Dichterbrand - Norman Liebold - E-Book

Dichterbrand E-Book

Norman Liebold

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Beschreibung

Hinter den Sieben Bergen verbrennt Schriftsteller Beckmann. „Mord im Siebengebirge“, „Detektiv deckt Regierungskomplott auf!“, „Hat der Überwachungsstaat seinen ärgsten Gegner ausgeschaltet?“ und „Bundeswehr-Assassine richten Überwachungs-Richie!“ lauten die Schlagzeilen, während Quirin Hundtemann hinter den Sieben Bergen ermittelt. Ein kauziger Privatdetektiv, liebevoll gezeichnete Charaktere, knisternde Spannung und eine gute Portion spitzzüngiger Humor machen Liebolds „Dichterbrand“ zu einem anspruchsvollen Lesevergnügen.

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Norman Liebold

Dichterbrand

Ein Siebengebirgs-Krimi

Illustriert von

Katharina Theine und Norman Liebold

Anmerkung

Der „Dichterbrand“ ist eine fiktive Geschichte, die an real existierenden Orten spielt. Ähnlichkeiten mit lebendigen oder toten Personen, Institutionen oder tatsächlichem geschehen sind rein zufällig und nicht intendiert.

Die Schauplätze sind das Siebengebirge, besonders das Örtchen Eudenbach mit dem Campingplatz Hülder, Oberpleis und Bonn.

Danksagung

Dieses Buch ist nur durch die vielfältige Hilfe vieler Menschen möglich geworden, die Korrektur gelesen, mich unterstützt und beraten haben. Ihnen allen sei herzlichst Dank gesagt.

Ganz besonderen Dank möchte ich Walter Hülder aussprechen, dem Betreiber des Campingplatzes in Eudenbach (www.camping-siebengebirge.de).

Nicht nur, dass er in den Jahren, wo ich auf dem Platz lebte, arbeitete und recherchierte, unendlich viel Geduld mit dem „Künstler“ hatte und insbesondere für die Recherchen am Dichterbrand eine unerschöpfliche Quelle an Informationen war, er wurde auch zu einem ganz besonders lieben Freund.

Ohne ihn gäbe es dieses Buch nicht.

Cineri gloria sero venit

(Marcus Valerius Martialis)

Vom Autor durchgesehene und überarbeitete 2. Auflage 2011.

(Ersterscheinung 2008.)
Amator Veritas Buch Nr. XLI
Titelfoto und Covergestaltung von N.Liebold.
Copyright © 2011
Norman Liebold und Amator Veritas Verlag, Hennef.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und elektronische Medien, sowie der Übersetzung auch einzelner Teile.

Erstes Kapitel

Es war ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt. Nicht, dass Quirin Hundtemann einen Hund besaß, aber er mochte diese Formulierung ausgesprochen gern. Vielleicht wegen seines Namens, vielleicht auch, weil er sie nicht so vulgär fand wie, zum Beispiel, Scheißwetter. Den ganzen Tag kam etwas aus den tiefhängenden, bleigrauen Wolken, das nicht ganz Regen war, aber schon wesentlich mehr als Niesel. Dazu entschied sich nicht nur novemberhaft dicker Nebel, aus sämtlichen verfügbaren Ritzen empor zu kriechen, auch die Nacht ergriff die Chance des wabernden Zwielichtes und brach bereits gegen fünfzehn Uhr herein. Schmuddelwetter hingegen war wiederum ein Wort, das Quirin recht angenehm fand – genau das richtige, um sich Sherlock Holmes aus dem Regal zu greifen, eine gigantische Kanne Tee zu kochen, die alte Petroleumfunzel statt des elektrischen Lichtes anzumachen und den kleinen Ofen anstatt der Zentralheizung. Ein Wetter, dazu geeignet, den großen grünen Ohrensessel und die Welt des neunzehnten Jahrhunderts zur Heimstatt der nächsten Stunden zu erklären. In Geschichten mochte genau so ein Wetter der Beginn einer unheimlichen oder kriminalistischen Geschichte sein, im wirklichen Leben, insbesondere in diesem Herbst, war es nichts mehr und nichts weniger als die Vorfreude auf einen in Decken verkuschelten Leseabend. Vielleicht, ging es Quirin durch den Sinn, der erste entspannte Abend dieser Art seit anderthalb Jahren.

Der Wasserkocher begann bereits, leise brodelnd Geräusche von sich zu geben, die Kanne stand mit wohlgefülltem Teesieb auf der Anrichte, und Quirin ging langsam zur Telefonbuchse. Wenn er sich ins London des neunzehnten Jahrhunderts versetzen wollte, dann richtig. Aber – es war fast ein wenig unheimlich – das Telefon klingelte genau in dem Moment, als er den Stecker herausziehen wollte. Er überlegte einen kurzen Moment, ob er den Anruf einfach ignorieren sollte, aber so etwas hatte er noch nie gut gekonnt.

„Quirin Hundtemann. Hallo?“

Am anderen Ende war die Stimme einer älteren Frau, und sie war hörbar aufgeregt. „Hallo?“, rief sie viel zu laut aus dem Hörer. „Detektei Quirin Hundtemann?“

Quirin brauchte eine Weile, ehe er mit einem zögerlichen „Ja?“ antwortete. Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. „Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Mein Sohn …“, begann die Stimme am anderen Ende und erstickte.

„Was ist mit Ihrem Sohn?“ Quirin war äußerst unheimlich zumute: Die Frau am anderen Ende weinte, und das herzzerreißend. Gutes verhieß das gewiss nicht.

Erstickt, vom anderen Ende: „Er ist tot!“

„Hören Sie, ich finde, also wissen Sie, meinen Sie nicht, dass das das eine Sache für die Polizei …“

„… die Polizei sagt, es wäre ein Unfall. Oder Selbstmord“, sagte die Stimme am anderen Ende. „Aber ich glaube nicht daran! Mein Richard würde sich niemals umbringen! Und er war doch immer so ordentlich, und…“

Während die Stimme der Frau in eine wahre Kaskade von lobhudelnden Erklärungen über ihren Sohn ausbrach, überdachte Quirin seine Situation. Er hatte sich als Privatdetektiv registrieren lassen, als Selbstständiger, das war nicht zu leugnen, und er konnte schlecht diesen Auftrag ablehnen - das Amt würde ihm bestimmt sofort die Gelder streichen, wenn es das erfuhr. Woher die Frau seine Telefonnummer hatte, war ihm nicht nur gänzlich schleierhaft, es war geradezu verdächtig – er hatte weder inseriert, noch irgendwo anders publik gemacht, dass er dem Namen nach eine Detektei betrieb. Und sie existierte ja erst seit ein paar Wochen. War das möglicherweise ein Test? Er hatte bei diesem Gründungszuschuss und diesem ganzen Beamtengedöns nicht so richtig durchgeschaut, wenn er ehrlich war. Er fügte sich innerlich in die Situation und erklärte: „Kommen Sie doch vorbei, ja? Dann können wir über alles sprechen.“ In einer halben Stunde, sagte die Frau, könnte sie da sein, und legte mit einem dankbar klingenden Schniefen auf.

***

Quirin hatte kein Bureau, dafür war seine Wohnung viel zu klein – aber das war ihm in zwiefacher Hinsicht gleichgültig gewesen. Zum einen hatte auch Sherlock Holmes nicht nur kein Bureau besessen, sondern sogar das gemeinsame Wohnzimmer seiner WG mit Dr. Watson zum Empfang seiner Klienten genutzt. Zum anderen hatte Quirin nie vorgehabt, tatsächlich Klienten zu empfangen. Er hatte keinerlei praktische Erfahrungen darin zu tun, was ein Detektiv tun mochte. Wenn er ehrlich war, hatte er noch nicht einmal eine vage Vorstellung davon, was das in der heutigen Zeit bedeutete. Die brillant geschriebenen Schilderungen Doyles mochten selbst für das ausgehende neunzehnte Jahrhundert in England eben fiction sein und nur ansatzweise etwas mit der Wirklichkeit zu tun gehabt haben. Darüber hinaus mochte Quirin vielleicht einen passablen Watson abgeben, aber selbst wenn es eine reale Inkarnation eines kriminalistischen Genies wie Holmes geben sollte – er war es bestimmt nicht. Und, wenn er ehrlich war: zu einem Doktor Watson reichte es auch nicht. Quirin hatte nicht Medizin studiert, und mit Feuerwaffen konnte er – mangels Watsons indischen Kriegserfahrungen – auch nicht umgehen. Zwar hoffte er, in nicht allzu ferner Zeit seinen Doktor zu haben, allerdings phil. und nicht med., und im Moment waren gerade einmal drei Wochen vergangen, seit er sich Magister nennen durfte. Für englische Literatur, im Besonderen Kriminalliteratur. Seine Magisterarbeit hatte er über Doyle und Sherlock Holmes geschrieben, für die er sich schon seit der Kindheit begeisterte.

Völlig erschöpft von einem Jahr Dauerstress aus den letzten Prüfungen taumelnd hatte er sein Abschlusszeugnis in die Hand gedrückt bekommen und wurde mit einem kurzen Lächeln verabschiedet. Er stand da und hatte das Gefühl, er hätte sein Gehirn in der Uni vergessen. Einen klaren Gedanken zu fassen war fast unmöglich, und er stand vor einem Konto, das nicht minder ausgebrannt war wie sein Kopf – er war stets zu stolz gewesen, um BAföG zu nehmen. Aber das Gespenst Miete kroch genauso bedrohlich am zwei Wochen entfernten Horizont herauf wie – geradezu eine Verschwörung ungünstiger Umstände – Autoversicherung und TÜV. Ganz davon zu schweigen, dass die dreiundfünfzig Euro Studenten-Krankenversicherung sich nächsten Monat mal eben verfünffachen würde. Seine Familie fiel unter den Begriff bucklige Verwandtschaft und würde jauchzend im Kreis springen, wenn der intellektuelle Klugscheißer, der unbedingt studieren musste, sie verzweifelt um Geld anginge und damit seine Unfähigkeit unter Beweis stellte. Bei ihm war Blut nicht nur dicker als Wasser, es hatte die Konsistenz von frisch Erbrochenem. Lieber unter der Brücke hocken und Löwenzahn von der Wiese fressen, das war klar.

Schließlich hatte ihm ein Freund nahegebracht, dass Deutschland noch so etwas wie eine soziale Marktwirtschaft sein eigen nannte.

Der Gang zur ARGE war der schwerste seines bisherigen Lebens, fand er, noch nie war sein Stolz so auf die Probe gestellt worden. Und der erste Gang innerhalb dessen, was die bucklige Verwandtschaft so gerne Ernst des Lebens nannte. Als ob er acht Jahre lang gefaulenzt hätte und nicht das Doppelleben von wissenschaftlicher Ausbildung und zum Teil bis zu drei Jobs gleichzeitig geführt hätte. Abgesehen vom Prüfungsjahr natürlich, und das hatte alle Rücklagen in Asche verwandelt. Er hatte seinen Stolz verflucht und seine im Grunde genommen vernünftige Ansicht, nach dem Abschluss nicht mit vierzigtausend Euro Schulden dastehen zu wollen. Und die blöden Kommentare derjenigen, die eine Ausbildung gemacht hatten, waren ihm oft genug bitter hochgekommen: Während die ihren fest umrissenen Arbeitstag hinter sich brachten und dafür Geld bekamen, von dem man sich eine Wohnung und ein Auto leisten konnte, bekam er nicht nur keinen Heller – er musste auch noch drauf zahlen.

Er war durch neongrelle, unpersönliche Gänge geirrt mit Hunderten von Türen ohne Klinken und hatte sich wie der letzte Abschaum gefühlt. Leute mit verschlossenen Gesichtern kamen aus den klinkenlosen Türen heraus. Schienen ihn wenn überhaupt mit verächtlichen Augen anzusehen und verschwanden schlüsselbundklirrend wieder hinter anderen Türen. Sie wirkten ungemein geschäftig dabei, aber es war gänzlich undurchschaubar, was sie machten und nach welchen Regeln das funktionierte. Es mussten, der Größe des Gebäudes nach zu urteilen, Tausende sein, und Quirin fühlte sich geradewegs in Kafkas Prozess versetzt - nur nicht auf staubige Dachböden, sondern in grelles Neonlicht. Ein äußerst unangenehmes Gefühl nistete sich in seiner Brust ein: Er war durch irgendein Raster gefallen, ohne es zu bemerken. Er befand sich in einer harten, schrecklichen und erbarmungslos effizienten Welt, einer Welt der Globalisierung, einer Welt der Zeitarbeitsfirmen, einer Welt mit vier Millionen Arbeitslosen. Eine Welt, in der Riesenkonzerne Milliardengewinne einfuhren und als Konsequenz entweder Menschen outsourcten oder gleich ein paar Zehntausende durch Elektronenhirne oder Roboter ersetzten. Eine Welt, in der im richtigen Sessel Bürozeit verpennen Millionen einbrachte und ehrliche, harte Arbeit unter Umständen nicht ausreichte, die Miete zu bezahlen.

Und, wer, zum Teufel, wollte einen Literaturwissenschaftler mit Schwerpunkt englische Kriminalliteratur der Jahrhundertwende in einer Zeit, in der die Massen sich von Richterserien berieseln ließen? Quirin hatte es nicht über sich gebracht, Hartz IV zu beantragen. Vielleicht war es die Erziehung – dieselbe Erziehung, die ihn zum BAföG hatte nein sagen lassen -, vielleicht war es Stolz, vielleicht Eitelkeit, vielleicht die Angst vor den Sprüchen der buckligen Verwandtschaft – allein der Gedanke daran drehte in ihm etwas um und erzeugte ein massives Ekelgefühl gegen sich selbst. Also machte er sich selbstständig und beantragte das, was die Beraterin Einstiegsgeld genannt hatte. Hier zumindest kamen ihm seine detaillierten Kenntnisse der Kriminalliteratur zugute und seine erworbenen Kompetenzen – wie man das hier nannte – in Rhetorik. Seinem Antrag wurde stattgegeben und Quirin Hundtemann war selbstständiger Privatdetektiv. Absurderweise brauchte man dafür in Deutschland weder eine Ausbildung noch irgendwelche nachzuweisenden Kompetenzen. Er hatte sich danach nicht nur als Schmarotzer gefühlt, sondern obendrein als Lügner und Betrüger. Wenigstens war seine Angst beschwichtigt, nicht mehr krankenversichert zu sein und im nächsten Monat mit Miete, TÜV und Autoversicherung in Rückstand zu geraten. Das war anderthalb Monate her. Sieben Wochen gab es die Detektei QuirinHundtemann, und es war vielleicht der erste Abend, indem er sich nicht schmutzig und hintertrieben fühlte, weil er den Staat betrog – der Mensch gewöhnt sich an fast alles. Der erste Abend vielleicht auch, an dem der Druck in seinem Schädel, der ihn wochenlang keinen geraden Gedanken fassen ließ, soweit abgeklungen war, dass er sich vorstellen konnte, ein Buch zu lesen. Der Druck, der die Entscheidung zwischen zwei Kaffeesorten im Supermarkt manchmal zu einer ausweglosen Situation eskalieren lassen konnte, die ihn verzweifelt mit den Tränen und der Enge in der Brust kämpfend vor dem Regal stehen ließ. Von den ständigen Panikschüben zu schweigen, weil er soundsoviele Bücher noch durchzuarbeiten hatte – die Prüfungen! Die Prüfungen! Er musste sich erst selbst wieder klar machen, dass es vorbei war, dass die Prüfungen hinter ihm lagen. Und dass in einem dämlichen Aktenordner ein Stück Papier lag, auf dem Magister Artium stand.

Während er über die seltsamen Umstände nachdachte, die ihn zum Detektiv gemacht hatten, richtete er das Wohnzimmer her. Sah man von der Durststrecke des Examens ab, hatte er sich die letzten Jahre gut über Wasser halten können. Und auf seine Wohnung war er stolz. Er hatte lange gesucht, bis er eine Altbauwohnung gefunden hatte, in der noch ein funktionierender Ofen vorhanden war. Im zweiten Stock einer der Villen an der Poppelsdorfer Allee, der Hauptraum mit zwei breiten Fenstern zur Straße hinunter.[1] Quirin hatte sie so eingerichtet, wie er sich die Bakerstreet 221b vorstellte. Es war eine gemütliche, luftige Stube, in der sich ein Gelehrter ebenso wohl fühlen konnte wie ein – Quirin schüttelte den Kopf, als er sich bewusst wurde, dass sein Wohnzimmer tatsächlich zur Bakerstreet wurde – Privatdetektiv. Wenn auch wahrscheinlich nur einer der Jahrhundertwende. Heute mochte ein solches Bureau von Computern und High-Tech-Krimskrams überquellen, nicht von gebundenen Büchern. Es war ein überaus seltsames Gefühl, hier jemanden - eine Klientin - zu empfangen, die sich an ihn wandte, weil sie nicht weiter wusste und selbst die Polizei ihr nicht zu helfen imstande schien. Er dachte an Holmes‘ „ Keiner, der zu mir kommt, hat einen gewöhnlichen Fall. Ich bin das letzte Appellationsgericht“[2] aus The Five Orange Pips. Welches Recht hatte er als Literaturwissenschaftler, einer verzweifelten Frau Hilfe zu suggerieren, die er nicht würde bieten können?

Der Tee hatte gezogen, und Quirin nahm das Sieb heraus. Auf ein Tablett stellte er Tassen, Stövchen und das Gefäß mit dem Kandis und trug es in den Wohnraum hinüber. Trotzdem er dem Besuch seiner ersten Klientin mit einem mulmigen Gefühl entgegensah, kam er nicht umhin, unwillkürlich zu lächeln, als er an der Tür stehend in den Wohnstube schaute. Zwei Petroleumlampen mit grünen Schirmen erhellten den Bereich um die beiden Sessel und das Tischchen vor dem kleinen Ofen, hinter dessen Glas die Flammen rötlichgelb flackerten. Vor den breiten Fenstern hatte sich das Wetter noch mehr verschlechtert, dunkelgrau rasten tiefhängende Wolken über die Wipfel der Kastanien in der Poppelsdorfer Allee, Regentropfen schlugen gegen die Scheiben, und in den Ritzen des Hauses gab der Wind unheimliches Heulen von sich. Es war ein Refugium der Gemütlichkeit, und Quirin ging der Anfang der Orangenkerne durch den Kopf: „Den ganzen Tag hatte der Wind gekreischt und der Regen gegen die Fenster getrommelt, so dass wir uns selbst hier im Herzen der großen, von Menschenhand gemachten Stadt London bewogen sahen, für den Augenblick unsere Sinne vom täglichen Einerlei zu erheben und die Anwesenheit jener großen, elementaren Gewalten anzuerkennen, die, wilden Tieren im Käfig gleich, den Menschen durch die Gitter seiner Zivilisation hindurch anbrüllen.“[3]

Zwar starrten Quirin nicht die Elemente durch die Gitter seiner Zivilisation an, aber immerhin die Zivilisation durch die Gitter seiner Angst. Sein liebevoll eingerichteter Wohnraum erschien ihm plötzlich als feiger Versuch, der Wirklichkeit zu entfliehen, ein Glorifizieren einer Vergangenheit, die es vielleicht nie gegeben hatte. Er war ein weltfremder Anachronist, ein Stubengelehrter, der sich – anstatt der Welt ins Auge zu blicken – eine Wirklichkeitsblase gebastelt hatte. Ein Ewiggestriger, ein Phantast, ein trauriger Bücherwurm. Quirin stellte das Tablett auf das Tischchen und ließ sich in einen der Sessel sinken. Er stützte die Ellenbogen auf die Lehnen und legte die Fingerspitzen aneinander. Er war sich dessen nicht bewusst, aber in diesem Moment hätte ihm jeder den Sherlock Holmes abgenommen. Quirin Hundtemann brachte es wie der fiktive Detektiv auf mehr als sechs Fuß, auch wenn er nie so richtig verstanden hatte, was Doyle daran so außergewöhnlich fand - schließlich waren ein Meter achtzig eine eher durchschnittliche Größe.[4] Er war, trotzdem er die letzten anderthalb Jahre fast ausschließlich hinter Büchern und dem Bildschirm seines Computers verbracht hatte, ausgesprochen hager und seine markante Nase, schmal und falkenhaft, passte ebenso ins Bild wie die Tintenflecken, die – er wusste selbst nicht, wie er das immer wieder anstellte – stets an seinen Händen zu finden waren. Allerdings hinderte seine Brille, rund und ganz studententypisch, dass seine hellen, grauen Augen scharf und durchdringend wirkten – nur wenn er auf kurze Distanz über den Rand hinweg etwas fixierte, vielleicht, aber dann musste es schon ziemlich nahe sein. Von einem Kinn mit der Prominenz und Wucht, die den entscheidungsfreudigen Mann kennzeichnen, konnte kaum die Rede sein – es wirkte eher ein wenig weich und empfindsam,[5] ebenso wie die etwas zu vollen Lippen.

Er starrte ins Flackern des Feuers hinter den Scheiben des Ofens und lauschte dem Prasseln des Regens gegen die Scheiben. Von der Gemütlichkeit war nichts mehr zu spüren, es machte sich vielmehr eine Ratlosigkeit in ihm breit, die nah an Verzweiflung grenzte. Acht Jahre hatte er sich Wissen in den Schädel geprügelt, Dinge zum Teil, die er selbst in kaum zu übertreffender Weise nutzlos fand, und das Einzige, was er im Moment davon hatte, war – von den Professoren hoch gerühmt – seine Kompetenz, kritisch zu denken. Was ihm ungemein viel brachte, dachte er doch so umfassend kritisch, dass jedes mögliche Handeln von vornherein derart viele verschiedene Seiten, Aspekte und Zweifel hatte, dass nichts als ohnmächtige Verwirrung zurück blieb. Er spürte, wie dieses dunkle, schwarze, haarige Ding unterhalb seines Brustbeins anschwoll und ihm die Luft abdrückte, dieser seltsame Pilz, dieses Grübel-Tier, das mit jedem Gedanken fetter wird und schwarzen Schleim produziert voller Sporen, die überall hin kriechen und alles zersetzen mit Zweifel und Lebensekel.

Quirin schlug mit den Handflächen auf die Sessellehnen. „Es reicht!“, erklärte er den bleigrauen Wolken vor dem Fenster und dem Feuer hinter der Ofentür. „ Mein Geist rebelliert gegen den Stillstand. Man gebe mir Probleme zu lösen, man gebe mir Arbeit, man gebe mir die verworrenste Geheimschrift, die vertrackteste Analyse – da bin ich ganz in meinem Element. Der dumpfe Trott des Daseins jedoch erfüllt mich mit Abscheu. Ich verzehre mich nach geistigen Höhenflügen!”[6] Er stand auf und wusste nicht recht, wie er mit dem brausenden Gefühl von Tatendrang in seiner Brust umgehen sollte. Er gab ihm nach, und es brach als ein Lachen aus ihm heraus. „Was nützt es denn – Magister – Fähigkeiten zu besitzen, wenn es kein Feld sie anzuwenden gibt? Das Verbrechen ist banal, das Dasein ist banal, und von allen möglichen Eigenschaften gelten einzig die banalen etwas auf dieser Welt!“[7] Quirin stand vor dem Fenster und schaute auf die Poppelsdorfer Allee im Zwielicht und Nebel hinunter, während er Sherlock Holmes rezitierte und spürte, wie es ihm Trost schenkte. Er beobachtete eine einsame Gestalt, die mit zwischen die Schultern gezogenem Kopf auf dem Fußgängerweg zwischen den hohen Platanen entlang eilte. Bei diesem Wetter war sonst niemand draußen, nur ab und an fuhr ein Wagen durch den Regen und schob eine Blase von nebeligem Licht vor sich her. Die Gestalt blieb immer wieder stehen und schaute angestrengt zu den Häusern. Sie entzifferte wahrscheinlich mit gegen den Regen zugekniffenen Augen die Hausnummern. Als sie näher kam, war sie als ältere Frau zu erkennen, und Quirin hatte keinen Zweifel, dass es sich um seine Klientin handelte. Er trat vom Fenster zurück, öffnete die Ofentür und legte einige Scheite nach. Sie war bestimmt durchgefroren, wenn sie ankam.

Er hatte den Entschluss gefasst, sich an dem Fall zu versuchen. Der Dümmste konnte er nicht sein, und ein Mindestmaß an Durchhaltevermögen mochte er auch haben – immerhin hatte er den höchsten Bildungsgang mit Bravour durchlaufen. Und für diesen Job brauchte man nichts anderes als einen dämlichen Gewerbeschein. Er würde der Frau nichts vormachen, und sie würde sich nicht beschweren können.

Die Türglocke schellte, und er ging in den Flur, um zu öffnen. Er war in diese Sache hinein gerutscht, jetzt würde er versuchen, das Beste daraus zu machen – so absurd die ganze Geschichte auch sein mochte. „ Ewiges Nachdenken, Tagträume und andauerndes Pläneschieben verbraucht die emotionale Energie“, sagte er leise zu sich selbst, während die hölzerne Treppe unter dem Gewicht seiner Klientin knarzte, „ abgesehen davon, dass auch die ganz alltägliche Leistungsfähigkeit durch solche verzehrenden Ängste stark eingeschränkt wird.“[8] Es war natürlich unangemessen, in einer solchen Situation ausgerechnet die Satanische Bibel zu zitieren, aber einige Dinge darinnen fand Quirin ganz treffend.

***

Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?“ Die Frau – Ende Fünfzig, Anfang Sechzig – wirkte noch aufgelöster als am Telefon. Irgendwie gelang es Quirin, sie aus dem nassen Mantel zu schälen und ins Wohnzimmer zu komplimentieren. Sie mit dampfender Teetasse in den Sessel zu bugsieren, hatte etwas davon, ein aufgescheuchtes Huhn in den Stall zurück zu bekommen. Nicht ohne einen gewissen Stolz registrierte er, wie die Atmosphäre seines Wohnzimmers ihre Wirkung tat: Das angenehm weiche Licht der Öllampen, das Knistern des Feuers im Ofen, die gediegene Einrichtung. Die Frau entspannte sich langsam und streckte nach einer kleinen Weile die Füße gegen den Ofen hin aus, ohne sich dessen recht bewusst zu sein.

„Ich bin Herr Hundtemann“, erklärte er und streckte die Rechte zur etwas verspäteten Begrüßung aus.

„Hertha Beckmann“, antwortete sie. Ihre Hand zitterte merklich. Quirin hatte selten einen so verunsicherten Menschen erlebt, fast wollte es ihm übertrieben erscheinen. Er versuchte, sich an die Art und Weise zu erinnern, in der Sherlock mit seinen Klienten umzugehen pflegte, setzte sich in seinen Sessel, legte die Fingerspitzen aneinander und fragte mit betont ruhiger Stimme: „Nun, Frau Beckmann, was führt Sie zu mir?“

„Mein Sohn …“, begann sie, verhaspelte sich aber sofort, zupfte umständlich ein Taschentuch aus den Tiefen einer riesigen schwarzledernen Handtasche und schnäuzte sich schon fast unanständig laut. „Verzeihen Sie, es ist alles noch so frisch …“ Quirin nickte gemessen. Er kam sich gänzlich fehl am Platze vor. Trotzdem: Die Frau wollte erzählen, das war sehr deutlich zu merken, man musste ihr nur die Möglichkeit geben. Zumindest diesen Gefallen konnte er ihr erweisen: „Bitte, erzählen Sie mir die wesentlichen Tatsachen von Anfang an, und anschließend möchte ich Sie zu den Einzelheiten befragen, die mir als die wichtigsten erscheinen“[9], erklärte er in der Gestik und den Worten, die ihm in den letzten Jahren so vertraut geworden waren.

„Vorige Woche gab es einen schrecklichen Vorfall, bei dem mein Richard ums Leben kam“, begann sie, und Quirin fühlte seine Brust eng werden. Auf was hatte er sich da eingelassen? Er hielt jedoch die Finger aneinandergelegt und versuchte, mit ruhiger, gelassener Miene in das Flackern hinter der Scheibe des Ofens zu schauen. Ein Klient ist nicht mehr als eine abstrakte Einheit, ein Faktor in einem Problem. Gefühlsregungen sind dem klaren Denken feind,[10] versuchte er sich Holmes‘ Regel vor Augen zu halten und seine Empfindungen außen vor zu lassen. Frau Beckmann fuhr fort: „Er ist verbrannt, müssen Sie wissen, und es ist …“ – sie unterbrach sich, um zu schnäuzen – „so gut wie nichts übrig geblieben. Mein Sohn ist – war – Schriftsteller, müssen Sie wissen.“

Einen winzigen Moment lang verspürte Quirin die Frage, ob ihrer Meinung nach Schriftsteller besonders gut brannten. Er verstand selbst nicht, woher der Sarkasmus plötzlich kam – angesichts einer Mutter, die gerade ihren Sohn verloren hatte, war das doch sehr unpassend. Es gelang ihm, die seltsamen Assoziationen wegzudrücken und mit gesenkter Stimme zu fragen, wie es geschehen sei.

„Ich weiß selbst nichts Genaueres“, erklärte sie und nahm einen Schluck Tee. „Die Feuerwehr konnte nichts mehr tun, und die Sachverständigen reden von einem Unfall.“ Sie stellte die Tasse ab, beugte sich ein wenig vor und sagte mit gesenkter Stimme: „Aber ich glaube nicht, dass es ein Unfall war – mein Richard, der war immer vorsichtig. Und so ordentlich. Das war kein Unfall, nie im Leben!“ Sie starrte ihn an und wartete offensichtlich auf die Bestätigung, dass ihr Sohn nicht nur der wunderbarste Mensch auf dem Planeten war, sondern niemals einen Fehler gemacht haben konnte.

„Sie haben mir noch nichts über diesen Brand erzählt. Weder, wo er stattgefunden hat, noch was abgebrannt ist, noch, wieso Ihr Sohn hat darinnen verbrennen können – war es zuhause, auf Arbeit, irgendwo sonst?“, wurde Quirin ungeduldig und riss sich im selben Moment zusammen. Wenn er etwas brauchte in diesem Job, notierte er sich auf einen inneren Merkzettel, dann Geduld – wer sonst würde ihn aufsuchen als entweder verzweifelte Menschen, denen die Polizei nicht mehr helfen konnte und die ratlos alle Rationalität verloren hatten. Oder aber ausgemachte Spinner mit paranoiden Wahnvorstellungen. Wer sonst würde sich an einen Privatdetektiv wenden, der für seinen Beruf nicht mehr brauchte als einen Gewerbeschein für zwanzig Euro? Weder Ausbildung, noch eine polizeiliche Erlaubnis, ja, der im Grunde nicht mehr und nicht weniger machen durfte als jeder normale Bürger auch? Noch dazu einer, der nicht die geringsten Empfehlungen erfolgreicher Fälle aufzuweisen hatte und obendrein ausgerechnet Quirin Hundtemann hieß. Der heilige Quirin mochte vorzüglich gegen Fisteln und Geschwüre und gegen die Blattern helfen, aber abgesehen davon nur gegen Kopf- und Hirnschmerzen, und das auch nur dann, wenn man aus seiner versilberten Hirnschale trank.[11] Und es lag ihm – ARGE hin oder her – gänzlich fern, diese Frau aus seiner Hirnschale schlürfen zu lassen. Er konnte sich nicht helfen, aber es gelang ihm nicht, echtes Mitleid für sie zu empfinden und er fühlte sich wie ein gefühlloses Ekel. Möglicherweise blockte er aber auch einfach ab. Er riss sich zusammen und bemühte sich um Professionalität. Vielleicht war die sprichwörtliche zynische Gefühlskälte von Holmes ja einfach ein Zeichen von Professionalität – Sie sind ein richtiger Automat, eine Rechenmaschine! Zuweilen haben Sie etwas entschieden Unmenschliches an sich,[12] hatte Watson Sherlock einmal vorgeworfen.

„Sie müssen mir schon etwas mehr erzählen, Frau Beckmann“, fuhr er mit ruhiger Stimme fort, „damit ich mir ein Bild machen kann.“ – „Natürlich, natürlich“, nuschelte die Frau und zupfte an der Lehne des Sessels herum. „Entschuldigen Sie bitte.“ Sie setzte sich ein wenig aufrechter hin und bemühte sich sichtlich, ihre Gedanken zu ordnen. „Mein Sohn lebte auf einem dieser Plätze für Campingwagen, wissen Sie?“

„Eine Wagenburg? Für Aussteiger und Punks?“

Die Frau schaute ihn fast schon entsetzt an. „Nein, natürlich nicht! Das ist ein ordentlicher Platz, da zahlt man auch Pacht und nistet sich nicht einfach ungefragt ein! Es sind alles brave Bürger da, die ihre Wochenenden und ihre Ferien in Ruhe verbringen wollen.“ Das Bild in Quirins Kopf kippte von einem Bauwagen-Lager mit Feuerstelle in der Mitte und kreuz und quer gespannten Wäscheleinen zu einem akkurat von Jägerzäunen in Parzellen eingeteiltes Refugium für Plastik-Gartenzwerge. Er nickte. „Das ist ja eigentlich nicht ganz erlaubt, wissen Sie, wenn man da so richtig wohnt, aber er war ja bei mir gemeldet, nicht? Und es ist halt viel billiger, bei den Mieten heute …“ Sie hatte sich verhaspelt und schaute ihn etwas ratlos an. Er lächelte ihr aufmunternd zu, und sein Gesicht fühlte sich an wie eine Maske aus steifem Gummi. „Jedenfalls“, nahm sie den Faden wieder auf, „er hatte da seinen Wohnwagen stehen. Mit einem Vorzelt davor, verstehen Sie, aber das war natürlich nicht einfach so ein Vorzelt, das war richtig ausgebaut, mit Heizung und allem. Da war es sogar im Winter richtig warm …“ Quirin bemerkte, dass seine Finger auf der Sessellehne angefangen hatten, ungeduldig zu trommeln. „Das funktionierte alles mit Gas, Heizung, Kochen, das alles. Mit Flaschen. Richard hatte drei Stück im Wagen. Die Feuerwehr sagt, dass wahrscheinlich eine Leitung undicht war. Und dann hat es eine Explosion gegeben, und alles hat gebrannt, und Richard …“ Frau Beckmann brach in Schluchzen aus.

Quirin saß hilflos in seinem Sessel und sah auf ihre Schultern, die haltlos zuckten. Das ganze Bild war sehr weit entfernt von ihm und kam ihm merkwürdig vor: die zwei Petroleumlampen mit ihren grünen Schirmen, die riesigen grünsamtenen Ohrensessel, der Ofen mit dem gelbroten Flackern hinter dem Glas – er, Quirin Hundtemann, frischgebackener Literaturwissenschaftler und sozialschmarotzender Möchtegerndetektiv. Und die fremde Frau mit graumeliert dauergewelltem Haar, die in seinem Wohnzimmer saß und mit lauten, schmerzhaften Geräuschen weinte. Er ließ sie weinen und legte ihr eine Packung Taschentücher auf den Tisch. Und wartete. Nach einer Weile bat sie schniefend um Entschuldigung und fuhr mit erstickter Stimme fort: „Als alles heruntergebrannt war, hat man in den Resten seine Leiche gefunden und mich benachrichtigt. Unfall oder Selbstmord, das haben sie mir gesagt. Selbstmord! Mein Richard!“

Neben der Trauer kam jetzt ein Ausdruck der Entrüstung auf ihr Gesicht. „Und wissen Sie noch was? Schauen Sie sich diese Frechheit an!“ Frau Beckmann kramte in der Unglaublichkeit ihrer Handtasche und zog eine Ausgabe der Schnüss hervor, dem Bonner Stadtmagazin. Sie blätterte und schob Quirin das aufgeschlagene Journal über den Tisch. Mit energischem Zeigefinger tippte sie auf einen einspaltigen Artikel im Feuilleton, überschrieben mit „Verbrannte Autoren stinken nicht“. Quirin las: „Kennen Sie Richard Beckmann? Nein? Ich bis gestern auch nicht. Ob man ihn kennen sollte, überlasse ich dem Auge des Betrachters. Jedenfalls ist jetzt erwiesen, dass er kein unsterblicher Autor sein kann: Anstatt seine Werke zu verbrennen, wie es große Schriftsteller zuweilen über ihren literarischen Nachlass verfügen, hat er es offensichtlich vorgezogen, sich diesem Schicksal höchstselbst zu unterziehen: Der sowohl junge wie auch weitgehend unbekannte Autor verbrannte in der zweiten Septemberwoche in seinem Wohnwagen im Siebengebirge. Es wird von einem Unfall ausgegangen. Wenn Sie allerdings mich fragen, so kann ich mir sehr gut vorstellen, dass Beckmann sich selbst in die Luft gejagt hat. Vielleicht konnte er seine luxuriösen Wohnverhältnisse nicht mehr mit seinen in Kleinstauflagen verbreiteten literarischen Ergüssen finanzieren. Bei den Bedingungen, die die Literaturindustrie jungen Autoren stellt, wäre das ebenso verständlich wie die verzweifelte Idee, mit einem solch dramatischen Schritt zumindest ein bisschen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – bekanntlich wird man ja erst nach seinem Tod berühmt. Wenn Sie sich für das Oeuvre des gebrannten Richard interessieren, können Sie sich auf unserer Webseite informieren. Vielleicht sind die Sachen ja jetzt so richtig – heiß.“ Quirin ließ das Magazin sinken. „Das ist in der Tat ein ziemlich geschmackloser Nachruf“, musste er zugeben.

„Ziemlich geschmacklos?“ Frau Beckmann nahm das Journal. „Das ist nicht nur beleidigend … diese Frau unterstellt meinem Richard obendrein in aller Öffentlichkeit, dass er sich umgebracht hat! Nicht nur, Herr Hundtemann, dass man nicht schlecht über Tote reden sollte“ – sie kämpfte gegen erneute Tränen an, die ihr in die Augen schossen, und ihre Stimme ging in einem Schluchzen unter. Als sie sich wieder gefangen hatte, blickte sie Quirin aus rotgeweinten Augen an. „Ich möchte“, sagte sie, „dass Sie den Tod meines Sohnes untersuchen. Beweisen Sie, dass er sich nicht selbst umgebracht hat, zeigen Sie, dass es kein Unfall war.“ Ihre Stimme steigerte sich und war voll von Hass. „Bringen Sie mir den Verantwortlichen!“

Quirin schenkte sich Tee ein, goss Milch hinzu und hielt sich an der Tasse fest. Er starrte in die wirbelnden Wolken, als könnten sie ihm irgendeine Antwort geben. Er spürte den Blick der Frau, blickte aber weiter in seinen Tee. Langsam sagte er: „Hören Sie, Frau Beckmann. Ich fürchte, Sie machen sich ein ganz falsches Bild von mir. Ich bin …“, er unterbrach sich und schaute sie an, „ich bin nicht unbedingt das, was Sie sich unter einem Privatdetektiv vorstellen. Ich weiß nicht, ob ich wirklich geeignet bin … ich bin mehr ein … Geisteswissenschaftler, wissen Sie?“

Das Gesicht der Frau entgleiste, fast wirkte es übertrieben. „Bitte“, winselte sie geradezu, „niemand will mir sonst helfen. Die Polizei hält es für einen Unfall, Ihre Kollegen zucken nur mit den Schultern – Sie sind der letzte, bitte.“

„Ich“, begann Quirin, unterbrach sich und begann von neuem: „Ich kann es zumindest versuchen, aber ich muss Sie bitten, erwarten Sie nicht zu viel!“ Sie nickte und wirkte, als würde sie mit allem einverstanden sein, wenn er nur irgendetwas machte. Er ließ sich die Anschrift des Campingplatzes geben und fühlte sich wie ein waschechter Betrüger, als er auf den Preis zu sprechen kam und einen Hunderter pro Tag plus Spesen herausschlug. Am nächsten Tag, gleich morgens, versprach er, würde er die Ermittlungen aufnehmen.

[1] „Sie [sc. die Räumlichkeiten Bakerstreet 221b] bestanden aus zwei gemütlichen Schlafzimmern und einem gemeinsamen, großen, luftigen Wohnraum, der fröhlich möbliert war und von zwei breiten Fenstern erhellt wurde.“ (Doyle: Studie. S. 19) Original: “They consisted of a couple of comfortable bedrooms and a single large airy sitting-room, cheerfully furnished, and illuminated by two broad windows.” (Doyle-SH, S. 8-9f.)

[2] „Keiner, der zu mir kommt, hat einen gewöhnlichen Fall. Ich bin das letzte Appellationsgericht.“ (Doyle: Abenteuer, S. 126) Original: „None of those which come to me are. I am the last court of appeal.“ (Doyle-SH, S. 246)

[3] „Es war in den letzten Septembertagen, und mit außergewöhnlicher Wucht hatten die Äquinoktialstürme eingesetzt. Den ganzen Tag hatte der Wind gekreischt und der Regen gegen die Fenster getrommelt, so daß wir uns selbst hier im Herzen der großen, von Menschenhand gemachten Stadt London bewogen sahen, für den Augenblick unsere Sinne vom täglichen Einerlei zu erheben und die Anwesenheit jener großen, elementaren Gewalten anzuerkennen, die, wilden Tieren im Käfig gleich, den Menschen durch die Gitter seiner Zivilisation hindurch anbrüllen. (Doyle: Abenteuer, S. 124) Original: “It was in the latter days of September, and the equinoctial gales had set in with exceptional violence. All day the wind had screamed and the rain had beaten against the windows, so that even here in the heart of great, hand-made London we were forced to raise our minds for the instant from the routine of life, and to recognize the presence of those great elemental forces which shriek at mankind through the bars of his civilization, like untamed beasts in a cage.” (Doyle-Holmes, S. 245)

[4] „Foot (engl., spr. futt), Mehrzahl Feet (spr. fiht), Fuß, engl. Maß von 1/3 Yard, geteilt in 12 Zoll =0,3048 m.“ (Brockhaus, Bd. 1, S. 597) – „mehr als sechs Fuß groß“ (Doyle: Studie, S. 20) ist metrisch gesehen also „mehr als 180,288 Meter groß“, was nun wirklich nicht sehr beeindruckend ist für heutige Verhältnisse.

[5] „Er [sc. Holmes] war mehr als sechs Fuß groß und so ungeheuer hager, daß er noch weit größer wirkte. Seine Augen waren scharf und durchdringend […], und seine schmale, falkenhafte Nase verlieh ihm insgesamt den Ausdruck der Wachsamkeit und Entschloßenheit. Auch sein Kinn hatte jene Prominenz und Wucht, die den entscheidungsfreudigen Mann kennzeichnen. Unweigerlich waren seine Hände mit Tinte beschmiert und von Chemikalien befleckt […].“ (Doyle: Studie, S. 20) Original: „In height he was rather over six feet, and so excessively lean that he seemed to be considerably taller. His eyes were sharp and piercing, […]; and his thin, hawk-like nose gave his whole expression an air of alertness and decision. His chin, too, had the prominence and squareness which mark the man of determination. His hands were invariably blotted with ink and stained with chemicals […].“ (Doyle-SH, S. 129)

[6] “Mein Geist […] rebelliert gegen den Stillstand. Man gebe mir Probleme zu lösen, man gebe mir Arbeit, man gebe mir die verworrenste Geheimschrift, die vertrackteste Analyse – da bin ich ganz in meinem Element. Dann kann ich ohne Stimulantien [sc. Kokain] auskommen. Der dumpfe Trott des Daseins jedoch erfüllt mich mit Abscheu. Ich verzehre mich nach geistigen Höhenflügen. Eben darum habe ich auch meinen eigenen speziellen Beruf gewählt – oder vielmehr geschaffen –, denn ich bin der einzige meines Zeichens auf der ganzen Welt.” (Doyle: Zeichen der Vier, S. 126) Original: “’My mind,’ he said, ‘rebels at stagnation. Give me problems, give me work, give me the most abstruse cryptogram, or the most intricate analysis, and I am in my own proper atmosphere. I can dispense then with artificial stimulants. But I abhor the dull routine of existence. I crave for mental exaltation. That is why I have chosen my own particular profession, or rather created it, for I am the only one in the world.” (Doyle-SH, S. 92)

[7] „Was nützt es denn, Doktor, Fähigkeiten zu besitzen, wenn es kein Feld sie anzuwenden gibt? Das Verbrechen ist banal, das Dasein ist banal, und von allen möglichen Eigenschaften gelten einzig die banalen etwas auf dieser Welt.” (Doyle: Zeichen der Vier. S. 16f.) Original: “’What is the use of having powers, Doctor, when one has no field upon which to exert them? Crime is commonplace, existence is commonplace, and no qualities save those which are commonplace have any function upon earth.’” (Doyle-SH. S. 96)

[8] „Ewiges Nachdenken, Tagträume und andauerndes Pläneschieben verbraucht die emotionale Energie [...] abgesehen davon, dass auch die ganz alltägliche Leistungsfähigkeit durch solche verzehrenden Ängste stark eingeschränkt wird.“ (LaVey, Anton Szandor: Die satanische Bibel. Berlin 1999, S. 152)

[9] „Bitte, erzählen Sie mir die wesentlichen Tatsachen von Anfang an, und anschließend möchte ich Sie zu den Einzelheiten befragen, die mir als die wichtigsten erscheinen.“ (Doyle: Abenteuer. S. 126) Original: “Pray give us the essential facts from the commencement, and I can afterwards question you as to those details which seem to me to be most important.” (Doyle-Holmes, S. 246)

[10] „Ein Klient ist für mich nicht mehr als eine abstrakte Einheit, ein Faktor in einem Problem. Gefühlsregungen sind dem klaren Denken feind. [...]“ (Doyle: Zeichen der Vier. S. 23) Original: “A client is to me a mere unit, a factor in a problem. The emotional qualities are antagonistic to clear reasoning.” (Doyle-SH, S. 100)

[11] „Der Heilige [sc. Quirinus von Rom] wurde gegen mancherlei körperliche Gebrechen, vorzüglich gegen Fisteln und Geschwüre und gegen die Blattern angerufen, auch gegen Kopfleiden. Als ein von Gott besonders ‚privilegierter‘ Heiler der Fistel wird Q[uirinus] bereits in einer Erzählung der ‚Libri octo miraculorum‘ des Caesarius von Heisterbach (um 1225) genannt. […] In dem Q[uirinus]kult nehmen Wasser und Brunnen eine bedeutsame Stelle ein. In Neuß gab man Pilgern und Kranken aus dem sogenannten Schädel des hl. Q[uirinus], einem silbernen runden Becher (Napf) in Gestalt eines Kopfes, Wasser, das aus dem Q[uirinus]brunnen an der Westseite der alten Abtei geschöpft wurde, zum Trinken.“ (Handwörterbuch Aberglaube, Bd. 7, S. 421f.)

[12] „Sie sind ein richtiger Automat, eine Rechenmaschine! […] Zuweilen haben Sie etwas entschieden Unmenschliches an sich.” (Doyle: Zeichen der Vier. S. 23) Original: “’You really are an automaton – a calculating machine,’ I cried. ‘There is something positively inhuman in you at times.’” (Doyle-SH. S. 100)