haben, sich für unumstößliche Naturgesetze zu verkaufen. Wie heiß es in anderen Regionen Deutschlands her gehen muss, damit Verbote ihr Gewicht verlieren, mag von Fall zu Fall verschieden sein. Im Rheinland – speziell im Siebengebirge – liegt die notwendige Temperatur bei ziemlich genau Zweiundreißig Komma fünf Grad Celsius im Schatten. Wobei nicht vergessen werden darf, dass die Sieben Berge von je her eine etwas heißere Gegend waren als andere. Nicht etwa, weil in ihren Klüften und Spalten einst der Lindwurm feuerspeiend umher kroch, den jung Siegfried erschlug. Nicht etwa, weil nicht weit davon entfernt die Alliierten mit dem Wunder von Remagen den Rhein überwanden und ein neues Kapitel der deutschen Geschichte begannen. Und ganz bestimmt nicht, weil direkt gegenüber jenes Provinzstädtchen vor sich hin träumt, das infolge des erwähnten Wunders von Remagen einundvierzig Jahre lang Hauptstadt genannt worden war. Sondern, weil es hier von Anfang an magmatisch heiß im Untergrund brodelte, um eruptiv lavasprotzend diesen ältesten Naturpark Deutschlands und um ein Haar kleinsten Nationalpark Europas in unzähligen Vulkanen und Vulkänchen auf der Schäl Sick1 empor zu pressen und das zu schaffen, was Alexander von Humboldt zu dem enthusiastischen Ausruf verführte, dieses Panorama sei das achte Weltwunder.

Eben diese unterirdisch härtesten Fels schmelzende Urkraft, die noch heute wie Siegfrieds Drache unter den Klüften und Spalten, Burgruinen und Rheinweinhängen brodelt und gärt und grummelt und zuweilen die Welt erbeben macht, ist es, die bereits die Römer dazu brachte, sich steinbrechend in die Flanken des Gebirges zu wühlen. Und auch das Mittelalter fraß seinen Trachyt für unzählige Burgen und Kirchen aus den Sieben Bergen – ebenso wie die Neuzeit mit noch unmäßigerem Appetit und effizienteren Maschinen. Erst als die Drachenburg samt Berg 1828 steinbruchunterhöhlt zu bröckeln begann, erklärte die Romantik der Profanität den Krieg und stellte sich schützend vor ihre geliebte Kulisse der Burgruine über nebelverhangenem Vater Rhein – und gewann vielleicht zum ersten und einzigen Male eine Schlacht in diesem speziellen Krieg: 1922 Erklärung zum Naturschutzgebiet, 1930 das gänzliche Verbot jeglicher auf Gewinnung von Bodenschätzen gerichteten Tätigkeit.

Unzählige stillgelegte Steinbrüche liefen gluckernd voll grüngläsern kristallklaren Wassers. Zugleich sprossen – wie nicht anders denkbar in deutschen Landen – rings um diese wunderschönen, neu entstehenden Bergseen Wälder empor – Wälder von Schildern in bunten Farben mit vielen Ausrufungszeichen, auf denen in langen Listen vermerkt war, was man alles nicht durfte. Ein dankenswerter Umstand, der jenen, die der gern benutzten Lebensgefahr mit Gelassenheit zu begegnen verstehen, ein angenehm einsames Schwimmvergnügen zu verschaffen geeignet ist. Zumindest bis Zweiunddreißig Komma fünf Grad Celsius im Schatten, bei denen Ver- und Gebote im Rheinland ihre Gültigkeit ebenso verlieren wie Verhaltenskodizes vor dem großen Fasten.

Bei genauerem Betrachten wäre es daher durchaus richtig anzunehmen, dass nicht nur der rheinische Karneval, Römer und Romantik, Drachen und Trachyt, sondern – neben der Entstehung der Naturschutzgesetze – auch die Globale Erwärmung notwendige Ingredienzien für die Geschichte sind, die damit beginnt, dass Bauer Rowedder nackt in Germscheid fotografiert wird. Und die noch nicht ihren Höhepunkt erreicht haben wird, wenn derselbe Mann im Langen Eugen im Bestreben von Büro zu Büro hetzt, die United Nations bei der Rettung seines Vaterlandes um Hilfe zu bitten.

Denn hätte nicht Ende April die Temperatur jenen kritischen Punkt von Zweiundreißig Komma Fünf Grad Celsius im Schatten überstiegen, wäre die eingeimpft deutsche Achtung vor auf Schilder gemalten Verboten nicht ausgehebelt worden. Und Bauer Rowedder, der mit seinem Traktor zumSteinbruch im Dachsberg gerattert war, hätte nicht ungläubig auf einen bis auf den letzten Zentimeter mit Bonner Blech zugerammelten Parkplatz gestarrt, während er selbst über das Gedröhn des Motors hinweg die ausgelassenen Stimmen der Planschenden hörte. Möglicherweise wäre Bauer Rowedders Gemütszustand nicht mit jedem weiterem Steinbruch gereizter geworden, vor dem sich Bonner Blech in schier unmöglichen Mengen häufte, und dessen als Badestrand nutzbare Fläche aus einer kompakten Masse weißlichen Städterfleisches bestand, das aprilhaft schwitzend dem ersten Sonnenbrand des Jahres entgegen brutzelte.

So gereizt schließlich, dass ein vielleicht im Grunde harmloser Vorfall die latente Hypomanie übergangslos in eine ausgeprägt manische Phase seiner bipolaren Störung umkippen lassen konnte.

Aber zäumen wir das Pferd nicht von hinten auf, sondern fangen besser vorn damit an. Zumal, wie erwähnt, Bauer Rowedder gar nicht auf einem Ackergaul unterwegs war, sondern mit nicht weniger als dreihundertdreißig davon auf seinem Dieselross.

Erstes Kapitel

Bauer Rowedder ließ den Motor aufröhren – bei einem Fendt 933 Vario ein ziemlich beeindruckendes Geräusch –, setzte rückwärts wieder auf die Landstraße 272 und bretterte mit Höchstgeschwindigkeit Richtung Germscheid. Sechzig Stundenkilometer klingen nicht nach viel, aber zehn Tonnen auf mannshohen Rädern wirken einfach anders, zumal, wenn sie mit der Stimme von dreihundertdreißig Pferden röhren. Die ängstlich-großäugigen Gesichter in den entgegenkommenden PKW, die er aus seiner dreipunktluftgefederten, vollklimatisierten Kabine drei Meter höher gut sehen konnte, sprachen für sich. Und während es durchaus Dinge gab, die er sehr bereute, wenn er sie während einer manischen Phase getan oder gekauft hatte – den Fendt nie, egal, was die Ilse zuweilen an Bemerkungen fallen ließ. Zum Beispiel, dass für seine Felder auch hundertzwanzig Pferdestärken mehr als ausreichend gewesen wären, und dass vielleicht eine klimatisierte Kabine mit Dreipunktluftfederung in seinem Alter irgendwie zu verstehen sei, aber weder der verchromte Haubenkopf, noch die Lackierung in Schwarz und Silber.

Er schoss als dreihundertdreißig Pferde starkes schwarzsilbernes Acker-Raubtier bei Stockhausen aus dem Wald und röhrte den langen, geraden Straßenabschnitt bis zum Eudenbacher Flugplatz entlang.

Und stutzte.

Auf dem Gelände stand eine große Passagiermaschine. Ein Airbus, wie es schien, auch wenn Bauer Rowedder trotz Technikbegeisterung den Typ nicht feststellen konnte. Die Triebwerke wirkten eigenartig, und besonders das Heck sah aus wie eine sehr unangenehme Unterarmfraktur. Er schüttelte über den Anblick den Kopf, denn die Maschine wirkte ungefähr so fehl am Platz wie ein ausgewachsener Karpfen in einem Goldfischglas. Bauer Rowedder bezweifelte, dass eine solche Düsenmaschine hier überhaupt starten konnte – das Rollfeld war weder asphaltiert noch mit Beton befestigt und konnte nicht länger sein als tausend Meter. Vielleicht konnte hier eine Transall starten – die brauchte, erinnerte er sich an seine Militärzeit in den Sechzigern, gerade mal 650 Meter Piste.

Er drosselte die Geschwindigkeit, schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und starrte zum Flugplatz hinüber. Sollte ihn doch der Teufel! Das Ding war eine Transall, und zwar eine richtig alte, eine C-160 der alten Generation – die hatte noch nicht die dickeren Flügel. Hinter dem aufragenden Technik-Monster konnte er die Gebäude des Bundeswehr-Depots erkennen. Eine dieser Einrichtungen, die so hartnäckig waren wie eine Geschlechtskrankheit: Hatten sie sich einmal in eine Landschaft eingenistet, konnte man sie noch nicht einmal wegsprengen, ohne dass etwas nachwuchs. Er wusste, dass der harmlose Segel- und Sportflugplatz heute noch genauso militärisch genutzt wurde wie im letzten Krieg, als die Bomber mit Kurs auf die Brücke von Remagen von hier gestartet waren. Und wenn die alten Munitionsbunker neunzehnfünfundvierzig auch gesprengt worden waren – wer wusste schon, was die Herren Geheimniskrämer für Raketensilos, Bunker und Depots wie durchgeknallte Maulwürfe unter seine Äcker gewühlt hatten?

Vielleicht, überlegte er, war diese Geschichte mit dem Abschuss von Terror-Flugzeugen doch noch nicht vom Tisch, egal, was das Verfassungsgericht beschlossen hatte. Er erinnerte sich noch gut an die Berichte im Radio, als er letztes Jahr den Weizen einfuhr. Er kratzte sich das weißstoppelige Kinn. Klar, das wäre typisch: einfach unter dem Tisch weiter machen. Schade, dass er seinen Feldstecher nicht dabei hatte – er hätte schwören können, dass die Düsentriebwerke reine Attrappe waren, um die Motoren der Transall-Propeller herum gebaut. Es fiel erst beim zweiten Blick auf, dass die Tragflächen viel höher als beim Airbus ansetzten: Offenbar hatte man oben auf die gesamte Länge des Rumpfes etwas aufgesetzt. Deswegen wirkte das Heck auch so seltsam verrenkt.

„Wahrscheinlich wollen unsere Krieger den Abschuss von Passagierflugzeugen trainieren“, murmelte Bauer Rowedder sarkastisch, als er sein Dieselross schnaubend anfahren ließ. Was interessierten schließlich Krieger schon Grundgesetze, Urteile des Verfassungsgerichts oder gar philosophische Trolley-Probleme? „Für das realistischere Gefühl baut man halt eine Transall um. Damit sie wie ein Airbus aussieht, wenn man auf sie ballert.“

Er schüttelte den Kopf. Das war fast so schön wie die Zielsimulationshalle aus dem Schwarzbuch. Aber ihm klebte der Schweiß am Körper, und er wollte sich nichts als den Staub abwaschen. Schlimm genug, dass man bei der Aussaat des Sommerweizens so schweiß- und staubverklebt war, als würde man ihn im Hochsommer einfahren. Er behielt die umgebaute Transall im Auge, während er am Rand des Flugplatzes entlang fuhr und nahm sich vor, die nächsten Tage immer mal wieder vorbei zu schauen, was damit wurde. Hinter Rauenhahn schlängelte er sich den Berg hinunter und nahm rechterhand die schmale Straße an der Bennauer Mühle vorbei.

***

Wenn alle bekannten Steinbrüche wie etwa der Dornheckensee gnadenlos mit Städtern verstopft und selbst weniger bekannte wie der Dachsberg an ein Freibad bei Hitzefrei erinnern, bleiben dem Einheimischen nur noch, was man gerne als Geheimtipps bezeichnet. Und wenn selbst diese Geheimtipps bis oben hin mit kreischender Dorfjugend angefüllt sind, bleibt nur noch etwas wie der Steinbruch bei Bennau. Wobei dieser Steinbruch nicht schlechter ist als andere, nur – versteckter. Bennau hat es nie bis zu einem gelben Ortseingangsschild, sondern nur zu einem grünen Ortshinweisschild gebracht, wobei Stimmen nicht ganz von der Hand zu weisen sind, ob selbst das nicht bereits reichlich übertrieben sei.

Bauer Rowedder fuhr in einem weiten Halbbogen um den bewaldeten Hügel herum, in dem der Steinbruch verborgen lag. Die Straße war von der Art, dass ihre Benutzer stillschweigend das Risiko eingingen, den einen oder anderen Kilometer im Rückwärtsgang wieder zurückzufahren, wenn ein Fahrzeug entgegen kam. Nicht, dass das ihn und seinen Fendt kümmerte – bei mehr als einem halben Meter Bodenfreiheit ist es reine Höflichkeit, überhaupt eine Straße zu benutzen, anstatt einfach in gerader Linie quer über Äcker und Weiden zu heizen. Hinter dem grünen Schild von Bennau wand er sich zwischen der Handvoll Häuser hindurch, bog von der Basalt- auf die Steinstraße und rumpelte den unbefestigten Weg ein paar hundert Meter hinunter. Zufrieden nickte er an der rot-weiß gestreiften Schranke, die das Ende des Weges bezeichnete. Zwar hatte sich auch hier Bonner Blech her verirrt, aber es waren nur zwei Kleinwagen. Er stellte den Fendt dahinter und griff sich sein Buch von der Ablage – 1984 von George Orwell.

Ein Blick durch die Scheiben der Autos zeigte gebatikte Tücher über den Sitzen, Traumfänger am Rückspiegel, zwei indische Tabla-Trommeln auf der Rückbank und bei dem einen ein faustgroßer Kristall dort, wo sonst die Christopheros-Plakette klebte. Mit esoterisch angehauchten Ökos konnte er durchaus leben – sie mochten gerne und oft auch viel zu viel reden, aber sie hatten vernünftige Ansichten über Ackerbau und bezahlten gut, wenn sie auf den Hof einkaufen kamen. Und es war amüsant zuzuschauen, wie sie mit begeisterten Mienen ihre Eier selbst aus allen Ecken zusammen suchten und sich über jedes Huhn freuten, das versuchte, ihnen eierverteidigend die Augen auszuhacken.

Bennau und den Steinbruch hier als Arsch der Welt zu bezeichnen, wäre geschmeichelt gewesen. Nichtsdestotrotz prangte an jedem zweiten Baum irgendein rot umrandetes Schild. Und die Dichte nahm noch zu, während er sich auf dem Trampelpfad dem Steinbruch näherte.

Der Boden war mit einem dichten Teppich weiß blühender Buschwindröschen überzogen. Auch der Wald stand in weißer Blüte: Wohl wegen der unmöglichen Hitze hatten die Robinien ihre Blütentrauben schon jetzt duftend in den Wind gehangen. Dazwischen glitzerte türkisblau lockend das Wasser des Steinbruchs. Von unten kam glockenhelles Lachen. Bauer Rowedder schwamm durch Blüten und Düfte und fühlte sich wie ein junger Faun, der nach Nymphen jagt. Vorsichtig kletterte er den steilen Pfad zum Wasser hinunter. Als er unten ankam, blickten ihm vier Paar große Augen entgegen. Braun, Blau, Wasserhell und Jadegrün. Auf dem Boden war ein bunter Quilt ausgebreitet, auf vier Häufchen lagen Kleider und Blusen aus Leinen in Naturfarben. Die Mädchen waren nackt und versuchten mit zu wenig Händen zu viele sehenswerte Stellen zu verbergen. Er lächelte und bedeckte nicht ohne schelmischen Humor die Augen mit der Hand, bis sie sich ein paar Stofffetzen geangelt hatten. Vorsichtig wurde zurück gelächelt.

„Es ist ein guter Tag“, befand er, „wenn ein alternder Faun sich den Staub vom Weizenfeld abspülen geht und vier Nymphen überrascht, die so bezaubernd lächeln können.“ Die Mädchen lachten ihr glockenhelles Lachen, die Angst war aus den Augen verschwunden. „Ich will nur eine Runde schwimmen“, erklärte Bauer Rowedder, um ihnen auch die letzte Sorge zu nehmen, er könnte der Steinbruch-Besitzer oder ein Ordnungshüter sein. Mit einem inneren Lächeln quittierte er, dass seine Stimme einen halb rauen, halb dunkel-samtigen Tonfall angenommen hatte. Ganz so alt, wie er sich an manchen Tagen fühlte, war er offenbar doch noch nicht, und wenn er ehrlich war: Er machte noch etwas her, trotz weißer Haare. Die Arbeit auf dem Feld hatte seine Muskeln nicht eintrocknen lassen, und die stahlblauen Augen hatten seinerzeit so manches Herz schneller schlagen gemacht. Er schüttelte den Kopf: Die Mädchen waren höchstens zwanzig, und er war kein ewigjunger Wald- und Wiesengott mit Bocksfüßen und Dauerständer. Diese elenden Tabletten verdarben in dieser Hinsicht jede falsche Hoffnung. Er grinste schief. Trotzdem: Es war ein guter Tag. Ein bisschen ästhetischen Genuss gönnte ihm der Alte Herr da oben offensichtlich doch noch. Mit höflicher Verbeugung erklärte er, eine Badebucht weiter sich ergehen zu wollen, wenn es die holden Waldfeen nicht störe. Die Mädchen lachten, und Bauer Rowedder kletterte den schmalen Steig weiter, bis er an eine winzige Badebucht kam, gerade groß genug, um sein Badetuch auszubreiten.

Mochte es im April auch zweiundreißig Komma fünf Grad Celsius im Schatten werden – das tief reichende Wasser in diesem Kessel mit steilen Wänden verhielt sich ganz so, wie es Wasser im April nun einmal tut – Bauer Rowedder sog scharf die Luft ein, als er hinein stieg, so kalt war es. Er ließ sich natürlich nichts anmerken – immerhin lagerten die vier Nymphen hundert Meter weiter –, und als er schließlich eingetaucht war und mit weiten Schwimmzügen seine Kreise zog, war es herrlich. Das leicht schmerzhafte Brennen der Kälte auf seiner Haut ließ ihn den stickigen Staub der Feldarbeit vergessen, die raumgreifenden Bewegungen lösten die Spannungen in Rücken und Schultern, die nach zehn Stunden auf dem Trecker schmerzhaft wurden – dreipunktluftgefederte Kabine hin oder her. Nach einigen Bahnen drehte er sich auf den Rücken, ließ sich von den Wellen treiben und schaute in den schon unverschämt blauen Himmel. Am Ufer spielte eine der Nymphen Flöte, eine andere trommelte mit scheuer Zurückhaltung einen leisen Rhythmus, die dritte – Bauer Rowedder lächelte angerührt und fühlte sich beschenkt – hob einen feinen, silberhellen Gesang an. Vielleicht war er doch ein Wald- und Wiesengott, jedenfalls fühlte er sich so, wie er hier draußen auf den Wassern trieb – über sich den Himmel, unter sich kristallklares Wasser und mit Gesang und Flötenspiel verwöhnt. Als es arg zu kalt wurde, schwamm er langsam zurück, setzte sich auf das Badetuch und griff nach seinem Lesestoff. Freilich war dieses düstere Buch gar nichts für so einen Feierabend, nackt an einem türkisenen Waldsee mit blühenden Robinien und musizierenden Ökonymphen, aber sein Sohn hatte es ihm ans Herz gelegt. Er wusste, dass Thomas stolz darauf war, dass sich sein Vater – über sechzig und Bauer – mit politischen und gesellschaftlichen Themen beschäftigte und viel las – und das trotz seiner Krankheit. Und vielleicht war es sogar der denkbar beste Moment, es zu lesen: Der strahlende Sonnenschein, das saubere Wasser, die musizierenden jungen Menschen voll Lebenskraft. Das schuf ein gutes Gegengewicht, wenn das Buch zu deprimierend sein sollte.

„Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen gerade dreizehn“,2 las er und folgte Winston Smith durch das nach Kohl und nassen Fußmatten riechende Treppenhaus. Bauer Rowedder fand es sympathisch, dass Winston über dem rechten Fußknöchel dicke Krampfaderknoten hatte und die sieben Treppen zu seiner Wohnung langsam und mit Pausen gehen musste.3