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Die Griechenland-Krise und die mangelnde Handlungsbereitschaft im Umgang mit den Flüchtlingen haben nachdrücklich gezeigt, dass es um die Europäische Union derzeit nicht allzu gut bestellt ist. Parallel zu diesen internen Problemen mehren sich Stimmen unterschiedlichster Provenienz, die Europa attackieren und europäische Werte infrage stellen: Identitäre wie der Massenmörder Anders Breivik, Dschihadisten wie der Syrer Abu Musab al-Suri, »Eurasier« wie der Putin-Berater Alexander Dugin, illiberale Demokraten à la Viktor Orbán, aber auch einige Linkspopulisten am Rande von Syriza und Podemos.
Claus Leggewie porträtiert Wortführer und politische Unternehmer, die unabhängig voneinander, aber oft in ungewollter Komplizenschaft die »Festung Europa« schleifen wollen. Er erklärt, woher sie kommen, welche Pläne sie verfolgen und welche Mächtigen sie unterstützen. Und er fordert dazu auf, sich endlich politisch mit ihnen auseinanderzusetzen.
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Seitenzahl: 184
Veröffentlichungsjahr: 2016
Europa hat Feinde: Identitäre wie der Massenmörder Anders Breivik, Dschihadisten wie der Syrer Abu Musab al-Suri, »Eurasier« wie der russische »Putin-Vordenker« Alexander Dugin stellen die politische Union und die europäische Demokratie so radikal infrage, wie es seit 1945 keine politische Bewegung mehr gewagt hat.
Claus Leggewie porträtiert diese politischen Unternehmer, die unabhängig voneinander, aber oft in ungewollter Komplizenschaft die »Festung Europa« schleifen wollen. Er erklärt, woher sie kommen und welche Pläne sie verfolgen. Und er fordert dazu auf, sich endlich politisch mit ihnen auseinanderzusetzen.
Claus Leggewie
Anti-Europäer
Breivik, Dugin, al-Suri & Co.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage 2016.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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Foto Breivik: © picture alliance/AP Photo
Foto Dugin: © dpa
Umschlag gestaltet nach einem Konzept
von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-74469-7
www.suhrkamp.de
Konservative Revolutionen: Was auf dem Spiel steht
I. Identitäre: Anders Breivik
Breiviks Kampf: 2083 – Eine europäische Unabhängigkeitserklärung
Wahnwitz Identität
Gespaltene Öffentlichkeit
Vom Protest zum Widerstand?
Die böse Welt da draußen und die heile Welt der Familie
Norwegens Breivik
Breiviks Follower
II. Eurasier: Alexander Dugin
Neoeurasier – eine Alternative zum Westen
Von der Vierten politischen Theorie zu den Konflikten der Zukunft
Putin, lunar und solar
Illiberale Verbrüderung im Osten
Kollaboration im Westen
Netz-Propaganda und Cyberkrieg
Trump ante portas
III. Dschihadisten: Abu Musab al-Suri
Alias: Bildungsroman eines Meistgesuchten
Mein Kampf von heute?
Neues aus Londonistan
Von al-Qaida zum Islamischen Staat
Kann Europa sich wehren?
Kritik der exterministischen Unvernunft
Anmerkungen
Danksagung
Als Adolf Hitlers Mein Kampf Anfang 2016 wieder allgemein zugänglich wurde, befürchteten einige, die Hetzschrift könne noch toxisch sein und neue Nazis anwerben. Andere fanden nach der Lektüre, die Deutschen hätten den wirren, zuerst 1925 erschienenen Text genauer lesen sollen – sie wären dann besser gewappnet gewesen gegen die Wucht der »nationalsozialistischen Bewegung«. Schließlich hatte der Festungshäftling A. H. acht Jahre vor seiner Machtübernahme auf Hunderten von Seiten alles ausgebreitet und angekündigt: den Rassenwahn, die Eroberung von Lebensraum im Osten, die Todfeindschaft gegen Juden und Bolschewisten, die Rache am »Erbfeind« Frankreich. Auch völlig abstruse Ideen können Macht und Wirkungskraft erlangen, wenn die Gelegenheit günstig ist und sie sich mit mächtigen Interessen verbinden.1
Dieser Essay, ein Stück Gegnerforschung,2 stellt aktuelle, außerhalb eines engen Kreises von Anhängern wohl ebenso ungelesene Kampfschriften extremen Inhalts vor: die Europäische Unabhängigkeitserklärung des Norwegers Anders Behring Breivik von 2011, die Vierte Politische Theorie des Russen Alexander Geljewitsch Dugin von 2013 und den 2004 von dem Syrer Abu Musab al-Suri in Umlauf gesetzten Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand.3 Der Zeit gemäß kursieren diese Kampfschriften im Internet, in der Sphäre also, in der Hitler heute Proselyten machen und Kollaborateure anwerben würde. Breivik tritt ein für die Erneuerung des christlichen Abendlands, Dugin propagiert ein eurasisches, von Russland geführtes Imperium, al-Suri verkündet den Heiligen Krieg gegen den Westen. Alle drei skizzieren eine neue Geopolitik sakral fundierter Imperien: ein islamisches Kalifat, die Eurasische Union, ein Heiliges Römisches Reich 2.0.
Auch wenn sich Zielsetzungen und Methoden im Einzelnen erheblich unterscheiden, kann man, beginnend mit der Überlänge und Redundanz der Schlüsseltexte, wichtige Übereinstimmungen konstatieren. Dazu zählen die narzisstischen Persönlichkeiten der Verfasser. Anders Breivik, im Grunde ein bemitleidenswerter Tropf, brannte sich im Juli 2011 mit einem grässlichen Massaker in das Gedächtnis der Menschheit ein, indem er in Oslo und Utøya Dutzende unschuldiger Menschen regelrecht exekutierte. Alexander Dugin, als Wissenschaftler kaum der Rede wert, schwingt sich zum Chefideologen einer russisch-imperialen Wiedergeburt auf, deren aggressives Gesicht 2014 in der östlichen Ukraine sichtbar wurde. Abu Musab al-Suri, der unter anderen Umständen ein durchschnittlicher Familienvater in Aleppo sein könnte, imaginiert einen Kreuzzug, der in seinen Dimensionen ein totaler Krieg ist. Narzissten können Monster werden, wenn die Übersteigerung der eigenen Person den massenhaften Tod anderer Menschen hinnimmt und sie die von ihnen erfahrenen Kränkungen in einer Weise ausagieren, dass sie sich in eine Gefahr für die Menschheit verwandeln. Alle drei pflegen in extremer Weise den »paranoiden Stil«.4 So bezeichnet man ein apokalyptisches Denken, das unbeirrbar davon überzeugt ist, hinter den Kulissen walteten böse Mächte, die mit dunklen Gestalten, gerne »aus dem Ausland«, verbandelt sind. Die Welt wird strikt in Gut und Böse eingeteilt, weshalb sich der pathologische Narzisst einbildet, sie mit einem revolutionären, gewaltsamen Akt retten zu müssen.
Schon Hitlers Hassfiguren waren der westliche Liberalismus, die freiheitliche Demokratie und das supranational vereinte Europa. Auch die drei Protagonisten dieses Buches wollen gegen diese Feindbilder eine »Konservative Revolution« in Gang setzen. »Konservativ« und »Revolution« – man stutzt zunächst: Wie können erklärte Bewahrer eine radikale Umwälzung anstreben? Doch genau dieses Oxymoron gab in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer rechtsintellektuellen Strömung den Namen, die damals auf die Zumutungen der Moderne und die Unübersichtlichkeiten der Globalisierung reagierte. Mit den faschistischen Strömungen deckte sie sich nur partiell, sie teilte aber deren radikale Aversion gegen kulturellen Pluralismus und ihre Begeisterung für einen völkisch-autoritären Nationalismus.5
Man könnte die selbsternannten Erben der Konservativen Revolution belächeln, würden sie es bei verbalem Radikalismus belassen und ohne Resonanz bleiben. Führt auch heute ein Weg von einsamen Wölfen wie Breivik und den Cliquen eines Dugin oder al-Suri in breitere weltanschauliche Milieus und etablierte Machtzirkel? Zahlenmäßig schwach, betreiben Konservative Revolutionäre eine »metapolitische« Strategie: Erst sollen die Köpfe erobert werden, dann eventuell Positionen, Territorien und Ressourcen. Das war bereits der Ansatz der Neuen Rechten seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Dugin und Breivik beziehen sich ausdrücklich auf das Werk des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci, der in Mussolinis Kerker eine Strategie kultureller Hegemonie entwarf, als sich die Hoffnungen auf einen politisch-militärischen Erfolg der Revolution zerschlagen hatten. Natürlich meinte Gramsci, ehe ihm die Nouvelle droite das Wort im Munde umdrehte, den antifaschistischen Kampf, doch heute propagieren selbst erklärte Faschisten aus ihrer zahlenmäßigen Schwäche heraus eine »gramscianische« Strategie.6 In vielerlei Hinsicht kopieren sie damit die ebenfalls auf kulturelle Umwälzung angelegten Strategien der 68er, also der politischen Bewegung, die sie erklärtermaßen am meisten verabscheuen und bekämpfen. Deren Kulturrevolution soll mit einer neuen Kulturrevolution unter umgekehrten Vorzeichen revidiert werden.
Teil dieser Bemühungen ist stets eine Sakralisierung des Politischen. Der Syrer al-Suri ist einer der Protagonisten, die einen solchen Primat der spirituellen Sphäre formulieren, doch religiöse Lehren und Gegensätze bestimmen die internationale Politik seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts generell wieder stärker. Auch dies übrigens ein Anschluss an die sechziger Jahre, deren antikoloniale Tradition des säkular-nationalistischen »Tiersmondismus« nun religiös umgepolt wird. Ähnlich inspiriert sind die Geopolitiker Breivik und Dugin, welche die Entzauberung der Welt durch Reformation und Aufklärung in Richtung »Westrom« und »Ostrom« zurückdrehen wollen.
Angesichts dieses an sich schon beunruhigenden Line-ups europafeindlicher Kräfte fragt dieser Essay nach dem potenziellen Wirkungsfeld der Pamphlete: bei Unterstützern, Kollaborateuren und politischen Unternehmern. Wären sie auch nur teilweise erfolgreich, stünde am Ende ein radikal anderes, autoritäres, fundamentalistisches Europa – statt kulturellem Pluralismus weiße Suprematie, statt Religionsfreiheit Gottesstaat, statt Demokratie Autokratie, statt Gleichberechtigung Patriarchat, statt Individualität Unterwerfung.
Mit den Identitären, die der faschistischen Tradition in Europa am nächsten stehen, beginnt dieses Buch. Anders Breivik hat die in seinem Traktat 2083 – Eine europäische Unabhängigkeitserklärung formulierte Denkfigur der ethnischen Reinheit am 22. Juli 2011 mit grauenerregenden Terroranschlägen in die Tat umgesetzt. An ihm, der sich ganz ausdrücklich auf die Konservative Revolution beruft, kann man zeigen, dass die Feinde nicht zuletzt aus dem Inneren Europas kommen, wenn radikale Nationalisten und weiße Suprematisten7 das »Abendland« als Stammes- und Religionsgemeinschaft aufleben lassen, die sich gegen eine vermeintliche islamische Invasion zur Wehr setzen soll. Dem kulturellen Pluralismus Europas setzt er ein monokulturelles, (pseudo)christliches Kontrastbild entgegen. Vor dieser Re-Vision mögen die meisten Europäer erschauern, doch der identitäre Abschottungsdiskurs und eine aggressive Identitätspolitik sind längst in die Mitte der europäischen Gesellschaft vorgedrungen. Will sagen: Den »Breivik ohne Utøya« geben viele. Populisten und Islamverächter distanzieren sich von Breiviks Tat, aber sie sprechen seinen Text.
Eine zweite, wieder nur scheinbar europafreundliche Kampfansage ist die Ideologie der eurasischen Autokratie, welche die politisch-kulturelle Verwestlichung und das nordatlantische Bündnis mit Amerika revidieren und der (orthodoxen) Kirche im Staat eine Orientierungsrolle einräumen will. Pointiert vertreten wird diese Vision von dem russischen Schriftsteller und Politikprofessor Alexander Dugin. Vorgestellt werden seine jüngsten Werke Konflikte der Zukunft. Die Rückkehr der Geopolitik und Die Vierte Politische Theorie, die ebenfalls ausdrücklich an die Konservative Revolution anschließen. Als natürliche Führungsmacht Europas empfiehlt Dugin das postsowjetische Russland unter der Führung Wladimir Putins, dessen Nähe er im Machtapparat sucht und dessen Expansionspolitik gegen die Ukraine er unterstützt. Dugin kennen die wenigsten Europäer, doch eine naive oder bewusste Russophilie8 zeigt für die Außenpolitik des russischen Präsidenten viel »Verständnis«. Einige Denkfabriken der Neuen Rechten haben das Vordringen russischer Soldaten und Freischärler auf das Gebiet der Ukraine gutgeheißen, noch weit mehr Europäer können einem »Dugin ohne Neurussland« etwas abgewinnen.
Die Dschihadisten schließlich, allen voran die Kämpfer und Unterstützer der al-Qaida und des Islamischen Staates (IS), agieren von außen mithilfe religiös motivierter Kämpfer und Konvertiten aus Europa. Von ihnen geht derzeit wohl die größte Gefahr für die Sicherheit und Integrität Europas aus. Das englischsprachige Propagandamagazin Dabiq – es ist benannt nach der syrischen Stadt, in der die Entscheidungsschlacht zwischen den Armeen Allahs und ihren Feinden stattfinden soll – droht: »Im Herzen Europas beginnt ein Krieg.«9 Gemeint sind Anschläge wie 2015 und 2016 in Paris und Brüssel, für die Abu Musab al-Suris Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand die Blaupause vorgegeben hat. Sein Ziel ist es, die »Grauzonen« aufzulösen, in denen die Muslime und der Westen bisher friedlich koexistieren. Klarer kann man den Angriff auf eine säkulare Ordnung nicht formulieren – mittlerweile mit dem infamen Nebenziel, durch ein Anheizen der »Flüchtlingskrise« islamfeindlichen Bewegungen Auftrieb zu verschaffen und angepassten Muslimen im Westen keine andere Wahl zu lassen, als sich dem Heiligen Krieg anzuschließen.10 Gewiss distanzieren sich die meisten Muslime von den Attentaten in westlichen Metropolen, aber nicht wenige zeigen zumindest ein diffuses »Verständnis« dafür. Einem »Al-Suri ohne Selbstmordattentate« würden irregeleitete Muslime, darunter nicht wenige Konvertiten, folgen. Und der Dschihad hat potente staatliche Sponsoren: Vom Geld Saudi-Arabiens und der Golfstaaten11 sowie vom freien Geleit Irans profitierte auch ein al-Suri.
Europa hat Feinde, und dieses Buch benennt sie. Manche mögen die Gefahrenmeldung für überzogen, gar für Kriegstreiberei halten – es geht uns in Europa doch gut und wer schon hat Angst vor solchen Spinnern? Andere werden eine Verschwörungstheorie wittern, die von vermeintlich »realen Gefahren« ablenken soll. Wieder andere werden von Europa und seinen gerade viel beschworenen Werten ohnehin nichts halten und auf unsere eigenen, für weit schlimmer erachteten Verbrechen in Vergangenheit und Gegenwart hinweisen, also auf unsere Urheberschaft von und unsere Komplizenschaft mit Völkermord, Ausbeutung und Unterdrückung. Zu Letzterem ist zu sagen, dass eine Identifizierung und Anklage der Feinde Europas diese historischen und aktuellen Verstrickungen keineswegs leugnet, sondern ihre Mitursächlichkeit für den Angriff von innen und außen ausdrücklich betont – die Feinde haben wir uns selbst herangezogen. Aber Europas Wiedergeburt nach 1945 beruhte gerade auf dieser aus der Katastrophe gewonnenen Selbstreflexivität.12
Darf man in diesem Licht noch von Feinden sprechen, wenn es doch Carl Schmitt, der »Kronjurist des Dritten Reiches« war, der die Scheidung von Freund und Feind zum Kern alles Politischen erhoben hat?13 Ja, denn nicht wir haben uns willkürlich verfeindet – Spanien hat al-Suri Asyl gewährt, Norwegen hat Breivik rechtsstaatlich verurteilt (und will nun möglicherweise seine Isolationshaft lockern), Dugin darf in ganz Europa Reden schwingen. Eben in der Meinungsfreiheit, in rechtsstaatlichen Verfahren und im Asylrecht besteht die Größe Europas, und genau diesem haben sie den Krieg erklärt. Zur Mäßigung ihrer Feindschaft und zum friedlichen Meinungsstreit scheinen sie nicht bereit.
Den letzten Anstoß zu diesem Essay gab der Besuch einer Ausstellung in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. Präsentiert wurden dort Dokumente aus den letzten Lebensjahren Stefan Zweigs. Bevor er am 22. Februar 1942 Selbstmord beging, hatte er noch das Manuskript seines posthumen Welterfolgs Die Welt von gestern abgeschlossen. In seinem Abschiedsbrief schrieb Zweig, er scheide aus dem Leben, da »die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet«. Den Satz hatte ich schon öfter gelesen, aber dieses Mal durchzuckte es mich, und ich dachte: Das soll nicht noch einmal jemand so verzweifelt schreiben müssen.
Die weitschweifigen Darlegungen zum Heiligen Krieg, zu Eurasien und zur Rückeroberung des Abendlandes können in einem kurzen Essay nicht in extenso behandelt werden. Weder als Philologe noch als »Terrorexperte«, sondern als Beobachter rechtskonservativer sowie populistischer Ideenzirkel und Machtzentren gehe ich das Thema der neuen Konservativen Revolution an, deren aktuelle Ausprägungen ich vergleiche.14 Dabei muss man stets gegen das Missverständnis ankämpfen, Vergleichen heiße Gleichsetzen. Der Vergleich, ein Königsweg der sozialwissenschaftlichen Methodik,15 arbeitet zunächst die beachtlichen Unterschiede heraus, bevor er eventuelle Gemeinsamkeiten identifizieren kann. Al-Suri ist nicht Dugin ist nicht Breivik, die Protagonisten kommen aus unterschiedlichen Traditionen und führen nicht denselben Kampf. Gemeinsam ist ihnen jedoch das Feindbild: Europa in seiner dreifachen Gestalt als Wertegemeinschaft, gemeinsamer Markt und politische Union – und die Zielsetzung: die Auflösung der Grauzonen, die Stärkung des »Eigenen« gegen das »Fremde«, die Politisierung des Raums und die religiöse »Verschärfung« des Politischen, von der Carl Schmitt im Bezug auf den Katholizismus geschrieben hat.16
Das Buch will einerseits diese Kampfansagen verstehen, andererseits soll es sie in einen größeren sozialen und politischen Kontext einordnen. Das wirft die grundsätzliche Frage nach dem Einfluss von Ideengebern auf den Verlauf der Geschichte auf.17 Weichensteller waren häufig religiös und weltanschaulich geprägte »Idealisten«, die sich von ideellen Interessen bewegen ließen. Dabei gab es stets einsame Ideen, die kaum Wirkung erzielten (was man eigentlich auch in unseren drei Fällen erwarten sollte!), aber auch solche, die im Bunde mit starken materiellen Interessen wider alle Erwartung zum Durchbruch gelangten. Nimmt man Hitlers Mein Kampf als Folie der drei heutigen Kampfansagen, ist der Maßstab natürlich nicht das katastrophale Endresultat seiner Ideen, die Schoah, sondern sein frühes Programm von 1925, dessen Quintessenz ein späterer Leser treffend zusammengefasst hat:
Ökologie war Knappheit, und Dasein bedeutete Kampf um Land. Die unveränderliche Struktur des Lebens bildete die Aufteilung der Tiere in Arten, verurteilt zu »innerer Abgeschlossenheit« und einem unablässigen Kampf bis zum Tod. Die menschlichen Rassen, davon war Hitler überzeugt, waren wie die Arten. Die höchsten Rassen entwickelten sich aus den weniger entwickelten, was bedeutete, dass eine Kreuzung zwischen ihnen möglich, aber Sünde war. Rassen sollten sich wie Arten verhalten, sie sollten sich mit Ihresgleichen paaren und danach streben, die Andersgearteten zu töten. Das war für Hitler Gesetz, das Gesetz des Rassenkampfs, und dieses Gesetz war für ihn so unumstößlich wie das Gesetz der Schwerkraft im Universum. Der Kampf konnte niemals enden, und sein Ausgang war ungewiss. Eine Rasse konnte triumphieren und gedeihen, sie konnte aber auch durch Verhungern ausgelöscht werden.18
Ersetzt man »Rasse« durch »Kultur« oder »Zivilisation« und befleißigt sich einer politisch korrekteren Terminologie, ist Hitlers Sozialdarwinismus keineswegs passé. Er aktualisiert sich vor dem Hintergrund einer neuen Modernisierungskrise.
Die drei Protagonisten sind nicht Hitler, selbst wenn sie die Hand zum »deutschen Gruß« erheben wie Breivik, den Faschismus an sich in Ordnung finden wie Dugin und Juden so abgrundtief hassen wie al-Suri. Und ihr weiterer Aufstieg ist so aufhaltsam wie jener des Arturo Ui in Bertolt Brechts Hitler-Persiflage. An den Verfasser von Mein Kampf wird nur deshalb noch einmal erinnert, weil auch er aus einer völlig marginalen Position, buchstäblich aus dem Zuchthaus heraus, Ideen in die Welt gesetzt hat, die nur wenige Jahre später Hunderttausende, ja Millionen bewegt und zu abominablen Taten veranlasst haben. Aus dem einsamen Wolf der völkischen Bewegung wurde ein verehrter, abgöttisch geliebter Volkstribun. Die Stufe absoluter Marginalität haben Breivik, mehr noch Dugin und am meisten al-Suri längst hinter sich, und wenn sie sich die Ausmerzung des jeweiligen Feindes ausmalen, sind diese Autoren sogar expliziter und operativer als Adolf Hitler in Mein Kampf. Gerade deshalb müssen wir uns mit ihnen näher befassen.
»Ich handelte im Auftrag meines Volkes, meiner Kultur, meiner Religion, meiner Stadt und meines Landes in Notwehr.«1
Anders Breivik vor Gericht (2012)
Am Morgen des 22. Juli 2011 detonierte im Regierungsviertel der norwegischen Hauptstadt Oslo eine 950 Kilogramm schwere Autobombe, die acht Personen tötete und Dutzende verletzte; wenig später erschoss ein als Staatsschutzoffizier getarnter Mann auf der dreißig Kilometer entfernten Insel Utøya weitere 69 überwiegend junge Menschen, die dort in einem Feriencamp der sozialdemokratischen Arbeiterpartei versammelt waren. Viele, die von diesem grässlichen Attentat in den Nachrichten hörten, werden an einen islamistischen Terroranschlag gedacht haben, zumal auch in Norwegen Schläfer und Al-Qaida-Sympathisanten vermutet wurden. Gegen solche war eine Übung gerichtet, die eine Spezialeinheit der norwegischen Polizei kurz vor dem Attentat durchgeführt hatte.
Mir kam spontan die amerikanische Stadt Oklahoma City in den Sinn. Dort hatte der Golfkriegsveteran Timothy McVeigh im April 1995 gemeinsam mit zwei Komplizen ein Regierungsgebäude in die Luft gejagt. 168 Menschen kamen damals zu Tode, darunter 16 Kinder im Kindergarten des Murrah Federal Building. McVeigh wurde gefasst und hingerichtet; über die genauen Motive seiner Tat wurde lange spekuliert, sicher ist nur, dass er die Bundesregierung in Washington »hasste«. Um diese zu bekämpfen, führte er das stehende Argument von Terroristen jedweder Couleur an, sei der Tod von Kindern als Kollateralschaden in Kauf zu nehmen.
Auch in Norwegen entpuppte sich rasch ein weißer Inländer als Täter, der ebenfalls die Regierung hasste.2 »Meine Strategie ist von al-Qaida übernommen«, prahlte Breivik nach seiner Festnahme. Und es stimmt ja: Der Einsatz einer Autobombe und das Abfeuern von Salven auf unschuldige Menschen kopiert im Detail Methoden von Attentätern, die sich in überheblicher Weise auf den Islam berufen – mit dem Unterschied, dass Breivik sein Leben nicht in der Manier von Selbstmordattentätern mit geopfert hat. Die Politiker, die Breivik auf der Insel anzutreffen erwartete, wollte er gefangen nehmen, in Anwesenheit der Jugendlichen niederknien lassen und zwingen, ein von ihm verfasstes Todesurteil zu verlesen, um sie anschließend mit einem Bajonett hinzurichten. Die Exekution wollte er mit seinem Smartphone filmen und im Internet posten. Öffentliche und im Netz dokumentierte Hinrichtungen sind bekanntlich eines der wichtigsten Terror- und Propagandamittel des Islamischen Staates.
Der zur Tatzeit 32-jährige Anders Behring Breivik rechtfertigte das Massaker damit, Norwegen und Europa gegen den vordringenden Islam und gegen den grassierenden »Kulturmarxismus« verteidigen zu müssen. Nicht Muslime oder Immigranten hatte er direkt ins Visier genommen, sondern die damals regierenden Sozialdemokraten, die den »Massenimport von Muslimen« angeblich eingeleitet hatten. Die Autobombe explodierte vor dem Büro des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg, der unverletzt blieb; auf der Insel Utøya entging die ehemalige Regierungschefin Gro Harlem Brundtland dem Tod nur, weil Breivik sich verspätete und die in Norwegen sehr beliebte »Landesmutter« bereits abgereist war, als er seine halbautomatische Waffe entsicherte. Breivik verhöhnte sie während des Prozesses in einem frivolen Wortspiel als »Landesmörderin«, und Politiker, die Einwanderung fördern oder nicht unterbinden, heißen bei ihm – das kommt einem jetzt auch in Deutschland bekannt vor – »Landesverräter«. Auf Breiviks Exekutionsliste standen auch der damalige Außenminister Jonas Gahr Støre und Eskil Pedersen, der Chef der Jungsozialisten, denen die meisten Jugendlichen auf Utøya angehörten. Ihnen hatte Breivik den Tod zugedacht, weil es sich um künftige Kader der Arbeiterpartei handelte; ganz in der perversen Logik atavistischer Stammes- und Religionskriege wollte er vor allem die nächste Generation ausrotten.3
Vor Gericht nahm Breivik ein Jahr später für sich in Anspruch, im Sinne der Anklage nicht schuldig zu sein, im Schlussplädoyer reklamierte er angesichts der Politik seiner Regierung ein Recht auf Notwehr und Widerstand für sich:
Ich habe dokumentiert, dass die multikulturalistischen Politiker, Akademiker und Journalisten zusammenarbeiten und sich undemokratischer Methoden bedienen, um die norwegisch-ethnische Gruppe, norwegische Kultur und Traditionen, das norwegische Christentum, die norwegische Identität und den norwegischen Nationalstaat zu dekonstruieren. Wie kann es ungesetzlich sein, gegen diese verräterischen Menschen in den bewaffneten Widerstand zu treten? […] [E]s sind die universellen Menschenrechte, das Völkerrecht und das Recht auf Selbstverteidigung, die mir das Mandat erteilten, diesen präventiven Angriff auszuführen. Das Ganze war eine Reaktion auf die Effekte der Handlungen jener, die bewusst, und jener, die unbewusst unser Land zerstören. Verantwortliche Norweger und Europäer, die einen Hauch an moralischer Pflicht empfinden, werden nicht stillsitzend zusehen, wie die ethnischen Norweger zu einer Minorität im eigenen Lande und in der Hauptstadt gemacht werden. Wir werden gegen den Multikulturalismus in der Arbeiterpartei und gegen alle anderen politischen Aktivisten, die für dasselbe Ziel arbeiten, kämpfen. Die Angriffe am 22. Juli waren präventive Angriffe zur Verteidigung der Ur-Bevölkerung Norwegens, den ethnischen Norwegern, unser Kultur [sic]. Und deshalb kann ich keine Strafschuld anerkennen. Ich handelte im Auftrag meines Volkes, meiner Kultur, meiner Religion, meiner Stadt und meines Landes in Notwehr. Ich fordere daher, dass ich von den aktuellen Anklagen freigesprochen werde.4
Das Osloer Bezirksgericht erklärte Breivik trotz anderslautender Gutachten für zurechnungsfähig und verhängte im August 2012 die Höchststrafe von 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Entgegen seinen eigenen Einlassungen agierte Breivik nicht als Teil eines großen Netzwerks Gleichgesinnter, sondern, wie es in der Sprache der Terrorbekämpfung heißt, als »einsamer Wolf«.5
Terrorismus kennt man überwiegend als ein Gruppenphänomen: Eine größere Zahl von Personen agiert in mehr oder weniger hierarchisch organisierten Gruppen mit einem gewissen Unterstützer- und Sympathisantenkreis. Davon ist nicht nur der Staatsterror zu unterscheiden, den vor allem die totalitären Diktaturen Hitlers und Stalins auf der Grundlage des staatlichen Gewaltmonopols mit der Hilfe von Geheimdiensten ausgeübt haben, sondern auch individuell operierende Einzeltäter, die nicht in einer Befehlskette stehen und sich ihre Weltanschauung autodidaktisch in einem Prozess der Selbstradikalisierung erarbeitet haben. Ähnlich wie die frühen anarchistischen Einzeltäter verfolgen sie eine »Propaganda der Tat«; sie wollen ein Fanal setzen, auf das in ihrer narzisstischen Fantasie die Massen gewartet haben, um dann kollektiv loszuschlagen.