Eckstein - Norman Liebold - E-Book

Eckstein E-Book

Norman Liebold

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Beschreibung

Eine Welt aus Tod und Irrsinn, destilliert und komprimiert im Abschiebeheim. Die heile Welt zerbricht, ein junger Mann steht vor Dingen, die aus schlechten Horrorfilmen zu stammen scheinen, Zombies, Wahnsinnige, Sterbende und Siechende überall. Die Liebgewordenen gehen schneller, als sie kennengelernt werden können, ihr Geist erlischt oder wird ausgeblasen. Abseits des Jugendwahns versucht Jan sich seinen Verstand und Lebenswillen zu erhalten und das gute Herz. Aber auch Lichtblicke, Momente der Schönheit erlebt er. Schonungslos und brilliant beschrieben schleudert Liebold dem Leser entgegen, was er gerne verdrängt, beschreibt Menschen mit Herzblut und Feingefühl, ohne in Sentimentalität abzugleiten und ohne polemisch zu werden - eine Geschichte, die leider nur zu wahr ist, denn sie beruht auf tatsächlichen Erfahrungen, die hier zu einer spannenden und aufrüttelnden Novelle geschmiedet werden. Nach wahren Begebenheiten, Namen und Orte wurden verändert und die Geschehnisse erzähltechnisch in den Fluß der Geschichte eingearbeitet.

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Norman Liebold

Eckstein

Novelle

AMATOR VERITAS

Digitale Version der Erstausgabe 2004.

Amator Veritas Buch Nr. XXXV
Copyright © 2004
Norman Liebold und Amator Veritas Verlag, Hennef.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und elektronische Medien, sowie der Übersetzung auch einzelner Teile.
ISBN-13 (Print): 978-3-937330-15-0

„Eckstein, Eckstein - alles muß versteckt sein! Hinter mir, neben mir, vor mir, da gilt es nicht – Eins, zwei, drei - ich komme!“ Kinderreim, Nachkriegszeit

eins...

J A N kroch auf seinem klappernden Drahtesel den langgestreckten Berg hinter dem Bahnhof hinauf und rang mit sich, einfach abzusteigen, die Lunge gab bereits pfeifende Geräusche von sich. Die Pedalen gaben nur widerwillig nach, und jedesmal in wenig widerwilliger.

Zu Fuß wäre er wahrscheinlich genauso schnell, wenn nicht schneller gewesen, aber sein Stolz verbot ihm abzusteigen. Wenn er abstiege, haßte er sich selbst, das wußte er. Wenn er aber den Berg schaffte, wäre ihm zwar schwindelig und er hätte bunte Sternchen vor den Augen, aber während des langen Rollens auf Steinebrück zu würde er grinsen.

Er hätte die Eckstein sein lassen sollen: Wenn er auch schlecht schlief seit einigen Monaten, am Morgen hatte er nach wie vor das Gefühl, den Tag packen und auf ihm reiten zu wollen. Nach der ersten Zigarette auf nüchternen Magen blieb davon nur noch das definitive Wissen übrig, wie der Tag verlaufen würde, und er rang jeden Morgen härter mit sich, einfach den Bus Linie Sieben oder Vierzehn zu nehmen, anstatt mit dem Rad zu fahren. Es machte nicht wirklich einen Unterschied: Das Ticket bezahlte das Heim. Aber wenn er mit dem Rad fuhr, hatte er wenigstens das Gefühl, noch lebendig zu sein.

Die Straße war, wie jeden Morgen um diese Zeit, menschenleer. Laternen gossen Licht auf den rissigen Asphalt, das in seinem Orange alles fremdartig erscheinen ließ. Jan kannte die Straße nur in dieser alptraumhaften Rostfarbe. Zwar war es war Juli, und wenn er zum Dienst fuhr, war es noch immer dunkel. Und zurück nahm er einen anderen Weg.

Das Ende des Berges kam in Sicht und der Ausblick auf die Himmelsröte über der Straße gab ihm Kraft. Mit zitternden Beinen trat er, den Lenker fest umfassend, stärker in die Pedalen und keuchte. Die Haare klebten kalt an der Stirn, Schweiß rann ihm am Rücken herab. Höchstens noch einhundert Meter, sagte er sich. Das Rad schwankte und hielt sich kaum im Gleichgewicht, so langsam fuhr es.

Eine Metapher auf sein Leben, ging es ihm durch den Kopf. Sein Zahnfleisch schmerzte vor Erschöpfung. Noch vierzehn Tage Dienst, den Urlaub und die Überstunden abgerechnet. Zwölf Monate hatte er hinter sich, aber wie diese letzten hundert Meter des Berges zogen sich die letzten Wochen in die Länge.

Diese Woche war er wenigstens nicht in der Geronto-Gruppe, sondern unten im Sozialen Dienst, das war ein Lichtblick. Er hatte drei Wochen Geronto[1] hinter sich, ganz abgesehen davon, daß die Mutter Oberin entdeckt zu haben meinte, daß er gut mit Extremsituationen umgehen konnte. Er hätte nicht die Zähne zusammenbeißen sollen.

Noch fünfzig Meter, das Zittern in den Beinen war zu einem dumpfen, schmerzhaft-tauben Gefühl geworden, auf das er nicht achtete: Der Schmerz im Zahnfleisch und die schwarzen Ränder, die sich von den Seiten her in sein Sichtfeld zogen, waren unangenehmer. Er könnte absteigen und mit wackeligen Beinen die letzten fünfzig Meter schieben, aber nein, er wollte nicht absteigen. Er wollte auch nicht sagen, daß er Alpträume hatte, kaum noch schlafen konnte und in seiner kleinen Mansarde sitzend plötzlich begann, unkontrolliert zu weinen.

Vierzehn Tage, was sollte es. Zuerst war er Einkaufen gefahren, ab und an ein Arztbesuch. Dann, damit er das auch kennenlernte, eine Woche in der Pflege. Er hätte es wie Christian machen sollen: Bei den Decubiti[2] auf den Boden oder besser noch quer übers Bett kotzen.

Die nächsten acht Wochen war er die Pflegestufen nach oben geklettert, bis zu denen, die sich die ganze Zeit bescheißen - im wörtlichen und im übertragenen Sinne - die eiternde Löcher im Leib hatten oder einfach völlig Lala waren. Dann meinte man, daß er eine Gabe hätte, mit Dementen und Verrückten umzugehen. Also Geronto.

Daß sein Gefühl, der Verstand würde sich langsam verabschieden, immer stärker wurde, sagte er natürlich nicht. Man lieh ihn sogar an das LKH[3] aus, als der Kollege dort krank wurde. Und seit zwei Wochen setzte man ihn mit Vorliebe an die Betten der Sterbenden. Besonders bei den Problemfällen.

Jan erreichte schweißüberströmt jenen Punkt des Berges, wo das Bewußtsein, ihn bezwungen zu haben, den unwiderstehlichen Zwang erzeugt, innezuhalten, sich umzuschauen und tief mit schmerzenden Lungen Luft zu holen.

Jener letzte Meter der Steigung, der, kennt man ihn nicht zu gut, dem Rad den letzten Schwung raubt, daß es stehenbleibt und langsam, unaufhaltsam, zur Seite kippt - es ist nicht mehr genug Kraft in den Beinen, um noch einmal in das Pedal zu treten, und völlig erschöpft schlägt man auf den Asphalt, noch nicht einmal mehr Willens, den Sturz aufzuhalten. Jan kannte den Punkt sehr gut, und er schaute vom Vorderrad hoch, um zu sehen, ob Grün war.

Kaum ein Wagen, Motorrad oder Fahrrad außer seinem eigenen schien sich je die enge, gewundene Straße hinaufzuquälen, und um diese Uhrzeit, halb sechs Uhr am Morgen, war auch die Hauptstraße spärlich befahren. Die Ampel schien so eingestellt, daß sie grundsätzlich Rot war und sich nur bequemte, auf Grün zu schalten, wenn ein Wagen auf dem schmalen Streifen davor stand. Diesem Streifen Asphalt, unter dem der auf Gewicht reagierende Mechanismus verborgen lag, und der für schwere Motorräder und Tonnen wiegende Automobile geeicht war, nicht auf Fliegengewichte wie Zivildienstleistende auf Fahrrädern, am Rande der Erschöpfung.

Die Ampel war rot. Wie immer.

Jan schlug den Lenker nach rechts ein, ruckte mit vor Erschöpfung gefühllosen Armen am Lenker, um das Vorderrad für einen Moment nach oben zu heben und den unverhältnismäßig hohen Bordstein zu nehmen und trat mit zusammen gebissenen Zähnen hart ins Pedal. Er rollte auf den Fußgängerweg und mit einem Gefühl der Verachtung an der Ampel vorbei. Wenn er an diesem letzten halben Meter anhalten müßte, würde er einfach mitsamt dem Rad umkippen und liegenbleiben.

Von der Hauptstraße her bog ein Pärchen um die Ecke.

Es war gänzlich in Schwarz gekleidet, selbst das Haar passend gefärbt. Die junge Frau wirkte wie ein Gespenst mit kalkbleich geschminkter Haut, aufgemalten Augenrändern, starkem Kajal und schwarzen Lippen. Nicht daß Jan keine Grufts kannte, bevor er den Dienst angetreten hatte, war ihm die Gothik-Szene sogar recht nahe gewesen, aber jetzt erschreckten ihn die zwei Gestalten im Dämmerlicht zutiefst, ohne daß er sagen konnte, warum.

Der Mann war an die zwei Meter hoch, jedoch weniger als einen halben breit, in dem engen schwarzen Lackoberteil stachen Schlüsselbein und Achsel und Rippe hervor, als wäre es nassverwesende Haut über bloßen Knochen, und im Gesicht war er weiß geschminkt mit schwarzen Augenhöhlen. Seine Dreadlocks wirkten wie verfilztes Totenhaar, die Kleider rochen wie der Schrank eines vergessenen Hauses.

„Paß doch auf!“ rief der hagere junge Mann und stieß Jan in die Schulter, als er um ein Haar, schweißbedeckt, keuchend und jetzt mit einem eklig flauen Gefühl von unmotivierter Furcht in sie hineinfuhr. Das Rad war fast stehengeblieben, und der Stoß ließ es unendlich langsam zur Seite kippen. Verzweifelt, mit tränennaher Wut trat Jan in das Pedal, aber er neigte sich immer mehr und hatte noch nicht einmal mehr die Kraft, die Arme auszustrecken, um seinen Sturz aufzufangen.

Er schlug lang hin, Schmerz zuckte von der Hüfte und vom rechten Unterschenkel bis in die Augen hinauf. Er lag unter dem Rad, über ihm der Himmel mit den letzten verblassenden Sternen und dem ersten bleichrosa Schimmer im Osten. Sein Herz dröhnte in den Ohren, und er hörte sich selber krampfhaft keuchen.

„Ist Dir was passiert?“ hörte er durch das rhythmische Dröhnen, wie aus weiter Ferne. Er schüttelte den Kopf und keuchte: „Alles okay, glaub ich.“ Unglaublich lang reckte sich schwarz der Körper des Mannes vor die letzten Sterne. Der Kopf wirkte unnatürlich klein am Ende des dürren Halses, das Gesicht wie ein trauriger Gott.

„Sorry, Mann, wollt ich nicht“, sagte der Riese zerknirscht und wurde wieder Mensch. Er war vielleicht achtzehn, neunzehn und sah schuldbewußt aus. Eine übergroße Hand an überlangem, viel zu dünnen Arm griff das Rad und hob es von Jan herunter, weiche, kleine Hände griffen unter seine Achsel und halfen ihm, aufzustehen. Seine Beine fühlten sich an, als wären die Knochen weich geworden. „Danke“, sagte er. „Tut mir leid, ich bin den ganzen Berg raufgefahren und konnte nicht mehr, hab Euch nicht gesehen.“

„Ist schon gut“, sagte der traurige Riese. „Wir sind supermüde, waren die ganze Nacht unterwegs, haben auch nicht aufgepaßt.“ Sie nickten sich zu, das Rad schien nach allgemeiner Begutachtung unbeschädigt zu sein, und Jan schob, bis der Berg begann, sich Steinebrück zuzusenken.

Er schaute in die Satteltasche und stellte erleichtert fest, daß die Flasche Eierlikör, die er für Herrn Ratner zu schmuggeln vorhatte, unversehrt war, bevor er sich mühsam, mit schmerzender Hüfte, auf das Rad hiefte, den rechten Fuß auf das Pedal setzte und trat. Langsam begann er zu rollen, und der Wind wehte das Dröhnen aus seinen Ohren, kühlte den Schweiß von seiner Haut, während der Berg ihn immer schneller nach unten zog.

Die Straßenlampen mischten sich mit dem glasigen Licht des heller werdenden Himmels, und das Gefühl des Nebensichstehens, das die fast völlige Erschöpfung mit sich brachte, wich langsam einer kleinen Freude an der frühen, sauberen Stunde, den leeren, frischen Straßen und dem Grün der Bäume, die die Straße säumten. Der kleine Berg bis zur Kreuzung war eigentlich mehr Lust, die Geschwindigkeit beizubehalten und bis zum Heim konnte er die letzten tausend Meter bequem rollen. Sein Dienst begann um sechs, er hatte noch zwanzig Minuten, um zu frühstücken und sein Fühlen mit zwei Zigaretten im Klosterpark möglichst weit nach unten zu drücken.

***

Die zwei Räume des Sozialen Dienstes[4] lagen gleich neben dem Zugang zum Klosterpark, der für Jan mehr und mehr zu einer Zuflucht geworden war, obwohl ihn streng genommen nur die Nonnen betreten durften. Er schloß auf, stellte sein Rad unter und ging hinüber. Er hatte keinen Appetit, fühlte den in der letzten Zeit immer stärker werdenen Drang, allein mit sich und seinen Gedanken zu sein.

Der Park war der einzige Ort auf dem Gelände, wo er wenigstens für eine kurze Zeit atmen zu können meinte: Drei riesige Kastanien überschatteten, auf einer großen Wiese stehend, einen kleinen Platz, auf dem eine Parkbank stand. Eine künstliche Grotte war hier aufgebaut worden, in dem eine hölzerne Maria in Weiß und Blau mit gefalteten Händen ihre Augen zum Himmel verdrehte. Vor ihr kniete, ebenfalls lebensgroß und händefaltend, eine Betende mit einer Kerze neben sich, die immer brannte. Eines dieser Öllichte, von rotem Plastik umgeben und mit einem Deckel aus gestanztem, mit Messing überzogenem Weißblech, wie sie von den Hinterbliebenen auf Gräbern aufgestellt werden.

Trotzdem der Park den Nonnen vorbehalten war, wandelte nur selten eine Schwester auf seinen Wegen. Es war ein Ort, wo man für ein oder zwei Zigarettenlängen allein sein konnte, besonders so früh am Morgen. Rechts ragte die Mauer der Kirche auf, wie der Rest des Heimes im Stil der Sechziger aus Beton gegossen, ganz ebene Flächen und schiefe Winkel. Ging die Sonne auf, glühte das Buntglasfenster für eine kurze Zeit in den kalten, bleiernen Farben, die man für es ausgewählt hatte, und der dämmrige Platz unter den Kastanien wurde von grauen und blauen Lichtflecken erhellt.

Jan rauchte eine Zigarette aus seiner Eckstein-Packung, die Marke, die als einzige noch stark genug war, das körperliche Schwächegefühl zu erzeugen. Wenig später zog er eine zweite aus der Packung und überlegte, danach noch eine dritte zu rauchen.

Punkt sechs hatte er in Gabriel zu sein, im dritten Stock. Die Station, die wie alle anderen den Namen eines Engels trug, hatte wie die anderen auch eine examinierte Schwester, aber während in Michael der lange, schnurgerade, in grünliches Neonlicht getauchte Flur mit den vielen Türen von schlurfenden, auf zittrigen Beinen ziellos wandernden Wesen mit leeren Augen bevölkert wurde, konnte in Gabrielniemand mehr über das graue Laminat irren, weder auf zittrigen, aber noch tragfähigen ausgedörrten Faltenbeinchen, noch mit Hilfe eines Gehrollators. Selbst die Rollstühle, die ruckend in Raphael auf dem Gang wie seltsame Käfer herumkrochen, waren hier nicht zu sehen. Der Gemeinschaftsraum, zwar wie jedes Zimmer in jedem Engel von der Endlosspule deutscher Schlager aus der Hausanlage berieselt, war stets leer, die Mattscheibe des Fernsehers verstaubt. In Gabriel lag man zu zweit in den Zimmern und starb sehr langsam. Siebundzwanzig Bewohner waren zumindest so glücklich, daß sie es nicht mehr bemerkten, aber die übrigen drei mußten nicht nur sich selbst dabei zuschauen, sondern voller Neid auf ihren Bettnachbarn herüberäugen, dessen Geist die Gnade erwiesen bekommen hatte, dem Körper vorausgegangen sein zu dürfen.

Jan zog tief auf Lunge, bis er nicht mehr einatmen konnte. Ein leichter Schwindel ergriff ihn und er spürte, wie er sich müde fühlte. Nicht dieses Gefühl der Müdigkeit nach einer langen Wanderung, wenn man voller Genuß aß und sich in seinen Schlafsack wickelte, um wie ein Stein zu schlafen, sondern diese Müdigkeit, die den ganzen Tag blieb und alles in einen grauen Schleier von Beliebigkeit senkte. Man hatte nicht mehr Kraft, als eben seine Pflicht zu tun und zögerte alles hinaus. Er empfand diese Unlust an allem, es war ihm egal, ob er noch eine halbe Stunde hier unter den Kastanien im ersten Morgenrot sitzen blieb und von Schwester Margot angeschissen wurde. Das war gut.

Jan war überzeugter Nichtraucher gewesen, als er seinen Dienst antrat. Irgendwann begann er, wie die Schwestern Lights zu rauchen, kam von Goulouses blondes zur blauen Packung derselben Marke, drehte eine Zeitlang Schwarzer Krauser, um zuletzt bei Eckstein zu landen. Jetzt nutzte er jede freie Minute, um möglichst viele Zigaretten in sich hineinzupumpen. „Ich geh grad eine rauchen.“ wurde akzeptiert zwischen zwei Aufgaben. „Ich geh grad mal einen Fünfminuten-Spaziergang machen, um den Kopf frei zu bekommen.“ erntete schiefe Blicke.

Er schaute auf die Uhr. Fünf vor Sechs. Eine würde er noch schaffen.

Ab und an wurde er für eine Woche dem Sozialen Dienst unterstellt, und es war ein wenig wie ein Atemholen.

Zwar war er von sechs bis neun nach wie vor auf der Pflege, da der Soziale Dienst erst um neun seine Arbeit aufnahm, und Mittags, um Vier und um Sechs ging er auch, nach wie vor, auf Gabriel, um zu füttern - Essen anreichen ermahnte ihn eine innere Stimme automatisch in seinem Kopf - aber dazwischen war es lediglich seine Aufgabe, zum Arzt zu begleiten, auf Ausflügen Rollis zu schieben und Zeitung vorzulesen. Und natürlich bei regelmäßigen Veranstaltungen des Sozialen Dienstes zu helfen: Sitztanz, Liederkreis und Gymnastikstunde. Er hörte das Fiepen seiner Armbanduhr, es war sechs, und er drückte die Zigarette aus, nachdem er einen tiefen Zug genommen hatte und verließ den Klosterpark.

***

Unter dem brückenartigen Gang, der über die Anlieferstraße hinüber in die Kirche führte, befand sich der Liefereingang, eine hohe, große Metalltür mit drahtdurchzogenem Glas, eine Tür, die die Mitarbeiter des Sozialen Dienstes gern benützten, lag er doch genau gegenüber ihren eigenen Räumen.

Auch die kleine Gerontogruppe, die zwar dement, aber noch körperlich vital war, kam jeden Morgen nach dem Frühstück hier hindurch, sie wurden im Raum neben dem Sozialen Dienst betreut. Die Tür mußte immer zweimal abgeschlossen werden, es war die einzige, die nicht durch einen Alarmgeber gesichert war. Jede andere Tür hatte einen roten Kasten unter der Klinke, den man zwar mit ein wenig Kraft problemlos beiseite drücken konnte, um im Falle eines Brandes nach draußen zu gelangen, der aber sogleich ein schrilles, fiependes Geräusch von sich gab und in der Pforte ein Signallämpchen angehen ließ.

Ohne Erlaubnis verließ kein Insasse das Heim. Jan schloß auf und trat in den langen, bis auf die Decke völlig weiß gefliesten, sehr breiten Gang. Etliche Wägelchen mit Edelstahlpfannen standen links an der Wand, denn rechts waren die Räume der Großküche untergebracht. Jan schloß hinter sich ab wandte sich nach links, wo eine Treppe hinauf zur Pforte führte. Hier konnte er den Fahrstuhl nach Gabrielnehmen.

Die Engel waren sinnreich verteilt: Im Erdgeschoß waren diejenigen untergebracht, die zuweilen aus eigener Kraft bis in die Cafeteria hinüberschlurften. Verfiel der Körper weiter, stiegen sie nicht nur in der Pflegestufe, sondern auch im Stockwerk. Wenn sie im letzten angekommen waren, gingen sie nirgendwo mehr hin außer, wie die durchgängig sehr katholischen Bewohner glaubten, ins oberste Stockwerk, das aber nichts mehr mit sechziger Jahre Betongußarchitektur zu tun hatte.

Der Gang mit grauen Laminat war leer, als die dunkelroten Fahrstuhltüren sich öffneten. Drei Türen auf der linken Seiten standen offen, und durch sie fiel ein wenig noch blasses Tageslicht in das schattenlos grünliche der Neonlampen. Als die Türen des Fahrstuhls sich saugend schlossen, schloß auch Jan kurz die Augen und atmete ein. Der Geruch von Medikamenten und Desinfektionsmitteln lag in der Luft. Drei Stunden, nicht mehr, sagte er sich, aber trotzdem fiel es ihm nicht leicht, den Gang hinüber zum Schwesternzimmer zu gehen.

„Guten Morgen, Schwester Agnieszka“, sagte er und lehnte sich in den Türrahmen. Die Schwester, die gerade Pillen und Tabletten in unterschiedlichsten Farben, Formen und Größen in die Tageskästchen sortierte, drehte sich um und lächelte. Sie sah müde aus, wahrscheinlich war sie seit gestern hier. In etwas gebrochenem Deutsch sagte sie beiläufig aufmunternd: „Auch schon auf den Beinen?“