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Er liebt sein Land, das er nicht mehr versteht. Er hasst die Liberalen. Er schläft nicht ohne seine Waffen. Er ist das Gegenteil von politisch korrekt. Er ist unbequem. Er liebt seine Enkelin Ella über alles. Er hat einen Gehirntumor, für den er das Agent Orange aus dem Vietnamkrieg verantwortlich macht. Er überlebt die Operation. Er nimmt die letzte Chance wahr, sich mit seiner Vergangenheit, seinem Sohn und seinem Erzfeind aus dem Krieg, Clayton Fire Bear auszusöhnen. Er heißt David Granger, 68 Jahre, Vietnamveteran. Er ist: Ein Mann mit Anstand. "Hinter der ruppigen Prosa verbirgt sich viel Feingefühl und ein klarer Blick für gesellschaftliche Tendenzen. Es geht um die Frage, was Anstand bedeutet, um Doppelmoral und die vielen Gesichter des Rassismus, um alte Sünden und aufrechte Reue und nicht zuletzt um Familienbande und den Wert echter Freundschaft. Es ist ein Roman, der zum genauen Hinschauen auffordert und die "political correctness" hinterfragt, der feststellt, dass es wichtiger ist, was jemand tut, als was er sagt (…)." (Deutschlandfunk Kultur) "Ganz großes Kino" (Christine Westermann zu "Silver Linings") "Originell, fesselnd, erhebend." (Graeme Simsion zu "Die Sache mit dem Glück") "Es ist unmöglich, diese tief zerrissenen Figuren nicht zu mögen." (USA Today) "Derb, politisch unkorrekt - und wunderbar: Matthew Quicks Roman über einen erzkonservativen Vietnam-Veteranen und seinen linksliberalen Sohn zeigt, was wichtiger ist als die "richtige" Ausdrucksweise: Herzenswärme und Anstand." Deutschlandfunk Kultur "Matthew Quick hat einen hinterlistigen Roman über Correctness verfasst. (…) Die Story ist nicht die x-te Zeigefingerversion zur "Lage der US-Nation", sondern vielmehr ein Lehrstück darüber, dass man Anstand, Solidarität und Toleranz oft in der seltsamsten Verkleidung (und sei es im Tarnanzug) begegnet." Kleine Zeitung
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Seitenzahl: 303
HarperCollins®
Copyright © 2017 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Reason You’re Alive Copyright © 2017 by Matthew Quick erschienen bei: Harper, an Imprint of HarperCollins Publishers L.L.C., New York
Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg Coverabbildung: Sebastian Schmidt.co Redaktion: Steffi Korda E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783959677394
www.harpercollins.de
FÜR ONKEL PETE
Im Krankenhaus behandelten mich die Ärzte, als wäre ich ein Champignon: Sie ließen mich im Dunkeln und speisten mich mit Mist ab.
Ich hab so getan, als würde ich ihnen den Quatsch abkaufen, weil ich möglichst schnell wieder rauswollte. Und dafür mussten die Leute, die das zu entscheiden hatten, glauben, ich wäre lammfromm. Ich wusste todsicher, dass Ihr derzeitiger Arbeitgeber mich noch immer im Visier hatte, und das fast fünf Jahrzehnte nach meiner Entlassung.
„Wer ist Clayton Fire Bear?“, fragten die Ärzte mich andauernd. Sie benutzten natürlich seinen richtigen Namen, weil ich den anscheinend wieder und wieder gesagt hatte, als ich langsam aus der Narkose erwachte. „Clayton Fire Bear“ verwende ich nur in diesem Bericht, um Unschuldige zu schützen. Ich werde Ihnen seinen richtigen Namen nicht verraten. Und diesen idiotischen Zivilisten im Krankenhaus wollte ich auf gar keinen Fall erzählen, was ich Ihnen hier und jetzt endlich erzählen werde.
Bei Ärzten gibt es immer nur drei Möglichkeiten: Entweder sie dröhnen die Leute mit Pillen zu, rammen ihnen Spritzen in den Hintern oder schneiden sie auf. Und alle sind sie geldgeil. Natürlich kassieren sie ordentlich ab, egal, was sie an unseren Körpern vermurksen. Selbst wenn sie uns ins Grab bringen, schreiben sie fette Rechnungen, und ihre Bankkonten wachsen und gedeihen.
Der Leute-Aufschneider, der meine Gehirnoperation vermasselt hat, meinte, ich hätte mir einen Zwilling einverleibt, damals, 1944, als ich noch im Bauch meiner inzwischen verstorbenen Mutter war, womit ich schon zum Mörder geworden wäre, bevor ich überhaupt auf die Welt kam. Wenn das stimmen würde, wären Sie garantiert heilfroh, weil die US-Regierung sich dann nicht vorwerfen lassen müsste, sie hätte mich dazu gemacht.
Mein bescheuerter Neurochirurg meinte, ein Teil von besagtem Zwilling wäre fast siebzig Jahre lang in meinem Gehirn weitergewachsen, und die Masse, die sie aus meinem Schädel holten, hätte Haare und drei winzige Zähne gehabt, die aussahen wie ungekochte Reiskörner. Als Beweis zeigten sie mir so ein Exemplar in einer Flasche mit Formaldehyd. Aber Sie und ich und alle, die nicht völlig verblödet sind, wissen doch, dass die schon zigtausend von diesen Präparaten im Keller hatten, bevor ich das Krankenhaus überhaupt von innen gesehen hatte. Deshalb beweist diese kleine Flasche einen Scheißdreck. Außerdem sagte der Typ, meine Erkrankung sei so selten, dass er was über „unsere OP“, wie er das nannte, veröffentlichen würde. Dann kassiert er noch mal ab. Wieso auch nicht?
Falls Sie diesen Einverleibter-Zwilling-Schwachsinn glauben, dann haben Sie das beknackte Leben verdient, das Sie zurzeit leben. Denn ich weiß: Es lag am Agent Orange. Die Vertuschung geht weiter.
Ich bin außerdem hundertprozentig sicher, dass mein Chirurg, wo er schon mal in meinem Schädel drin war, auf Anweisung der US-Regierung einen Teil meines Gedächtnisses rausgeschnitten und die wichtigen militärischen Infos getilgt hat, die ich mal wusste. Aus reinem Sadismus hat er persönliche Erinnerungen an meine Frau und mein Leben vor der OP gleich mit rausgesäbelt. Aber egal, mit wie vielen Chemikalien sie dich besprühen, egal, wie viel sie von deinem Gedächtnis wegschnippeln – wenn du mal gesehen hast, wie ein ganzer Dschungel über Nacht verschwindet, vergisst du das nie. Eben noch ist alles satt und grün und saftig und voller Leben. Am nächsten Tag ist alles wie weggeschmolzen und schwarz und tot – als wäre die Welt eine Kerze und die Sonne ein Schweißbrenner. Ich weiß noch, wie mir der Gestank des Todes stechend in die Nase schoss. Das kannst du niemals unerlebt machen. Und den chemischen Verwesungsgestank wirst du auch nie mehr ganz los.
Ich besitze überdies ein sichtbares Andenken: sieben kleine weiße Flecke auf dem linken Unterarm. Die Ärzte sagen, die kämen bloß von zu viel Sonne. Doch die haben keinen Schimmer, oder aber ihr da oben – alias die Regierung – habt sie bezahlt, damit sie lügen.
Als ich im Dschungel war, hab ich sieben Tropfen Agent Orange auf den Arm bekommen. Seitdem trage ich dieses makabre Sternbild mit mir herum.
Mein Sohn sagt, wenn man die weißen Punkte im Kopf miteinander verbindet, sieht das aus wie eine Landkarte von Vietnam. Das ist Blödsinn. Hank mag zwar heute ein supererfolgreicher Kunsthändler sein, aber er hat noch immer keine blasse Ahnung von meinem Krieg, von meinem Leben.
Ich wundere mich, dass Sie meinem Chirurgen nicht noch mehr Geld bezahlt haben, damit er mir den ganzen Arm absäbelt, wo ich schon mal ausgeknockt war – bloß um auch den letzten Beweis loszuwerden, der Ihren verlogenen Boss belastet, Uncle Sam.
Aber, wie Sie am Ende dieses Berichts sehen werden, war ich echt dankbar, dass das Skalpell von Ihrem Chirurgen meine Erinnerungen an Clayton Fire Bear – diesen großen, verdammten Indianer – wachgekitzelt und mich auf die Idee gebracht hat, meine Fehler wiedergutzumachen.
Aber ich kann Ihnen nicht alles über Fire Bear erzählen, bevor Sie die ganze Geschichte kennen. Ich möchte, dass Sie sie verstehen, und das ist schwierig. Dazu braucht man Zeit. Geduld. Und ich hoffe, die haben Sie wirklich, wie Sie mir schon so oft versichert haben.
Besagter Weichei-Chirurg hat noch nie eine Schusswaffe abgefeuert. Ich hab ihn gefragt. Er hat angewidert die Nase gerümpft. Ich hab ihm erklärt, dass wir mitten im großen Dschihad sind und dass immer mehr muslimische Selbstmordattentäter kommen werden, wenn wir nicht ernsthaft was dagegen unternehmen, und zwar schnell. Aber das hat ihn nicht die Bohne interessiert, weil er nichts dazu gesagt hat. Zu beschäftigt mit Leute-Aufschneiden. Mit Geldverdienen. Mit dem süßen Leben im Land der Freien.
Als ich den Leute-Aufschneider deswegen zur Rede stellte und die beiden Scheißkerle erwähnte, die beim Bostoner Marathon Bomben hatten hochgehen lassen, sagte mein Chirurg, er wolle nicht über Politik reden. Wieso sollte er auch?! Er ist ein hohes Tier hier im Krankenhaus. Mr. Wichtig. Für den läuft es im Moment richtig gut. Wahrscheinlich ist keiner aus seiner Familie beim Militär, keine Verwandten im Irak oder in Afghanistan. Mein Chirurg hat noch alle seine Körperteile und alle seine locker-flockigen Zivilistenerinnerungen. Keine dicke, zugetackerte rote Narbe oben auf dem Schädel. Und auch keine kleinen weißen Punkte auf dem Unterarm. Keine ständig wiederkehrenden Albträume seit fünfzig geschlagenen Jahren. Keine tägliche Horrorshow im Kopf.
Mir war klar, dass ich mich bei ihm einschleimen musste, damit er mir irgendwann erlauben würde, mich wieder unter Zivilisten zu bewegen. Also fragte ich ihn, was er denn in seiner Freizeit so treibe, und er sagte, ohne Blickkontakt herzustellen, es mache ihm Spaß, „gute Weine zu verkosten“.
Sackgasse.
Vor dem ganzen Ärger mit meinem Hirn hab ich gern Bier getrunken. Amerikanisches Bier. Budweiser. Miller High Life. Pabst Blue Ribbon. Aber bei den ganzen Medikamenten, die ich dann schlucken musste – eine ganze Armlänge oranger Pillenschachteln mit irgendwas drin, das ich nicht mal aussprechen kann –, war es damit vorbei. Leben gefiel mir nämlich noch besser als lecker Bierchen trinken.
Klar kenne ich das Wort verkosten, aber ich würde es nie und nimmer benutzen. Ich würde mich anhören wie ein elitäres Arschloch. Der Alkohol, den ein Mann trinkt, sagt viel über ihn aus. „Gute Weine verkosten“ bedeutete, dass wir nicht weiterkamen.
Du kannst die Charakterstärke eines Mannes am Zustand seiner Hände ablesen. Die Hände von meinem Chirurgen sahen aus wie aus feinstem Porzellan. Im Dschungel hätte er keine zehn Sekunden durchgehalten. Vielleicht hätte ich ihm höchstpersönlich als Vorsichtsmaßnahme eine Kugel in den Hinterkopf gejagt. Mit Männern, die gute Weine verkosten, kommst du nicht wieder lebend aus dem Dschungel raus.
„Versuchen Sie, nicht an Dinge zu denken, die Sie aufregen, wie Politik oder Krieg“, sagte mein Chirurg zu mir. „Glückliche Gedanken sind Vitamine für Ihr Gehirn. Also versuchen Sie, beim Ein- und Ausatmen positive Gedanken zu denken, okay?“
Er stellte sich auf ein Bein, schloss die Augen, hob den linken Fuß an das rechte Knie, legte die Hände vor dem Herzen zusammen und machte irgendeinen Tiefenatmungsyogaschwachsinn. Dann sagte er: „Können Sie das auch mal für mich machen, Mr. Granger?“
Ich konnte nicht, und ich erklärte ihm, dass ich im Augenblick noch nicht mal stehen geschweige denn so eine Storchenhaltung einnehmen könne wie eine Scheißballerina im rosa Tutu.
Und hoch angesehene Mediziner behaupten, dieser tief atmende Chirurg sei einer der besten auf der ganzen Welt …
„Wer ist Clayton Fire Bear?“, fragte er mich erneut, und dem Funkeln in seinen Augen nach zu urteilen, ahnte er, dass ich ein großes Geheimnis hatte.
Männer wie er verdienen es nicht, meine Geheimnisse zu erfahren. Ich habe dem Leute-Aufschneider nichts von dem Folgenden erzählt.
Mein weitestgehend ahnungsloser Sohn Hank tauchte in meinem Krankenhauszimmer auf, bloß um mich anzuschreien.
Ärzte hatten meinen Schädel aufgesägt. Sie hatten mir ein Stück Hirn rausgeschnitten. Ich trug noch immer ein grüngelbes Hängerchen ohne was darunter. Ich lag in einem Scheißkrankenhausbett, Herrgott noch mal, und Hank beballerte mich mit ganzen Patronengürteln von Wörtern, bloß weil ich ihm erst hinterher gesagt hatte, dass ich operiert worden war. Na gut, ich hatte mir gedacht, warum ihn damit belasten? Wir hatten sowieso seit dem Sommer nicht mehr miteinander geredet.
Seit unserem dicken Krach bei dem Spiel der Philadelphia Phillies.
Hank, meine Enkeltochter Ella und ich warteten in der Schlange vor einem Hotdog-Stand. Wir hatten nicht zu Hause gegessen, weil mein Sohn mal wieder länger gearbeitet hatte und uns erst abholte, als das zweite Inning schon längst angefangen hatte. Wir kamen erst am Ende des vierten Innings ins Stadion, und Ella und ich waren dermaßen ausgehungert, dass wir unsere eigenen Finger hätten essen können. Die Schlange war lang. Hank war wegen irgendwas genervt, und selbst Ella spürte, dass er Leckt-mich-doch ausdünstete wie Schweiß. Ich wusste das, weil sie immer wieder meine Hand nahm und fest drückte. Jeder Idiot konnte ihr anmerken, dass sie nervös war.
Als wir endlich an die Reihe kamen, trug die Imbiss-Frau so eine gruselige schwarze Kopfbedeckung, die alles verbirgt außer den Augen und die total sexistisch ist – aber würde mein linksliberaler Sohn das je zugeben? Um Himmels willen, nein! Noch dazu bei über dreißig Grad im Schatten. Ihr Schweiß durchtränkte den Stoff.
Diese Kopfbedeckung sah aus wie ein Folterwerkzeug. Wenn ein konservativer republikanischer Politiker sagen würde, Frauen sollten in der Öffentlichkeit ihr Gesicht verhüllen, würde er noch vor Sonnenuntergang von irgendwelchen Feministinnen gelyncht. Aber dieselben Linksliberalen, die das konservative Christentum verachten, setzen sich dauernd für muslimische Rechte ein.
Was versteckten sie unter diesen schwarzen Zelten, die ihre Frauen tragen mussten?
Ich wollte es gar nicht wissen.
Also machte ich das Beste, was mir als amerikanischem Patrioten einfiel: Ich schüttelte den Kopf, legte meinen noch eingepackten Hotdog auf die Theke und marschierte entrüstet davon. Keine Frau sollte gezwungen werden, ihr Gesicht in der Öffentlichkeit zu bedecken. Das ist Schwachsinn. Unamerikanisch.
Die arme, gehirngewaschene Muslimin fing an, mich durch den schwarzen Stoff hindurch anzubrüllen. „Noch nie was von verfassungsmäßigen Rechten gehört? Religionsfreiheit und so?“
Für solche Dinge hatte ich gekämpft. Hatte meine Freunde sterben sehen, damit sie die Freiheit hat, dieses bekloppte muslimische Folterwerkzeug in meinem Land zu tragen. Deshalb hatte ich verdammt noch mal das Recht auf meine Meinung. Sie konnte das Teil tragen, aber das hieß nicht, dass ich bei ihr was zu essen kaufen musste. Freiheit ist keine Einbahnstraße.
Während ich wegging, hörte ich, wie Hank sich übertrieben für mein Benehmen entschuldigte und dann die Hotdogs bezahlte – bestimmt mit einem dicken schuldbewussten Trinkgeld, „weil er sich seiner privilegierten Stellung bewusst war“, was auch immer das heißen soll. Dann kam er hinter mir her, zog Ella am Arm mit. Sein Gesicht hatte die Farbe einer reifen Tomate. Ihres war weiß wie frische Milch.
Vor einer größer werdenden Ansammlung von Fremden, die genau wie wir rote Phillies-Caps trugen, fing er an, mich anzuschreien, nach dem Motto, ich wäre peinlich, und wenn ich meinen „Rassismus“ nicht „für mich behalten“ könne, würde er mir verbieten, Ella zu sehen, die inzwischen angestrengt auf ihre schicken Turnschuhe starrte, die beim Gehen tatsächlich aufleuchteten.
Lämpchen in Turnschuhen. Ein richtiger Verwöhnte-reiche-Göre-Scheiß, oder?
Aber ich mag Ella, und sie mag mich. Ihre Eltern haben sie nicht allzu sehr vermurkst, was ein kleines Wunder ist.
Ich fragte Hank, wieso es mich zum Rassisten mache, weil ich weggegangen sei, wo ich doch gar nicht hatte erkennen können, welcher Rasse die Frau angehörte, da sie ja diesen muslimischen Schleier trug. Das sah er wohl auch ein, weil er daraufhin dazu überging, mich intolerant zu nennen.
Ich sagte ihm, er solle lieber lernen, seine Feinde zu erkennen, weil der große Dschihad im Gange war, und dass es einen Grund dafür gibt, warum Juden „friedlichen, gewaltfreien“ Deutschen nicht erlauben, in Israel Hakenkreuze zu tragen – und an dem Punkt bugsierte Hank mich und Ella aus dem Stadion und fuhr uns nach Hause, ohne noch ein Wort zu sagen.
Wir waren gar nicht bis zu unseren Plätzen gekommen, die direkt hinter der Home Plate waren. Kendrick warf gerade. Einer von Hanks wichtigsten Kunden hatte die Tickets spendiert. Und wir bekamen keinen einzigen Wurf zu sehen. Was für eine Scheißverschwendung! Und das alles bloß, weil die Muslime sich in unseren Nationalsport eingeschlichen hatten.
Als Hank mich absetzte, sagte er: „Wir reden kein Wort mehr mit dir, bis du dich für dein abscheuliches, widerwärtiges Verhalten entschuldigt hast. Wir haben 2013!“
„Von mir aus“, sagte ich und stieg aus.
Er fuhr davon. Ich sah Ella traurig durch die Heckscheibe blicken und dachte: Ohne mich ist sie verloren.
Hanks Frau Femke – ja, das ist ihr richtiger Name, gesprochen wie geschrieben – gab ihm ganz bestimmt recht und schürte das Scheiß-auf-deinen-affenartigen-Vater-Feuer. Femke nennt mich Aap, gesprochen wie geschrieben, weil das in ihrer Muttersprache Holländisch „Affe“ bedeutet. Scheiß auf sie.
Jedenfalls, Monate vergingen, ohne dass ich irgendetwas von ihm hörte, was mir nicht viel ausmachte. Aber Ella fehlte mir schrecklich. Ich spielte mit dem Gedanken, sie unter dem Vorwand, sie müsste zum Zahnarzt, für ein paar Stunden aus der Schule zu entführen, aber ich wusste, meine teuflische Schwiegertochter würde mich festnehmen lassen. Und ich wollte Ella nicht in die Lage bringen, ihre Eltern anlügen zu müssen.
Ella ist ein tolles Kind. Ehrlich. Das Ebenbild ihrer amerikanischen Großmutter, meiner toten Frau Jessica.
Ich bin ein gefährlich erzkonservativer Großvater. Und ich besitze noch dazu Schusswaffen. Jede Menge. Manche sind registriert, über andere reden wir lieber nicht. Meine Bildung fußt auf Wahrheit und Erfahrung und widerspricht dem endlosen Schwachsinn, den Professor Femke Turk jungen Leuten an ihrer „Partneruniversität“ beibringt.
Die Eltern meiner Schwiegertochter sind aus den Niederlanden emigriert, als Femke ein Teenager war, daher hat sie europäische Empfindsamkeiten, was nichts anderes heißt, als dass sie noch blöder ist als der herkömmliche amerikanische Linksliberale. Sie hat unseren Familiennamen nicht angenommen, so sehr verabscheut sie mich. Und zu allem Überfluss trägt meine Enkeltochter einen Bindestrich-Nachnamen: Ella Turk-Granger. Ich dachte immer, nur die Mexikaner haben Bindestrich-Namen, aber anscheinend sind die auch bei den Holländern üblich. Zumindest die Holländerin, die ich kenne, findet so was offenbar normal. Mein Sohn hatte nicht die Eier, es zu verhindern, was meinem Vater das Herz gebrochen hat.
Deshalb glaube ich nicht, dass es bei Hanks und meinem Streit bei dem Phillies-Spiel wirklich um Dschihad-Jenny ging, die Schweine-Hotdogs und amerikanisches Bier verkaufte – was sie ohnehin zur Heuchlerin macht, denn der Verzehr von beidem ist gläubigen Muslimen verboten. Die Taliban würden sie steinigen und ihren Kopf als Trophäe abschneiden, weswegen sie Amerika vorzieht, lasst euch das gesagt sein.
Als mein Gehirn total querfunkte, ich meinen BMW zu Schrott fuhr und die Ärzte mir sagten, ich müsse unters Messer, behielt ich die Diagnose für mich. Ich wusste, dass ich nicht sterben würde. Nur die Guten sterben jung, und ich hatte böse gelebt. Ich habe Dinge getan, die Sie sich nicht mal vorstellen können.
Nach der OP ergab sich folgendes Problem: Die Ärzte bestanden darauf, mich nur in Begleitung aus dem Krankenhaus zu entlassen, und ich wollte keinen meiner Freunde damit belasten, folglich rief ich bei meinem einzigen Sohn an. Um ganz ehrlich zu sein, brachte mich letzten Endes eine sehr gute Freundin von mir dazu, als sie nämlich herausfand, dass ich meinem Sohn nichts von der Operation erzählt hatte. Aber über Sue, die übrigens von den Genen her Vietnamesin ist, werde ich später noch reden.
„Du kannst nicht mehr alleine leben“, sagte Hank in meinem Krankenhauszimmer.
„Und ob ich das kann!“, sagte ich und griff an meine Hundemarken, die ich mit einem Gummiband an die meines Vaters gebunden hatte und als Glücksbringer um den Hals trug. Ich erklärte meinem Sohn, ich hätte noch nicht vor, den Löffel abzugeben. Ich würde die Kugel nicht jetzt schon kaufen, deshalb müsse er sich noch ein Weilchen mit mir herumschlagen. „Tut mir leid, wenn ich dich enttäusche.“
Er murmelte immer wieder: „Was sollen wir nur mit dir machen?“, als wäre ich gar nicht da.
Ich sagte ihm, er könne mich einfach zu Hause absetzen. Und falls er besonders nett sein wollte, könne er mir bei Donkey’s Place in Camden ein Cheesesteak holen, was er niemals tun würde, weil der Laden in einem ziemlich üblen Schwarzenviertel liegt. Obwohl sie sich linksliberal nennen, haben mein Sohn und seine Frau nicht viel mit Schwarzen am Hut, schon gar nicht mit Schwarzen ohne mindestens zwei hochtrabende Titel.
Ich dagegen hab mich immer gut mit den Schwarzen verstanden. Hab keine Probleme mit ihnen. Hab immer versucht, ihnen Jobs zu verschaffen, wenn ich konnte. Die Schwarzen sind schon sehr lange hier. War immer schwer für sie, in Amerika einen Job zu finden. Haben in Kriegen mit uns gekämpft. Sogar die Sklaverei überstanden. Du musst schon ein verdammt zähes Völkchen sein, um die Sklaverei zu überstehen.
Ich mag sogar die Mexikaner, weil die unheimlich fleißig sind. Meine Gartenarbeit lasse ich immer von legalen Mexikanern erledigen. Wäre ganz schön blöd, einen Weißen dafür zu nehmen.
Auch vor den Juden hier hab ich Hochachtung. Aber die haben schon ein eigenes Land, und das mit Ägypten ist verflucht lange her. Die Schwarzen haben mehr verdient als die neuen modernen Einwanderer, die fünf Sekunden nach ihrer Ankunft schon das Land übernehmen wollen. Aber versucht mal, das Leuten wie Hank und Femke begreiflich zu machen.
Das Krankenhausessen war ungenießbar. Götterspeise ist keine Mahlzeit. Die Schlangen, die ich in Vietnam getötet und gebraten habe, um irgendwie am Leben zu bleiben, schmeckten besser als der Scheiß, den sie hier servieren. Und dafür kassieren sie auch noch ein kleines Vermögen, ob du den Fraß nun isst oder nicht. Wegelagerer. Ich sag’s euch. Genauso gut hätten sie mir eine Pistole an den Kopf halten und meine Brieftasche klauen können, als ich noch zu schwach war, um aufzustehen. Man sollte alle Krankenhaus-Manager erschießen, zusammen mit sämtlichen Politikern.
„Dann gibst du also zu, dass du nicht aufstehen kannst“, sagte mein Sohn triumphierend, als hätte er mich bei einer Lüge ertappt.
Also erklärte ich ihm, dass ich zunächst nicht aufstehen konnte. Schließlich haben die meinen Schädel mit Meißel und Säge geöffnet, verdammt noch mal. Ich bin doch nicht Superman. Das gab ich zu. Aber seitdem hatte ich mich erholt. Und ich konnte schon seit Tagen wieder aufstehen. Es hatte eine Woche und eine Wagenladung Stuhlweichmacher gedauert, bis ich endlich wieder scheißen konnte. Aber auch das hatte ich geschafft.
Er wollte nicht glauben, dass ich gehen konnte, also demonstrierte ich es ihm, indem ich zum Pinkeln ins Bad lief. Als ich zurückkam, sah Hank mich an, als wäre ich Jesus Christus und würde mit Löchern in Händen und Füßen herumlaufen. Aber der Ausdruck in seinem Gesicht war nicht begeistert, woraufhin mir klar wurde, dass er sich wünschte, ich würde irgendwo untergebracht oder einfach sterben.
Er sagte, ich müsse unter Beobachtung bleiben, und ich sagte, da läge er total falsch, woraufhin er anfing rumzujammern von wegen er stünde schlecht vor den Ärzten und Krankenschwestern da und die hätten ihm Schuldgefühle eingeredet, weil er nicht schon früher gekommen war. Anscheinend meinte er daraufhin, Gott und der Welt erklären zu müssen, warum zwischen uns Funkstille gewesen war, was für ihn keine „spaßige Unterhaltung“ gewesen sei.
„Und wer ist eigentlich dieser Clayton Fire Bear?“, fragte er.
Hank hatte es nicht verdient, die Antwort auf diese Frage da schon zu hören. Stattdessen verklickerte ich ihm, dass die Ärzte und Pfleger gutes Geld verdienen und man ihnen deshalb einen Scheißdreck erklären muss. Aber er jammerte weiter rum, das Krankenhauspersonal würde schlecht von ihm denken – als ob die überhaupt denken könnten. War ihm denn nicht klar, dass wir alle bloß Fleisch sind und dass tagtäglich rund um die Uhr jede Menge Fleischladungen in Krankenhäusern ankommen und abgefertigt werden?
Hank fuhr sich mit den Fingern durch das bisschen Haar, das er da oben noch hat. Er hätte sich vor zehn Jahren den Schädel rasieren sollen, aber dann würde er aussehen wie sein Vietnamveteran-Vater, und das wäre seiner europäischen Frau nicht recht gewesen. Ihr war lieber, dass alle hinter Hanks Rücken lästerten und sich über die paar langen Haarsträhnen amüsierten, von denen er sich nicht trennen wollte.
Dann sagte Hank: „Und wenn du bei der OP gestorben wärst und wir keine Chance mehr gehabt hätten, uns zu verabschieden?“
Er hatte Weichei-Tränen in den Augen und blinzelte schneller als eine schnuckelige kleine Schauspielerin, die es auf eine goldene Trophäe abgesehen hat. Bestimmt dachte er wieder an seine Mutter.
„Ich werde es merken, wenn ich bald sterbe“, sagte ich zu ihm. „Jeder, der den Dschungel in Vietnam überlebt hat, kennt sich mit dem Tod aus. Ich kenne den Scheißkerl besser, als du dich selbst kennst.“
„Das ist jetzt nicht der Moment für deine halbseidene Mystik“, sagte mein Sohn, weil er absolut überhaupt nichts kapierte.
Die größten Widersacher in seinem Leben waren die ausländische Teufelin, mit der er freiwillig schlief, und der Herzinfarkt auslösende Zivilistenstress, den er sich selbst machte. Hank hatte sich nie einer echten Herausforderung stellen müssen. Wie den meisten Amerikanern heutzutage war ihm der Luxus der Naivität gewährt worden. Sein Leben war nie in Gefahr. Er musste sich nie das Blut und die Gedärme seiner Freunde aus dem Gesicht wischen. Hatte nie eine vietnamesische Anatomiestunde. Musste nie versuchen, die warmen Innereien seines Kameraden vom Dschungelboden aufzuschaufeln, um ihn wieder zu einem Menschen zu machen.
Man sollte meinen, er würde Veteranen wie mir für diese Gnade der Naivität danken, aber von wegen. Nicht mal am Veterans Day. Stattdessen hat er nicht mal den Mann gewählt, der eine jahrelange Kriegsgefangenschaft in Vietnam überlebt hat. Der Junge, den ich großgezogen habe, unterstützte und wählte einen Mann namens Barack Hussein Obama. Hank feierte den Einzug der Linksliberalen ins Weiße Haus, als hätte er einen Krieg im Alleingang gewonnen. McCain hatte nicht die geringste Chance.
Es ist schwer, mit Leuten über den Krieg zu reden, die nie richtig im Einsatz waren. Sie verstehen es nicht. Sie werden es nie verstehen. Und deshalb kann ich Ihnen nicht alles erzählen. Aber wenn Sie genau zuhören, erfahren Sie vielleicht doch das eine oder andere.
Mein Vater diente im Zweiten Weltkrieg unter General Patton. War bei der Landung in der Normandie dabei. Ich fragte ihn oft nach seinen Kriegserlebnissen, in der Hoffnung auf epische Geschichten voller Geschützfeuer, Panzer und heldenhaft getöteter Nazis. Als ich noch ein Kind war, erzählte er mir immer nur zwei Episoden. Keine davon hatte irgendwas mit Tod oder Gewalt zu tun.
Bei der ersten ging es darum, dass er, kurz nachdem Europa befreit worden war, bei Paris zufällig auf ein verlassenes Champagnerlager stieß. Er und seine Kameraden bekamen eine Stunde Zeit, so viel zu trinken, wie sie wollten. Das taten sie dann auch, wobei sie sich obendrein gegenseitig mit mehr Flaschen vom feinsten französischen Gesöff bespritzten, „als ein Durchschnittsamerikaner sich mit einem ganzen Jahresgehalt leisten könnte“.
Die zweite Geschichte, die mein Vater mir erzählte, handelte davon, dass er mitten in der Nacht von einem amerikanischen Jeep überfahren wurde. Vor lauter Müdigkeit hatte er sein Erdloch nicht tief genug gegraben, weshalb ihm im Schlaf ein Wagen über die Beine rollte und ihm ein Schienbein brach. Er wurde nach Paris ins Lazarett geschickt. Wie mein Vater weiter erzählte, schlich er sich immer wieder nachts auf Krücken aus dem Lazarett, ging in die erstbeste Bar und gab sich dort als berühmter amerikanischer Sänger aus, der in Europa noch nicht richtig bekannt war. Der nächste Frank Sinatra. „Nach dem Krieg werdet ihr meinen Namen überall hören“, log er.
Den Franzosen gefiel seine Stimme angeblich so gut, dass ein einheimischer Künstler das Porträt meines Vaters auf die Wand eines großen Pariser Klubs malte. So behauptete er zumindest.
Ich muss um die zehn Jahre alt gewesen sein, als ich auf unserem Dachboden eine deutsche Offiziersuniform fand – mit Hakenkreuzarmbinde und allem, was dazugehört. In der Brust waren zwei Einschusslöcher und zwei rotschwarze Ringe aus getrocknetem Blut. Schon damals war mir klar, dass es nur eine Möglichkeit gab, an so ein Souvenir zu kommen. Als ich meinen Vater danach fragte, trug ich die Mütze des SS-Offiziers auf dem Kopf. Vorne drauf hockte ein Adler mit weit ausgebreiteten Schwingen auf einem Hakenkreuz. Darunter war ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen. Als Kind war ich ahnungslos, also setzte ich mir die Mütze einfach auf. Ich fand, sie sah ziemlich scharf aus, und das sollte sie wohl auch. Hitlerjugend. Die Jungs damals wussten, wie man Leute anwirbt, das muss man ihnen lassen.
Verständlicherweise, das kann ich rückblickend sagen, ging mein ansonsten ruhiger alter Herr in 0,5 Sekunden an die Decke und verpasste mir links und rechts ein paar gesalzene Ohrfeigen. Die erste traf mich mitten aufs Ohr, was ein lautes Klingeln auslöste und die Nazimütze quer durchs Zimmer katapultierte. Mein alter Herr hat mich nie mit geschlossener Faust geschlagen, und auch ich habe das mit Hank nie gemacht. Kein einziges Mal.
Draußen im Garten stopfte mein Vater die ganze Naziuniform in eine leere Öltonne, in der wir Abfall verbrannten. Er kippte fast zwei Liter Benzin darüber. Aber als er das Streichholz angesteckt hatte, zögerte er, und es verglomm zwischen seinem Zeigefinger und Daumen. Er zündete ein Streichholz nach dem anderen an, warf aber keines davon in die Tonne. Ich beobachtete ihn vom Fenster meines Zimmers aus. Nachdem er bestimmt sieben Streichhölzer hatte ausgehen lassen, erinnerte er sich endlich wieder daran, dass er den Mumm gehabt hatte, Nazis zu töten. Und da schaffte er es. Aus fünfzig Metern Entfernung konnte ich sehen, dass er am ganzen Körper zitterte, eine Silhouette vor den auflodernden Flammen.
Ich konnte nicht richtig ermessen, was ich da gesehen hatte. Bis ich ein Jahrzehnt später einen vietnamesischen Bauern dabei erwischte, wie er Vietcong-Uniformen mit Hühnerblut bespritzte. Wir alle kannten den Kerl; er versorgte uns regelmäßig mit Informationen, an die nur echte Einheimische rankamen. So bitterarm, wie die Leute waren, hätte jeder von ihnen uns für hundert Dollar den Kopf seiner Mutter auf einem Silbertablett serviert. Für sie war das so viel wie zehn Millionen Dollar.
Wir hatten dem Kerl den Spitznamen Ding-Dong verpasst, weil er oft wie aus dem Nichts auftauchte, und wenn wir ihn dann sahen, rief immer einer von uns „Ding-Dong!“, was er gern mit einem breiten Grinsen im Gesicht wiederholte.
Im Dschungel haben viele von uns Vietcong-Souvenirs gesammelt. Ich nahm toten Schlitzaugen Messer und Schusswaffen ab. Andere Jungs sammelten Ohren oder Zeigefinger. Der indianische Sauhund, der mich abgrundtief hasste und geschworen hatte, mich umzubringen – über Clayton Fire Bear, dessen Namen ich geändert habe, um Unschuldige zu schützen, werde ich später reden –, skalpierte die Vietcongs und hängte sich ihre Skalps an den Gürtel. Er hatte so viele davon, dass es aussah, als würde er einen stinkenden Minirock aus Haaren tragen.
Aber es gab auch Uniformsammler. Manche im US-Militär hatten das Glück, den Stützpunkt nie verlassen zu müssen – zum Beispiel Geistliche und Mechaniker und Köche und einige Sanitäter –, deshalb hatten sie keine Gelegenheit, Feinde zu töten. Aber auch sie wollten Andenken, also kauften sie oft welche bei Ding-Dong. Sie dachten, sie bekämen echte Ware, dachten, dass er toten Vietcongs die Uniformen ausgezogen hatte. Als ich also mitbekam, wie er Hühnerblut auf nachgemachte Uniformen spritzte, wusste ich, dass ich ihn in der Hand hatte. Wenn ich das den Männern verriet, an die er Mitbringsel vertickte, Männer, die gutes Geld für Vietcongblut bezahlt hatten, würden sie ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, die Kehle durchschneiden. Und Ding-Dong wusste das. Wir sahen uns im Dschungel in die Augen, und ich musste ihm nicht erst sagen, dass er mir ausgeliefert war. Jede Zelle in seinem gelben Körper wusste das.
Ich nickte.
Er nickte zurück.
Und der Pakt war besiegelt.
Ich würde den Gefallen, den er mir schuldete, etwas später während meines Einsatzes einfordern.
Dadurch verstand ich endlich die heftige Reaktion meines Vaters, als ich die Naziuniform auf dem Dachboden fand, und auch, warum er zitterte, als er sie in der alten Öltonne verbrannte.
Mein alter Herr hatte seine Naziuniform nicht bei einem Ding-Dong gekauft. Er hatte seinen Feind offen und ehrlich getötet und den Toten mit eigenen Händen ausgezogen. Das konnte er mir nicht erzählen, als ich noch klein war. Einem Zivilisten – erst recht einem Kind – konnte er unmöglich erklären, warum er diese blutige Naziuniform mit zurück über den Atlantik gebracht und auf dem Dachboden versteckt hatte. Ich musste erst in den Krieg ziehen, um das zu verstehen. Erst da wurde mir klar, was ich ausgelöst hatte, als ich die deutsche Uniform auf dem Dachboden fand – und warum ich dafür eine ordentliche Tracht Prügel verdient hatte.
Während einer ihrer elend langen Schwachsinnsvorträge beim Essen – die ich nicht kritisieren darf, wie mein Sohn mir mehrfach unter vier Augen eingeschärft hat – sagte Hanks Frau mal, dass der Dachboden in Träumen und in der Literatur eine Metapher für den Verstand sei und ein Haus eine Metapher für eine Person. Der Keller symbolisiert angeblich das Unterbewusste. Keine Ahnung, ob das mit dem Keller stimmt, aber beim Rumstöbern auf dem Dachboden meines Vaters stieß ich zum ersten Mal auf den Schlüssel zu seinen dunkleren Gedanken.
Die Waffen, die ich den toten Schlitzaugen abgenommen habe, besitze ich noch immer. Mein ganzer Stolz ist ein Colt .45, mit dem ich in die Motoren von feindlichen Fahrzeugen geschossen habe. Ein Schuss genügte, um einen ganzen Lastwagen voll mit Reisfressern zu stoppen. Die Knarren nahm ich auseinander und schickte sie in Einzelteilen nach Hause. Die Genies, die die Post kontrollierten, waren zu blöd, um zu begreifen, dass man auf die Art ganze Kanonen nach Hause schicken konnte. Militärische Aufklärung. Ein Widerspruch in sich. Messer waren der US-Regierung egal.
Mein Sohn, der Zivilist, wird diese Dinge nie verstehen.
Mein alter Herr ist vor ein paar Jahren in seinem Fernsehsessel gestorben. Er war zweiundneunzig. Er trug den knallgrünen Trainingsanzug mit einem Emblem der Philadelphia Eagles, den ich ihm gekauft hatte, zusammen mit seiner nostalgischen Lieblingsbaseballmütze der Philadelphia Athletics, die ihn an seine Jugend erinnerte. Ich hab meinem Vater auf die andere Seite geholfen.
Ein paar Tage zuvor hatte er die Kugel gekauft. Hatte mich angerufen und gesagt, er sei bereit zu sterben.
Ich sagte: „Okay.“
Er sagte, er wolle nicht ins Krankenhaus. Er wollte keine Ärzte sehen, weil er wusste, was das für Lügner und Wegelagerer sind.
„Klar“, sagte ich.
Dann saß ich bei ihm, als er in seinem Lieblingssessel starb. Ich bezahlte eine junge, gut aussehende Krankenschwester dafür, dass sie dem alten Herrn Morphium unter die Zunge träufelte, damit er nicht unnötig leiden musste.
Als er noch klar im Kopf war, sagte mein Vater: „Dein Sohn braucht dich. Deine Enkeltochter braucht dich. Vergiss diese Mission nicht.“
Sie waren nicht da, weil sie auf Hawaii Urlaub machten und es ihnen zu teuer war, einen früheren Rückflug zu bezahlen, was einiges über meinen Sohn verrät. Aber ich verstand, was mein Vater meinte, deshalb nickte ich.
Dann hielt ich die Hundemarken meines alten Herrn aus dem Zweiten Weltkrieg an meine Vietnam-Marken, schob ein Gummiband hindurch und fädelte das Ganze auf meine Silberkette. Das zeigte ich dem alten Herrn.
Er nickte.
Ich steckte sie in meine Hemdtasche.
Er schloss die Augen.
Als die gut aussehende Krankenschwester anfing, mir mit Blicken die alles entscheidende Frage zu stellen, nickte ich wieder, was noch mehr Morphium bedeutete. Legaler Mord. Das gibt bloß keiner zu. Angeblich ist es gegen die Schmerzen, doch in Wahrheit hilfst du dem Sterbenden aus Barmherzigkeit, eine Überdosis zu nehmen. Wir trafen die Entscheidung wortlos. Die kleine Blondine war schlau. Sie hatte in ihrem Leben schon so einige alte Leutchen ermordet, und ich bewunderte ihre Professionalität. Hätte sie es laut ausgesprochen und mich gefragt, ob wir meinen Vater umbringen sollten, ich weiß nicht, ob ich in der Lage gewesen wäre, es durchzuziehen, obwohl wir beide wussten, dass es das Richtige war. Aber sie fragte nur mit Blicken, was Stil hatte und das Nicken einfacher machte. Es half mir, meine Pflicht zu tun.
Der alte Herr flüsterte eine Weile, als er high war, „Eve, Eve, Eve.“ Kaum hörbar. Eve war der Name meiner Mutter. Sie war einige Jahre zuvor an einem Schlaganfall gestorben.
Als es vollbracht war, transferierte ich die goldene Uhr meines Vaters von seinem Handgelenk an meines, während die kleine Blondine die Jungs vom Krematorium anrief.
Schließlich kamen zwei kräftige Kerle herein. Einer schwarz, einer weiß. Der Schwarze hatte das Tattoo eines Panthers am Hals. Der weiße Typ war so ziemlich überall gepierct. Sein Gesicht sah echt aus wie ein Nadelkissen. Sobald sie meinen Vater auf der Trage und unter dem weißen Tuch hatten, sagte ich: „Seid ihr beide Philadelphia-Sportfans?“
„Ja klar!“, sagte der Weiße.
Der schwarze Typ nickte bloß begeistert.
„Ihr steht bestimmt auch auf die Eagles?“
„Mein Blut ist grün“, sagte der schwarze Typ.
„Dann will ich euch mal was sagen“, entgegnete ich und drohte mit den Fingern. „Mein alter Herr wird in diesem Trainingsanzug und mit der Mütze auf dem Kopf verbrannt. Wenn ich einen von euch je in den Klamotten meines Vaters erwische, zieh ich euch ein Messer durch die Kehle und sehe zu, wie ihr an eurem eigenen Blut erstickt. Klar?“ Ich zog mein Army-Springmesser aus der Tasche, das ich von einem Veteranen bekommen hatte, der im Irak und in Afghanistan gewesen war und den ich beim Veteranenbund kennengelernt hatte. Er war übrigens ein echter amerikanischer Held. Drei Auslandseinsätze. Hat seine Beine für dieses Land geopfert. Er hat jetzt Prothesen. Läuft ganze Marathons auf den Dingern und könnte noch immer jedem Zweibeiner ruck, zuck zeigen, wo der Hammer hängt.
Aber bei dem Messer, das er mir geschenkt hat, presst man dem Gegner den Griff zwischen die Rippen und drückt den Knopf. Per Federdruck springt eine Klinge raus und sticht ins Herz, tötet auf der Stelle. Man stelle sich vor, was sie am Hals anrichten würde.
Ich drückte den Knopf. Die Klinge sprang heraus, schnellte in die Luft zwischen uns.
Der Weiße sagte: „Hey, Mann“, und fing dann davon an, dass Leute sich vollscheißen, wenn sie sterben, was wohl beweisen sollte, dass sie den knallgrünen Eagles-Trainingsanzug meines Vaters auf keinen Fall klauen würden. Als ob der Junge keine Waschmaschine hätte.
Ich sagte ihm, das sei mir alles schnurzegal. „Mein Vater wird verbrannt, so wie er ist.“
„Alles klar“, sagte der Schwarze, und als ich ihm in die Augen sah, wusste ich, er hatte verstanden. Die Augen eines Mannes können einem viel verraten. Ich mochte diesen schwarzen Kerl. Er war ehrlich. Er verstand, wie wichtig es war, dass mein Vater in seinen Lieblingsklamotten eingeäschert wurde. Er würde dafür sorgen, dass alles richtig lief, das sah ich ihm an, also ließ ich ihn und den anderen Clown den Leichnam meines alten Herrn wegbringen.
Am nächsten Tag rief ich meinen Vater um 6.30 Uhr an, wie ich das die letzten vier Jahrzehnte gemacht hatte, um beim Frühstückskaffee die Meldungen des Tages und den traurigen Zustand der Welt zu erörtern.
Ich hatte für einen Moment vergessen, dass er tot war.
Es fiel mir gleich wieder ein, als der Anrufbeantworter ansprang. Seine Stimme war wie immer. Er klang freundlich und locker und ein bisschen aufgeregt, weil jemand angerufen hatte. „Hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton!“, sagte mein toter Vater.
Ich sprach nichts auf Band, aber ich rief noch mehrere Male an, nur um die Stimme des alten Herrn zu hören. Es war sonderbar, und ich konnte die Tatsache, dass wir ihn am Vortag mit Morphium getötet hatten, nicht damit unter einen Hut bringen, dass seine Stimme auf dem Anrufbeantworter so lebendig klang. Ich rief weiter an, wieder und wieder. Ich konnte nicht aufhören.